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Aufrechnung, Entlastung, Umdeutung? Der Wandel der deutschen Erinnerungskultur hin zur „neuen deutschen Opfergeschichte“

©2011 Masterarbeit 59 Seiten

Zusammenfassung

Die bundesdeutsche Erinnerung an den zweiten Weltkrieg unterlag einem stetigen Wandel. Lange Zeit stand dabei auch das Bild der Deutschen als Täter im Vordergrund. Doch seit der Jahrtausendwende, so die Ausgangsthese des Verfassers, scheint die Erinnerung an die Deutschen als Opfer verstärkt an Bedeutung zu gewinnen. Vor allem Erfahrungen der deutschen Zivilbevölkerung während des Bombenkrieges oder Flucht und Vertreibung werden häufiger denn je in der öffentlichen Erinnerungskultur thematisiert. Diese Tendenz wurde längst von Wissenschaft und Journalismus erkannt, beschrieben und diskutiert. Meist blieb es dabei aber bei bloßen Meinungsäußerungen verschiedener Parteien.
In dieser Studie werden verschiedene Darstellungsformen der „neuen deutschen Opfergeschichte“ untersucht und mögliche Motive derjenigen, die diese Geschichte erzählen, betrachtet. Zudem wird diskutiert, inwiefern der Wandel zum deutschen Opfergedenken problematisch oder gerechtfertigt ist. Nachdem zunächst ein Überblick über die deutsche Erinnerungskultur seit Ende des Zweiten Weltkrieges gegeben wird, erfolgt die Untersuchung des benannten Phänomens in den drei Teilbereichen Literatur, Film und Fernsehen und an dem Beispiel der Ausstellung „Erzwungene Wege“.
Wer über Deutsche als Opfer spricht, gerät allzu leicht ins Kreuzfeuer von Kritikern, die einem „Geschichtsrevisionismus“ oder „Aufrechnungsgedanken“ unterstellen. Das vorliegende Buch soll dazu beitragen eine kontroverse Erinnerungskultur zu ermöglichen, in der das Für und Wider des deutschen Opferdiskurses fair diskutiert werden kann. Es ist somit der Versuch eines objektiven, wenn auch kritischen Blickes auf die Zukunft der Erinnerung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

1. Einleitung
1.1 These und Fragestellungen
1.2. Forschungsstand und methodisches Vorgehen

2. Begriffserklärungen
Das individuelle und das kollektive Gedächtnis
Vergangenheitsbewältigung
Opfer
Täter

3. Die deutsche Erinnerungskultur im Wandel
3.1 Die Deutsche Demokratische Republik
3.2 Die Bundesrepublik Deutschland bis 1989
3.3 Das vereinte Deutschland ab 1989/90
3.4 Debatten und Kontroversen als Ursprung des deutschen Opferbewusstseins?

4. Zur Problematik einer Opfergeschichte

5. Der Opferdiskurs in der Öffentlichkeit
5.1 Literatur
5.2 Film und Fernsehen
5.3 Die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen und die Ausstellung „Erzwungene Wege“

6. Resümee/Ausblick

7. Literatur und Quellenverzeichnis
Monografien und Beiträge in Sammelbänden
Aufsätze in Zeitschriften
Internet-Quellen

1. Einleitung

Die bundesdeutsche Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg war seit Kriegsende stetigem Wandel unterlegen. Dieser unrühmlichen Geschichte wurde in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen, sich verändernden Deutungsansätzen gedacht. Dabei sind immer wieder Zäsuren, Debatten, deren Auslöser und Folgen zu beobachten. Oft kann man von regelrechten „Trends“ der Erinnerung sprechen. In den vergangenen Jahren - etwa seit Ende der 1990er Jahre - ist ein neuer Trend zu erkennen: Während die Deutschen lange Zeit als Volk der Täter verstanden wurden, scheint es ein Bedürfnis zu geben, auch die Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und danach zu diskutieren und darzustellen. Das deutsche Volk wird in diesen Darstellungen nicht mehr (nur) als Volk der Täter, sondern auch als Volk der Opfer verstanden. Bislang mag dieses Bedürfnis lediglich im privaten Bereich diskutiert worden sein. Mittlerweile hat der „neue deutsche Opferdiskurs“ allerdings auch in vielen öffentlichen Bereichen Einzug erhalten. Sei es in der Literatur, in Film und Fernsehen oder in musealen Ausstellungen: die Frage nach den Deutschen als Opfer wird vermehrt gestellt und lebendig diskutiert.

Doch was genau ist Teil der Opfergeschichte? Im Wesentlichen werden hier zwei Themenkomplexe genannt: Der erste ist die Bombardierung der deutschen Großstädte durch die Alliierten in der Endphase des Krieges. Der zweite sind die Vertreibungen der Deutschen aus den Ostgebieten und das Leiden während der Flucht. Bei beiden handelt es sich um Erlebnisse einer allmählich schwindenden Generation. Interessanterweise sind es jedoch nicht ausschließlich Menschen dieser Generation, die die Themen aufgreifen und diskutieren.

In der vorliegenden Arbeit soll konkret nach den Darstellungen eines neuen Opferdiskurses gesucht werden. Damit verbunden stellt sich zunächst die Frage, ob dieser Diskurs so überhaupt stattfindet. Wenn dies der Fall ist, wie hier angenommen, welche Erzählungen beinhaltet er? Und wie ist das Bedürfnis dazu überhaupt entstanden bzw. was sind die Motive und Ziele der Erinnernden? Damit verbunden lässt sich eine weitere Frage finden: Kann man überhaupt von einerneuenOpfergeschichte sprechen? Hat es bei den vielen verschiedenen Deutungen der Geschichte nicht bereits vorher entsprechende Erzählungen gegeben? Kann diese Frage bejaht werden, muss genauer untersucht werden, inwiefern sich dieseneueOpfergeschichte von anderen Erzählungen unterscheidet.

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die mit ihm verbundenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind stets ein heikles Thema. Vor allem, wenn Deutsche sich an ihr Leiden erinnern wollen, geraten sie leicht unter Verdacht, Geschichtsrevisionismus betreiben zu wollen. Schnell wird ihnen vorgeworfen, wichtige Aspekte auszuklammern und andere zu überzeichnen. Es wird erkennbar, wie unterschiedlich die individuellen Geschichtsbilder von einzelnen Personen oder Gruppen sind und wie sie Gegenstand von Diskussionen werden. Diese Arbeit soll ferner untersuchen, ob die Art und Weise der Erzählung einer Opfergeschichte berechtigt ist.

Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Zunächst ist es wichtig, einige grundlegende Begriffe zu klären. Dazu gehört die Definition der Begriffe „individuelles Gedächtnis“ und „kollektives Gedächtnis“ und die Diskussion um den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“. Auch die themenspezifischen Begriffe „Opfer“ und „Täter“ müssen erläutert werden.

Wie oben bereits erwähnt, war die Erinnerung immer einem stetigen Wandel unterlegen. So ist es vonnöten, zunächst einen groben Überblick über die Erinnerungskultur[1]zu geben. Beginnend mit dem Stichjahr 1945 sollen hier die verschiedenen Geschichtsdeutungen zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg dargestellt werden. Dabei möchte ich auch auf die wichtigsten Debatten und Zäsuren eingehen. Betrachtet werden die Bundesrepublik und die DDR als heute vereinte deutsche Nachkriegsstaaten. Österreich wird hier weitgehend ausgeklammert. Von Bedeutung wird mit dem Fall der Mauer das Jahr 1989 sein. Danach möchte ich auch genauer nach einem möglichen Ursprung des vermeintlich neuen Trends zur deutschen Opferdarstellung suchen.

Schließlich werde ich auf die Diskussion um die Opfergeschichte eingehen. Es sollen an dieser Stelle verschiedene Positionen gegenübergestellt werden. Ich möchte anhand dieser Positionen diskutieren, inwiefern die Darstellung von Deutschen als Opfer problematisch oder angemessen bzw. gerechtfertigt ist. Somit werde ich hier auch versuchen, Kriterien für die Darstellungsformen der Opfergeschichte festzulegen.

Der Hauptteil der Arbeit konzentriert sich dann auf eben diese konkreten Darstellungen der Opfergeschichte. Dabei ist er in drei Teile untergliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Literatur zum Thema. Hier werden insbesondere zwei Werke immer wieder genannt:Der Brandvon Jörg Friedrich sowieIm Krebsgangvon Günter Grass.[2]Besonders das erstgenannte hat nach seiner Veröffentlichung eine große Debatte losgetreten. Insgesamt hat es zahlreiche Publikationen zu den Themen gegeben, ich werde aber lediglich einige Beispiele diskutieren.

Der zweite Teil untersucht, wie die Darstellung in Film und Fernsehen erfolgt. Hier seien Produktionen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender genannt:Dresden(2006),Die Flucht(2007),Die Gustloff(2008), und Dokumentationen von Guido Knopp.[3]Derartige massenmediale Darstellungen erfreuen sich großer Beliebtheit und sind ein wichtiger Faktor für das kollektive Geschichtsbild.

Im dritten Teil möchte ich auf die Debatte um die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ und genauer auf deren Ausstellung „Erzwungene Wege“ eingehen. Die Diskussion entstand dabei vor allem um den Bund der Vertriebenen als Initiator des Zentrums. Sie zeigt ferner, wie schwierig es ist, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in einen europäischen Kontext zu setzen.

1.1 These und Fragestellungen

Für diese Arbeit stelle ich folgende These auf, die es zu untersuchen gilt:

„Seit Ende der 1990er Jahre ist es zu einer Verschiebung in der deutschen Erinnerungskultur gegeben: Es scheint das Bedürfnis aufzukommen, die Frage nach der Täterschaft Deutscher während des Nationalsozialismus in den Hintergrund und die Geschichte vor allem Deutscher Zivilisten als Opfer des Krieges und der Alliierten in den Vordergrund zu stellen.“

Die zentrale Fragestellung der Arbeit lautet: Wie wird die „neue deutsche Opfergeschichte“ in der deutschen Öffentlichkeit kommuniziert? Weitere Fragen ergeben sich aus der oben stehenden Diskussion: Welches sind die Motive und Ziele derjenigen, die den Opferdiskurs vorantreiben? Lässt sich überhaupt von einerneuendeutschen Opfergeschichte sprechen? Und schließlich stellt sich natürlich auch die Frage, ob und inwiefern die Darstellung der Deutschen als Opfer legitim oder unangemessen bzw. problematisch ist.

1.2. Forschungsstand und methodisches Vorgehen

Beginnen soll die vorliegende Arbeit mit der Klärung von wichtigen Begriffen. Als Basiswerke sind hierfürDas Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigungvon Thorsten Eitz und Georg Stötzel sowieDer lange Schatten der Vergangenheitvon Aleida Assmann zu nennen.[4]Letzteres liefert außerdem einen guten Überblick über den Opferdiskurs. Es gibt ferner zahlreiche Gesamtdarstellungen zur deutschen Erinnerungskultur seit 1945; eine ebensolche möchte auch ich vornehmen. Hier sind insbesondere die Aufsätze von Edgar Wolfrum, Franziska Augstein sowie Katrin Hammerstein von Bedeutung.[5]In den Gesamtdarstellungen zur Erinnerungskultur wurde der Trend zur „neuen deutschen Opfergeschichte“ oft erkannt jedoch meist nur knapp diskutiert.

Zu den verschiedenen literarischen Publikationen, Filmen und Fernsehsendungen sowie zur Ausstellung „Erzwungene Wege“ hat es viele Meinungsäußerungen und Rezensionen gegebenen. Veröffentlicht wurden sie zumeist in (Fach-)Zeitschriften oder Zeitungen. Auch sind sie oft als Onlinequellen zu finden. Zusätzlich gibt es diverse Überblicksdarstellungen, die die Debatten und Kontroversen zusammenfassen. Dazu gehört insbesondere dasLexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland, herausgegeben von Torben Fischer und Matthias Lorenz.[6]

Während es zwar all diese Meinungsäußerungen gegeben hat, so sind diese jedoch nur selten gegenübergestellt und diskutiert worden. Genau darin liegt das methodische Vorgehen dieser Arbeit. Ich möchte die Literatur, die filmischen Darstellungen und die Ausstellung anhand der vorhandenen Rezensionen und Meinungsäußerungen diskutieren und bewerten. So soll diese Lücke gefüllt werden. Die Motive der Vertreter des Opferdiskurses sollen – wenn möglich – aufgeführt werden. Somit kann möglicherweise erkannt werden, wohin die Tendenz des Opfergedenkens führen soll oder kann.

2. Begriffserklärungen

In dieser Arbeit tauchen verschiedene Begriffe auf, deren Nutzung oft selbstverständlich scheint. Es ist jedoch sinnvoll, diese Begriffe genau zu definieren und voneinander abzugrenzen.

Das individuelle und das kollektive Gedächtnis

Jeder Mensch hat sein eigenes Gedächtnis, welches in der Gedächtnisforschung gemeinhin als das individuelle Gedächtnis bezeichnet wird. Es basiert auf den persönlichen Erfahrungen eines jeden Einzelnen. Dennoch „dürfen [wir] es uns nicht als ein selbstgenügsames und rein privates Gedächtnis vorstellen.“[7]Denn das individuelle Gedächtnis entsteht vor allem auch durch Kommunikation, also dadurch, dass Menschen über eigene und gemeinsame Erinnerungen sprechen. In diesem Zusammenhang wird oft von einem kollektiven Gedächtnis gesprochen, das die Erinnerung von Institutionen oder Körperschaften bezeichnet. Dieser Begriff wird jedoch auch kritisiert, weil die Erinnerung von Institutionen und Körperschaften nicht der individuellen Erinnerung einzelner Personen entspricht.[8]Auch kann man eigentlich weniger von einem Gedächtnis sprechen als vielmehr von „Ideologien“ oder „Mythen“.[9]Aleida Assmann hält es dennoch für wichtig, den Begriff weiterhin zu benutzen, da er „auf Phänomene [zielt], die durchaus empirisch fassbar sind, und sich deutlich von den Bedingungen des individuellen Erinnerns abheben.“[10]

„[...] Nationen, Staaten, die Kirche oder eine Firma“, so Assmann weiter, „‚haben‘ kein Gedächtnis, sie ‚machen‘ sich eines […].“[11]Dieses Gedächtnis wird als das kollektive Gedächtnis bezeichnet. Es handelt sich also um eine Konstruktion, deren Bestandteile gezielt ausgewählt wurden. Die kollektive Erinnerung erscheint abgeschlossen. Sie hat eine narrative Struktur, klare Aussagen und ist meist auch über Generationen hinweg sehr gefestigt. Eine Gemeinsamkeit zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis besteht darin, dass beide nicht auf absoluter Vollständigkeit beruhen, sondern auch Dinge vergessen. Durch die Erinnerung und das Vergessen bauen sich der oder die Erinnernde eine Identität auf.[12]

Bezeichnend für das kollektive Gedächtnis (insbesondere für das einer Nation) ist die Auswahl dessen, was erinnert wird und was in Vergessenheit gerät. Es geht hier meist „um solche Bezugspunkte in der Geschichte, die das positive Selbstbild stärken und im Einklang mit bestimmten Handlungszielen stehen.“[13]Für das nationale Gedächtnis bedeutet dies genauer, dass hier insbesondere ruhmreiche Dinge wie Siege und Heldentaten erinnert werden, Niederlagen und Schandtaten jedoch eher vergessen werden. Werden Niederlagen erinnert, so geschieht dies meist eher in Form eines Opferbewusstseins. Hier wird schon deutlich, dass die kollektiven Erinnerungen von verschiedenen Staaten und Nationen sehr unterschiedlich sind. Ein und dieselbe Schlacht z.B. mag von der einen Nation als Niederlage, von der anderen als Sieg empfunden werden. Sie mag von der einen Nation als Heldentat gefeiert, von der anderen als Verbrechen verurteilt werden. Diese klassische Erinnerung ist allerdings einem derzeitigen Wandel unterlegen. Das Prinzip der Nationalstaaten weicht im Zeitalter der Globalisierung allmählich auf und mit ihm die enge, nationale Erinnerung. Damit öffnen sich neue Wege zu einer gemeinsamen, internationalen Erinnerung.[14]

Vergangenheitsbewältigung

Befasst man sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Erinnerungskultur, so stößt man häufig auf den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“. So oft dieser Begriff auftritt und so scheinbar selbstverständlich er meist benutzt wird, so undeutlich ist er gleichzeitig. Was genau bedeutet es, die „Vergangenheit zu bewältigen“?

Gemeint ist mit dem Begriff die Auseinandersetzung mit problematischer Geschichte; in Deutschland bezieht sich dies eben insbesondere auf den Nationalsozialismus. Diese Auseinandersetzung geschieht auf verschiedenen Ebenen. So beinhaltet sie „etwa die juristische Auseinandersetzung mit den Tätern, die Fragen nach Rehabilitation und Entschädigung der Opfer, die Etablierung einer Erinnerungs- und Gedächtniskultur sowie verfassungs- wie strafrechtliche Verhinderung von neuer Gewaltherrschaft“.[15]

Der Wortteil „Bewältigung“ erweist sich hier als tückisch und irreführend. So wurde er stets diskutiert. Problematisch ist, dass er sich nicht deutlich von der häufigen Forderung abgrenzt, unter die Geschichte „einen Schlussstrich zu ziehen“. Andere Bezeichnungen für das Phänomen sind „Auseinandersetzung mit-“ oder „Aufarbeitung der Vergangenheit“. Doch auch sie bieten Angriffsfläche für Kritik. Trotzdem werden alle diese Begriffe (und ihre Kollokationen) noch heute gleichwertig genutzt. Ob man sie für passend, irreführend oder gar unangebracht hält bleibt dem eigenen Standpunkt überlassen. Auch gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob eine Vergangenheitsbewältigung, wie sie oben definiert wurde, vonnöten ist.[16]

Opfer

Der hier zentrale Begriff „Opfer“ ist im Deutschen kein eindeutiger Begriff. Dies wird klar, wenn man zwei Lehnworte aus dem Lateinischen betrachtet. Hier wird zwischen „sacrificium“ und „victima“ unterschieden. Auch im Englischen wird diese Unterscheidung vorgenommen („sacrifice“ und „victim“). Im Deutschen hingegen werden beide Begriffe mit dem Begriff „Opfer“ zusammengefasst. Die Unterscheidung ist allerdings sinnvoll und für diese Arbeit unabdingbar. Der erste Begriff („sacrificium“) beschreibt „den selbstbestimmten Einsatz des eigenen Lebens“[17], dies geschieht in einem heroischen oder religiösen Kontext. Der zweite Begriff („victima“) beschreibt hingegen „das passive und wehrlose Objekt von Gewalt.“[18]Assmann nennt als Beispiel für die erste Kategorie den Soldaten, der heroisch, wie in der Religion als Märtyrer dargestellt wird und „für“ eine Sache stirbt. Als Beispiel für die zweite Kategorie nennt sie u.a. die Opfer der Völkermorde des Zweiten Weltkriegs sowie andere zivile Opfer von Gewalt.[19]

Es gibt einen problematischen Unterschied zwischen den beiden Opferkategorien. Es ist deutlich leichter, sich des heroischen Opfers zu erinnern, gleichzeitig ist es aber sehr schwer, sich des traumatisierten Opfers, also des „Victim“ zu erinnern. Dem heroischen Opfer wird ein Sinn zugeschrieben. Der Tod von Widerstandskämpfern beispielsweise wird als „Märtyrertod“ verstanden. Dadurch wird oft Opfern eine Rolle zugeschrieben, die es so nicht gegeben hat, um dem Tod im Nachhinein einen Sinn zuzuschreiben. Dies war z.B. in der Erinnerung der DDR der Fall, wie später noch erläutert wird. Dem Tod wird also ein positives Bild zugeordnet. Traumatische Erfahrungen werden hingegen oft erst lange Zeit später gesellschaftlich anerkannt. Dies liegt mitunter daran, dass sich die Opfergruppen oft erst nach langer Zeit organisieren und ein kollektives Gedächtnis formen. Ein weiteres Problem in der Ambivalenz des deutschen Opferbegriffes liegt auch darin, dass Täter unter dem Begriff viktimisiert werden können. Assmann nennt als Beispiel das Gedenken an „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Hier werden bei dem unklaren Begriff z.B. Wehrmachtssoldaten mit Opfern des Holocausts gleichgestellt.[20]

Es kommt jedoch allmählich zu einem Wandel im Opfergedächtnis. Die Opfererfahrungen rücken immer mehr in den Mittelpunkt, viele Gruppen wollen ihre Opfergeschichte darstellen und fordern deren Anerkennung ein. Dabei wird die Opferrolle zur Basis der jeweiligen Identität der Gruppen. Diese Opfergeschichten erhalten hohen Zuspruch. Während die Faszination des heroischen Opfers in seiner Aktivität liegt, besteht die Faszination des traumatisierten Opfers in „seiner absoluten Passivität, die mit Unschuld und Reinheit konnotiert ist.“[21]Es ist unverschuldet in seine Opferrolle geraten.[22]

Täter

Dem Opfergedächtnis steht das Tätergedächtnis gegenüber. Auf beiden Seiten ist die Strategie des Schweigens zu finden. Die Opferseite spaltet sich dadurch oft für eine Weile vom Trauma ab, um sich von den Leiderfahrungen zu lösen und sich selbst davor zu schützen. Die Täterseite hingegen spaltet sich dadurch von der Schuld ab, um das eigene Gesicht zu wahren. Die Unschuld und das Leid sind positive Werte, die Schuld allerdings passt nicht in das positive Selbstbild. „Es gibt inzwischen einen ‚Leid-Stolz‘ aber keinen ‚Schuld-Stolz‘.“[23]Die Schuld wurde allerdings oft schon vor der eigentlichen Tat verdrängt. Im Nationalsozialismus war dies überhaupt die Voraussetzung für die Taten, im Kollektiv ging die Schuld unter.[24]

3. Die deutsche Erinnerungskultur im Wandel

Wie eingangs erwähnt, war die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg und an den Nationalsozialismus in der deutschen Erinnerungskultur seit 1945 einem steten Wandel unterlegen. Wenn wir von „der deutschen Erinnerungskultur“ sprechen, müssen wir aber natürlich mit einbeziehen, dass es nach 1945 nicht nureinDeutschland gab, sondern als „Nachfolgestaaten“[25]die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik sowie Österreich existierten. Letzteres wird für diese Betrachtung nicht von Bedeutung sein, da ich mit der deutschen Opfergeschichte ein Phänomen der vereinten Bundesrepublik untersuchen möchte.

Somit werde ich im Folgenden zunächst einen Überblick über die Erinnerung im geteilten Deutschland seit 1945 geben. Mit dem Fall der Mauer werde ich schließlich auf die sich verändernde Erinnerungskultur seit 1989 eingehen. In einem abschließenden Teil stelle ich Debatten und Kontroversen der 1990er Jahre in den Mittelpunkt und suche in ihnen eine mögliche Erklärung für den gegenwärtigen Opferdiskurs.

3.1 Die Deutsche Demokratische Republik

Betrachtet man Straßenschilder der DDR, auf denen „Straße der Befreiung“ oder „Platz des 8. Mai 1945“ geschrieben steht, erkennt man bereits die Deutung des Kriegsendes im kollektiven Gedächtnis des ostdeutschen Staates. Besonders der erstgenannte Straßenname weist darauf hin, dass das Kriegsende im offiziellen Geschichtsbild als Befreiung oder Sieg über den Nationalsozialismus betrachtet wurde. Man sprach also hier nicht von einer Niederlage gegen die Alliierten.[26]

Diese Deutung ging einher mit dem Antifaschismus als Gründungsmythos der Republik. So legitimierte sich der neue Staat dadurch, dem Faschismus den Kampf anzusagen und sich vom „faschistischen Westen“ abzugrenzen. Konkret bedeutete dies, dass in der DDR die Entnazifizierung deutlich radikaler durchgeführt werden sollte, als in der Bundesrepublik. Zumindest in Schule, Justiz und Verwaltung usw. wurde sehr strikt mit dem Nationalsozialismus abgerechnet. Dadurch konnte der neue Staat sein System aufbauen, denn für die DDR ging der Aufbau des Sozialismus mit der Bekämpfung des Nationalsozialismus einher.[27]

Aus Sicht der SED-Führung wurde mit dieser „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ die DDR gänzlich vom Nationalsozialismus befreit, so dass die DDR-BürgerInnen unter diesem Deckmantel abtauchen und sich eine neue, positive Identität zuschreiben konnten. Bei dem Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten wurde die Rolle der verfolgten Widerstandskämpfer in den Vordergrund gerückt und dadurch weiter das positive Selbstbild gestärkt. Ein wesentlicher Bestandteil des Nationalsozialismus war der Antikommunismus. Daher konnte man sich im offiziellen Geschichtsnarrativ der DDR auch als Widerstandskämpfer und als heroisches Opfer verstehen. Der oben stehenden Diskussion zum Opferbegriff können wir entnehmen, dass das heroische Opfer positiv konnotiert ist. Ihm wird hier also im Nachhinein ein Sinn gegeben. Ein weiterer Punkt war, dass durch die zentrierte Erinnerung an die Widerstandskämpfer die Erinnerung an nichtkommunistische Opfergruppen (bspw. Juden) ausgeblendet wurde.[28]

Dieser Umgang mit der Geschichte stellt sich aus heutiger und westlicher Sicht aus verschiedenen Gründen als problematisch dar. Zum einen wird eine „Hierarchie der Opfer“[29]aufgestellt, mit den Widerstandskämpfern an erster Stelle. Zum anderen wurden die DDR-Bürger, die nicht unter der Entnazifizierung verurteilt oder abgesetzt wurden, von jeglicher Schuld freigesprochen, da sie jetzt in einem Land lebten, das vom Nationalsozialismus als „befreit“ galt. Durch die Legitimation der DDR wurden diese Personen also automatisch als antifaschistische Widerstandskämpfer bezeichnet. Die Frage nach der Schuld musste somit nicht mehr gestellt werden. Außerdem konnte der Antifaschismus als Legitimationsgrundlage der Republik dafür genutzt werden, die Gegner des kommunistischen Systems auszuschalten.[30]

Durch diese Grundhaltung der DDR ergab sich ein bestimmtes Bild des Westens, insbesondere der Bundesrepublik. Die NS-Geschichte der DDR wurde von ihr „externalisiert“, d.h. die Schuld an den NS-Verbrechen wurde an die Bundesrepublik abgegeben. Der Faschismus wurde als Phänomen des Kapitalismus verstanden und die NS-Vergangenheit somit nicht mehr als Teil der DDR-Geschichte.[31]Somit „konnte der Eindruck entstehen, Hitler sei ein Westdeutscher gewesen.“[32]

Dieses Prinzip der Externalisierung lässt sich auch in Österreich wiederfinden. Allerdings hat sich Österreich in seinem Gründungsmythos nicht wie die DDR als Sieger verstanden, sondern „erklärte sich zum ‚ersten Opfer‘ der Deutschen.“[33]Dieser Opfermythos hält sich beinahe ungebrochen bis heute. Somit versteht sich auch Österreich, wie die DDR, nicht als Nachfolger des „Dritten Reiches“.[34]

Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR ließ sich in der Öffentlichkeit in zahlreichen Denkmälern und Gedenkstätten wiederfinden.[35]Da sie allerdings an den antifaschistischen Widerstand erinnerten, erfuhren, wie bereits erwähnt, andere Opfergruppen „eine Degradierung zu ‚Opfern zweiter Klasse‘.“[36]Auch kam es eben zur Darstellung der Widerstandskämpfer als heroische Opfer bzw. als Sieger. Dadurch wurde die These gestützt, dass der Kommunismus über den Nationalsozialismus gesiegt habe. Und somit wurde eben auch der 8. Mai im kollektiven Gedächtnis der DDR stets als „Tag der Befreiung“ verstanden.[37]

Es handelte sich hierbei natürlich um ein öffentlich-inszeniertes Geschichtsbild, das sich im kollektiven Gedächtnis manifestieren sollte. Dies war sicher auch der Fall, da die DDR-BürgerInnen dadurch schließlich ihre Schuld vertuschen konnten. Doch unterschied sich dieses kollektive Gedächtnis von dem privat kommunizierten Gedächtnis und den persönlichen Erinnerungen der Menschen. Dadurch lässt sich auch erklären, warum das staatliche Selbstbild so stark propagiert werden musste.[38]Wolfgang Bialas spricht in diesem Zusammenhang von „verordnetem Antifaschismus“.[39]

Doch noch weitere Punkte des staatlichen Geschichtsbildes der DDR waren nicht schlüssig. Beispielsweise wurde der Antikommunismus als wesentliches Element des Nationalsozialismus angeführt, der für ihn prägende Antisemitismus allerdings verschwiegen. Gleichzeitig wurde gegen den „westlichen Imperialismus“ propagiert, antiwestliche Klischees mobilisiert und dadurch „die Juden mit dem verachteten ‚kosmopolitischen‘, kapitalistischen Westen [assoziiert].“[40]Dadurch ergab sich der Widerspruch einer antijüdischen Politik, die durch den Antifaschismus legitimiert war.[41]

1961 erlangte der Prozess gegen Adolf Eichmann weltweit hohe Medienpräsenz und wurde auch in der DDR mit hohem Interesse verfolgt. Dadurch wurde der Holocaust überhaupt erst in der Öffentlichkeit behandelt. Ab den 1970er Jahren wurde, aufgrund von antisemitischen Vorfällen und dem steigenden Antizionismus der SED, das Geschichtsbild in Frage gestellt. 1988 sprach Erich Honecker davon, dass man bereit sei, jüdische Opfer zu entschädigen. Dies erschütterte die DDR in ihren Grundfesten. Hier wurde der Holocaust als Teil der DDR-Geschichte eingestanden und dadurch der Gründungsmythos angezweifelt. Dies könnte mitunter ein Grund sein, warum der Staat ein Jahr später zum Erliegen kam.[42]

Bezeichnend für die Vergangenheitsbewältigung der DDR ist also, dass sie nur sehr kurz erfolgte. Danach wurde im Wesentlichen durch ein offizielles Geschichtsnarrativ die Schuld von der ostdeutschen Bevölkerung abgewälzt und auf die Bundesrepublik geschoben. Dabei war das Bild des Widerstandskämpfers, also des heroischen Opfers, fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Es erzählte allerdings eine heldenhafte Geschichte, die das positive Selbstbild der Nation stärken sollte.

3.2 Die Bundesrepublik Deutschland bis 1989

Wir wissen bereits, dass sich die DDR (und auch Österreich) nicht als Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ verstanden hat und über ein relativ starres Geschichtsbild verfügte. Doch wie sieht die Erinnerung in der Bundesrepublik aus? Vergleicht man die drei Staaten miteinander, so lässt sich schnell feststellen, dass der Bundesrepublik eine Sonderrolle[43]zukommt.

Eine Sonderrolle hatte die Bundesrepublik in dem Sinne, dass sie keinen offiziellen, staatlichen Gründungsmythos formulierte, wie es in den beiden anderen Staaten der Fall war. Damit bekannte sich nur die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Staates. Es gab hier nicht das staatlich vorgegebene Geschichtsbild, das zur Schuldentlastung einer ganzen Nation führen konnte. Dennoch wurden auch hier Wege gefunden, Schuld von sich zu weisen.[44]

Nachdem die Entnazifizierung in den 1950er Jahren zum Ende kam, wurden viele der NS-Anhänger, Mitläufer und auch Täter amnestiert. Dies geschah vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, um die Bundesrepublik schnellstmöglich zu demokratisieren. Die entstandene Demokratie war jedoch zweifelhaft, da viele Belastete wieder ihren Platz im neuen System gefunden haben. Hier ist ein wesentlicher Unterschied zur DDR zu finden, da dort die Entnazifizierung zumindest in den wichtigen Bereichen sehr strikt durchgeführt wurde.[45]

In den Anfangsjahren der Bundesrepublik hat man sich oftmals gar nicht bestürzt oder beschämt zu den NS-Verbrechen geäußert. Vielmehr schien die Tatsache von Bedeutung, dass der Krieg verloren ging und so suchte man Erklärungen für die Niederlage. Dabei schlüpfte die breite westdeutsche Bevölkerung bereits in eine Opferrolle. Sie verstand sich als Opfer von Hitler und seinem Gefolge. Häufig kam es dabei zur Dämonisierung Hitlers; er wurde als „Inkarnation des Bösen“[46]bezeichnet. Verluste und Vertreibung waren die Dinge, deren er schuldig gesprochen wurde. Durch diese Opfererzählung reihten sich die NS-Anhänger in der Opferhierarchie noch vor den tatsächlich Verfolgten ein.[47]

Bis Ende der 1950er Jahre war diese „Sündenbock-Methode“ die dominanteste Geschichtsdeutung. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und insbesondere mit den Verbrechen fand in der Bundesrepublik in dieser Zeit gar nicht statt. Erst durch antisemitische Skandale und Hakenkreuzschmierereien wurde deutlich, dass es Defizite im Bildungsbereich gab, die dann durch die Verabschiedung neuer Richtlinien für den Geschichtsunterricht behoben werden sollten. Ehemalige Konzentrationslager wurden – deutlich später als in der DDR – zu Gedenkstätten aufgewertet.[48]

Überhaupt wurde die NS-Vergangenheit vermehrt in der Öffentlichkeit thematisiert. In Literatur, Film und Rundfunk wurde darüber gesprochen und auch in der Bundesrepublik stießen der Eichmann-Prozess 1961 oder der Auschwitz-Prozess 1965 auf großes öffentliches Interesse. Die neue, positive Identität der Westdeutschen, die sich über Dinge wie das Wirtschaftswunder, Wiederaufbau der die Sozial-und Rechtsstaatlichkeit definierte, sorgte für eine Ablehnung der negativen Vergangenheit und das Bedürfnis, mit dieser abzuschließen. Dennoch war sie Thema und so setzte sich auch die „68er-Generation“ mit der NS-Vergangenheit ihrer Eltern auseinander.[49]

Einen Wandel in der Erinnerungspolitik stellte die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler dar. Nicht nur sprach Brandt nicht mehr von einem „besiegten“, sondern von einem „befreiten Deutschland“; die Bundesregierung warb außerdem um die Aussöhnung mit Opfern. Diese Politik sah sich allerdings der Kritik der Opposition ausgesetzt, da es ihr widerstrebte, Niederlagen zu feiern. Dieser Versuch der Bundesregierung, die negative Vergangenheit als Chance für einen Neuanfang zu interpretieren, rückte mit dem Rücktritt Brandts allerdings in den Hintergrund. In den 1970er Jahren kamen dann bereits erste Diskussionen um die Vergangenheitsbewältigung auf. Hier wurde beispielsweise die Frage diskutiert, ob die deutsche Identität ein positives Geschichtsbild brauche, um erfolgreich die Vergangenheit aufzuarbeiten.[50]

Als wichtige Zäsur in der deutschen Erinnerungskultur wird oft die Ausstrahlung des mehrteiligen amerikanischen FernsehfilmsHolocaust1979 verstanden. Der Judenmord wurde durch ihn der Bevölkerung direkt in die Wohnzimmer getragen, wenn auch viele Historiker die Darstellung als „Hollywood-Seifenoper“ kritisierten. Die hohen Einschaltquoten wiesen allerdings darauf hin, dass der Holocaust bislang nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechend thematisiert wurde. Ein feststehendes Geschichtsbild wurde jedenfalls durch die Geschichtswissenschaft kaum vermittelt.[51]

Die Diskussion um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sollte 1986/87 im sogenannten „Historikerstreit“ gipfeln. Die konservative Seite forderte für Deutschland eine „Normale-Nation-Identität“[52]und dass nicht ständig auf eine Singularität des Holocaust verwiesen wird. Nur so könne sich ein positives Nationalbewusstsein entwickeln. Die linksliberale Seite befürchtete hingegen, dass dadurch die NS-Verbrechen verharmlost werden könnten.[53]

3.3 Das vereinte Deutschland ab 1989/90

Der Fall der Mauer stellt eine entscheidende Zäsur in der deutschen Erinnerungskultur dar. Es stellt sich die Frage, wie auch die Erinnerung vereint wurde, nachdem sie in den geteilten deutschen Staaten so unterschiedlich war.

Franziska Augstein geht dieser Frage nach und untersucht, wie sich die Erinnerung mit der Einheit verändert hat. Sie unterteilt die jetzige Situation dabei in drei Punkte: Als erstes spricht sie von der „neuen Normalität“. Mit dem Abzug der alliierten Truppen scheint die Geschichte der Bundesrepublik „normal“ geworden zu sein.[54]Diese Normalität sei in der Öffentlichkeit vor allem durch Gerhard Schröder vertreten worden, welcher sehr unbefangen mit der Vergangenheit umgegangen ist und sich „für Geschichte wirklich nicht interessiert.“[55]

Der zweite Punkt ist das „neue ‚Wir-sind-wieder-wer‘-Gefühl“[56]der Deutschen. Dieses Gefühl sei besonders zu Beginn des Kosovo-Krieges deutlich geworden. Deutsche wie Jürgen Habermas oder Joschka Fischer haben sich zur Notwendigkeit des Kriegs geäußert und sich dabei auf die deutsche Geschichte bezogen. Zuvor wäre es für Deutsche undenkbar gewesen, auf Diktatoren und Genozide in anderen Ländern zu zeigen und sich als „Retter“ zu verpflichten. Doch das Selbstbewusstsein hatte sich hier geändert und so kam es zu dem, was auch Insa Eschebach beschreibt: „[Die] Bundesrepublik [hat] die öffentliche Erinnerung an den Völkermord zu einer nationalen Aufgabe erklärt.“[57]Durch die Vergangenheit sieht sich Deutschland in der Verantwortung, solche Verbrechen zukünftig zu verhindern.[58]

Vergleiche von Verbrechen mit dem Holocaust sind mittlerweile auf der ganzen Welt zu finden. Diktatoren wie Saddam Hussein oder Slobodan Milosevic gelten dabei als „neue Hitler“.[59]Begriffe wie „Auschwitz“ oder „Konzentrationslager“, die vorher nur im Zusammenhang mit dem Holocaust gefallen sind, werden jetzt auch bei der Beschreibung anderer Verbrechen oder kontroverser Gefangenenlager genannt. Als Beispiel wären das Gefangenenlager Guantanamo Bay oder die Lager im Kosovo zu nennen. Der Begriff „Holocaust“ wird sinnbildlich für Verbrechen an Völkern gedeutet und löst sich somit vom Judenmord.[60]

Augsteins letzter Punkt, „die neue Konstellation der Bezugssysteme“[61], bezieht sich direkter auf den Mauerfall. Nach dem Ende der DDR ist diese als neuer Bezugspunkt zur Bundesrepublik und der NS-Zeit hinzugekommen. Die Mauer wurde oft als Strafe für den Nationalsozialismus angesehen. Mit der Vereinigung wäre dann diese Strafe verbüßt, Deutschland von seiner Schuld emanzipiert und seine Schuld verringert.[62]

Ein weiterer Aspekt ist der Vergleich des Totalitarismus der DDR mit dem des Nationalsozialismus. Dies geht teilweise sogar so weit, dass man beide Systeme auf eine Stufe stellt. Dadurch wird zum einen zwar der Nationalsozialismus in gewisser Weise entschärft, auf der anderen Seite aber auch die Demokratie der Bundesrepublik gestärkt: die DDR war gescheitert. Sie hatte stets die Schuld externalisiert. Die Bundesrepublik hingegen findet ihre Legitimität in der Anerkennung und Reflexion der Schuld.[63]Augstein hält dieses Prinzip aber nicht für sinnvoll, denn „Schuldempfinden taugt nicht als Brutstätte für Selbstbewusstsein.“[64]

Die Vergleichbarkeit der beiden Diktaturen wird allerdings auch oft angezweifelt. Es stellt sich außerdem die Frage nach dem Sinn solcher Vergleiche. Für die Bundesrepublik generiert man dadurch, dass man die DDR mit dem Nationalsozialismus vergleicht, ein positives Bild: sie steht als der Überlegene der beiden deutschen Nachkriegsstaaten dar. Die bundesdeutsche Erinnerung wurde nach dem Mauerfall weitgehend einfach auf die DDR übertragen, das dort bestehende Geschichtsbild einfach ausgetauscht. Dieses Prinzip festigte erneut die symbolische Überlegenheit Westdeutschlands; es hat den „Konkurrenzkampf“ um die Erinnerungskultur gewonnen.[65]

Somit hat der Mauerfall die Erinnerung geprägt. In der Bundesrepublik hat sich der Blick auf den Nationalsozialismus verändert. Durch ein neues Selbstbewusstsein scheint unbefangener über Themen diskutiert zu werden. Dieses Selbstbewusstsein konstituiert sich trotz oder gerade wegen der deutschen Vergangenheit.

3.4 Debatten und Kontroversen als Ursprung des deutschen Opferbewusstseins?

In der Einleitung habe ich danach gefragt, wie das Bedürfnis für die Thematisierung deutscher Opfernarrative zu erklären ist. Harald Schmid bezeichnet das deutsche Opferbewusstsein als „starke Gegenbewegung“[66]zu diversen Kontroversen und Debatten, die die 1990er Jahre geprägt haben. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit war im kollektiven Gedächtnis stets präsent. Dabei standen die NS-Täter oder deren Opfer im Mittelpunkt. Möglicherweise hat dieser Fokus also dazu geführt, dass der Opferdiskurs losgetreten wurde.[67]An dieser Stelle seien einige Beispiele der Debatten zu nennen.

Viel öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr 1995 die AusstellungVernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, besser bekannt als die „Wehrmachtsaustellung“. Der Mythos der „sauberen Wehrmacht“ wurde in dieser Fotoausstellung endgültig zerstört. Die Reaktionen waren unterschiedlich und nicht selten emotional. Manche reagierten darauf stark ablehnend, so dass die Ausstellung als „Lüge“ bezeichnet wurde, andere waren erfreut über die Darstellungen.[68]

[...]


[1]Hockerts, 2002, S. 41: „Der Neologismus ‚Erinnerungskultur‘ wird in der öffentlichen Debatte nicht einheitlich gebraucht. In einem engeren Sinn meint er Vergangenheitsbezüge, mit denen ‚Gemeinschaft‘ gestiftet bzw. Gruppenidentität gepflegt wird; in einem weiteren Sinne erfaßt er den gesamten Kulturbetrieb, in dem es um Geschichte geht, und wird dann mit dem Begriff ‚Geschichtskultur‘ deckungsgleich.“ In der vorliegenden Arbeit wird von Erinnerungskultur in diesem weiteren Sinne ausgegangen.

[2]Friedrich, 2002; Grass, 2002

[3]Vgl. Hickethier, 2009, S. 315f.; Vgl. Fischer/Lorenz (Hrsg.), 2007, S. 342

[4]Eitz/Stötzel, 2007; Assmann, 2007

[5]Wolfrum, 2005; Augstein, 2005; Hammerstein, 2008

[6]Fischer/Lorenz (Hrsg.), 2007

[7]Assmann, 2007, S. 25

[8]Vgl. Assmann, 2008, <http://www.bpb.de/themen/6B59ZU,0,0,Kollektives_Ged%E4chtnis.html> (28.03.2011); vgl. Assmann, 2007, S. 23ff.

[9]Vgl. Assmann, 2007, S. 29ff.

[10]Assmann, 2008, <http://www.bpb.de/themen/6B59ZU,0,0,Kollektives_Ged%E4chtnis.html> (28.03.2011)

[11]Ebd.

[12]Vgl. ebd.

[13]Ebd.

[14]Vgl. ebd.; Vgl. Kirsch, 2005, S. 69

[15]Eitz/Stötzel, 2007, S. 601

[16]Vgl. ebd., 2007, S. 601ff.; Vgl. Fischer/Lorenz (Hrsg.), 2007, S. 9ff.

[17]Assmann, 2007, S. 73

[18]Ebd.

[19]Vgl. Assmann, 2007, S. 73f.

[20]Vgl. ebd., S. 74ff.

[21]Ebd., S. 80

[22]Vgl. ebd., S. 76ff.

[23]Ebd., S. 82

[24]Vgl. ebd., S. 81ff.

[25]Der Begriff „Nachfolgestaat“ ist nicht gänzlich unstrittig, da sich nicht jeder der drei Staaten als solcher versteht bzw. verstand

[26]Vgl. Springer, 2005, S. 211

[27]Vgl. Hammerstein, 2008, S. 41; Vgl. Wolfrum, 2005, S. 162; Vgl. Reichel, 2003, S. 13; Vgl. Bialas, 2003, S. 151

[28]Vgl. Hammerstein, 2008, S. 41ff.; Vgl. Assmann, 2007, S. 74f.; Vgl. Sabrow, 2009, S. 15

[29]Hammerstein, 2008, S. 42

[30]Vgl. Hammerstein, 2008, S. 42; Vgl. Leo, 2006, S. 401; Vgl. Wolfrum, 2005, S. 163; Vgl. Sabrow, 2009, S. 15

[31]Vgl. Assmann, 2007, S. 170f.; Vgl. Wolfrum, 2005, S. 162f. ; Reichel, 2003, S. 13

[32]Wolfrum, 2005, S. 162

[33]Hammerstein, 2008, S. 44

[34]Vgl. ebd., S. 44ff.

[35]Vgl. Wolfrum, 2005, S. 163f.

[36]Hammerstein, 2008, S. 54

[37]Vgl. Wolfrum, 2005, S. 164; Vgl. Springer, 2005, S. 211

[38]Vgl. Hammerstein, 2008, S. 43, S. 55

[39]Bialas, 2003, S. 151

[40]Wolfrum, 2005, S. 165

[41]Vgl. ebd., S. 164f. ; Reichel, 2003, S. 14

[42]Vgl. ebd., S. 165f.

[43]Katrin Hammerstein spricht vom „Sonderfall Bundesrepublik“, Hammerstein, 2008, S. 48

[44]Vgl. ebd., S. 48f.

[45]Vgl. Wolfrum, 2005, S. 154f.

[46]Zittelmann, 1993, S. 491

[47]Vgl. Assmann, 2007, S. 171ff.; Vgl. Zittelmann, 1993, S. 491; Vgl. Hammerstein, 2008, S. 49ff.; Vgl. Sabrow, 2009, S. 17ff.

[48]Vgl. Wolfrum, 2005, S. 156f.

[49]Vgl. ebd. S. 158f.

[50]Vgl. ebd. S. 159f.

[51]Vgl. ebd. S. 160; Vgl. Schmid, 2010, S. 174f.; Vgl. Sabrow, 2009, S. 19

[52]Wolfrum, 2005, S. 161

[53]Vgl. ebd., S. 160f.

[54]Vgl. Augstein, 2005, S. 243f.

[55]Ebd., S. 244

[56]Ebd., S. 243

[57]Eschebach, 2005, S. 186

[58]Vgl. Augstein, 2005, S. 244f.

[59]Ebd., S. 245

[60]Vgl. Augstein, 2005, S. 244f.; Vgl. Eschebach, 2005, S. 186ff.

[61]Augstein, 2005, S. 243

[62]Vgl. ebd., S. 245ff.

[63]Vgl. ebd.

[64]Ebd., S. 248

[65]Vgl. ebd., S. 248f.; Vgl. Leo, 2006, S. 401; Vgl. Bialas, 2003, S. 157ff.

[66]Schmid, 2010, S. 194

[67]Vgl. ebd., S. 193f.

[68]Vgl. Fischer/Lorenz (Hrsg.), 2007, S. 288ff.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863416836
ISBN (Paperback)
9783863411831
Dateigröße
327 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
2
Schlagworte
Erinnerungskultur Bombenkrieg Zweiter Weltkrieg Flucht Vertreibung Vergangenheitsbewältigung

Autor

Raimo Alsen, M. Ed., wurde 1985 im Schleswig-Holsteinischen Henstedt-Ulzburg geboren. 2011 schloss er sein Studium des Master of Education für das Lehramt an Realschulen mit den Fächern Englisch und Geschichte an der Universität Flensburg ab. Während des Studiums befasste sich der Autor verstärkt mit der Frage, wie bestimmte zeitgeschichtliche Ereignisse in der heutigen Erinnerungskultur kommuniziert werden. Die steigende Häufigkeit, mit der das Thema des Buches vor allem in populären Massenmedien vertreten ist, veranlasste ihn dazu, nach den Hintergründen zu suchen und diesen relativ jungen Wandel der Erinnerungskultur genauer zu betrachten. Die Tatsache, dass der Autor der zweiten Nachkriegsgeneration angehört, führt zu einer emotionalen Distanz zur Thematik und lässt einen möglichst objektiven Blick zu.
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Titel: Aufrechnung, Entlastung, Umdeutung? Der Wandel der deutschen Erinnerungskultur hin zur „neuen deutschen Opfergeschichte“
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