Probleme und Perspektiven bei Autismus im beruflichen Alltag
©2010
Magisterarbeit
94 Seiten
Zusammenfassung
1988 kam der Film ‘Rain Man’ von Barry Levinson in die amerikanischen Kinos. Der autistische Raymond wird in diesem Film von seinem Bruder Charlie auf eine Reise durch die USA mitgenommen. Raymond ist ein Savant, ein Inselbegabter, der extrem schnell rechnen und zählen kann und ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen besitzt. Mit Hilfe dieser Fähigkeit gewinnen die beiden alle Black-Jack Spiele in einem Casino in Las Vegas.
Seit diesem Film ist Autismus in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Dennoch wissen die meisten Menschen kaum etwas über Autismus. Aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion ist Autismus nur schwer zu definieren. Autismus ist eine Krankheit, die ein sehr breites Spektrum an Symptomen zulässt und bei der zudem noch eine Vielzahl an Komorbiditäten in Erscheinung treten können. Autismus ist nicht heilbar, aber man kann versuchen die autistischen Erscheinungen einzudämmen und kontrollierter mit autistischen Verhaltensweisen umzugehen. Autismus beginnt in den meisten Fällen bereits im Kindesalter und ist ständiger Bestandteil des gesamten Lebens.
Wie werden Autisten beschult? Auf welche Probleme stoßen Autisten im Schulalltag und welche Lösungsansätze gibt es? Wie sehen die Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation von Autisten in Deutschland aus? Welche Hilfen gibt es und welche sind effektiv? Welche Rahmenbedingungen müssen vorhanden sein, damit berufliche Rehabilitation bei Autisten funktioniert? Worauf muss bei der Rehabilitation autistischer Menschen geachtet werden?
Um diese Fragen beantworten zu können, widmet sich diese Studie der autistischen Erscheinungen. Was ist Autismus? Woher kommt Autismus? Wie kann Autismus festgestellt und therapiert werden? Hinsichtlich dieser Probleme untersucht das Buch die arbeitsweltbezogenen Möglichkeiten der Rehabilitation und skizziert Integrationsmöglichkeiten. Diese werden dabei hinsichtlich der spezifischen Chancen und Probleme von Autisten untersucht.
Seit diesem Film ist Autismus in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Dennoch wissen die meisten Menschen kaum etwas über Autismus. Aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion ist Autismus nur schwer zu definieren. Autismus ist eine Krankheit, die ein sehr breites Spektrum an Symptomen zulässt und bei der zudem noch eine Vielzahl an Komorbiditäten in Erscheinung treten können. Autismus ist nicht heilbar, aber man kann versuchen die autistischen Erscheinungen einzudämmen und kontrollierter mit autistischen Verhaltensweisen umzugehen. Autismus beginnt in den meisten Fällen bereits im Kindesalter und ist ständiger Bestandteil des gesamten Lebens.
Wie werden Autisten beschult? Auf welche Probleme stoßen Autisten im Schulalltag und welche Lösungsansätze gibt es? Wie sehen die Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation von Autisten in Deutschland aus? Welche Hilfen gibt es und welche sind effektiv? Welche Rahmenbedingungen müssen vorhanden sein, damit berufliche Rehabilitation bei Autisten funktioniert? Worauf muss bei der Rehabilitation autistischer Menschen geachtet werden?
Um diese Fragen beantworten zu können, widmet sich diese Studie der autistischen Erscheinungen. Was ist Autismus? Woher kommt Autismus? Wie kann Autismus festgestellt und therapiert werden? Hinsichtlich dieser Probleme untersucht das Buch die arbeitsweltbezogenen Möglichkeiten der Rehabilitation und skizziert Integrationsmöglichkeiten. Diese werden dabei hinsichtlich der spezifischen Chancen und Probleme von Autisten untersucht.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1988 kam der Film ,,Rain Man" von Barry Levinson in die amerikanischen Kinos. Der
autistische Raymond wird in diesem Film von seinem Bruder Charlie auf eine Reise
durch die USA mitgenommen. Raymond ist ein Savant, ein Inselbegabter, der extrem
schnell rechnen und zählen kann und ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen be-
sitzt. Mit Hilfe dieser Fähigkeit gewinnen die beiden alle Black-Jack Spiele in einem
Casino in Las Vegas.
Seit diesem Film ist Autismus in der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Dennoch
wissen die meisten Menschen kaum etwas über Autismus. Aber auch in der wissen-
schaftlichen Diskussion ist Autismus nur schwer zu definieren. Autismus ist eine
Krankheit, die ein sehr breites Spektrum an Symptomen zulässt und bei der zudem noch
eine Vielzahl an Komorbiditäten
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in Erscheinung treten können. Autismus ist nicht
heilbar, aber man kann versuchen die autistischen Erscheinungen einzudämmen und mit
autistischen Verhaltensweisen kontrollierter umzugehen. Autismus beginnt in den meis-
ten Fällen bereits im Kindesalter und ist ständiger Bestandteil des gesamten Lebens.
Die Formen und Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation behinderter Menschen
sind sehr vielfältig und sind abhängig von dem individuellen Leistungsvermögen der
Rehabilitanden. Der Gesetzgeber unterscheidet in den meisten beruflichen Förderungs-
möglichkeiten nicht nach Art und Schwere der Behinderung. Somit stehen die meisten
beruflichen Integrationsmaßnahmen auch Menschen mit autistischen Beeinträchtigun-
gen zur Verfügung. Die Komplexität der autistischen Erscheinungen erfordern jedoch
eine möglichst genaue Diagnose und ein umfassendes Assessment der persönlichen
Stärken und Beeinträchtigungen. Die Chance auf eine berufliche Integration ist bei
Menschen mit milden Formen von Autismus relativ groß, wenn ihre Stärken und Beein-
trächtigungen ersichtlich sind und sie gezielt gefördert werden.
Wie werden Autisten beschult? Auf welche Probleme stoßen Autisten im Schulalltag
und welche Lösungsansätze gibt es? Wie sehen die Möglichkeiten der beruflichen Re-
habilitation von Autisten in Deutschland aus? Welche Hilfen gibt es und welche sind
effektiv? Welche Rahmenbedingungen müssen vorhanden sein, damit berufliche Reha-
bilitation bei Autisten funktioniert? Worauf muss bei der Rehabilitation autistischer
Menschen geachtet werden?
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Eine Komorbidität ist ein zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegendes, diagnostisch abgrenzbares
Krankheits- oder Störungsbild.
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Um diese Fragen beantworten zu können, widme ich mich vorerst der autistischen Er-
scheinungen. Was ist Autismus? Woher kommt Autismus? Wie kann Autismus festge-
stellt und therapiert werden? Erst wenn man die Besonderheiten des Autismus verstehen
kann, werden einem die Probleme, auf die Autisten im Rahmen ihrer beruflichen Reha-
bilitation stoßen, bewusst. Hinsichtlich dieser Probleme untersuche ich im Anschluss
die arbeitsweltbezogenen Möglichkeiten der Rehabilitation. Dabei skizziere ich ver-
schiedene Integrationsmöglichkeiten und untersuche sie bezüglich der spezifischen
Chancen und Probleme von Autisten.
2. Was ist Autismus ?
Es gibt sehr unterschiedliche Formen des Autismus. Grundsätzlich kann man sagen,
dass es Menschen, die Autismus haben, schwer fällt bzw. teilweise für sie beinahe un-
möglich ist, die Welt in der sie leben und ihre Mitmenschen zu verstehen. Der Begriff
Autismus würde aus dem griechischen übersetzt etwa ,,Selbstheit" bedeuten. Dieser
Begriff wirkt sehr treffend, da es scheint, dass Autisten sich in erster Linie mit sich sel-
ber oder Gegenständlichem beschäftigen und die Belange anderer Menschen für sie
uninteressant bzw. nicht zu verstehen sind. Autismus nur über den Begriff selber zu
definieren reicht sicherlich nicht aus. Hans Asperger, auf den ich noch zu sprechen
komme, beschreibt im ersten Kapitel seiner Habilitation ,,Die ,Autistischen Psychopat-
hen` im Kindesalter" die Problematik von Definition und Namensgebung bezüglich der
psychischen Erscheinungsformen von Menschen.
,,Jeder Mensch ist ein einmaliges, unwiederholbares, unteilbares Wesen (,,Indi-
viduum"), darum auch letztlich unvergleichbar mit anderen. In jedem Charakter
finden sich einander scheinbar widersprechende Züge gerade aus Gegensätzen
und Spannungen lebt ja das Leben." (Asperger, 1943)
Autismus kann je nach Erscheinungsform von absoluter Teilnahmslosigkeit, Apathie
und extremster Abkapselung zur Umwelt (zum Beispiel beim frühkindlichen Autismus)
mit schwerer geistiger Behinderung und einer Vielzahl von Komorbiditäten bis zum für
Laien unauffälligen sozialen Verhalten reichen (Asperger-Syndrom). Der Übergang von
dieser leichten Autismuserscheinung zum kontaktscheuen gesunden Menschen muss als
ebenso fließend betrachtet werden. Aufgrund dieser unterschiedlich schweren Erschei-
nungsformen von Autismus wird teilweise die Meinung vertreten, ,,Autismus komme in
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der allgemeinen Bevölkerung in ,beliebiger Verdünnung` vor" (Poustka, Bölte, Feineis-
Matthews, & Schmötzer, 2004). Das heißt Autismus ist im Grunde ein Persönlichkeits-
merkmal, welches jeder Mensch in unterschiedlicher Ausprägung aufweist. Die willkür-
liche Grenzziehung zwischen normal und abnormal bei einer Autismusdiagnose spricht
zwar dafür, aber die Annahme, autistische Anteile seien in jedem Menschen vorhanden,
können die Situation der Betroffenen verschärfen, da psychische Störungen immer mas-
sive Beeinträchtigungen in der Lebensführung mit sich bringen. (Poustka, Bölte,
Feineis-Matthews, & Schmötzer, 2004)
2.1 Historische Autismusforschung
1911 benutzte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler als erster den Begriff Autismus,
um mit ihm ,,ein Grundsymptom der Schizophrenie" zu beschreiben, bei der die Er-
krankten sich in eine gedankliche Binnenwelt zurückzogen. Die Erkrankten nehmen
zunehmend weniger Kontakt zu Mitmenschen auf und ihre Binnenwelt bekommt ein
krankhaftes Übergewicht gegenüber der Umwelt (Remschmidt, 2008). Bleuler
beschrieb damit allerdings noch nicht das gesamte Krankheitsbild, welches wir heute
unter Autismus verstehen. Autismus war für ihn lediglich der Begriff für ein Symptom
der schizophrenen Erkrankung. Aber es gibt Parallelen zwischen Bleulers Diagnostik
und dem heutigem Verständnis von Autismus, die vor allem im sozialen Rückzug bzw.
sozialem Verhalten liegen.
2.1.1 Leo Kanner und Hans Asperger
Aufgrund von Bleulers Forschungsarbeit benutzten Leo Kanner, ein Kinderarzt aus
Österreich, der in den USA arbeitete und Hans Asperger, ein Wiener Arzt unabhängig
voneinander den Begriff Autismus als eigenständige Verhaltensform für von ihnen
untersuchte autistische Störungsbilder bei Kindern. Leo Kanner beschrieb 1943 in
seinem Artikel ,,Autistische Störung des affektiven Kontakts" 11 Kinder die von Geburt
an unfähig waren, sich in normaler Weise mit Personen oder Situationen in Beziehung
zu setzen. Die Kinder waren unfähig den biologisch vorgesehenen Kontakt mit anderen
Menschen herzustellen. Zudem konnten sie Veränderungen in ihrer Umwelt nur schwer
oder nicht ertragen und haben mehr Interesse an Gegenständen als an Menschen gezeigt
11
(Kühn, 2008). Neben diesen Schwierigkeiten beschrieb Kanner auch Behinderungen
ihrer kommunikativen Fähigkeiten. Drei der Kinder sprachen gar nicht; bei den anderen
Kindern beobachtete Kanner Auffälligkeiten wie Echolalie
2
, die Umkehr von
Personalpronomina oder eine Reizüberempfindlichkeit. Kanners Beschreibungen sind
heute zu weiten Teilen als frühkindlicher Autismus oder Kanner-Syndrom bekannt.
Jedoch werden mit der heute üblichen Definition des Kanner-Autismus nicht alle
Annahmen von Kanner übernommen. So nahm Kanner an, dass die von ihm
beschriebenen Kinder nicht geistig behindert sind, weil sie für ihn einen Anschein von
Weisheit hatten. Weiterhin ging er zeitweise davon aus, dass das Verhalten der Eltern
für Autismus ursächlich ist, obgleich er anfänglich und auch später Autismus als
angeborene Störung verstand (Poustka, Bölte, Feineis-Matthews, & Schmötzer, 2004).
Hans Asperger schrieb 1943 ohne von Kanners Artikel zu wissen seine Habilitation an
der Wiener Universitätsklinik mit dem Titel ,,Die ,Autistischen Psychopathen` im Kin-
desalter". Er beobachtete vier Jungen die in die Klinik eingewiesen worden sind. Drei
von ihnen wurden als ,,schulunfähig" von der Schule in die Klinik eingewiesen. Auch
Asperger ging davon aus, Autismus sei eine extreme Variation eines normalen Persön-
lichkeitszuges. (Poustka, Bölte, Feineis-Matthews, & Schmötzer, 2004). Asperger stell-
te ,,das Gemeinsame, das Typische" seiner untersuchten Kinder heraus und fasste es
unter sechs Gesichtspunkten zusammen (Asperger, 1943):
1. Das Körperliche und die Ausdruckserscheinungen
Auffallend sei, dass die Kinder schnell das ,,Babyhafte" verlieren würden und feine
ausgearbeitete Gesichtszüge entwickelt hätten.
3
Kommunikation über den Blick sei
mit ihnen kaum möglich, auch sei es nur schwerlich möglich zu erkennen, ob die
Kinder einen Gegenstand oder Menschen fokussiert haben oder doch in die Ferne
schauen. Sie hätten einen ,,verlorenen Blick" und ebenso sei die Mimik und Gestik
,,schwach und leer". Bewegungen würden keinen Ausdruckswert besitzen und eher
Bewegungsstereotypien sein. In der Sprache gäbe es zwischen den Kindern große
2
Echolalie bezeichnet einen krankhaften Zwang, Worte und Aussagen des Gesprächspartners selbst zu
wiederholen.
3
Laut Uta Frith besitzen nicht wenige Kinder mit Autismus eine eindringliche und außerweltliche Schön-
heit. Ebenso sprechen Maureen Aarons und Tessa Gittens vom ,,legendär attraktiven Aussehen" von Kin-
dern mit Autismus, aufgrund dessen die Eltern oft nur schwerlich eine schwerwiegende Entwicklungsstö-
rung ihres Kindes akzeptieren können. (Frith, 2003) (Aarons & Gittens, 2005)
12
Unterschiede in Modulation und Lautstärke, aber die Sprache würde bei allen Kin-
dern unnatürlich und nicht zielgerichtet wirken.
2. Die ,,autistische Intelligenz"
Die Sprache der Kinder sei originell. Zwar sei es im Kleinkindalter typisch, dass
neue Wörter erfunden werden, die zudem auch noch überaus trefflich erscheinen,
aber im Normalfall würden Kinder diese Originalität verlieren. Autistische Kinder
würden aber weiterhin frei gestaltete Ausdrücke erfinden und benutzen. Auffallend
sei auch ihr großes Interesse in einem ausgewählten Spezialgebiet, wobei sie sich
das Wissen selber aneignen und kaum durch Lehre zu begeistern sind. Asperger
beobachtete auch ein großes Kunstverständnis bei seinen Patienten.
4
Im Zuge des-
sen spricht Asperger auch von einer ,,psychopathischen Klarsichtigkeit". Autisti-
sche Kinder hätten aufgrund ihrer Distanz zur Umwelt die Fähigkeit, diese sehr klar
zu erfassen und zu beurteilen. Sie würden im Vergleich zu gleichaltrigen nicht-
autistischen Kindern ein ebenso klares Bild von sich selber haben. Vegetative Au-
tomatismen würden von den autistischen Kindern teilweise sehr bewusst wahrge-
nommen und analysiert werden. Diese Abstraktionsfähigkeit sei eine Vorausset-
zung zu wissenschaftlicher Leistung und damit im günstigen Fall auch eine Voraus-
setzung zum Berufseinstieg. Leider würden diese Vorteile aber nur in den wenigs-
ten Fällen die autistischen Wesenszüge überwiegen.
Trotz der besonderen autistischen Intelligenz würde das schulische Lernen jedem
Autisten mehr oder weniger schwer fallen. Einfache Rechenaufgaben würden teil-
weise in schwierigen, komplizierten und eigenen Rechenschritten gelöst. Lesen und
Schreiben würden teilweise nur sehr schwer erlernt, es sei denn, Lesen oder Schrei-
ben gehöre zum Interessengebiet des Autisten. Asperger nennt es die ,,Störung der
aktiven Aufmerksamkeit", welche keine typische Konzentrationsstörung sei, son-
dern eher ein In-sich-gekehrt-sein, welches Aufgaben und Erwartungen von außen
ausschließe.
3. Verhalten in der Gemeinschaft
4
Heute wissen wir, dass autistische Kinder Bilder und Gemälde zutreffend beschreiben können, ihnen
aber die Fähigkeit fehlt, Emotionen in Gesichtern in den Bildern und Gemälden lesen zu können. (Vgl.
Frith, 2003)
13
Asperger sieht in der Einengung der Beziehungen zur Umwelt die ,,Grundstörung
der Autistischen Psychopathen". Ihre Isoliertheit und Spontanität würde in den Fa-
milien immer wieder zu Konflikten führen. Dennoch sei es hier den Eltern noch
möglich, ihre Kinder lange Zeit spielen zu lassen. Die Kinder seien dann in ihrer
Spielwelt oder dem Gegenstand ihres Interesses vollständig versunken. Reize von
außen würden nicht wahrgenommen oder aber störend wahrgenommen, auf die die
Kinder dann extrem aggressiv reagierten. Gerade in der Schule, in der nicht gespielt
werden kann, wenn man möchte, würden die autistischen Kinder äußeren Zwängen
unterliegen und müssten ,,die Freiheit des spontanen Impulses, des spontanen Inte-
resses" ablegen, was ihnen nicht oder nur sehr schwer möglich ist. Aufgrund dessen
würden die Kinder gerade mit der Einschulung das erste Mal in heilpädagogische
Beratungsstellen kommen, da die Eltern bis zu diesem Zeitpunkt oftmals mit den
autistischen Eigenheiten ihres Kindes weitestgehend zurechtkämen. Weiterhin
spricht Asperger von den Hänseleien in der Schule. Die autistischen Kinder seien
aufgrund ihres autistischen Verhaltens schon von Anfang an als Außenseiter und
Sonderlinge identifiziert. Im günstigsten Fall könnten die Kinder aufgrund ihrer In-
telligenzleistung oder aufgrund von besonders ,,rücksichtslosem Losgehen" eine
gewisse Art von Achtung gewinnen, welche aber immer mit Spott gemischt sei.
4. Trieb- und Gefühlsleben der Autistischen
Asperger spricht im Hinblick auf die Sexualität der geschilderten Kinder von einem
uneinheitlichen, aber niemals normalen Bild. Sie zeigten entweder ein Desinteresse
an Sexualität oder exzessive Masturbation, begleitet von fehlendem Schuld- und
Schamgefühl. Weiterhin seien sadistische Züge beobachtet worden, welches gegen-
sätzlich zu ihrem teilweise abnormem Angstzuständen stünde. Gegensätzlichkeit
sei ohnehin symptomatisch für die Trieb- und Gefühlswelt der Autisten. Ge-
schmackssinn, Tastsinn, Hörsinn seien durchweg gestört. So gäbe es Kinder, die
ausgesprochen überempfindlich gegen Geräusche und Lärm seien und dennoch sei-
en sie, wenn sie in ihrer Welt versunken sind, völlig unempfindlich Lärm gegen-
über. Auf der Gefühlsebene gäbe es bei den Kindern einen ,,ausgesprochenen Ge-
fühlsdefekt". Sie seien arm an Zärtlichkeit und seien teilweise boshaft und grausam.
Asperger sei jedoch überrascht von den starken und unnatürlich langanhaltenden
Heimwehreaktionen der Kinder. Daher könne man nicht von einer quantitativen
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,,Gefühlsarmut" sprechen, sondern von einem ,,qualitativem Anderssein, einer Dis-
harmonie an Gefühl, an Gemüt, oft voll überraschender Widersprüche", wodurch
diese Kinder charakterisiert seien. Weitere Besonderheiten der Gefühlsebene seien
extreme Egozentrik, unübertroffene Respektlosigkeit, das Fehlen von Fremdheits-
gefühl und Humorlosigkeit.
5. Erbbiologisches
Asperger ist war sich sicher, dass Autismus vererbt wird. Er betont, dass bei jedem
von mehr als 200 beobachteten Kindern in der Verwandtschaft autistische Züge und
oft sogar Verwandte mit dem voll ausgeprägtem Bild des Autistischen Psychopat-
hen zu finden sei. Ferner gibt er den Hinweis, dass jeder autistische Patient männli-
chen Geschlechts sei. Das ins Extreme gesteigerte Verhalten der Autisten beruhe
auf eine typisch männliche Intelligenz. Abstraktion, Logik, präzises Denken und
Formulieren läge ,,viel mehr in den Möglichkeiten des Knaben". Schließlich trennt
Asperger die Schizophrenie vom Autismus. Autismus habe genetisch nichts mit der
Schizophrenie zu tun.
6. Soziale Wertigkeit der Autistischen Psychopathen
Autismus sei keine prozesshafte Krankheit. Das Krankheitsbild würde sich nicht
ändern, dennoch stelle sich eine Anpassung an die Umwelt heraus. Die Spezialinte-
ressen würden ,,vernünftiger" durch die Wahl der Objekte, ihrer Ordnung und der
geistigen Verarbeitung. Lediglich bei Autisten mit einer ,,ausgesprochen intellektu-
ellen Minderwertigkeit" komme es zu keiner Anpassung.
Autisten mit intaktem Intellekt und ganz besonders überdurchschnittlich gescheite
Autisten würden eine ,,gute Berufsleistung" erbringen und damit käme es auch zu
einer sozialen Einordnung. Asperger geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt,
dass oftmals ,,niemand als gerade diese autistischen Menschen gerade zu solchen
Leistungen befähigt" seien. Verglichen mit normalen Jugendlichen im Übergang
Schule-Beruf seien Autisten bereit mit ,,gesammelter Energie und selbstverständli-
cher Sicherheit" ihren Weg zu gehen, ,,zu dem sie meist schon von Kind an nach ih-
ren Anlagen vorbestimmt erscheinen". Berufseinstellung sei ein Zwang zur Einsei-
tigkeit, ein Aufgeben von Möglichkeiten, an dem manche Jugendliche nur scheitern
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würden, weil sie in verschiedene Richtungen begabt seien und daher nicht in der
Lage seien, sich für eine Richtung, für einen Weg entscheiden könnten.
Laut Brita Schirmer sei die Habilitationsschrift jedoch nicht die erste Schilderung As-
pergers über den autistischen Psychopathen. Bereits 1938 soll er im Rahmen eines Vor-
trags über die autistischen Psychopathen referiert haben, der in der Wiener Klinischen
Wochenzeitschrift publiziert wurde. Kanner, von dem vermutet wird, er habe keine
Kenntnis von Aspergers Beobachtungen gehabt, schreibt 1943 ,,Since 1938, there have
come to our attention a number of children whose condition differs so markedly and
uniquely from anything reported so far, that each case merits and, I hope, will even-
tually receive a detailed consideration of its fascinating peculiarities." Ob für Kanner
möglicherweise das Jahr 1938 ausschlaggebend war, weil er Aspergers Vortrag kannte,
kann allerdings nicht bestätigt werden (Schirmer, 2003).
Anders als die Arbeit von Leo Kanner fand Aspergers Untersuchung lange Zeit kaum
Beachtung. Im Gegensatz zu Kanner verfasste Asperger seine Habilitation in deutscher
Sprache. Erst durch die englische Zusammenfassung von Dr. Lorna Wing 1981 und ihre
Beschreibung 34 eigener Fälle wurde seine Arbeit international bekannt und Aspergers
Schrift wurde 1991 von Uta Frith in englischer Sprache publiziert. Lorna Wing ersetzte
Aspergers Begriff des autistischen Psychopathen erstmals mit dem heute üblichen Ter-
minus ,,Asperger-Syndrom".
Ob Asperger und Kanner die ersten klinischen Berichte zu Autismus lieferten, kann
man nicht eindeutig bestimmen. Bleuler selbst wies bei seinen Ausführungen auf die
Aufzeichnung von verschiedenen französischen Kollegen hin, die das Phänomen Au-
tismus bereits vor ihm beschrieben haben (Schirmer, 2003). 1908 schilderte der Päda-
goge Theodor Heller Fälle von Kindern in seiner Erziehungsanstalt für geistig abnorme
und nervöse Kinder in Wien-Grinzing. Nach zunächst unauffälligem Heranwachsen bis
zum Alter von 3-4 Jahren trat bei einigen Kindern eine körperliche und geistige Regres-
sion zum Vorschein, die er als ,,dementia infantilis" bezeichnete. Die beschriebenen
Störungen sind einer schweren Form von Autismus sehr ähnlich. 1926 stellte die russi-
sche Neurologin Grunja Jefimowna Sucharewa unter der Bezeichnung ,,schizoide Psy-
chopathie" Fälle mit sehr ähnlicher Symptomatik dar (Poustka, Bölte, Feineis-
Matthews, & Schmötzer, 2004). 1930 schrieb die Psychoanalytikerin Melanie Klein
16
über den Jungen Dick, den sie in ihrem Beitrag ,,Die Bedeutung der Symbolbildung für
die Ich-Entwicklung" vorstellte. Aus heutiger Sicht würde man Dick als autistisch
diagnostizieren und nicht wie Klein als schizophren (Tustin, 2008).
2.1.2 Autismusforschung in den 50er und 60er Jahren
1952 erscheint die erste Version des ,,Diagnostic and statistical Manual Mental
Disorders" (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen; DSM-
I),
herausgegeben
von
der
American
Psychatric
Association
in
Washington
(Amerikanisch Psychatrische Vereinigung). Autismus, hier das Kanner-Syndrom,
wurde damit zum ersten Mal in ein Klassifikationssystem aufgenommen. Autismus
wurde in dem DSM-I noch nicht als eigenständige psychische Störung verstanden,
sondern
als
eine
Art
der
Schizophrenie.
Das
DSM-I
unterschied
die
Kindheitsschizophrenie von anderen Schizophrenietypen hinsichtlich des Auftretens der
schizophrenischen Reakationen.
,,000-x28 Schizophrenic reaction, childhood type
Here will be classified those schizophrenic reactions occurring before puberty.
The clinical picture may differ from schizophrenic reactions occurring in other
age periods because of the immaturity and plasticity of the patient at the time of
onset of the reaction. Psychotic reactions in children, manifesting primarily
autism, will be classified here. Special symptomatology may be added to the
diagnosis as manifestations. (DSM-I, 1952)"
Vier Jahre später formulierte Leo Kanner mit Hilfe von Dr. Leon Eisenberg die
Ergebnisse seiner Studie von 1943 neu. Im ersten Teil ihres Artikels wiederholten und
bestätigten sie die 5 wichtigsten Ergebnisse der Studie:
1. Die Unfähigkeit der Kinder eine gewöhnliche Beziehung zu anderen und zu
Situationen aufzubauen,
2. die Unfähigkeit Sprache zur adäquaten Kommunikation zu nutzen,
3. der angstvolle und zwanghafte Wunsch zur Gleicherhaltung,
4. die Faszination für Objekte und der feinmotorische Umgang mit ihnen und
5. die guten kognitiven Potenziale.
17
Kanner und Eisenberg entschieden sich dazu, dass eine extreme Selbstisolation und das
zwanghafte Beharren auf Gleicherhaltung für eine Autismusdiagnose vorhanden sein
müssen
und
obwohl
der
eigentümliche
und
defizitäre
Sprachgebrauch
ein
augenscheinliches Merkmal sei, läge dies doch eher in der Störung der sozialen
Beziehungen begründet. In mehreren Passagen des Artikels weisen Kanner und
Eisenberg auf die emotional eisigen Eltern der Kinder hin. Zwar geben sie zu, dass 10%
der Eltern nicht diesem Bild entsprächen, aber sie sagen auch, dass man nicht um die
Schlussfolgerung umher käme, die emotionalen Umstände im Elternhaus seien
maßgeblich für die Entstehung von Autismus. Gegen Ende des Artikels räumen Kanner
und Eisenberg dann aber noch ein, dass es eine geringe Wahrscheinlichkeit der
genetischen Vererbung von Autismus gäbe (Long, 2007).
Diesen psychogenetischen Ansatz bezüglich der Entstehung von Autismus vertrat in
den 60er Jahren auch der Psychoanalytiker und Kinderpsychologe Bruno Bettelheim.
Autismus sei die Folge einer Störung des frühkindlichen Interaktionsprozesses mit der
Mutter. Er war der Auffassung, Autismus sei begründet in Erziehungsfehlern während
der ersten zwei Lebensjahre des Kindes (Rödler, 1983). Bettelheim erkannte wie auch
schon seine Vorgänger, aber ebenso ging er davon aus, dass die Eltern autistischer
Kinder zwar häufig sehr gebildet schienen, aber dass die Eltern es seien, welche nicht in
der Lage wären eine Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen.
In diesem
Zusammenhang beschrieb er das Verhalten, angelehnt an seine Erfahrungen im KZ
Dachau und Buchenwald, als typisch für Menschen, die besonders lange und nachhaltig
gelitten haben. Trotz des Protestes einiger Wissenschaftler
5
, hielt sich dieser Ansatz
relativ lange in der wissenschaftlichen Diskussion über das Entstehen von Autismus und
das hatte schwerwiegende Folgen. Bettelheim, Kanner und andere Verfechter des
psychogenetischen Ansatzes prägten dadurch den Begriff der ,,Kühlschrankmutter". Die
Stigmatisierung der Eltern, insbesondere der Mutter, endete allzuoft in Schulgefühlen
der Eltern. Man kann davon ausgehen, dass viele Eltern daher einer Diagnose ihrer
autistischen Kinder aus dem Weg gingen.
5
Neben anderen Wissenschaftlern ging der amerikanische Psychologe Bernard Rimland von einer gene-
tischen Prädisposition von Autismus aus. Bernard Rimland beriet Dustin Hoffman für seine Rolle als
Autist im Film ,,Rain Man".
18
2.1.3 Prävalenz
Zwar kann man kaum auf verlässliche Daten zurückgreifen, da den Querschnisttstudien
unterschiedliche Definitionen und Methoden zu Grunde liegen und sie zudem und sie
aufgrund der geringen Anzahl der jeweilig untersuchten Fälle nur wenig repräsentativ
sind, aber es lässt sich abzeichnen, dass die Zahl der Autismus-Fälle seit Jahren
kontinuierlich ansteigt. Begründen kann man dies in den neu geschaffenen Diagnosen,
vor
allem
im
Bereich
des
Asperger-Syndroms
und
andere
milderer
Autismuserscheinungen. Derzeit geht man davon aus, dass etwa 62 von 10000
Menschen von autistischen Beeinträchtigungen betroffen sind, von denen mindestens 21
dem Kanner- und
ca. zehn dem Aspergersyndrom zuzuordnen sind. Das Männer-
Frauen-Verhältnis beträgt etwa 5:1. (Baumgartner, Dalferth, & Vogel, 2009).
2.2 Symptomatik und Klassifikation
Um Autismus benennen zu können, systematisch zu erforschen und die Beobachtungs-
ergebnisse mittelbar und vergleichbar zu machen, muss, wie bei jedem anderen Unter-
suchungsphänomen, eine Klassifikation vorgenommen werden. Eine Klassifikation bei
psychischen Störungen stellt sich aber oftmals als schwierig dar. Kritiker meinen, es sei
prinzipiell fragwürdig, ob eine Klassifikation psychischer Störungen der Individualität
des Patienten gerecht werden kann. Teilweise wird sogar behauptet, dass eine Klassifi-
kation eine dem Patienten schädigende Etikettierung ihrer Verhaltensstörung sei, welche
erst aufgrund der daraus resultierenden Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen zu den
spezifischen Lebensschwierigkeiten des Patienten führt (Möller, 1989). Eine solch radi-
kale Annahme scheint zwar einerseits in ihrer Gänze unhaltbar, unbestreitbar ist jedoch,
dass Autismus in unserer Gesellschaft derzeit noch einen recht negative Konnotation
aufweist, welche sicherlich manch Probleme des Autisten erst hervorruft bzw. ver-
stärkt
6
. Weiterhin sind die fließenden Übergänge unterschiedlicher Formen der autisti-
schen Störung, das unzureichende Wissen über die Entstehungsgeschichte und die
Komplexität der Erscheinungsbilder überaus problematisch hinsichtlich einer der Sache
gerecht werdenden Klassifikation (Möller, 1989). Besonders im Bereich der autistischen
Erscheinungsformen wirkt sich das problematisch bezüglich einer Klassifikation aus.
6
Gerade Asperger-Autisten wird oft mit Skepsis und falschen Informationen entgegengetreten. Die Mit-
menschen entwickeln daher besondere Verhaltensweisen im Umgang mit Asperger-Autisten, welche die
Unsicherheiten in ihrem sozialen Verhalten verstärken können.
19
Daher müsste man eine Klassifikation autistischer Erscheinungsformen eher als Typen-
bildung begreifen. Typen sind theoretische Konstrukte, welche in der Realität nicht vor-
kommen sondern Abstraktionen real vorkommender Gegebenheiten sind. Eine Typolo-
gie wird eben diesen Gegenstandsbereichen gerecht, welche eine scharfe Trennung und
eine gewisse Randschärfe nicht zulassen. Bei einer Typologie kann man zwischen Ext-
remtypen und Häufungstypen unterscheiden. Extremtypen sind die Bezeichnungen für
die Extreme einer Variationsreihe (Möller, 1989). Im Untersuchungsfeld Autismus ist
eine solche Art der Klassifizierung sinnvoll, da die Bandbreite autistischer Erschei-
nungsformen groß ist und teilweise ja sogar behauptet wird, die autistischen Besonder-
heiten seien sogar mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden in jedem Menschen vor-
handen.
Trotz dieser Schwierigkeiten ist eine Klassifikation von psychischen Verhaltensauffäl-
ligkeiten wichtig. Erst aufgrund der Klassifikationen lässt sich eine zielgerichtete For-
schung betreiben und die daraus entstehenden Therapieansätze rational und empirisch
begründbar einsetzen. Die international anerkannten Klassifikationssysteme für Krank-
heiten und psychische Störungen sind die ,,Internationale statistische Klassifikation der
Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme" (ICD) und das Diagnostisches und
Statistisches Handbuch Psychischer Störungen (DSM). Dennoch kann eine Klassifikati-
on, wie sie das DSM (DSM-IV) in der vierten Version und die ICD in der zehnten Ver-
sion (ICD-10) vornehmen, nicht den Autismus als Ganzes umfassend beschreiben. Zur
Beschreibung der Symptomatik und des Erscheinungsbildes von Autismus gehe ich
daher genauer auf die Triade der Beeinträchtigungen ein, da sie für alle Erscheinungs-
formen aus dem autistischen Spektrum im Sinne einer Typenbeschreibung gültig ist.
Lediglich der Schwerpunkt und die Ausprägungen der Merkmale der Triade verschie-
ben sich. Im Anschluss daran stelle ich in Kürze die Klassifikationen von Autismus des
ICD-10 und des DSM-IV vor.
20
2.2.1 Triade der Beeinträchtigung
1979 beschrieb Professor Michael Rutter vom Londoner ,,Institut of Psychiatry" drei
Symptome auf Grundlage seiner Arbeit mit autistischen Kindern. Erstens haben seine
Untersuchungen gezeigt, dass die Kinder unfähig sind, soziale Beziehungen aufzubau-
en, zweitens wiesen sie eine retardierte sprachliche Entwicklung auf und drittens be-
schrieb er das ritualistische und zwanghafte Verhalten in Verbindung mit stereotypen
Bewegungen und Gesten. Weiterhin erläuterte er, dass autistische Kinder sich nicht
trostsuchend an die Mutter wenden, aber sie sich dennoch fremden Menschen ebenso
bereitwillig nähern, wie ihnen vertraute Menschen. Die autistischen Kinder würden die
Gefühle und Interessen anderer Menschen gar nicht wahrnehmen und wären auch nicht
fähig kooperativ mit anderen zu spielen (Dodd, 2005).
Im selben Jahr Lorna Wing und Judith Gould untersuchten Kinder unter 15 Jahren in
Camberwell, ein Bezirk in London. Sie führten aufgrund dieser Untersuchungen den
Begriff der ,,Triade von Beeinträchtigungen" in die Autismusforschung ein. Sie stellten
fest, dass es eine grundlegende soziale Störung bei den Kindern gibt. Die ,,autistische
Triade" umfasst nach Wing und Gould :
x eine Beeinträchtigung der sozialen Interaktion
x eine Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation
x eine Beeinträchtigung der sozialen Phantasie
Die Beeinträchtigung der sozialen Interaktion umfasst Beziehungen zu anderen Perso-
nen, Dingen und Ereignisse und die Interaktion mit diesen und weiterhin Fähigkeiten
wie Teilen, abwechselnd Reden und die Bearbeitung von Aufgaben. Die soziale Kom-
munikation ist in allen Bereichen gestört, also im verbalen, wie im non-verbalen Be-
reich. Die Beeinträchtigung der sozialen Phantasie meint eingeschränkte Interessen und
repetitives Verhalten (Dodd, 2005; Kühn, 2008; Frith, 2003).
Mit der Triade der Beeinträchtigung, die bei jedem Autisten zu finden ist und aufgrund
der Tatsache, dass diese Beeinträchtigungen in ihrer Qualität absolut individuell sind
und sich im Verlauf der Krankheit in ihrer Qualität verändern können, müsse man den
Begriff Autismus laut Wing und Gould neu definieren. Daher führte Lorna Wing 1988
den Begriff des ,,Autistischen Kontinuums" ein, den sie 1996 in das ,,Autistische Spekt-
rum" ASD (Autistic spectrum disorders) umwandelte (Dodd, 2005). Dieser Begriff ist
21
auch heute noch üblich, da die spezifischen Charakteristika von Autismus in einer
großen Vielfalt und Heteroginität erscheinen.
Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion
Bereits im frühen Kindesalter sind fehlender Blickkontakt und fehlende Aufmerksam-
keit bzgl. anderer Personen. Die Kinder reagieren kaum auf die Spielchen, die Erwach-
sene mit Kleinstkindern machen. Autistische Kinder imitieren nur sehr selten das Ver-
halten der Erwachsenen, was Kinder normalerweise tun. Ein Lächeln als Ausdruck der
Teilhabe und Freude an der Kommunikation mit den Erwachsenen oder auch mit ande-
ren Kleinkindern kann man selten bis niemals beobachten. Will ein Erwachsener die
Aufmerksamkeit des Kindes mittels Zeigen auf einen bestimmten Gegenstand oder eine
Person lenken, reagiert das autistische Kind entweder gar nicht oder scheint ungeheuer
fasziniert von dem zeigenden Finger zu sein. Auch wenn diese Kinder selber in der La-
ge sind, auf Dinge von ihrem Interesse zu zeigen, um sie zu bekommen, bauen sie damit
keinerlei soziale Beziehung zu ihrem Gegenüber auf (Bregmann, 2005). Dass autisti-
sche Kinder aufgrund ihrer sozialen Beeinträchtigung kaum einen anhaltenden Kontakt
zu anderen aufbauen können, heißt nicht, dass sie es nicht wünschen. Einige Autisten
bemerken bereits als Kind, dass sie ,,anders" sind als die anderen Kinder. Susanne Schä-
fer, eine Autorin mit schwerer Mehrfachbehinderung (unter anderem Diagnose Autis-
mus), schreibt in ihrem Buch ,,Sterne, Äpfel und rundes Glas Mein Leben mit Autis-
mus":
,,Die Mutter hatte manchmal Treffen mit anderen Müttern von Kleinkindern aus
der Nachbarschaft, sogenannten `Baby-Kaffeeklatsch´. Während sie quatschten,
spielte ich mit allen Babies, auch wenn meine Eltern immer quengelten, ich solle
lieber mit `Meinesgleichen´ spielen. Aber der Abstand zu den Gleichaltrigen
wurde immer größer und das fiel sogar mir allmählich auf." (Schäfer, 2009)
Sogar erwachsene Autisten mit einer nur sehr milden Ausprägung ihrer autistischen
Störung und normaler sprachlicher Entwicklung, so wie Asperger-Autisten, finden es
schwierig soziale Verhaltensweisen zu verstehen und adäquat anzuwenden. Daniel
Tammet, ein britischer Savant mit Asperger-Syndrom erinnert sich in an seine Kindheit
und seine Beziehung zu seinen zwei Jahre jüngeren Bruder, die er im Nachhinein wie
folgt beschreibt:
22
,,Ich hatte keine starken Gefühle für meinen Bruder und wir lebten nebeneinan-
der her. Er spielte häufig im Garten, während ich in meinem Zimmer blieb, und
wir spielten kaum je zusammen. Wenn wir es doch einmal taten, war es kein ge-
meinsames Spiel ich hatte nie den Wunsch, meine Spielsachen oder Erlebnisse
mit ihm zu teilen. Rückblickend kommen mir diese Gefühle heute ein wenig
fremd und seltsam vor. Heute verstehe ich das Prinzip der Gegenseitigkeit, dass
man gemeinsame Erfahrungen macht. Obwohl ich es manchmal immer noch
schwierig finde, mich zu öffnen und mich mitzuteilen, sind die dazu notwendigen
Gefühle eindeutig in mir vorhanden. Vielleicht waren sie das schon immer, aber
ich brauchte eine gewisse Zeit, um sie zu entdecken und zu verstehen."
(Tammet, 2008)
Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation
Die zweite Beeinträchtigung der Triade ist die Beeinträchtigung der sozialen Kommu-
nikation. Obwohl die sprachlichen Fähigkeiten innerhalb des autistischen Spektrums
stark variieren, von absolutem Fehlen sprachlicher Entwicklung bis hin zur Anwendung
hoch komplexer und elaborierter Sprache, sind signifikante Beeinträchtigungen hin-
sichtlich der Pragmatik und Semantik
7
unter nahezu allen Menschen mit Autismus vor-
handen. Kommunikation wird bei den vielen Menschen mit Autismus fast ausschließ-
lich benutzt, um Wünsche und Wille auszudrücken und nur in seltenen Bereichen zum
Ausdruck von Freude, Erfahrungen und Gefühle. Bezeichnend für autistischen Sprach-
gebrauch sind ebenso stereotype oder eigentümliche Äußerungen, wie Wortneubildun-
gen (welche bei normalen Kindern auch üblich ist, mit dem Heranwachsen aber ver-
schwindet), Vertauschen der Personalpronomina, oder Echolalie. Selbst bei unauffälli-
ger Sprache ist oftmals eine Störung der Kommunikation vorhandeln. So fehlt oftmals
die Fähigkeit, eine Konversation zu beginnen oder aufrecht zu erhalten. Subtile und
indirekte Kommunikation (Metaphern, Witze, Ironie) und non-verbale Kommunikation,
wie Gestik und Mimik, wird weder genutzt noch richtig gedeutet. Da sich Autisten nur
schlecht in die Gedanken anderer hineinversetzen können
8
, kommt es oft vor, dass ein
Gespräch mit einem Autisten sprunghaft und abschweifend ist. Es scheint fast so, als
7
Pragmatik und Semantik sind linguistische Disziplinen, welche sich mit dem Bedeutungsinhalt von Aussa-
gen beschäftigen, also dem ,,Gemeinten" im Kontext zum ,,Gesagten".
8
Siehe ,,Theory of Mind" in Kapitel 2.3.3
23
würden sie davon ausgehen, dass ihr Gegenüber genau weiß, was der Autist denkt, wel-
chen Standpunkt er vertritt und welche Erfahrungen er gemacht hat, obwohl exakt diese
Fähigkeiten im Autistischen Spektrum gewöhnlicher weise fehlen (Bregmann, 2005).
Eines der von Kanner untersuchten Kinder, der Junge der sich am weitesten aus dem
Autismus heraus entwickelt hat, sollte mehr als zehn Jahre später eine Rede bzgl. eines
anstehenden Matches des Football-Teams seines Colleges halten. Anstatt seine Mann-
schaft und das Publikum anzufeuern, teilte er den Zuhörern mit, dass er von einer Nie-
derlage des Teams ausgeht. Er konnte die Buhrufe und das Missfallen des Publikums
nicht verstehen. Er sagte ja schließlich die Wahrheit, wie sich später herausstellte
(Long, 2007).
Eingeschränkte Interessen und stereotypes Verhalten
Zum dritten Bereich der Triade zählen alle stereotypen und ritualisierten, zwanghaften
Handlungen, die Autisten teilweise ausführen. Die Handlungen sind für gewöhnlich
nicht funktional in den Augen der Mitmenschen. Für Autisten hingegen haben solche
Handlungen eine ganz besondere, wenn auch unbewusste, Bedeutung. Die Stereotypien
und Rituale bringen Sicherheit in die unübersichtliche und teilweise feindlich erschei-
nende Umwelt für den Autisten. So müssen zum Beispiel Spielsachen vom autistischen
Kind in eine besondere Ordnung und Reihenfolge gebracht werden, bevor das autisti-
sche Kind bereit ist ins Bett zu gehen (siehe Abb. 1). Weitere Beispiele sind, das ständi-
ge Ein- und Ausschalten des Lichts oder das wiederholte Öffnen und Schließen von
Schränken und Türen. Hinzu können verschiedene repetitive Bewegungsabläufe kom-
men, wie z.B. Fingerschnippen, Winken, Hüpfen oder Kopfschütteln. Selbst kleine Ver-
änderungen dieser verinnerlichten Strukturen können bei Autisten heftige emotionale
Reaktionen hervorrufen. Susanne Schäfer hierzu:
,,Kleine Dinge ordnen, das habe ich mein Leben lang zum Überleben gebraucht.
Geordnete kleine Dinge wirken dem Chaos im Großen entgegen. Wenn ich mei-
ne kleinen Details kontrolliere, dann ist es nicht ganz so schlimm, daß ich das
Gesamte nicht überblicken kann." (Schäfer, 2009)
24
Abbildung 1 - Ein Kind
Ein weiterer Aspekt d
ren Interessen autistis
aspekten von Dingen
Linie auf ihre visuel
sonders bei Autisten
tist einzelne Aspekte
der Struktur eines Ba
densten Gegenstände
on durchgeführt werd
nale Sinn des Gegen
Im gewöhnlichen Sin
Detail analysiert werd
Abhängig von den ko
diesen Interessen kom
widmet und viel Zeit
kannten Experten in
werter Aspekt der sen
sensibilität. Selbst kle
behagen bringen. (Br
mit Autismus ordnet seine Spielsachen im Bett (Fr
dieses Bereiches der Triade der Beeinträchtig
scher Menschen. Oft gibt es ein ungewöhnlic
n. Erwachsene nicht autistische Menschen v
le und auditive Wahrnehmung, um ihre Um
mit Kanner-Syndrom kann man hingegen be
e von Gegenständen sensorisch exzessiv wa
alles, das Riechen an Papier, aber auch das E
en mit dem Mund kann über lange Zeit mit e
den. Häufig wird dabei der symbolische, fun
standes nicht erfasst. Spielzeugautos werden
nn wird damit jedoch nicht gespielt. Bilder k
den, die Situation des gesamten Bildes wird a
ognitiven Fähigkeiten und der Motivation des
mplexe Themenbereiche entstehen, denen sic
t für sie aufwendet. In einigen Fällen können
dem bestimmten Themengebiet werden. Ein
nsorischen Wahrnehmung von Autisten ist ei
einste Reize können einen Autisten in höchs
egmann, 2005).
rith, 2003)
gung sind die besonde-
ches Interesse an Teil-
verlassen sich in erster
mwelt zu erfassen. Be-
eobachten, wie der Au-
ahrnimmt. Das Fühlen
Ertasten von verschie-
erstaunlicher Faszinati-
nktionale oder emotio-
n nach Farben sortiert.
können bis ins kleinste
allerdings nicht erfasst.
s Autisten, können aus
ch der Autist akribisch
n sie zu weltweit aner-
n weiterer bemerkens-
ine sensorische Hyper-
te Aufregung und Un-
25
The aloof, the passiv
Abbildung 2 - the aloof,
Hinsichtlich der soz
Gould zwischen drei
passive und the odd (
Ein ,,aloof" Kind ma
Typus reagieren kaum
nur in seltenen Fällen
Kinder spielen nich
Gegenstände ihres In
Murmeln. Zwar könn
stellen damit keine
faszinierendes Objekt
Kinder des Typus ,,
akzeptieren sie die s
auch ihre sozialen Ko
man bei ihnen kaum
ihnen dabei allerding
ve, the odd
the passive, the odd (Frith, 2003)
zialen Beeinträchtigungen bei Autisten unte
i qualitativ verschiedenen Typen, the aloof
merkwürdig, eigentümlich).
acht den Anschein eines Kindes in einem Gla
m auf ihre soziale Umgebung. Sie kommuniz
n non-verbal, wenn sie z.B. etwas essen oder
ht mit anderen Kindern, können sich a
nteresses konzentrieren, wie zum Beispiel ei
nen diese Kinder in die Augen ihres Gegen
n Blickkontakt her, sondern sehen in d
t, das es zu untersuchen gilt.
the passive" tun was ihnen gesagt wird. S
sozialen Annäherungen anderer. Sie leben i
ontakte zählen. Emotionale Freundschaften i
finden. Diese Kinder nutzen Sprache zur Ko
gs das Verständnis für die sozialen Besond
erschieden Wing und
f (unnahbar, fern), the
askäfig. Kinder diesen
zieren nicht verbal und
r trinken wollen. Diese
aber stundenlang auf
in Computerspiel oder
nüber starren, aber sie
den Augen eher ein
Scheinbar gleichgültig
in Routinen zu denen
im üblichen Sinn wird
ommunikation, es fehlt
derheiten menschlicher
26
Kommunikation, wie Ironie, Witz oder Metaphern. Für gewöhnlich verstehen sie nur
die Sachebene der Kommunikation.
9
Ihre Passivität und Gleichgültigkeit verlieren diese
Kinder allerdings sehr schnell, wenn die ihnen bekannten Routinen verändert werden.
Die emotionale Reaktion darauf sind Weinanfälle, Wutausbrüche oder sonstiges
aggressives Verhalten.
,,The odd" beschreibt den Typus der sozialen Beeinträchtigung, welcher sich darin
äußert, dass diese Kinder keinerlei Scheu vor anderen Menschen haben. Sie sind gerne
mit anderen Menschen zusammen, berühren sie und schmiegen sich sogar an Fremde
an. Sie sind nicht in der Lage zu entscheiden, ob ihr verhalten unangebracht oder
ungewollt ist und können nicht nachvollziehen, dass ihr distanzloses Verhalten bei den
Mitmenschen auf Unverständnis stoßen kann.
Weiterhin stellten Wing und Gloud fest, dass viele der untersuchten Kinder von einem
Typus in einen anderen gewechselt sind. Es gibt einen starken Trend, dass die ,,aloof"
Kinder zum ,,passive" oder ,,odd" Typus wechseln, es sei denn, sie weisen eine schwere
Lernbehinderung auf. Laut Uta Frith zeigt diese Erkenntnis, dass alle drei Typen
sozialer Beeinträchtigung aus der gleichen grundlegenden Unfähigkeit heraus entstehen,
der Unfähigkeit soziale Beziehungen aufzubauen (Frith, 2003).
9
Nach dem 4-Seiten-Modell von Schulz von Thun enthält jede Kommunikation vier Ebenen. Diese sind die
Sachebene, die Ebene der Selbstoffenbarung, die Beziehungs- und die Apellebene.
27
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2010
- ISBN (PDF)
- 9783863416300
- ISBN (Paperback)
- 9783863411305
- Dateigröße
- 1.2 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
- Erscheinungsdatum
- 2012 (März)
- Schlagworte
- Autismus Arbeit Rehabilitation WfbM BBW
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing