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Identität Europa: Wie europäisch ist die Türkei?

©2009 Bachelorarbeit 52 Seiten

Zusammenfassung

Bereits seit 1963 versucht die Türkei Mitglied der Europäischen Union (EU) zu werden. Es stellt sich daher die Frage, warum die Türkei noch kein Mitglied wurde, besonders im Hinblick auf die EU-Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2007. Diese Frage wurde vor allem auch in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit, spätestens seit 2002, sehr brisant und kontrovers diskutiert. Im Zentrum der politischen Debatte über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei stehen dabei nicht so sehr die ökonomischen Unterschiede zwischen der EU und der Türkei, sondern mögliche kulturelle Differenzen.
Das Ziel dieser Studie ist es, zu klären, ob die Türkei europäisch ist und, was eigentlich das ‚Europäischsein’ ausmacht. Zu Beginn wird auf die Wurzeln der modernen europäischer Identität eingegangen. Dafür wird zunächst 'Europa' definiert und anschließend untersucht, was Europa charakterisiert und wo seine Grenzen liegen. Es wird gezeigt, dass Europa eine Kulturgemeinschaft ist, dessen gemeinsame Werte und Normen im Vordergrund stehen.
Anschließend wird die Rolle der Wahrnehmung erklärt. Diese konstruktivistische Perspektive hebt die Rolle von Ideen und Identitäten hervor. Wichtig hierbei ist die Annahme, dass Interessen und Identitäten nicht exogen gegeben, sondern sozial konstruiert sind durch die intersubjektiven kommunikativen Prozeduren und Verständnisse. Diese wiederum sind in den sozialhistorischen Kontext eingebetet.
Bei einer positiven Identifikation stellt die Türkei eine Brücke dar, weil das Selbst (= Europa) den Anderen (= Türkei) als ähnlich und nicht bedrohlich ansieht. Allerdings ist ebenfalls eine negative Identifikation denkbar. Das Selbst nimmt dann den Anderen als gefährlich und moralisch unterlegen wahr. In diesem Fall bildet die Türkei eine Grenze zu Europa und demzufolge auch zur EU.
Im dritten Teil wird der Weg der Türkei zu einer europäischen Nation analysiert. Dabei wird vor allem auf historische Wendepunkte und Schritte in Richtung Europa eingegangen: die Regierungszeit von Mustafa Kemal Pascha, Begründer der Republik Türkei, das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei, die Zollunion, den EU-Gipfel in Helsinki und die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober 2005.
Abschließend werden die Vor- und Nachteile eines Beitritts der Türkei zur EU diskutiert. Dabei stehen die Größe der Türkei, die Menschenrechtssituation und die Dominanz des türkischen Militärs, sowohl die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Gliederung

1. Einleitung

2. Identität Europa Seite
2.1 Europabegriff – Was ist Europa?
2.2 Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft

3. Konstruktivistischer Ansatz: Wie wird die Türkei wahrgenommen?
3.1 Türkei als Brücke Seite
3.1.1 Pragmatischer Okzidentalismus
3.1.2 Inklusiver Orientalismus
3.2 Türkei als Grenze Seite
3.2.1 Exklusiver Orientalismus
3.2.2 Nationalistischer Okzidentalismus

4. Weg der Türkei zur europäischen Nation Seite
4.1 Atatürk: Anpassung an den Westen
4.2 Ankara-Abkommen
4.3 Zollunion
4.4 Der EU-Gipfel in Helsinki
4.5 Karikatur „Brücke EU-Türkei“

5. Folgen eines Beitrittes der Türkei zur Europäischen Union Seite
5.1 Argumente gegen einen Beitritt der Türkei zur EU
5.2 Argumente für einen Beitritt der Türkei zur EU

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Bereits seit 1963 hat die Türkei den Status eines assoziierten Mitglieds der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Seither klopft die Türkei an die Türen der Europäischen Union (EU) und bittet um Mitgliedschaft. Die Frage besteht, warum die Türkei noch kein Mitglied der Europäischen Union ist, besonders im Hinblick auf die EU-Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2007. Diese Frage wurde vor allem auch in den Medien und in der breiten Öffentlichkeit spätestens seit 2002 sehr brisant und kontrovers diskutiert. Im Zentrum der politischen Debatte über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei stehen dabei nicht so sehr die ökonomischen Unterschiede zwischen der EU und der Türkei, sondern mögliche kulturelle Differenzen.

Das Ziel meiner Arbeit ist zu klären, ob die Türkei europäisch ist und, was eigentlich das ‚Europäischsein’ ausmacht. Im ersten Teil werde ich auf die Wurzeln der modernen europäischer Identität eingehen. Dafür definiere ich zunächst ‚Europa’ und untersuche anschließend, was Europa charakterisiert und wo seine Grenzen liegen. Ich werde zeigen, dass Europa eine Kulturgemeinschaft ist, dessen Werte und Normen im Vordergrund stehen.

Im darauffolgenden Teil meiner Arbeit möchte ich verdeutlichen, dass es darauf ankommt, wie ein Staat wahrgenommen wird. Diese konstruktivistische Perspektive hebt die Rolle von Ideen und Identitäten hervor. Wichtig hierbei ist die Annahme, dass Interessen und Identitäten nicht exogen gegeben sind, sondern sozial konstruiert durch die intersubjektiven kommunikativen Prozeduren und Verständnisse, die wiederum in den sozialhistorischen Kontext eingebetet sind.[1]

Bei einer positiven Identifikation stellt die Türkei eine Brücke dar, weil das Selbst (=Europa) den Anderen (=Türkei) als ähnlich und nicht bedrohlich ansieht. Allerdings ist ebenfalls eine negative Identifikation denkbar. Das Selbst nimmt dann den Anderen als gefährlich und moralisch unterlegen wahr. In diesem Fall bildet die Türkei eine Grenze zu Europa und demzufolge auch zur EU.

Im dritten Teil meiner Arbeit werde ich den Weg der Türkei zu einer europäischen Nation analysieren. Dabei gehe ich vor allem auf historische Wendepunkte und Schritte in Richtung Europa ein. Eine der bedeutendsten Zäsuren bildet die Regierungszeit von Mustafa Kemal Pascha, der 1934 den ehrenden Beinamen Atatürk, ‚Vater der Türken’, erhielt. Er ist der Begründer der Republik Türkei und somit auch dem ersten säkularen muslimischen Staat weltweit. Im Mittelpunkt seiner Politik stand die Modernisierung der Türkei nach westlichem Vorbild. Deshalb führte er unter anderem das laizistische Staatswesen ein. Diese strikte Trennung von religiösen und politischen Institutionen war zu dem Zeitpunkt ein enormer Einschnitt, weil mehr als sechshundert Jahre lang das Osmanische Reich von einer sozialreligiösen Ordnung bestimmt war.

Einen Meilenstein stellt auch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei dar. Interessanterweise erhob damals kein Mitglied der EWG Einwände unter Bezug auf die Römischen Verträge von 1948, die ausdrücklich bestimmen, dass nur europäische Staaten Mitglied werden können. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Türkei von der EWG Kommission als Teil von Europa angesehen. Dieses Assoziierungsabkommen, auch Ankaraabkommen genannt, legte die grundsätzlichen Ziele fest, wie die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen intensiviert und die Zollunion in drei Stufen eingeführt werden sollen. Der Zollunion wurde dann im Jahr 1995 durch das Europäische Parlament zugestimmt. Als nächsten wegweisenden Schritt erklärte der Europäische Rat von Helsinki im Dezember 1999, dass die Türkei ein beitrittswilliges Land ist, das auf der Grundlage der gültigen Kriterien Mitglied der Union werden soll. Konkrete Beitrittsverhandlungen wurden der Türkei in Aussicht gestellt, wenn sie bis Ende 2004 die erforderlichen Voraussetzungen, die Kopenhager Kriterien, erfüllt. Im Dezember 2004 beschloss daraufhin der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zum 3. Oktober 2005.

Im letzten Teil meiner Arbeit möchte ich die Vor- und Nachteile eines Beitritts der Türkei zur EU diskutieren. Dabei werden die Größe der Türkei, die Menschenrechtssituation und die Dominanz des türkischen Militärs, sowohl die geostrategische Lage als auch die Wirtschaftsbedingungen in der Türkei im Mittelpunkt stehen.

Abschließen möchte ich meine Arbeit mit einem Fazit, dass die gewonnenen Ergebnisse noch einmal pointiert zusammenfasst.

2. Identität Europa

2.1 Europabegriff – Was ist Europa?

Europa hat im Osten gegenüber Asien keine eindeutige geographische oder geologische Grenze, deshalb sind die ‚Grenzen Europas‘ eine Frage gesellschaftlicher Übereinkunft. Konventionell werden als geografische Grenzen Europas der Bosporus sowie Uralgebirge und –fluss angesehen.

Mit Europa wird seit der Teilung des Römischen Reiches der westliche Teil des Reiches, der Okzident, assoziiert. Der östliche Teil wird als Orient bezeichnet. Europa wurde mit dem westlichen Christentum gleichgesetzt, das sich vor allem vom orthodoxen Christentum und zum Islam abgrenzte.[2]

Die Frage nach dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union wirft immer wieder auch die Frage nach Europa selbst auf. Wie und wo Grenzen gezogen werden, muss immer anhand bestimmter Kriterien, die politischer, ökonomischer, kultureller, aber auch religiöser Natur sein können, entschieden werden. Selbst diese Kriterien müssen zuerst entwickelt werden und sind umstritten. Die Grenzziehung ist kontingent, weil sie auch immer anders möglich wäre. Geografisch erstreckt sich die Türkei über zwei Kontinente. Anatolien bildet mit etwa 97% der Fläche den asiatischen Teil des türkischen Staatsgebietes. Die restlichen 3% der Landesfläche nimmt das östliche Thrakien ein, das sich auf dem europäischen Kontinent befindet. Die Türkei bildet somit die „Landbrücke zwischen Europa und Asien“[3]. Geografisch ist es sehr problematisch zu bestimmen, ob die Türkei zu Europa dazugehört. Doch das alleine ist nicht die zu klärende Frage.

Vielmehr im Vordergrund steht die Frage, ob die Türkei europäisch ist. Doch was bedeutet eigentlich ‚Europäisch-Sein’? In Artikel 49 des EU-Vertrages findet sich für eine Erweiterung die zentrale Bestimmung, dass jeder europäische Staat, der die Grundsätze achtet, auf denen die EU beruht, beantragen kann, Mitglied der Union zu werden. Es wird jedoch nicht näher erläutert, was ‚europäisch’ ist. Das ist zugleich der Grund, warum es so viele verschiedene Definitionsversuche gibt, die zeigen wollen, was denn nun das spezifisch Europäische sei beziehungsweise sein solle.[4]

Im folgenden werde ich versuchen, die europäische Identität und deren Besonderheiten genauer zu bestimmen. Dafür werde ich zunächst ‚Identität’ definieren. Identität kann vorerst über den Begriff der Selbstidentifikation beziehungsweise der Selbstbezeichnung verstanden werden, als ein Vorgang in dessen Zuge jemand sich selbst bestimmte Charakteristika, Einstellungen oder Errungenschaften als spezifisch eigen zuschreibt. Identität bedeutet wörtlich ‚völlige Gleichheit’. Wenn man davon ausgeht, dass Identität Gleichheit oder zumindest Ähnlichkeit beinhaltet, dann ist die Annahme einer europäischen Identität nicht nur zweifelhaft, sondern auch problematisch. Zu keiner Epoche ist Europa unter das Prinzip der Einheit zu subsumieren. Die Europäer sind keineswegs untereinander ähnlich oder gar gleich. Sie haben nie eine gemeinsame Sprache gesprochen oder zur gleichen Zeit unter einheitlichen Bedingungen gelebt.[5]

Die Diskussion über die europäische Einigung wird eher mit den Leitworten „Einheit in der Vielfalt“[6] bestimmt. Des Weiteren würde Identität auch bedeuten, dass Europa sich im Laufe der Zeit gleich bleibt. Doch in der Geschichte Europas spielt die Vielfalt eine tragende Rolle. Es wird häufig vom europäischen Sonderweg gesprochen, was kein Indiz für die Beständigkeit der europäischen Geschichte ist. Mit Europa assoziiert man viel mehr Veränderung und Dynamik. Beispiele hierfür sind die wissenschaftliche Revolution im 16. und 17. Jahrhundert, die industrielle Revolution im 18. und 19. Jahrhundert, aber vor allem die demokratischen Revolutionen vom Ende des 18. Jahrhunderts an, die Europa zu einem Pol der Veränderung in der Welt gemacht haben.

Wenn man Identität nicht mit Gleichheit und Beständigkeit im Verlauf der Zeit gleichsetzten kann, was kann man dann unter einer europäischen Identität verstehen? Die Frage nach Identität ist gleichzeitig eine Frage nach dem Gemeinsamen, das unser Handeln leiten kann. Identität, im Sinne von Werteorientierungen, die das gemeinsame Handeln anleiten können, basiert auf Erfahrungen und aus deren Deutungen. Wichtig für eine Identitätsbildung sind die Kriterien, die wir einerseits gemeinsam haben und andererseits, die uns von anderen unterscheidet. Die handlungsleitende Wirkung der europäischen Identität wird zum Beispiel an der Verpflichtung auf Menschenrechte und Demokratie ersichtlich. Die europäische Identität unterscheidet sich vor allem von der amerikanischen Identität durch das Solidaritätsprinzip. Trotz der starken Kritik am Sozialstaat und der Betonung der Reformnotwendigkeit gibt es in Europa keine Abkehr von dem Prinzip der gegenseitigen Unterstützung.[7]

Doch jede Ansammlung von Selbstbeschreibungen beziehungsweise Identifikationen, die etwas für sich bestimmt, schließt damit gleichzeitig auch etwas aus, das nicht zu der jeweiligen Ordnung gehört: das Andere der Selbstbestimmung. Denn „etwas zu sein, heißt immer, etwas anderes nicht zu sein“[8]. Identität wird sehr häufig mit Hilfe von Gegenidentitäten definiert. Die eigene Identität konstituiert sich somit durch die Negation.[9] Der oder das Andere ist für die Rekonstruktion einer Identitätskonstruktion in mehrfacher Hinsicht wichtig. Europäische Selbstbestimmungen werden dann angefertigt, wenn man sich seiner selbst vergewissern will oder man von einem Anderen dazu veranlasst wird. Identifikation dient somit der Eigenpositionierung und Selbstvergewisserung gegenüber einem Anderen.[10]

Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich noch etwas genauer auf die Beziehung zwischen dem Selbst, der Wir-Gruppe, und dem Anderen eingehen. Besonders im Vordergrund wird das Verhältnis der EU zur Türkei stehen. Doch zunächst einmal werde ich die Charakteristika Europas erläutern. Ich werde also erst definieren, was Europa ausmacht und anschließend klären wovon es sich abgrenzen will.

2.2. Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft

Grundlegend kann man sagen, dass Europa eine Kulturgemeinschaft ist. Der in diesem Zusammenhang verwendete Kulturbegriff geht davon aus, dass wir unserem Handeln bestimmte Werte zuschreiben und sowohl unsere Welt als auch Mitmenschen interpretieren erfahren. Der Mensch ist somit ein selbstdeutendes Wesen. Die Ressourcen, die er zur Deutung einsetzt, bestimmen seine Kultur. Schlussfolgernd daraus kann man sagen, dass unser Denken nicht von geschlossenen kulturellen Gemeinschaften ausgehen darf, denn kulturelle Interaktion geschieht hauptsächlich zwischen Menschen und nicht zwischen ganzen Gruppen.[11]

Es gibt drei Möglichkeiten die inhaltlichen Merkmale der kulturellen Besonderheiten Europas zu definieren und daraus Beitrittskriterien zu formulieren. Die erste Grundposition nimmt Bezug auf die Geschichte, um die kulturelle Identität Europas zu bestimmen. Wenn man dieser Auffassung folgt, liegen die Wurzeln moderner europäischer Identität in der griechisch-römischen Antike, in der jüdisch-christlichen Tradition, aber auch in der Renaissance und im Zeitalter der Aufklärung. Für die kulturelle und religiöse Prägung Europas sind im besonderen Maße Athen, Rom und Jerusalem kennzeichnend. Den Griechen verdankt Europa vor allem den Geist der Philosophie und die Offenheit für die Künste, den Römern die Stiftung einer Rechtsordnung und den Sinn für die politische Einheit und Jerusalem hauptsächlich die Bibel und damit die prägende Religion, sowie das bestimmende Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Antike Traditionen hatten starke und prägende Auswirkungen auf die Entwicklung der westlichen Welt. Neuzeitliche Aufklärer, Philosophen und Staatstheoretiker, aber auch Wissenschaftler knüpften immer wieder an die attische Demokratie, das römische Recht, den religiösen Pluralismus, das antike Schönheitsideal und andere Hinterlassenschaften der Antike an.[12]

Auf der Suche nach den Ursprüngen der europäischen Identität ist ebenfalls die jüdisch-christliche Traditionslinie zu betonen. Manche Autoren gehen sogar soweit, dass sie sagen, dass Europa nicht nur vom Christentum geprägt ist, sondern es erst durch das Christentum entstanden ist. Nur die unermüdliche Missionierungsarbeit der Kirche habe die europäische Kultur geschaffen und zur Blüte geführt. Die europäische Identität beziehe somit ihren spezifischen Charakter zentral aus dem Christentum.[13]

Jedoch ist zu bemerken, dass die kulturelle Gestalt Europas zu keiner Epoche seiner Geschichte nur aus christlichen beziehungsweise jüdisch-christlichen Wurzeln erklärt werden kann. Europa ist seit jeher im Vergleich zu anderen Kontinenten keine geografische, sondern eine kulturelle Größe, die nicht nur durch einen, sondern durch mehrere prägende Faktoren bestimmt ist. Selbstverständlich ist Europa vom Christentum geprägt, dennoch darf diese christliche Prägung niemals in einem ausschließenden, mit einem Monopolanspruch versehenen Sinn gemeint sein.[14]

In der Renaissance, die sich vom 14. bis zum 17. Jahrhundert erstreckte, lebte kulturell die griechische und römische Antike noch einmal auf. Die Werte eines vergangenen Zeitalters wurden ‚wiedergeboren’. In dieser Epoche entwickelt sich in der Gesellschaft das Bedürfnis nach individueller Freiheit und damit wohl der charakteristischste Wertekomplex Europas.[15] Das Zeitalter der Aufklärung ist besonders prägend für die europäische Identität, weil sich die westliche Gesellschaft in dieser Zeit geistig entwickelt hat. Das 17. und 18. Jahrhundert war vor allem von dem Bestreben geprägt das Denken mit den Mitteln der Vernunft von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen, Vorurteilen und Ideologien zu befreien und Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen. Sowohl die Zeit der Renaissance als auch der Aufklärung sind konstitutiv für das europäische Selbstverständnis, weil sie neue Akzente setzten, indem sie Toleranz, die Achtung der Menschenrechte, sowie Gleichheit und Freiheit forderten.[16]

Die zweite Grundposition, die zur Bestimmung der kulturellen Identität Europas herangezogen werden kann, ist von konstruktivistischer Natur. Die Hauptannahme dieses Ansatzes ist, dass alle Merkmale und Kriterien, die man zur inhaltlichen Bestimmung der Kultur Europas einführt, historisch konstruierte sind. Aus dieser Argumentation wird abgeleitet, dass die Identität Europas und damit die Kriterien für die Mitgliedschaft in der EU kontingent und folglich voluntaristisch formulierbar sind.[17]

Ein Beispiel für die historische Konstruktion sind die territorialen Grenzen Europas. Worin Europa besteht und wo es endet wird als ein sich über die Jahrhunderte wandelnder kommunikativer Aushandlung- und Hervorbringungsprozess konzipiert. Europa wird vielmehr als sozial konstruiertes Gebilde verstanden. Historisch betrachtet waren die Grenzen Europas stets sehr flexibel, deshalb kann man auch kein Argument für eine territoriale Grenze aus der Geschichte ableiten.[18]

Die dritte vertretene Position kann man als verfassungspositivistisch bezeichnen. Diese Sichtweise grenzt sich gegenüber der konstruktivistischen Position insoweit ab, da sie davon ausgeht, dass es substanziell bestimmbare Werte gibt, die für Europa konstitutiv sind, wie zum Beispiel Liberalismus, Partizipation und soziale Demokratie. Im Hinblick auf eine gemeinsame Religion, Sprache, Ethnie, aber auch territorial festgelegter Grenzen versteht sich Europa eher als pluralistische Gemeinschaft.[19]

Die Bezugnahme auf das europäische Recht und die Verfassungstexte zur Bestimmung der Werte Europas ist ein gut begründbarer normativer Bezugspunkt, weil diese ausgearbeiteten Werte für sich selbst als bedeutsam erachtet von Europa werden. Andererseits setzt sich das europäische Recht aus rechtsverbindlichen Verträgen zusammen, die einen hohen demokratischen Legitimitätsanspruch erheben können. Da die Regierungen von den Bürgern gewählt werden, ist die im Recht verkörperte Werteordnung der EU demokratisch legitimiert. Das im Recht zum Ausdruck kommende kulturelle Selbstverständnis Europas kann somit auch als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage dienen, ob und inwieweit die Türkei als Beitrittskandidat zu Europa und somit auch zur EU passt oder nicht.[20]

Europa zeichnet sich durch ganz bestimmte Grundsätze aus, die in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union von 1993 fest verankert und allen Mitgliedsländern gemein sind: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“[21].

Des Weiteren achtet die Europäische Union die Grundrechte, weil sie in der am „4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind“[22]. Diese Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte beinhaltet unter anderem das Recht auf Leben (Artikel 2), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5), sowie die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 9).[23]

Im Folgenden möchte ich auf die Kompatibilität dieser, auf das europäische Recht beruhenden, Werteordnung mit den Wertvorstellungen der Türkei eingehen. Bei der Rekonstruktion der Werteordnung Europas werde ich die Wertsphären Religion, Familie, Ökonomie und Politik unterscheiden und jeweils bestimmen, welche Vorstellungen die Europäische Union im Hinblick auf diese Wertsphären entwickelt hat und inwieweit diese Ansichten mit denen der Türkei vereinbar sind.

Die Europäische Union, und somit Europa, versteht sich als eine säkulare Wertegemeinschaft, die keinen konkreten Religionsbezug aufweist, aber dennoch die Religionsfreiheit des Individuums und von Religionsgemeinschaften schützt. Die Grenzen einer jeden Religionsgemeinschaft werden klar durch die in den Verfassungstexten festgehaltenen Prinzipien, Toleranz und Nicht-Diskriminierung, klar definiert. Die Europäische Union weist der Religion ihren ausdifferenzierten Platz in der Gesellschaft zu und schützt diesen. Nichtsdestoweniger versteht sich die Europäische Union selbst als einen säkularen Verband von Gesellschaften, der die Trennung von Politik, Gesellschaft und Religion institutionalisiert hat. Der Modernisierungsgrad der Gesellschaft hat einen zentralen Einfluss auf die Akzeptanz der Religionsvorstellungen der EU. Je stärker eine Gesellschaft modernisiert ist, desto mehr unterstützen die Bürger eine Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre und sprechen sich für eine religiöse Toleranz aus. Der Grad der Modernisierung einer Gesellschaft drückt sich in einer Vielzahl von Faktoren aus. Vor allem Bildung und die ökonomischen Bedingungen, welche die Lebensqualität der Menschen bestimmen, haben einen Einfluss auf die religiöse Interpretation der Welt. Wenn sich die ökonomischen Lebensbedingungen verbessern, sinkt der Bedarf umso mehr die Welt religiös zu interpretieren und desto eher wird eine Trennung der religiösen und weltlichen Sphäre befürwortet. In Ländern, die gering modernisiert sind und in denen die Integration in die Kirchen hoch ist, wie im Fall der Türkei, ist die Unterstützung der Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre und die Religionstoleranz entsprechend gering. Die Türkei ist zwar ein Land, indem die Trennung von Staat und Kirche institutionalisiert ist, aber die Akzeptanz dieser Trennung bei den Bürgern sehr gering ist, weil sie sehr in die Praktiken ihrer Kirche eingebunden sind. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Religionsvorstellungen der EU noch nicht mit denen der Türkei übereinstimmen.[24]

Die Wertsphäre der Familie ist in der EU vor allem durch die Gleichstellung von Mann und Frau geprägt, sowohl im Erwerbsleben als auch bei der innerfamiliären Aufgabenverteilung. Im Artikel 14 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte wurde die Gewährleistung der anerkannten Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts festgeschrieben.[25]

Die EU unterstützt das Bild der berufstätigen Frau und die Vorstellung einer zumindest partiellen Sozialisation der Kinder in außerfamiliären Einrichtungen, wie zum Beispiel Kindertagesstätten. Die Bürger der Türkei lehnen diese Idealvorstellungen von Familie ab, denn sie präferieren eine traditionelle Geschlechterordnung mit der Vormachtstellung des Mannes. Erklären kann man dies wieder über den geringeren Modernisierungsgrad der türkischen Gesellschaft. Je modernisierter eine Gesellschaft ist, desto stärker ist auch die Akzeptanz der egalitären Beziehung zwischen Mann und Frau. Weitere Einflussfaktoren sind der Grad der Institutionalisierung der Gleichberechtigung durch die Politik in der Türkei und die Integration in die Kirchen. Obwohl bereits 1926 das Schweizer Zivilrecht in die Türkei eingeführt wurde und damit Familien- und Ehefragen der weltlichen Kontrolle unterworfen und die Rechte der Frau gestärkt wurden, gilt bis heute faktisch im größten Teil der Türkei das traditionelle, partiell aus dem Islam abgeleitete Familienrecht. Die patriarchalische Strukturierung und die Vormachtstellung des Mannes sind kennzeichnend für dieses althergebrachte Familienrecht.[26]

Ein zentrales Ziel der Europäischen Union ist die Verbesserung der ökonomischen Wohlfahrt aller Bürger der Mitgliedsländer. Wirtschaftsorientierung, Marktoffenheit und eine eher passive Rolle des Staates bilden die wichtigsten Wirtschaftsvorstellungen der EU. Je modernisierter ein Land ist, desto stärker befürworten die Bürger, dass der Staat nicht in die Wirtschaft eingreift und die Offenheit der Märkte.[27] Es wird ersichtlich, dass es der Türkei vor allem an Modernisierung fehlt. Der eher geringe Grad an Modernisierung der Türkei beeinflusst häufig die Nicht-Übereinstimmung der Wertevorstellungen mit der EU. Damit es zu einem Wertewandel in der Türkei kommt, müssen die ökonomischen Bedingungen, aber auch das Bildungsniveau verbessert werden. Ein höherer Modernisierungsgrad hätte einen positiven Einfluss auf die Unterstützung der EU-Vorstellungen.[28]

Abschließen möchte ich mit der Wertsphäre Politik. Die Europäische Union versteht sich eindeutig als Verband von demokratischen Staaten und bezeichnet selbst ihre Institutionsordnung als eine demokratische Ordnung. Wichtige konstitutive Elemente der Demokratie sind nach EU-Verständnis die Repräsentation, die Partizipation, sowie der Einfluss und die Förderung der Zivilgesellschaft.

Eine repräsentative Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass Regierungsentscheidungen von Vertretern, die in freien, offen und fairen Wahlen gewählt wurden, getroffen werden. Des Weiteren hat jeder Erwachsene ein aktives, aber auch ein passives Wahlrecht. Zu den Grundprinzipien einer repräsentativen Demokratie gehört auch, dass jeder das Recht hat, seine Meinung frei zu äußern und Parteien beziehungsweise Interessensgruppen zu gründen. Aufgrund der Tatsache, dass sich die EU als repräsentative Demokratie versteht, erwartet sie dies auch von ihren Mitgliedsländern. Deshalb muss jeder Beitrittskandidat die Kopenhagener Kriterien erfüllen, bevor er in die EU aufgenommen wird. Um diesen Anforderungen der EU zu genügen führt die Türkei deshalb zur Zeit verschiedene politische Reformen durch. Die Türkei besitzt im Moment noch nicht die für eine Demokratie typischen Wertorientierungen und Einstellungen. Einerseits unterstützen die Türken die Demokratie, können sich aber andererseits auch mit einer autoritären Regierungsform anfreunden.

Sowohl der Modernisierungsgrad als auch die Bildung der Bevölkerung weist einen deutlich positiven Effekt auf die Unterstützung der Demokratie und die Ablehnung eines autokratischen Regimes auf.

Schlussfolgernd kann man sagen, dass, wenn die ökonomischen Bedingungen und die Bildungsqualität in der Türkei sich verbessern, sich auch gleichzeitig die Ansichten der Türkei mit den Vorstellungen der EU im Bereich Politik annähern würden.[29]

[...]


[1] Vgl. Wendt 1999, S. 393f.

[2] Vgl. Wagner 2005, S. 499f.

[3] Walter 2008, S. 17.

[4] Vgl. ebd., S. 20ff.

[5] Vgl. Meyer 2004, S.37f.

[6] Weidenfeld 1999, S. 22.

[7] Vgl. Wagner 2005, S. 494ff.

[8] Laclau/ Mouffe 2000, S.169.

[9] Vgl. Schneider 1999, S.75f.

[10] Vgl. Walter 2008, S. 39f.

[11] Vgl. Wagner 2005, S. 496ff.

[12] Vgl. Huber 2005, S.70f.

[13] Vgl. Brague 1996, S. 45.

[14] Vgl. Huber 2005, S.69.

[15] Vgl. Joas 2005, S.17ff.

[16] Vgl. KüVük 2008, S.28f.

[17] Vgl. Gerhards 2004, S.14f.

[18] Vgl. Walter 2008, S.33ff.

[19] Vgl. Meyer 2009, S.15f.

[20] Vgl. Gerhards 2004, S. 15f.

[21] Europa-Recht 2006, S. 7 Art. 6 (1).

[22] Ebd., S. 7 Art. 6 (2).

[23] Vgl. Grundgesetz 2007, 87ff.

[24] Vgl. Gerhards 2005, S. 87ff.

[25] Vgl. Grundgesetz 2007, S. 91 Art. 14.

[26] Vgl. Gerhards 2005, S. 114ff.

[27] Vgl. Gerhards 2005, S. 169ff.

[28] Vgl. ebd., S. 272ff.

[29] Vgl. Gerhards 2005, S. 205ff.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2009
ISBN (PDF)
9783863415129
ISBN (Paperback)
9783863410124
Dateigröße
227 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Leipzig
Erscheinungsdatum
2011 (Juli)
Note
2
Schlagworte
Europa Türkei EU-Mitgliedschaft Identität Kultur europäisch Europäische Union

Autor

Anja Kleine, geboren 1988, begann nach dem Abitur ihr Studium der Sozialwissenschaften und Philosophie im Kernfach Politikwissenschaft an der Universität Leipzig. Im Jahr 2009 schloss sie dieses mit dem akademischen Grad Bachelor of Arts erfolgreich ab. Bereits während des Studium entwickelte die Autorin ein besonderes Interesse an soziologisch-politischen Fragestellungen und sozialkritischen Themen. Da der Beitritt der Türkei zur EU einen kontrovers diskutierten Diskurs darstellt, widmete sie sich ihm in ihrer Bachelorarbeit.
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