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„Lohnt sich Arbeit noch?“ Die ökonomische, politische und rechtliche Bedeutung des Lohnabstandsgebots: Die Hartz-IV Reformdebatte 2009/2010

©2010 Bachelorarbeit 61 Seiten

Zusammenfassung

Ist die Hartz IV Reform gescheitert? In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht große Unzufriedenheit über das Sozialstaatsystem in Deutschland. Man fragt sich derweilen provokativ, warum Staatsbürger mit dem Gewicht ihrer Faulheit ihre arbeitenden Nachbarn belasten dürfen und dafür zuweilen auch noch mehr Geld erhalten, als derjenige der jeden Tag aufsteht und zur Arbeit geht. FDP Parteichef Guido Westerwelle stellte sich diese umstrittene Frage, die man eigentlich hierzulande nicht stellen darf, und erntete dafür Kritik und politische Entrüstung. Er war es auch, der das Dilemma zwischen steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Lohnungleichheit aufzeigte und Deutschland mit der aktuellen „Hartz IV Reformdebatte“ konfrontierte.
In diesem Buch werden diese empfundenen Ungerechtigkeiten und der daraus entstehende Reformbedarf aufgezeigt und in Interviews mit Landes- und Bundespolitikern die Frage analysiert, ob es sinnvoll ist, die Regelsätze für Sozialleistungen zu kürzen, um den Abstand zwischen einem Leben mit oder ohne Arbeit zu vergrößern. Bislang ist es noch nicht gelungen, ein überzeugendes Reformkonzept umzusetzen, um Arbeit erstrebenswert und das Leben ohne Arbeit lebenswert und moralisch vertretbar zu machen. Hier geht es vor allem um die Fragestellung, wie weit der Sozialstaat Hilfsbedürftige unterstützen soll, ohne dem Anreiz einer Beschäftigung, gerade im Niedriglohnsektor, entgegenzuwirken. Diese Bedeutung des Lohnabstandsgebots zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit soll aus ökonomischer, politisch-moralischer und rechtlicher Sicht analysiert werden. Kritisch beschäftigt sich Robert Czaplinski mit dem Effekt, dass soziale Unterstützung in Deutschland oftmals schon einem Mindestlohn gleichkommt. In der deutschen Verfassung findet das Lohnabstandsgebot zwar keine Berücksichtigung, der Grundsatz aber, dass ein arbeitender Mensch in Deutschland mehr Geld zur Verfügung haben muss als jemand, der seinen Lebensunterhalt nur mit staatlicher Hilfe bestreiten kann, findet sich im zwölften Buch des Sozialgesetzbuches wieder. Nach § 28 SGB XII müssen die Regelsätze unter dem durchschnittlichen Nettoverdienst der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen liegen. Diese Regelung ist als Existenzminimum bekannt. Der im Gesetz zum Ausdruck gebrachte Vorrang der Erwerbstätigkeit steht aber erfahrungsgemäß häufig dort im Mittelpunkt der analysierten Debatte, wo sich Konstellationen ergeben, wo beispielsweise kinderreiche Sozialhilfeempfänger besser […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Motivation

2. Forschungsziel

3. Problemdarstellung
3.1 Spätrömische Dekadenz
3.2 Guido Westerwelles Kritik an den deutschen Sozialstaat
3.3 Ziel der Hartz-IV Reform
3.4 Der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit
3.5 Geregeltes Existenzminimum kontra Lohnverhältnis und Staatenkrise
3.6 Die elementare Bedeutung des Lohnabstandsgebots

4. Die Menschenwürde in der aktuellen Hartz-IV Debatte
4.1 Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Wahrung der Menschwürde

5. Das Lohnabstandsgebot
5.1 Der Zusammenhang zwischen Lohnabstand und Existenzminimum
5.2 Die gesetzliche Regelung des Lohnabstandgebots
5.3 Die Folgen der Hartz-IV Gesetzgebung für den Arbeitsmarkt
5.3.1 Die Entstehung prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor – am Beispiel der Leiharbeiterbranche
5.4 Arbeitnehmer sind aus ökonomischer Sicht keine freien Marktteilnehmer
5.4.1 Folgen für die Arbeitsuchenden
5.5 Lösungsansätze für das ökonomische Problem der Arbeitsuchenden

6. Erwerbstätigkeit kontra Hartz-IV Leistungen
6.1 Arbeitsmarktexperten zur Lohnabstandsthematik
6.2 Abbildung I: Vergleich Metallarbeiter und Hartz-IV Empfänger
6.3 Abbildung 2: Vergleich Gebäudereiniger und Hartz-IV Empfänger
6.4 Welche oft unberücksichtigten Kosten treten mit Aufnahme eine Erwerbstätigkeit auf?

7. Politische Meinungen von Spitzenpolitkern
7.1 Ziele der Interviews
7.2 Systematik der geführten Interviews
7.2.1 Dr. Carsten Linnemann
7.2.1.1 Arbeitslosenunterstützung trotz sinkendem Lohnabstand?
7.2.1.2 Arbeitszwang und Sanktionen für Erwerbslose Hartz-IV Empfänger?
7.2.1.3 Das Dilemma zwischen steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Lohnungleichheit
7.2.1.4 Kritik an den Aussagen Guido Westerwelles
7.2.1.5 Erwerbstätigen Lohn kontra Hartz-IV Leistungen
7.2.1.6 Existenzminimumbestimmung und Einfluss der Hartz-IV Regelsätze auf das Lohnabstandsgebot
7.2.1.7 Die Bedeutung des Lohnabstandsgebots
7.2.1.8 Vorschläge zur Umsetzung der politischen Zielvorstellungen
7.2.2 Dierk Homeyer
7.2.2.1 Kritik an den Aussagen Guido Westerwelles
7.2.2.2 Erwerbstätigenden Lohn kontra Hartz-IV Leistungen
7.2.2.3 Das Dilemma zwischen steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Lohnungleichheit
7.2.2.4 Arbeitszwang und Sanktionen für Hartz-IV Empfänger?
7.2.2.5 Die Bedeutung des Lohnabstandsgebots
7.2.2.6 Existenzminimumbestimmung und Einfluss der Hartz-IV Regelsätze auf das Lohnabstandsgebot
7.2.2.7 Vorschläge zur Umsetzung der politischen Zielvorstellung
7.2.3 Dr. Gregor Gysi
7.2.3.1 Kritik an den Aussagen Guido Westerwelles
7.2.3.2 Erwerbstätigenden Lohn kontra Hartz-IV Leistungen
7.2.3.3 Das Dilemma zwischen steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Lohnungleichheit
7.2.3.4 Die Bedeutung des Lohnabstandsgebots
7.2.3.5 Existenzminimumbestimmung und Einfluss der Hartz-IV Regelsätze auf das Lohnabstandsgebot
7.2.3.6 Vorschläge zur Umsetzung der politischen Zielvorstellungen
7.2.3.7 Arbeitszwang und Sanktionen für Erwerbslose Hartz-IV Empfänger?
7.2.3.8 Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn als Sicherung für das Lohnabstandgebots?
7.2.4 Kornelia Wehlan
7.2.4.1 Kritik an den Aussagen Guido Westerwelles
7.2.4.2 Erwerbstätigenden Lohn kontra Hartz-IV Leistungen
7.2.4.3 Das Dilemma zwischen steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Lohnungleichheit
7.2.4.4 Die Bedeutung des Lohnabstandsgebots
7.2.4.5 Vorschläge zur Umsetzung der politischen Zielvorstellungen
7.2.4.6 Existenzminimumbestimmung und Einfluss der Hartz-IV Regelsätze auf das Lohnabstandsgebot
7.2.4.7 Arbeitszwang und Sanktionen für Hartz-IV Empfänger?

8. Gerichtsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts
8.1 Kernpunkte der Gerichtsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

9. Auswirkungen der Gerichtsentscheidung auf das Lohnabstandsgebot
9.1 Kritische Expertenmeinungen

10. Kritik an der Berechnung des Lohnabstands

11. Reflexion und Fazit

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Motivation

Robert Czaplinski ist seit jungen Jahren politisch engagiert und verfolgt mit dieser Abschlussarbeit das Ziel, den Schnittpunkt zwischen fundierten Kenntnissen aus den Kernbereichen seines Studium in Wirtschaft und Recht und seinen politischen Interessen zu verbinden. Mit der Arbeit wurde bewusst ein aktuell wirtschaftpolitisches Thema, welches unter anderem bei Experten, Politikern, Gewerkschaften, Instituten, Gesetzgebern und der Gesellschaft stark diskutiert wird, gewählt. Ziel der Themenfindung war es nicht nur, ein geeignetes Thema mit für das Studium wichtigen Gesichtspunkten zu finden, sondern auch ein Fachgebiet zu bearbeiten, das dem Interesse der Allgemeinheit dient.

2. Forschungsziel

Die vorliegende Arbeit will nicht darauf abzielen, bereits wissenschaftliche Arbeiten und empirische Studien neu aufzuarbeiten. Sie will durch die Aufarbeitung und Analyse der geführten Interviews mit Spitzenpolitkern aus dem deutschen Bundestag und dem Brandenburger Landtag auf die aktuelle Bedeutungen des Lohnabstandsgebotes (gerade im Bezug auf die Gerichtsentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes über die Hartz-IV Regelsätze) und dem festzusetzenden Existenzminimum abzielen. Fraglich war, welchen Stellenwert das Lohnabstandsgebot überhaupt in der aktuellen Hartz-IV Debatte hat und welche Anstrengungen es bedarf, um auch für nachfolgende Generation lohnenswerte Arbeit zu ermöglichen und Lohngerechtigkeit zu garantieren. Wichtig war dem Autor, nicht nur Lösungsvorschläge für die Einhaltung des gesetzlich geregelten Lohnabstandes zu erhalten, sondern auch konkrete Ideen zur Umsetzungsmöglichkeiten zu erlangen und Risiken und Folgen abzuschätzen. Ein weiterer Aspekt war die finanzielle Umsetzbarkeit der Vorschläge unter dem Gesichtspunkt des verordneten Sparprogrammes.

3. Problemdarstellung

3.1 Spätrömische Dekadenz

Der deutsche Sozialstaat verführt die Bürger zu „spätrömischer Dekadenz“ (Guido Westerwelle, Die Welt, 11.02.2010). Mit dieser provokanten These brachte der Parteivorsitzende der Freien Demokratischen Partei die kontroverse Hartz-IV Reformdebatte ins Laufen. Westerwelle will zum Ausdruck bringen, dass die Konzentration der Arbeitsmarktentwicklung vor allem darauf gelegt werden soll, dass sich Arbeiten in Deutschland wieder lohnen muss.

Unter Spätrömischer Dekadenz versteht man allgemein den kulturellen Niedergang einer Gesellschaft, die von Wunschdenken geprägt ist. Der Franzose Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, Französischer Staatstheoretiker bezeichnet mit seinem Ausdruck „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence des Romains” den Zerfall des mächtigen Römischen Reiches. Mahnend brachte Montesquieu zum Ausdruck, dass mit der Ausdehnung Roms die alt bewährten Tugenden verloren gegangen waren und somit der Niedergang des Staates besiegelt wurde.

3.2 Guido Westerwelles Kritik an den deutschen Sozialstaat

Westerwelle zeigte jüngst der Öffentlichkeit auf, dass familienreiche Kinder mit der Unterstützung des Sozialstaates durch Arbeitslosengeld II in bestimmten Konstellationen bessergestellt sind als eine Familie, in der die Eltern einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Fraglich ist also, ob es in Deutschland überhaupt noch einen geforderten Lohnabstand gibt. Zeigt also Westerwelle Mut zur unbequemen Wahrheit? Für seine Aussagen erntete der deutsche Außenminister und Vizekanzler Kritik von allen Seiten. Selbst eigene Parteigenossen hielten dem Druck nicht Stand und beteiligten sich an der politischen Entrüstung gegenüber ihrem Parteivorsitzenden Westerwelle. Politiker und Gesellschaft diskutieren weiterhin heftig, ob die Hatz IV Reform gerechtfertigt ist, in Teilen verbessert werden muss oder sogar gescheitert ist.

3.3 Ziel der Hartz-IV Reform

Laut dieser Reform, die durch Gesetzesbeschluss im Januar 2005 unter Politischer Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschland in Kraft getreten ist, sollten die Menschen schneller in Arbeit gebracht werden. Das Hartz Konzept, das den Arbeitsmarkt in Deutschland reformieren sollte, wurde 2002 erstmals unter dem scheidenden Bundeskanzler Gerhard Schröders getragen von weiten Teilen der Opposition vorgestellt. Ausschlaggebend waren unteranderem manipulierte und veröffentlichte Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit und der BMAS über die Effizienz der Vermittlungserfolge von Arbeitslosen.

Mit in Kraft treten der Hartz-Gesetze erhielten viele Langzeitarbeitslose nun weniger finanzielle Unterstützung vom Staat. Sie sollten selber viel stärker bei der Suche nach einem neuen Anstellungsverhältnisses unterstützt werden als im alten Sozialstaatssystem. Langzeitarbeitslose sollten effektiver motiviert und angetrieben werden und mit Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen auf eine neue Erwerbstätigkeit vorbereitet zu werden.

3.4 Der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit

Deutschland ist ein sozialer Rechtsstaat im Grundgesetz heißt es „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art.20 GG).

Dieser Verfassungsgrundsatz ist so elementar, dass die Ausgestaltung des Sozialstaatssystems Ewigkeitscharakter hat, also dieser nicht verhandelbar ist. Das derzeitige Staatsystem und die Einführung des Hartz-IV Gesetzes lässt Kritiker aber nicht verstummen, weil durch Anwendung der Hartz-IV Gesetzgebung sich ein Arbeitsverhältnis im Vergleich zum Arbeitslosengeld möglicherweise nicht lohnt. Im Gegenteil, mit Arbeitslosengeld kann der Arbeitslose finanziell besser gestellt sein als mit einem Vollzeitjob. Das Problem stellt sich vor allem für die unteren Lohn- und Gehaltsgruppen. Es stellt sich die Frage, ob das deutsche Sozialhilfesystem in der heutigen Situation überhaupt noch zeitgemäß ist. Das heißt ist es überhaupt noch mit dem Grundsatz des Lohnabstandgebots vereinbar?

3.5 Geregeltes Existenzminimum kontra Lohnverhältnis und Staatenkrise

Unstrittig ist, dass der Sozialstaat gemäß Artikel 20 Grundgesetz den Schwachen und Bedürftigen eine angemessene Hilfe zu Teil lassen werden soll. Eine hohe Arbeitslosigkeit fordert immer einen besonderen Regelungsbedarf. Der Reglungsbedarf hängt oft von der aktuellen wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Kraft und der grundsätzlichen Einstellung eines Staates und seiner Gesellschaft ab.

Einem Staat in dem beispielweise die Arbeitslosigkeit der Bevölkerung gering ist und die Staatskasse gedeckt ist, hat weniger finanzielle und moralische Probleme, seine Schwächsten zu unterstützen. Sobald aber die Arbeitslosigkeit eines Landes, wie in Deutschland prognostiziert, weiter steigt, steigt auch die Gefahr sozialer Verwerfung. In einer Wirtschaftskrise sinken die Steuereinnahmen, die Staatsausgaben wachsen an und werden durch eine Neuverschuldung aufgefangen. Diese belasten immer die nachfolgenden Generationen, die dann die entstehenden Kredite und Zinsaufwendungen tragen. Gleichermaßen zeigt die arbeitenden Bevölkerung in Krisenzeiten ihren Unmut auf, da diese über Steuergelder die Sicherung der Anstellungslosen unterstützen und oftmals wie in der aktuellen Hartz-IV Reformdebatte diskutiert, glauben, mit ihren Nettoverdienstlohn weniger oder nicht angemessen finanziell besser gestellt zu sein als die Arbeitslosen. Es ist also nicht nur eine finanzielle Frage, die sich jeder Staat und seine Gesellschaft stellen muss, sondern auch eine politisch moralische Frage - eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

3.6 Die elementare Bedeutung des Lohnabstandsgebots

Mit dem elementaren Lohnabstandsgebot soll verhindert werden, dass die Unterstützung durch Arbeitslosengeld und sonstigen sozialen Sicherungsmaßnahmen zu einem höheren Einkommen führt als durch ein Arbeitsrechtsverhältnis, wie beispielsweise in einem tariflichen Anstellungsverhältnis. Dieses Lohnabstandsgebot dient auch der sozialen Gerechtigkeit.

4. Die Menschenwürde in der aktuellen Hartz-IV Debatte

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art.1 GG), heißt es im Artikel eins des Grundgesetzes. Dieser Artikel wird immer das demokratische Selbstverständnis der deutschen prägen. Aber inwieweit stehen ihm vorherrschende ökonomische Aspekte in der aktuellen Debatte entgegen?

Wo liegt die Einkommenswürde eines deutschen Staatsbürgers? Wie in der Problematik dargestellt, ist eine Hilfe für Schwächere notwendig wenn sie sich nicht selbst helfen können. Dies ist in der Verfassung verankert.

4.1 Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Wahrung der Menschwürde

Jüngst hat sich das Verfassungsgericht mit dieser Thematik auseinander setzen müssen. Die Richter sollten über die Hartz-IV Sätze entscheiden und hatten schon mit Beginn der Verhandlung auf die Unabdingbarkeit der Menschwürde in dieser Entscheidungsfindung verwiesen. Das Gericht hatte in einer Vorabentscheidung bereits die Regelsätze verworfen und die Richtung aufgezeigt.

In einer Forsa Umfrage hielten 61 Prozent die Hartz-IV Regelsätze vor der Gerichtsentscheidung für zu gering, nur 39 Prozent für angemessen. Die in Frage gestellten Regelsätze wurden 1998 mit Hilfe der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe festgesetzt und für menschenwürdig akzeptiert. Nunmehr werden diese Regelsätze vom Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts überprüft. Sollten die Sätze erhöht werden, sinkt das Lohnabstandsniveau in einigen Fällen sogar weiter, mit Ausnahme in den Fällen wo Ansprüche auf zusätzliche Sozialleistung neben der Erwerbstätigkeit bestehen. Nachfolgend werden bereits bestehende Forschungsergebnisse analysiert und der dadurch aktuell entstehende Reformbedarf aufgezeigt. Darüber hinaus muss die Bedeutung des Lohnabstandsgebots geklärt werden. Fraglich ist hier jedoch, inwieweit eine Bedeutung des Gebots in bestimmten Umständen greift.

5. Das Lohnabstandsgebot

Der Lohnabstand ist die Spanne zwischen dem Nettoerwerbseinkommen und dem Anspruch auf Sozialleistung. Dabei kann in einigen Fällen auch beim Erwerbstätigen ein Sozialleistungsanspruch bestehen.

5.1 Der Zusammenhang zwischen Lohnabstand und Existenzminimum

Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland schreibt das sogenannte Existenzminimum für diejenigen vor, die keiner Beschäftigung nachgehen, nicht in der Lage sind, eine Arbeit aufzunehmen oder keine angemessene Arbeit finden. Der Grundgedanke des Lohnabstandsgebotes ist denkbar einfach: Arbeit muss sich demnach mehr lohnen als keine Arbeit, dass heißt wer eine Ganztagsbeschäftigung hat, sollte keine staatlichen Unterstützungen in Anspruch nehmen müssen. Würde dieses Prinzip breit außer Kraft gesetzt oder weitestgehend nicht eingehalten werden, würde der Arbeitsanreiz in einer Volkswirtschaft wie Deutschland verloren gehen.

5.2 Die gesetzliche Regelung des Lohnabstandgebots

In der deutschen Verfassung findet das Lohnabstandsgebot keine Berücksichtigung. Der Grundsatz aber, dass ein arbeitender Mensch in Deutschland mehr Geld zur Verfügung haben muss als jemand, der seinen Lebensunterhalt nur mit staatlicher Hilfe bestreiten kann, findet sich im Sozialgesetzbuch wieder. Nach Paragraph 28 Sozialgesetzbuch XII müssen die Regelsätze unter dem durchschnittlichen Nettoverdienst der unterer Lohn- und Gehaltsgruppen liegen.

Der hier im Gesetz zum Ausdruck gebrachte Vorrang der Erwerbstätigkeit steht nun aber im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion, weil sich, wie die Entwicklung zeigt, Konstellationen ergeben, wo beispielsweise kinderreiche Sozialhilfeempfänger besser gestellt sind, als diejenigen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Werden angemessen Löhne gezahlt, gibt es dieses Problem nicht. Steigt aber der Beschäftigungsgrad gerade im Niedriglohnsektor, sind immer mehr Erwerbstätige vom Schwund des Lohnabstandsgebotes betroffen.

5.3 Die Folgen der Hartz-IV Gesetzgebung für den Arbeitsmarkt

Kritiker sind der Meinung, dass durch Einführung der Hartz Gesetze genau diese Niedriglohnbranche durch die Gesetzgebung und die politischen Aktivitäten der Regierungsparteien aktiv gefördert werden. Bemerkenswert ist, dass durch diese Politik immer mehr Erwerbstätige einen Anspruch auf Sozialleistungen des Staates haben, weil die Unternehmen die günstige Gesetzgebung nutzen, um ihre Beschäftigten in den Niedriglohnsektor einzugliedern und somit Tätigkeiten in Leiharbeit und Kurzeitarbeit steigen.

5.3.1 Die Entstehung prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor – am Beispiel der Leiharbeiterbranche

Die Beschäftigen in der Leiharbeiterbranche verdienen deutlich weniger als ihre Kollegen, die eine Festanstellung inne haben. Sie werden erst durch dieses Beschäftigungsverhältnis gezwungen Hartz-IV Leistungen in Anspruch zu nehmen. Die Anzahl der Leiharbeiter ist von 1997 zu 2007 um 500.000 auf 700.000 Beschäftige gestiegen, jeder Achte hat Anspruch auf Sozialleistungen und kann somit die Differenz ausgleichen lassen. Die Subvention kostet dem Staat circa 9,3 Milliarden Euro jährlich. Die herrschende Meinung sagt klar, dass das eigentliche Problem aber die sinkenden Löhne sind, die das Lohnabstandsgebot brechen, also nicht die zu hohen Hartz-IV Regelsätze.

5.4 Arbeitnehmer sind aus ökonomischer Sicht keine freien Marktteilnehmer

Aus ökonomischer Sicht ist unstrittig, dass zwischen dem Erwerbstätigkeitslohn, ausgehend vom Niedriglohnsektor und den Sozialleistungen, ein gewisser Abstand bestehen muss. Bereits hier tritt die Problematik der klassischen Lehre auf, weil in der Niedriglohnbranche Gehälter und Löhne gezahlt werden, die sich nur knapp über denen befinden, die einem Sozialhilfeempfänger zustehen. Ein Arbeitsuchender würde auf dem sogenannten vollkommenen Arbeitsmarkt eine derartige unterbezahlte Anstellung in den meisten Fällen ausschlagen, wenn das Beschäftigungsangebot größer ist als die Nachfrage für Beschäftigungsverhältnisse. Wenn also ein Überhang von Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor entstünde, müssten sich nach der klassischen Arbeitsmarktlehre Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage in einem Gleichgewicht wiederfinden. In diesem Fall befände sich der Lohn des Arbeitnehmers über dem des Sozialhilfeempfängers: Der Lohnabstand wäre gewährleistet. Doch die klassische Lehre versagt aktuell, denn genau das Gegenteil ist in Deutschland der Fall. Die Löhne aus Beschäftigungen im Niedriglohnsektor gehen genauso zurück wie auch der Lohnabstand und gleichzeitig steigt dabei der Bedarf an Geringqualifizierten!

5.4.1 Folgen für die Arbeitsuchenden

Die Analyse durch Arbeitsmarktforschungsinstitute hat ergeben, dass auf Grund von möglichen Konsequenzen einer Nichtaufnahme einer solchen gering qualifizierten Beschäftigung eines Arbeitslosen, Kürzungen seiner Sozialleistungen drohen, somit wird häufig das nicht wirklich lohnende Angebot angenommen, zum Vorteil der Profitgier der Unternehmungen dieser Branche und zum Nachteil des Lohnabstandniveaus, das dadurch marginal sinkt. In der aktuellen Situation, ist die klassische Lehre also demnach nicht anwendbar, weil der Sozialleistungsempfänger weder sachlich agieren kann noch ein freier Marktteilnehmer ist.

5.5 Lösungsansätze für das ökonomische Problem der Arbeitsuchenden

Doch wie sieht die Lösung dieser ökonomischen neuen Problematik der sinkenden Bedeutung des Lohnabstandsniveaus aus? Die derzeit praktizierte Systematik muss unterbrochen werden, das heißt ein Arbeitsloser darf nicht dafür bestraft werden, dass er eine ihm zugewiesen Stelle auf Grund der schlechten Bezahlung nicht annimmt. Er verliert durch die ihm drohenden Kürzungen seiner Sozialleistung die Marktmacht. Er entscheidet also nicht mehr, was ein angemessener Lohn ist, sondern eher der wirtschaftspolitische Wandel mit dem rapide steigenden Ausbau des Niedriglohnsektors und die günstige Sozialleistungsgesetzgabe für Unternehmen. Auch fehlt es dem Niedriglohnsektor an der Unterstützung durch die Gewerkschaften insbesondere durch den DGB. Ihre Aufgabe wäre es ein angemessenes und erträgliches Lohnniveau über dem Sozialleistungsniveau auszuhandeln.

6. Erwerbstätigkeit kontra Hartz-IV Leistungen

Schon heute scheint sich die Realität vom Lohnabstandsgebot entfernt zu haben. Die nachfolgenden Grafiken sollen zeigen, wie sich der Lohnabstand zwischen ledigen und verheirateten Erwerbstätigen mit jeweils einem Kind, verheirateten Erwerbstätigen mit zwei Kindern und verheirateten Erwerbstätigen mit drei Kindern im Vergleich zu den Beziehern mit gleichen Voraussetzungen, aber mit Unterstützung durch Hartz-IV Regelleistungen verringert hat. Die Diskussion wird noch dahingehend verschärft, dass sich die Erwerbstätigenquote auf 40,7 Prozent verringert hat, einem Minus von drei Prozentpunkten und im Gegensatz dazu die Anzahl der Leistungsempfänger auf 37,8 Prozent, einem Zuwachs von 6,5 Prozentpunkten, gestiegen ist.

6.1 Arbeitsmarktexperten zur Lohnabstandsthematik

Führende Arbeitsmarktexperten gehen sogar davon aus, dass der Lohnabstand zwischen Erwerbstätigen und Sozialhilfeempfängern in den nächsten Jahren gegen Null gehen wird. Wolfgang Franz, Mitglied des ZEW forderte nach Analyse des Lohnabstandes in den folgenden Übersichten, in dem Magazin die Wirtschaftswoche, dass die Hartz-IV Leistungen um 30 Prozent gesenkt werden müssen.

Das Problem ist, dass geringqualifizierte, kinderreiche Arbeitslosengeldempfänger mehr Transferleistungen erhalten als ein schlecht bezahlter Erwerbstätiger in Vollzeit verdient. Er warnt einschlägig im Interview mit der Wirtschaftswoche vor der Erhöhung der Hartz-IV Regelleistungen, die zusätzlichen Mitteln führen nicht zu den bedürftigen Kindern, sondern in den Haushaltsvorstandes der Bedarfsgemeinschaft. Einen flächendeckenden Mindestlohn, wie die Partei der Linken um Dr. Gregor Gysi, Teile der SPD und der Grünen fordern, hält er für kontraproduktiv. Denn seiner Meinung nach führt diese Regelung zur Vernichtung von bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen.

6.2 Abbildung I: Vergleich Metallarbeiter und Hartz-IV Empfänger

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Ergebnisse des Vergleiches der Berliner Arbeitsagentur zwischen einem Berliner Metallarbeiter ohne staatliche Zusatzunterstützung und einem Arbeitslosengeld II Empfänger zeigt, das der Lohnabstand bis einschließlich zu einem verheirateten Ehepaars mit einem Kind gegeben ist. Hat das Ehepaar des Metallarbeiters zwei Kinder, ist der Lohnabstand mit 171,14 Euro schon ziemlich gering. Hat das Ehepaars drei Kinder, ist kein Lohnabstand mehr vorhanden. Nur mit staatlicher Zufinanzierung ist in allen Fällen ein Lohnabstand im Sinne des Lohnabstandsgebotes gegeben.

6.3 Abbildung 2: Vergleich Gebäudereiniger und Hartz-IV Empfänger

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Ergebnisse der Arbeitsagentur München zeigen, dass der Lohnabstand mit staatlicher Zufinanzierung mit einem Abstand von 317,23 Euro gesichert ist. Dieser Abstand ist nach herrschender Meinung auch noch angemessen, um eine Erwerbstätigkeit lohnenswert zu machen. Erwerbstätige, die aber aus psychologischen Gründen, wie der Angst vor der Auseinandersetzung mit dem System der Arbeitsagentur oder anderen Beweggründen trotz Anspruches keine staatlichen Zusatzleistungen in Anspruch nehmen, haben nur, wenn sie ledig sind und ein Kind zu versorgen haben, überhaupt noch einen Lohnabstand, dieser fällt aber mit 57,82 Euro denkbar gering aus.

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2010
ISBN (PDF)
9783863415761
ISBN (Paperback)
9783863410766
Dateigröße
419 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Hochschule Wildau, ehem. Technische Fachhochschule Wildau
Erscheinungsdatum
2012 (März)
Note
1,7
Schlagworte
Lohnabstandsgebot Hartz IV Mindestlohn Niedriglohnsektor Reform
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Robert Czaplinski ist seit jungen Jahren politisch engagiert und verfolgt mit diesem Buch das Ziel, seine fundierten Kenntnisse aus den Kernbereichen seines Studiums in Wirtschaft und Recht mit seinem Interesse an politischen Fragestellungen zu verbinden.
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