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Deutschland und der Mindestlohn: Eine ökonomische Betrachtung

©2011 Bachelorarbeit 67 Seiten

Zusammenfassung

Braucht Deutschland einen Mindestlohn? Eine Frage, zur der es viele Meinungen gibt. Die Thematik der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns beschäftigt Deutschland schon seit vielen Jahren. Sie steht immer wieder im Zentrum vieler Diskussionen. Gerade vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit nahm die Debatte wieder an Fahrt auf. Seit dem 01.05.2011 gilt sie auch für Arbeitnehmer aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Viele sind der Meinung, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit einen flächendeckenden Mindestlohn mehr denn je erforderlich macht. Es könnte zu einer Verschärfung der Armutsproblematik in Deutschland kommen, da insbesondere der Niedriglohnsektor betroffen wäre. Aber es gibt auch mindestens genauso viele Stimmen gegen einen Mindestlohn. Es könnte durch ihn zu einem Abbau an Arbeitsplätzen kommen. Ein Konsens, ob er nun eingeführt werden soll oder nicht, ist noch in weiter Ferne.
Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die Argumente zu schaffen, warum ein flächendeckender Mindestlohn in Deutschland notwendig sein könnte. Mögliche Aspekte hinsichtlich der Wirkung eines Mindestlohns werden hierbei mit gängigen ökonomischen Modellen überprüft. Da es sich letztlich aber nur um Modelle handelt, werden auch empirische Befunde betrachtet. Somit können die Aussagen der Theorie kritisch überprüft werden. Letztlich soll daraus eine Handlungsempfehlung abgeleitet und die Frage beantwortet werden, ob Deutschland einen Mindestlohn braucht oder nicht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VIII
Abkürzungsverzeichnis
AEntG
Arbeitnehmer-Entsendegesetz
AVE
Allgemeinverbindlicherklärung
BDA
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V.
BIV
Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks
DGB
Deutscher
Gewerkschaftsbund
IAQ
Institut Arbeit und Qualifikation
MiArbG Mindestarbeitsbedingungsgesetz
OECD
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
RWI
Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung
SOEP
Sozio-oekonomische
Panel
SVR
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
TVG
Tarifvertragsgesetz
WGP
Wertgrenzprodukt des Faktors Arbeit

IX
Symbolverzeichnis
C
Kosten
L
Arbeit
L
*
Gleichgewichtsbeschäftigungsmenge
L
D
Arbeitsnachfragefunktion
L
M
Monopsonbeschäftigungsmenge
L
min
Mindestlohnbeschäftigungsmenge
L
S
Arbeitsangebotsfunktion
M
Anzahl der Mitglieder
NP
Nash-Produkt
p
Güterpreis
R
Erlös
U
Nutzen
w
Lohnsatz
w
*
Gleichgewichtslohnsatz
w
/
p
Reallohn
w
A
Alternativlohnsatz
w
M
Monopsonlohnsatz
w
min
Mindestlohn
Y
Output
Verhandlungsmacht
Gewinn

1
1 Einführung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
Braucht Deutschland einen Mindestlohn? Eine Frage, zur der es viele Meinungen gibt.
Die Thematik der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns beschäftigt
Deutschland schon seit vielen Jahren. Sie steht immer wieder im Zentrum vieler
Diskussionen. Gerade vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit nahm die
Debatte wieder an Fahrt auf. Seit dem 01.05.2011 gilt sie auch für Arbeitnehmer aus
Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Es
gibt viele Meinungen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit einen flächendeckenden
Mindestlohn mehr denn je erforderlich macht. Es könnte zu einer Verschärfung der
Armutsproblematik in Deutschland kommen, da insbesondere der Niedriglohnsektor
betroffen wäre. Aber es gibt auch mindestens genauso viele Meinungen, die einen
Mindestlohn strikt ablehnen. Es könnte durch ihn zu einem Abbau an Arbeitsplätzen
kommen. Ein Konsens, ob er nun einführt werden soll oder nicht, ist noch in weiter
Ferne.
Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die Argumente zu schaffen, warum ein
flächendeckender Mindestlohn in Deutschland notwendig sein könnte. Mögliche
Aspekte hinsichtlich der Wirkung eines Mindestlohns werden hierbei mit gängigen
ökonomischen Modellen überprüft. Da es sich letztlich aber nur um Modelle handelt,
werden auch empirische Befunde betrachtet. Somit können die Aussagen der Theorie
kritisch überprüft werden. Letztlich soll daraus eine Handlungsempfehlung abgeleitet
und die Frage beantwortet werden, ob Deutschland einen Mindestlohn braucht oder
nicht.
1.2 Vorgehensweise
Die hier vorliegende Arbeit verfolgt einen deduktiven Ansatz. Zunächst wird grundle-
gend ein Überblick über den aktuellen Stand der öffentlichen Debatte zur Mindestlohn-
thematik in Deutschland gegeben. Hierbei werden die verschiedenen Standpunkte aus
Sicht der Politik, der Tarifparteien und der Wissenschaft dargelegt. Im Folgenden wird
die Entwicklung des deutschen Niedriglohnsektors und der damit verbundenen Armuts-
problematik beschrieben. Somit wird die Ausgangslage für weitere Betrachtungen

2
geschaffen. Anschließend wird eine Definition zum Mindestlohn vorgestellt und seine
Ziele aus den vorangestellten Abschnitten abgeleitet. Des Weiteren wird ein Überblick
über bereits umgesetzte Mindestlohnregelungen in Deutschland gegeben.
Im Folgenden wird aus theoretischer Sicht die Wirkungsweise eines Mindestlohns näher
analysiert. Hierzu werden drei verschiedene Arbeitsmarktmodelle betrachtet, welche in
Bezug auf Mindestlöhne besondere Beachtung in der wissenschaftlichen Literatur
finden. Um auf diese detaillierter eingehen zu können, wird von einer Analyse weiterer
Modelle abgesehen. Die in dieser Arbeit betrachteten Modelle sind zunächst das
neoklassische Standardmodell und darauf aufbauend das right-to-manage-Modell.
Beides sind Modelle, die oft von Mindestlohngegnern angeführt werden. Nachfolgend
wird das Monopson-Modell betrachtet, welches häufig von Mindestlohnbefürwortern
aufgegriffen wird. Die drei Arbeitsmarktmodelle werden jeweils näher vorgestellt und
in Hinblick auf eine Mindestlohneinführung untersucht. Im Fokus stehen hierbei
Beschäftigungseffekte und volkswirtschaftliche Effizienz, da diese zentrale Argumente
für wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen darstellen. Anschließend wird
Kritik an den Modellen aufgezeigt.
Darauf aufbauend wird die theoretische Betrachtungsweise um eine empirische ergänzt.
Hierdurch soll ein besserer Überblick über die reale Wirkung von einem Mindestlohn
gegeben werden. Des Weiteren findet somit eine Überprüfung der normativen Mo-
dellaussagen statt. Es werden drei empirische Studien näher vorgestellt. Dies ist
zunächst eine Studie von Card und Krueger, welche in der Fachwelt größte Beachtung
findet und als Meilenstein in der Mindestlohnforschung gilt. Des Weiteren werden zwei
Studien betrachtet, welche die Mindestlohnthematik in Bezug auf Deutschland näher
untersuchen. Dies sind zum einen eine Studie von König und Möller und zum anderen
eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI).
Beide Studien finden in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung großen Anklang.
Des Weiteren sind sie gerade bei der Frage nach Mindestlöhnen in Deutschland nicht
außer Acht zu lassen. Für alle drei Studien werden jeweils die Vorgehensweise und die
Ergebnisse dargestellt. Im Anschluss werden wieder Kritikpunkte an den einzelnen
Studien angeführt. Auch hier wird von der Betrachtung weiterer Studien abgesehen, um
die drei genannten detailliert beschreiben zu können.

3
Abschließend werden die Ergebnisse aus der Betrachtung des Niedriglohnsektors und
bereits bestehenden Mindestlohnregelungen sowie der Analyse der Arbeitsmarktmodel-
le und empirischen Studien zusammengefasst. Gemessen an den wissenschaftlichen
Ergebnissen wird ein Fazit gezogen, ob Deutschland einen Mindestlohn braucht oder
nicht.

4
2 Grundlagen
2.1 Öffentliche Debatte in Deutschland
2.1.1 Politik
Die Politik bewertet die Frage nach Mindestlöhnen sehr unterschiedlich. Um sich einen
aktuellen Überblick der verschiedenen Meinungen bilden zu können, bietet sich die
Debatte 105 des Deutschen Bundestages vom 14.04.2011 an und wird im Folgenden
dargestellt.
Die Linke fordert die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in
Höhe von zehn Euro brutto pro Arbeitsstunde.
1
Dieser soll einer regelmäßigen Anpas-
sung unter Berücksichtigung der Entwicklung des Niedriglohnsektors und der wirt-
schaftlichen Situation unterliegen. Zusätzlich wird gefordert, dass das Arbeitnehmer-
Entsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet und eine Erklärung der Allgemeinver-
bindlichkeit erleichtert wird. Somit soll die Möglichkeit geschaffen werden, für einzelne
Branchen höhere Mindestlöhne festlegen zu können. Die Linke begründet ihren Antrag
damit, dass in Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Schutz der Arbeitnehmer
erforderlich sei. Sie geht davon aus, dass es sonst zu einer Benachteiligung der einhei-
mischen Arbeitnehmer durch Lohndumping kommen könne, da ausländische Arbeit-
nehmer für einen niedrigeren Lohn bereit wären zu arbeiten. Dies würde zu einer
Ausweitung der Armutsproblematik führen und die öffentlichen Haushalte durch höhere
Transferleistungen weiter belasten. Man sieht durch die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns ebenfalls eine Chance der Diskriminierung von Frauen entgegenzuwirken
sowie insgesamt die Binnennachfrage zu fördern.
Auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert die Einführung eines flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohns.
2
Dieser soll nach Auffassung der Fraktion 7,50 Euro
brutto pro Arbeitsstunde betragen und durch Änderungen am Mindestarbeitsbedin-
gungsgesetz realisiert werden. Ebenfalls sehen Bündnis 90/Die Grünen eine Auswei-
tung des AEntG auf alle Branchen als notwendig an, um ggf. höhere Lohnuntergrenzen
festlegen zu können. Analog zur Argumentation der Fraktion Die Linke geht man von
1
Vgl. hierzu und im Folgenden Deutscher Bundestag, 2010b, S. 1 ff.
2
Vgl. hierzu und im Folgenden Deutscher Bundestag, 2011a, S. 1 ff.

5
weitreichenden Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus und sieht daher Handlungs-
bedarf. Besonders hervorgehoben wird die These, dass ein Mindestlohn zu Mehrein-
nahmen der sozialen Sicherungssysteme führt und diese auch gleichzeitig noch entlas-
tet.
Die SPD fordert ebenfalls die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns.
3
Ergänzend
sollte das AEntG auf alle Branchen ausgeweitet werden. Entgegen zu den zuvor
beschriebenen Parteien legt sie sich bezüglich der Höhe des Mindestlohns nicht fest,
sondern nennt lediglich 8,50 Euro brutto pro Arbeitsstunde als möglichen Ansatzpunkt.
Die Festlegung soll aber einer unabhängigen Kommission obliegen. Als Hauptargumen-
te der SPD für die Einführung eines Mindestlohns werden die Gefahr von Lohndum-
ping, insbesondere durch die bevorstehende Arbeitnehmerfreizügigkeit und eine damit
einhergehende Ausweitung des Niedriglohnsektors angeführt. Dies hätte eine schädliche
Wirkung auf die Sozialversicherungssysteme und die Armutsproblematik würde
verschärft. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass durch einen Mindestlohn
Dumpinglöhne vermieden werden können und dadurch eine Stärkung der Wettbewerbs-
faktoren wie Produktivität und Qualität erreicht würde. Ebenso werden mögliche
positive Beschäftigungseffekte genannt, wie sie laut SPD in Großbritannien auftraten.
Die Forderungen der Oppositionsparteien werden jedoch durch die Mehrheit der
Regierungsparteien CDU/CSU und FDP abgelehnt.
4
Zwar sei man Mindestlohnregelun-
gen generell gegenüber positiv eingestellt, halte aber die bestehenden gesetzlichen
Möglichkeiten für ausreichend. Man verweist auf die Tarifautonomie und sieht eine
Einmischung der Politik mehr als kritisch. Es wird das Argument angeführt, dass bei der
Lohnsetzung unterschiedliche regionale Gegebenheiten berücksichtigt werden sollten.
Mit einem flächendeckenden Mindestlohn könnten ebenfalls nicht branchenspezifische
Unterschiede berücksichtigt werden. Somit sei eine Zielgenauigkeit mehr als fragwür-
dig.
Zu den Themen Freizügigkeit und Lohndumping wird angeführt, dass die bestehenden
Mindestlohnregelungen etwaige Probleme bereits ausgeräumt hätten. So sei das AEntG
auch für ausländische Arbeitnehmer verbindlich. Ebenfalls wird stets darauf hingewie-
sen, dass es durchaus zu negativen Beschäftigungseffekten kommen würde und es dies
in jeden Fall zu vermeiden gelte.
3
Vgl. hierzu und im Folgenden Deutscher Bundestag, 2010a, S. 1 ff.
4
Vgl. hierzu und im Folgenden Deutscher Bundestag, 2011b, S. 1190 ff.

6
Ergänzend zum Standpunkt der Regierungsparteien sei erwähnt, dass es mittlerweile
innerhalb der CDU zu abweichenden Meinungen bezüglich eines flächendeckenden
Mindestlohns kommt. So befürworten mittlerweile der Sozialflügel sowie Teile des
Wirtschaftsflügels entgegen der offiziellen Parteilinie die Einführung eines flächende-
ckenden Mindestlohns. Sie begründen dies mit einer mangelnden Reichweite der
Tarifparteien.
5
Wie in der politischen Sichtweise zum Thema Mindestlohn gezeigt wurde, benutzen die
Mindestlohngegner u.a. das Argument der Tarifautonomie. Wie nun die Tarifparteien
selbst zu dieser Thematik stehen, wird nun im Folgenden dargestellt.
2.1.2 Tarifparteien
Auf der Arbeitnehmerseite war lange kritisch bezüglich gesetzlicher Mindestlöhne
diskutiert worden. Man sah die Gefahr, dass durch eine Einführung die Tarifautonomie
untergraben würde. Mittlerweile ist es aber zu einer Befürwortung gesetzlicher Mindest-
löhne gekommen.
6
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beschloss im Mai 2010
auf dem 19. DGB-Bundeskongress seine neusten Mindestlohnforderungen. Es wird ein
flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto pro Arbeits-
stunde, eine Ausweitung des AEntG auf alle Branchen sowie eine Vereinfachung der
Allgemeinverbindlicherklärung gefordert. Der DGB begründet dies mit dem Schutz vor
Lohndumping, welcher durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erwarten sei. Als
weiteres Argument wird die Existenzsicherung durch angemessene Entgeltzahlung
angeführt.
7
Der DGB ist die Dachorganisation von acht Einzelgewerkschaften. Zu
diesen zählen: Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Industriegewerkschaft
Bergbau/Chemie/Energie, EVG - Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft, Industriegewerkschaft Metall, Gewerkschaft Nahrung-
Genuss-Gaststätten, Gewerkschaft der Polizei und ver.di - Vereinte Dienstleistungsge-
werkschaft. Demzufolge sind zwar nicht alle Gewerkschaften in dieser Dachorganisati-
on vertreten, aber mit rund 6,2 Millionen Mitgliedern
8
der Einzelgewerkschaften ist der
DGB der gewichtigste Vertreter für Arbeitnehmerinteressen gegenüber der Politik. Die
Mitgliedsgewerkschaften sind zwar unabhängig vom DGB und treten eigenständig in
5
Vgl. Vates, 2011, Onlinequelle
6
Vgl. DGB, 2010a, Onlinequelle
7
Vgl. DGB, 2010b, Onlinequelle
8
Vgl. DGB, 2011, Onlinequelle

7
Tarifverhandlungen auf, haben sich aber dennoch ohne Ausnahme den Forderungen
nach einem gesetzlichen Mindestlohn angeschlossen.
Auf der Arbeitgeberseite ist erwartungsgemäß eine andere Sichtweise anzutreffen. So
spricht sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA)
deutlich gegen die Einführung eines Mindestlohns aus.
9
Sie argumentiert u.a., dass ein
solcher Mindestlohn zu einem Abbau an Arbeitsplätzen führen würde, da sich viele
Unternehmen höhere Löhne nicht leisten könnten. Auch sei ein Mindestlohn sozial
ungerecht, da insbesondere Geringqualifizierte und Arbeitslose keine Chance mehr
hätten, einen Arbeitsplatz zu finden. Dies wird damit begründet, dass Stellen für diesen
Personenkreis nur an die Produktivität gekoppelt und durch höhere Löhne nicht mehr
wettbewerbsfähig seien. Des Weiteren wird angeführt, dass die s.g. Aufstocker lediglich
so wenig verdienen, da sie keiner Vollzeitbeschäftigung nachgingen. Ein Mindestlohn
würde an der Arbeitszeit jedoch nichts ändern. Als Aufstocker gelten Personen, die
Arbeitslosengeld II beziehen obwohl sie berufstätig sind. Ihr Einkommen würde sonst
unterhalb der Grundsicherung für Arbeitsuchende liegen.
Laut der BDA würde die Einführung eines Mindestlohns auch bewirken, dass keine
neuen Arbeitsplätze unterhalb des Mindestlohns geschaffen würden und somit weniger
Arbeitsplätze zur Verfügung stehen würden als möglich. Ebenfalls würde ein hoher
Kontrollaufwand bezüglich der Einhaltung des Mindestlohns erforderlich sein, was
enorme Kosten verursache. Im Übrigen würde die Tarifautonomie untergraben und der
Mindestlohn zu einem dauerhaften Wahlkampfthema werden.
Als interessante Abweichung von dieser negativen Sichtweise lässt sich eine Forderung
des BDA-Präsidenten Dieter Hundt anführen. Er forderte die Aufnahme eines Mindest-
lohns für die Zeitarbeitsbranche in das AEntG. Hier würde ohne einen Mindestlohn die
Gefahr bestehen, dass es zu Lohndumping aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit
komme und deutsche Unternehmen benachteiligt würden.
10
Auch der Bundesinnungs-
verband des Gebäudereiniger-Handwerks (BIV) tritt für die Einführung eines Mindest-
lohns ein.
11
Die Forderung des Verbandes geht sogar noch weiter als die des BDA-
Präsidenten. So wird nämlich ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn gefordert.
Als Begründung dient auch hier die Gefahr von Lohndumping im Zuge der Freizügig-
9
Vgl. hierzu und im Folgenden BDA, 2011, Onlinequelle
10
Vgl. Gaugele, 2010, Onlinequelle
11
Vgl. hierzu und im Folgenden BIV, 2010, Onlinequelle

8
keit. Des Weiteren wird angeführt, dass keine negativen Beschäftigungseffekte zu
erwarten sein.
2.1.3 Wissenschaft
Auch die Wissenschaft ist sich uneinig darüber, ob die Einführung eines flächendecken-
den Mindestlohns sinnvoll ist oder nicht. Betrachtet man aktuelle Aussagen von
führenden deutschen Wirtschaftswissenschaftlern sieht man, dass die Thematik der
Mindestlöhne äußerst kontrovers diskutiert wird.
Der aktuelle Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Prof. Dr. Gert G.
Wagner spricht sich in einem Zeitungsartikel vom Februar 2011 deutlich für die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns aus. Er führt an, dass so mehr Gerechtig-
keit erreicht werden könne, da ein Mindestlohn gerade im unteren Lohnbereich Exzesse
verhindere. Man müsse jedoch darauf achten, dass dieser möglichst keine beschäfti-
gungsschädigende Wirkung hätte. Er hält eine Höhe von sieben bis acht Euro für
angemessen.
12
Interessant sind auch die Meinungen des Chefs des ifo Instituts für Wirtschaftsfor-
schung Prof. Dr. Hans-Werner Sinn und des ehemaligen Vorsitzenden des Sachverstän-
digenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) Prof. Dr.
Bert Rürup. Beide gelten als die einflussreichsten Ökonomen auf die Politik in Deutsch-
land.
13
In einem Interview im November 2010 stellten sich unterschiedliche Ansichten
bezüglich der Notwendigkeit von einem gesetzlichen Mindestlohn heraus. Beide sehen
es zwar als wünschenswert an, dass Vollzeitbeschäftigte nicht unterhalb des Existenz-
minimums entlohnt werden, sind sich jedoch uneinig darüber, ob dies mit einem
Mindestlohn erreicht werden würde. Prof. Dr. Sinn führt an, dass ein Mindestlohn zu
Arbeitslosigkeit führen könne. Prof. Dr. Rürup entgegnet, dass dies nicht zwangsläufig
der Fall sein müsse und verweist auf eine monopsonistische Ausbeutung. Ebenso führt
er an, dass ein gesetzlicher Mindestlohn die öffentlichen Haushalte entlasten könne.
14
Einigkeit herrscht hingegen zwischen dem Präsident des RWI Prof. Dr. Christoph M.
Schmidt und dem Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Prof.
Dr. Wolfgang Franz. Wie ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2010 belegt, sprechen sich
12
Vgl. Wolff, 2011, Onlinequelle
13
Vgl. Fricke, 2006, Onlinequelle
14
Vgl. Faigle, 2010, S. 3 ff.

9
beide gegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns aus. Prof. Dr. Franz,
aktuell Vorsitzender des SVR, verweist darauf, dass man im Ausland schlechte Erfah-
rungen gesammelt habe. Prof. Dr. Schmidt führte an, dass ein Niedriglohnsegment
gerade für gering Qualifizierte notwendig sei und ein Mindestlohn, wenn er zu hoch sei,
diesen Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt verwehre.
15
Vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit fügte Prof. Dr. Franz 2011 seiner
ablehnenden Argumentation hinzu, dass ein Mindestlohn lediglich zu Wohlfahrtsverlus-
ten führe. Er sehe keine Gefahr von Lohndumping durch ausländische Arbeitnehmer, da
nur mit einer geringen Zuwanderung zu rechnen sei.
16
Prof. Dr. Justus Haucap hingegen befürwortet einen gesetzlichen Mindestlohn in
Deutschland. Er ist Vorsitzender der Monopolkommission, welche
,,
ein unabhängiges
Beratungsgremium für die Bundesregierung auf den Gebieten der Wettbewerbspolitik
und Regulierung"
17
ist. Seiner Ansicht nach wäre ein flächendeckender Mindestlohn in
jeden Fall branchenspezifischen Mindestlöhnen vorzuziehen. Solche wären seiner
Meinung nach nicht wettbewerbskonform, da sie lediglich von Großunternehmen und
Gewerkschaften ausgehandelt würden. Es würde keine Berücksichtigung von Kleinun-
ternehmen oder gar Verbrauchern stattfinden. Dennoch verwies Prof. Dr. Haucap auf
mögliche negative Beschäftigungseffekte eines Mindestlohns, wenn dieser zu hoch
liege. Seinen Ausführungen zufolge, sei ein Mindestlohn von fünf Euro als unschädlich
anzusehen.
18
Wie dargestellt ist der Niedriglohnsektor in Deutschland Ausgangpunkt vieler Diskussi-
onen bezüglich der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns. Demnach scheint
im Folgenden eine nähere Betrachtung des Niedriglohnsektors mehr als sinnvoll.
2.2 Niedriglohnsektor
2.2.1 Definitorische Abgrenzung
Ein Niedriglohnsektor beschreibt ein Lohnsegment. Entscheidend hierfür ist die Grenze,
ab der von einem Niedriglohn gesprochen wird. Eine weit verbreitete Definition der
15
Vgl. Welt Online, 2010, Onlinequelle
16
Vgl. Handelsblatt, 2011a, Onlinequelle
17
Monopolkommission, 2011, Onlinequelle
18
Vgl. Handelsblatt, 2011b, Onlinequelle

10
Niedriglohngrenze ist die der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD). Sie sieht die Niedriglohngrenze bei zwei Drittel des Medianein-
kommens aller abhängig Beschäftigten einer Volkswirtschaft. Das Einkommen bezieht
sich dabei auf den gezahlten Bruttostundenlohn.
19
Das Medianeinkommen ist der Wert, der sämtliche Einkommen in zwei Gruppen
aufteilt. Diese haben einen identischen Umfang. Das Einkommen der abhängig Beschäf-
tigten der einen Hälfte liegt unterhalb dieses Wertes, die andere Hälfte umfasst das
Einkommen über diesem Wert.
20
Durch die Verwendung des Medians kommt es zu
einer Robustheit gegenüber Ausreißerwerten, denn ,,Überproportionale Zuwächse der
Besserverdiener verschieben den Median nicht nach oben. Umgekehrt ließen Einkom-
mensverluste, die sich auf das untere Ende der Skala beschränken, den Wert ebenfalls
unberührt."
21
Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die OECD-Definition in der öffentlichen Debatte
sowie in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bezüglich des Niedriglohnsektors
nicht einheitlich verwendet wird. So kann es bereits bei der Herleitung einer Niedrig-
lohndefinition zu Unterschieden kommen. Es muss bereits bei der Wahl der Daten-
grundlange entschieden werden, welcher Lohn herangezogen werden soll. Möglich
wären hier Brutto- oder Nettolöhne bzw. Stunden- oder Monatslöhne. Zum anderen
unterscheiden sich die Grenzen zur Bestimmung einer Niedriglohnschwelle. Hierbei
sind eine relative sowie eine absolute Niedriglohnschwelle möglich. Die Festlegung, wo
diese liegt bzw. wie sie errechnet wird, erfolgt ebenfalls nicht einheitlich.
22
Somit
finden sich je nach Quelle unterschiedlichen Angaben bezüglich der Größe des Niedrig-
lohnsektors und seiner Strukturen bzw. Charakteristika.
2.2.2 Der Niedriglohnsektor in Deutschland
Für die Darstellung der Entwicklung des deutschen Niedriglohnsektors der letzten Jahre
wird im Folgenden die Studie ,,Niedriglohnbeschäftigung 2008" des Instituts Arbeit und
Qualifikation (IAQ) aus dem Jahr 2010 verwendet. Sie ist eine der aktuellsten Niedrig-
lohnstudien. Als Datenquelle dienen Erhebungen des Sozio-oekonomischen Panels
(SOEP), was bedeutet, dass sowohl Vollzeit- als auch Teilzeitbeschäftigte und Minijob-
19
Vgl. Kalina/ Weinkopf, 2010, S. 2 f.
20
Vgl. Breyer/Buchholz, 2009, S. 45
21
Hans-Böckler-Stiftung, 2006, S.7
22
Vgl. Strengmann-Kuhn, 2003, S. 111 f.

11
ber berücksichtigt wurden
23
. Die Studie des IAQ zeigt die Entwicklung des Niedrig-
lohnanteils bis zum Jahr 2008. Die Niedriglohngrenze wurde entsprechend dem OECD-
Standard gesetzt. Für die Berechnung der Niedriglohnanteile wurde zwischen Ost- und
Westdeutschland unterschieden, da sonst der ostdeutsche Anteil am Niedriglohnsektor
sehr hoch ausfallen würde. Dies liegt daran, dass das ostdeutsche Nettoeinkommen
lediglich bei 75 Prozent des Westniveaus liegt.
24
Durch die Verwendung zweier
Niedriglohnschwellen wird sichergestellt, ,,dass die Ergebnisse der Strukturanalysen
nicht durch die Charakteristika des ostdeutschen Arbeitsmarktes dominiert werden."
25
Die folgende Abbildung 1 veranschaulicht die Entwicklung des Anteils der Niedrig-
lohnbeschäftigten unter abhängig Beschäftigten von 1995 bis 2008.
Abbildung 1: Anteil Niedriglöhner unter abhängig Beschäftigten
(Quelle: Kalina/Weinkopf, 2010, S. 4)
Es zeigt sich ein deutlicher Trend im deutschen Niedriglohnsektor. Wie Abbildung 1
zeigt, hat der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten zwischen 1995 und 2006 stark
zugenommen. Am deutlichsten war dieser Anstieg in Westdeutschland. Lag der
westdeutsche Anteil 1995 noch bei unter 15 Prozent, ist er im Jahre 2005 auf über 22
Prozent angestiegen. Seit 2006 scheint der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in
Deutschland relativ stabil. Im Zeitraum von 1995 bis 2008 ist die gesamtdeutsche
23
Vgl. Kalina/Weinkopf, 2010, S. 2
24
Vgl. Statistisches Bundesamt, 2010, Onlinequelle
25
Kalina/Weinkopf, 2010, S. 3

12
Niedriglohnquote von 14,7 auf 20,7 Prozent gestiegen. Dies entspricht einem Anstieg
von 41 Prozent innerhalb von 13 Jahren.
Trotz der seit 2006 anhaltenden Stagnation des Anteils an Niedriglohnbeschäftigten, ist
die Zahl der Betroffenen weiter gestiegen. So sind 2006 rund 6,31 Millionen abhängig
Beschäftigte im Niedriglohnbereich tätig gewesen. Diese Anzahl erhöhte sich jedoch
innerhalb der zwei folgenden Jahre um über 240.000. Somit gab es im Jahr 2008 rund
6,55 Millionen Niedriglohnbeschäftigte. Lediglich durch die insgesamt steigende
Beschäftigungszahl in dieser Zeit, gab es keinen höheren Niedriglohnanteil.
26
Anhand dieser Ergebnisse ist ersichtlich, dass mittlerweile jeder fünfte abhängig
Beschäftigte in Deutschland unterhalb der Niedriglohngrenze entlohnt wird. Die hier
errechneten Niedriglohnschwellen liegen bei 9,50 Euro für Westdeutschland und 6,87
Euro für Ostdeutschland.
27
Hält man sich nun die unterschiedlichen geforderten Höhen
eines Mindestlohns vor Augen, zeigt dies, dass insbesondere der ostdeutsche Niedrig-
lohnsektor von der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns betroffen wäre.
2.2.3 Armutsrisiko in Deutschland
Die Ausweitung des Niedriglohnsektors gilt als einer der Gründe für eine stetig wach-
sende Armutsgefährdung in Deutschland.
28
Im Gegensatz zur Niedriglohnbemessung,
welche sich auf das Einkommen von Individuen bezieht, verfolgt die Armutsbemessung
ein anderes Konzept. Hierbei muss zwischen absoluter und relativer Armut unterschie-
den werden.
Von absoluter Armut wird gesprochen, ,,wenn Menschen das zum Überleben Notwen-
dige an Nahrung, Wasser, Kleidung, Heizung, Obdach und Hilfen gegen leicht heilbare
Krankheiten fehlt."
29
Diese Definition scheint jedoch für entwickelte Industriestaaten
wenig relevant, weshalb man sich einer relativen Armutsdefinition bedient. Hierunter
,,wird ein Mangel an Mitteln verstanden, der die Sicherung des Lebensbedarfs ­
beruhend auf den jeweils historisch geltenden, sozialen und kulturellen, typischen
Standards einer jeweiligen Gesellschaft ­ nicht gewährleistet"
30
.
26
Vgl. Kalina/Weinkopf, 2010, S. 4
27
Vgl. Kalina/Weinkopf, 2010, S. 2
28
Vgl. Frick/Grabka, 2010, S. 3
29
Huster/Boeckh/Mogge-Grotjahn, 2008, S.96
30
Neumann, 1999, S. 24

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2011
ISBN (PDF)
9783863416805
ISBN (Paperback)
9783863411800
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
Armut Arbeitsmarkt Beschäftigungseffekt Arbeitnehmer Arbeitnehmerfreizügigkeit Niedriglohnsektor Geringverdiener

Autor

Matthias Hohn wurde 1984 in Berlin geboren. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Humboldt Universität zu Berlin und Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Bereits während des Studiums sammelte der Autor umfassende praktische Erfahrungen im Personalmanagement und entdeckte nicht zuletzt hierdurch sein besonderes Interesse an arbeitsmarktpolitischen Fragestellungen. Um seine Qualifikationen stetig weiter auszubauen, engagiert er sich im Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte.
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