Lade Inhalt...

Altersversorgung von Frauen als Spiegel ihrer Erwerbstätigkeit: Gestern und heute

©2011 Diplomarbeit 73 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie diskutiert das Ungleichgewicht, welches hinsichtlich der Altersvorsorge zwischen Mann und Frau vorliegt. Die Autorin nimmt dabei Bezug auf den Rentenversicherungsbericht von 2010, denn dieser zeigt, dass die Rentenzahlbeträge an Männer im Durchschnitt doppelt so hoch sind wie die an Frauen. Die Autorin untersucht die Ursprünge dieses Ungleichgewichts, welches dem Grundgesetz, das Gleichberechtigung fordert und Europarechtlichen Prämissen widerspricht. Weiterhin untersucht sie, inwiefern es bereits Lösungsansätze gibt oder welche es geben könnte.
Kapitel 2 stellt zunächst die Grundzüge sozialer Sicherung mit Bezug auf die Altervorsorge und der Frauenkomponente dar. Es folgt die Auseinandersetzung mit der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), in welcher die Entstehungsgeschichte und das geltende Rentenrecht aufgezeigt werden. Anschließend widmet sich Kapitel 4 einem diachronen Überblick über die Frauenerwerbstätigkeit und Alterversorgung, um im 5. Kapitel mit den Konsequenzen des weiblichen Erwerbslebens für die Altersversicherung fortzufahren. Im Folgenden werden mögliche Modelle und Forderungen als Lösungsansätze geliefert und auch ein eigener Modellvorschlag der Autorin präsentiert. Abschließend zieht die Autorin im 7. Kapitel ein Fazit und wagt eine Prognose künftiger Entwicklungen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 Einleitung
Der Rentenversicherungsbericht 2010, vorgelegt von der Bundesregierung an die
gesetzgebenden Körperschaften, weist in seiner Übersicht der Rentenzahlbeträge einen
eklatanten Unterschied bzgl. der Rentenzahlbeträge an Männer und Frauen aus:
männliche Rentner erhielten im Durchschnitt fast den doppelten Betrag an Rente
(1.046,58 Euro) als eine weibliche Rentnerin (556,04 Euro). Wie kommt es zu diesen
Ungleichgewichten?
1
Gemäß Art. 3 Abs. 2 und 3 Grundgesetz sind Männer und Frauen gleichberechtigt.
Keiner darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden und der Staat hat die
Gleichberechtigung zu fördern.
In unserem Land stehen Ehe, Familie und Kinder (eheliche und uneheliche
gleichermaßen) unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (Art. 6 GG).
Kinderbetreuung ist die oberste Pflicht der Eltern. Lt. Abs. 4 dieses GG-Artikels haben
Mütter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Ist dieser
Anspruch einer Mutter tatsächlich in allen Bereichen unserer Gesellschaft und
Wirtschaft erfüllt? Geht dieser Anspruch konform mit der Tatsache, dass eine Frau,
deren Erwerbsbiografie aufgrund ihrer Familienarbeit Unterbrechungen aufweist, mit
gravierenden Einschnitten in ihrer Altersversorgung rechnen muss?
Die Europäische Union sieht in der Gleichstellung von Mann und Frau ein wesentliches
Prinzip für wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und
sozialen Zusammenhalt. Wird dies von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik
auch so gesehen, vor allem aber - wird entsprechend gehandelt?
2
Unter Berücksichtigung der genannten Verfassungs- und Europarechtlichen Prämissen
erscheinen die o.g. Unterschiede im Hinblick auf die Rentenhöhen erstaunlich. Es ist
das Ziel der nachfolgenden Arbeit, Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu finden,
indem untersucht wird, auf welchen Ursachen diese Ungleichheiten beruhen und
inwiefern es bereits Ansätze zur Lösung dieser Problematik gibt oder geben könnte.
Um den Leser mit der Thematik Sozialpolitik und deren Notwendigkeit vertraut zu
machen, befasst sich Kapitel 2 mit den Grundzügen sozialer Sicherung unter besonderer
Berücksichtigung der Altersvorsorge und deren frauenrelevanten Komponenten.
1
Vgl. o. V.: Rentenversicherungsbericht 2010, Online im Internet:
http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/rentenversicherungsbericht-
2010.pdf?_blob=publicationFile, 10.08.2011, S. 20.
2
Vgl. o. V.: Gleichstellung von Frauen und Männern ­ 2010, Online im Internet:
http://eur-lex.europa.eu/lexUriServ/lexUriServ.do?uri=COM:2009:0694:FIN:DE:PDF,
10.08.2011,S. 3.
1

Kapitel 3 widmet sich der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), dem ältesten und
wichtigsten Stützpfeiler des deutschen Alterssicherungssystems. Dargestellt wird die
Entstehungsgeschichte und das geltende Rentenrecht.
Gegenwärtige Strukturen und Leitbilder können besser eingeordnet und verstanden
werden, wenn man sie eingebettet in einem geschichtlichen Prozess reflektiert. Heutige
Einstellungen und Werte sind durch die Vergangenheit geprägt. Die gegenwärtige
Situation kann nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit den historisch kulturellen
und institutionellen Rahmenbedingungen betrachtet und verstanden werden.
Konsequenterweise verschafft Kapitel 4 dieser Arbeit einen Überblick über
Frauenerwerbstätigkeit und Altersversorgung der vergangenen Jahrhunderte.
3
Das Alterssicherungssystem in Deutschland ist eng an Erträge aus einer
Erwerbstätigkeit geknüpft, insofern ist es unausweichlich zur Erörterung von
Altersvorsorgesituationen, Strukturen und Gegebenheiten im Erwerbsleben und
Erwerbsbiografien zu analysieren. Was die weibliche Situation im Rentenalter angeht,
so spielen Themen wie Ehe und Kindererziehung für die meisten Frauen eine
bedeutende Rolle und dürfen nicht ignoriert werden. Weibliche Erwerbsbiografien und
Einkommen unterscheiden sich maßgeblich von denen männlicher. Auch diese Aspekte
werden in Kapitel 4 dargestellt.
4
Kapitel 5 schließlich befasst sich mit den Konsequenzen des weiblichen Erwerbslebens
für die Alterssicherung. In Kapitel 6 werden Modelle und Forderungen mit sozial-,
arbeitsmarktpolitischem und gesellschaftlichem Charakter vorgestellt, die dazu führen
könnten, Einkommen von Frauen während der Erwerbsphase und später im Alter für
eine eigenständige Existenzsicherung zu erhöhen ohne die Wahlfreiheit von
persönlichen Lebensentwürfen einzuengen. Kapitel 6.4 schlägt zusätzlich zu den
einschlägigen Forderungen eine eigene Modell-Idee vor.
Ausblick und Fazit in Kapitel 7 wagen Prognose und Einschätzung künftiger
Entwicklungen ­ vor allem im Hinblick auf die demografischen Wandel und den damit
verbundenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Arbeit wird sich vorwiegend mit dem System der Gesetzlichen Rentenversicherung
beschäftigen. Die betriebliche und private Altersvorsorge werden nur tangiert, nicht
jedoch ausführlich analysiert. Obgleich auch die Leistungen der Pflegeversicherung
insbesondere älteren Menschen zugute kommen, wird dies Thematik nicht
3
Vgl. Riedmüller, Barbara: Frauen- und familienpolitische Leitbilder im deutschen
Alterssicherungssystem, in: Alterssicherung von Frauen, Hrsg.: Schmähl, Winfried; Michaelis,
Klaus, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 36.
4
Vgl. Allmendinger, Jutta: Wandel von Erwerbs- und Lebensverläufen und die Ungleichheit zwischen
den Geschlechtern im Alterseinkommen, in: Alterssicherung von Frauen, Hrsg.: Schmähl, Winfried;
Michaelis, Klaus, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 78 f.
2

berücksichtigt werden. Frauen haben sicherlich aufgrund ihrer höheren
Lebenserwartung ein entsprechendes Pflegebedürftigkeitsrisiko. Andererseits sind es
gerade Frauen, die vorwiegend die unentgeltliche Pflege von Familienangehörigen
durchführen und aufgrund dessen Einkommensverluste hinnehmen müssen.
5
2 Soziale
Sicherung
2.1
Allgemeine Grundlagen sozialer Sicherung
2.1.1
Gründe für soziale Sicherungssysteme
Nach Art. 20 GG, Abs. 1 ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und
sozialer Bundesstaat, demzufolge basiert die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf
den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Dies impliziert, dass Unwägbarkeiten des
Lebens (z.B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität), aber auch positive Ereignisse
(z.B. Mutterschaft und Kinderbetreuung), die ggf. die materielle Grundlage gefährden,
mit Hilfe staatlicher Leistungen abgefangen werden sollen, so dass etwaige finanzielle
Belastungen vom Einzelnen nicht alleine zu tragen sind. Insofern ist es Aufgabe des
Staates, die Existenzsicherung aller Bevölkerungskreise zu gewährleisten.
6
Zu den Leitbildern der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland gehören:
-
Anreize setzen zur Eigenverantwortung
-
Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit
-
Förderung des sozialen Zusammenhalts
-
europäische und internationale Kongruenz.
7
Die Notwendigkeit sozialer Sicherungssysteme ergibt sich in arbeitsteilig organisierten
Volkswirtschaften aus der massiven Existenzbedrohung des Einzelnen, sobald er seiner
Arbeitskraft vorübergehend oder dauerhaft verlustig wird. Im Gegensatz zur
Großfamilie vergangener Generationen kann die heutige Kleinfamilie Risiken nicht
mehr abfangen. Herkömmliche kirchliche und sonstige Wohlfahrtsverbände sind
aufgrund der großen Zahl Bedürftiger nicht in der Lage ausreichenden Schutz zu bieten.
Viele Menschen, vor allem jene mit geringem Einkommen, verfügen nicht über
5 Vgl. o. V.: Neue Wege ­ Gleiche Chancen; Gleichstellung von Frauen und Männern im
Lebensverlauf, Online im Internet:
http://www.fraunhofer.de/content/dam/zv/de/documents/Sachverstaendigengutachten_1.Gleichstellu
ngsbericht_Bundesregierung_tcm7-78851.pdf, 10.08.2010, S. 195.
6
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, 18., überarb. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag 2006, S. 438.
7
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 441.
3

ausreichend finanzielle Mittel, sich privatrechtlich abzusichern, sei es durch Ansparen
größerer Geldwerte oder mit Hilfe einschlägiger Versicherungen. Zudem versagt das
private Versicherungswesen bei konjunkturbedingter Massenarbeitslosigkeit oder im
Falle von Kriegsfolgen. Versicherungsmärkte sind zudem aufgrund ihrer In-
Transparenz unvollkommen hinsichtlich Umfang und Qualität. Im Rahmen eines
Sozialvertrages und auf staatlichen Regelungen beruhende Kollektive jedoch verfügen
aufgrund der großen Zahl ihrer Versicherten und der damit einhergehenden breiten
Verteilung von Mitteln und Risiken über die besseren Kapazitäten zur Risikovorsorge.
Zudem ersparen sie dem Einzelnen erhebliche Transaktionskosten, die für langwierige
und zeitintensive Informationssuche aufgewendet werden müssten.
8
,
9
Soziale Sicherungssysteme helfen nicht nur den unmittelbar Betroffenen, sondern
tragen auch erheblich zum sozialen Frieden einer Gemeinschaft bei. Es verschafft einer
Volkswirtschaft Vorteile, wenn sie die Erwerbsfähigkeit all ihrer Mitglieder fördert und
sichert, da leistungsfähiges Humankapital zu Erfolg und Wachstum führt.
10
,
11
Eine grundlegende Gefahr, die von sozialer Sicherung ausgeht, sind die falschen
Anreize, die entstehen, wenn finanzielle Mittel ohne Gegenleistung über einen längeren
Zeitraum bewilligt werden. Dem Leistungsempfänger kann die Motivation verloren
gehen, eigenverantwortlich zu handeln und gerät er ggf. in eine (un-)gewollte
Abhängigkeit staatlicher Fürsorge. Daher unterstehen soziale Systeme auch dem
Subsidiaritätsprinzip, nach dem staatliche Hilfe immer erst dann einsetzt, wenn die
bedürftige Person sich nicht selbst und auch die nächst höheren Ebenen, z.B.
Angehörige, nicht helfen können. Es sollte prinzipiell Hilfe zur Selbsthilfe angeboten
werden, um Leistungsanreize nicht zu beeinträchtigen.
12
,
13
2.1.2
Arten von Vorsorgemaßnahmen
Maßnahmen zur Vorsorge ­ allgemein und insbesondere zur Altersvorsorge - können
entweder in Eigeninitiative, d.h. nach dem Individualprinzip, oder durch kollektive
Vorsorge, also dem Sozialprinzip getroffen werden.
8
Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, 8. überarb. u. vollst. akt. Aufl.,
Berlin et. al: Springer 2007, S. 276.
9 Vgl. Mankiw, N. Gregory; Taylor, Mark P.: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 4., überarb. u.
erw. Aufl., Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag 2008, S. 239 f.
10
Vgl. Dobner, Petra: Neue Soziale Frage und Sozialpolitik, Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2007, S. 40.
11
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
12 Vgl. Mankiw, N. Gregory; Taylor, Mark P.: Grundzüge der Volkswirtschaftlehre, a. a. O., S. 495.
13 Vgl. Bartling, Hartwig; Luzius, Franz: Grundzüge der Volkswirtschaftlehre, 16., verb. u. erg. Aufl.,
München: Franz Vahlen Verlag 2008, S. 204.
4

Das Individualprinzip herrscht in Gesellschaften oder in Situationen vor, in denen der
Einzelne für sich alleine verantwortlich ist und durch eigene Leistung seine
Lebensbedingungen prägt. Die Vorsorge kann in diesen Fällen entweder durch
Ansparen finanzieller Mittel (Sparprinzip) oder in Form von individual-vertraglichen
Versicherungen nach dem Äquivalenzprinzip erreicht werden. Das Äquivalenzprinzip
drückt das Verhältnis des Eintritts eines individuellen Versicherungsfalles zum
Gesamtrisiko aller Versicherten aus. (äquivalent = gleichwertig). Auf dieser Grundlage
errechnet sich der entsprechende Versicherungsbeitrag: Je höher die Wahrscheinlichkeit
des Eintritts des Versicherungsfalles, desto höher die zu zahlende Prämie. Die Eintritts-
Wahrscheinlichkeit bestimmt demnach die Kosten für den jeweiligen
Versicherungsnehmer. Bezogen auf eine private Altersvorsorge muss eine ältere Person
einen wesentlich höheren Beitrag einzahlen als ein junger Mensch.
14
Unabdingbar zur Durchführung des Sparprinzips ist ein entsprechend hohes
Einkommen, das zulässt, finanzielle Mittel vom Haushaltsbudget des Einzelnen
abzuzweigen. Auf dem Finanzsektor müssen sichere und lukrative Anlageoptionen zur
Verfügung stehen, damit sich Kapital für das Alter (oder für Krisensituationen) in
ausreichender Höhe kumulieren kann. Oftmals fehlt einem jungen Menschen der
Weitblick für Krisen oder spätere Bedürfnisse, so dass z. B. die Notwendigkeit einer
Altersvorsorge nicht erkannt oder verdrängt wird. Hinzu kommt die völlige
Ungewissheit bzgl. der Lebenserwartung und die damit verbundene voraussichtliche
Dauer bzw. Höhe etwaiger Altersbezüge. Unsicher sind auf jeden Fall konjunkturelle
Einbrüche, Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kriege, Krisen im Finanzsektor und damit
einhergehende Renditeverluste. Diese Ungewissheiten lassen sich auch mit intelligenten
mathematischen Modellrechnungen noch nicht vollständig lösen. All diese Aspekte
führen letztendlich zur Einsicht, dass individuelle Vorsorge nicht ausreichend ist und
zwingend durch kollektive Maßnahmen ergänzt werden muss.
15
Mit Hilfe der kollektiven Vorsorge können nicht nur Risiken abgesichert werden, die
vom privaten Versicherungsmarkt nicht oder nicht ausreichend abgedeckt werden,
sondern es werden auch diejenigen Bürger versorgt, die nicht in der Lage oder nicht
bereit zur Eigenvorsorge sind. Der Staat fungiert hier als Institution der Distribution und
Allokation. Kollektive Maßnahmen können nach dem Versicherungs-, dem
Versorgungs- oder dem Fürsorgeprinzip funktionieren.
16
14
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
15
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
16
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 439 f.
5

Menschen, die Notlagen aus eigener Kraft nicht bewältigen können, erhalten
steuerfinanzierte Transferzahlungen des Staates. Diese unter das Fürsorgeprinzip
fallenden Leistungen stellen einen Rechtsanspruch des Bedürftigen gegenüber dem
Staat dar und die erhaltenen Sach- oder Geldleistungen sind nicht rückzahlungspflichtig.
Allerdings gilt das Subsidiaritätsprinzip, d.h. staatliche Hilfe setzt nur dann ein, wenn
der Einzelne nachweislich nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen Ein Beispiel
hierfür ist das Arbeitslosengeld II. Es besteht zwar ein Rechtsanspruch ,,dem Grunde
nach", jedoch kein Anspruch auf eine bestimmte Art von Hilfe. Die Entscheidung,
welche Hilfe in welcher Höhe gewährt wird, obliegt der zuständigen Behörde. Dieses
Prinzip ist für entwickelte Gesellschaften nicht unumstritten, insbesondere wegen der
Bedürftigkeitsprüfung, aber auch weil die Leistungen unbestimmt sind, den Charakter
von Fremdhilfe haben und nicht zur Eigenhilfe anregen.
17
,
18
Das Versorgungsprinzip basiert ebenfalls auf staatlichen, aus Steuern finanzierten
Leistungen. Die Ansprüche beruhen hier allerdings auf für den Staat erbrachten
Tätigkeiten (z.B. Dienstleistungen als Beamte oder Wehrdienst). Die im Zuge des
Versorgungsprinzips gewährten Mittel stehen - anders als Fürsorgeleistungen - auch
denjenigen zu, die für sich selbst sorgen können (z.B. die Gruppe der Kriegsopfer). In
Skandinavien beruht die Altersversorgung als eine für alle Bürger garantierte
einheitliche Grundversorgung auf dem Versorgungsprinzip.
19
,
20
In Deutschland werden Sozialleistungen sowohl von den öffentlichen
Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) als auch von den
Sozialversicherungen erbracht. Die öffentlichen Gebietskörperschaften verantworten
ca. 40% der Ausgaben und die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung zusammen
etwa 60%. Hierzu zählen die Gesetzliche Arbeitslosenversicherung, die Gesetzliche
Unfallversicherung, die Gesetzliche Pflegeversicherung, die Gesetzliche
Krankenversicherung und die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV).
21
Der größte Teil der sozialen Sicherung (60 %) basiert demnach auf dem Sozial-
Versicherungsprinzip, d.h. staatlichen Zwangs-Versicherungen. Man spricht deshalb
von ,,Zwangsversicherungen", weil einerseits für bestimmte Bevölkerungsgruppen die
Pflicht zur Versicherung besteht und andererseits die Träger der Versicherungen einem
Kontrahierungszwang unterstehen, der ihnen gebietet, niemanden auszugrenzen, der per
17
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 440.
18 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 280.
19 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 279.
20
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 440.
21
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 438.
6

Gesetz zu den zu versicherten Personen gehört. Finanzierungsgrundlage sind die
Einnahmen aus den Beiträgen der Versicherten, deren Arbeitgebern sowie Zuschüsse
des Bundes. Das den privaten Versicherungen innewohnende Äquivalenzprinzip, findet
insbesondere auch bei der GRV Anwendung, als die Höhe der später ausgezahlten
Rente nach der vom Brutto-Verdienst abhängigen Beitragshöhe bemessen wird. Es
werden jedoch nach dem Solidaritätsprinzips auch Beitrags-unabhängige Leistungen
ausbezahlt.
22
,
23
2.1.3
Finanzierung sozialer Sicherung
Grundsätzliche Probleme des deutschen Sozialsystems sind die hohen Ausgaben bzw.
deren Finanzierung. Innerhalb von rund 40 Jahren (1960 ­ 2003) kam es zu Ausgaben-
Steigerungen um das 20fache. Das Sozialbudget ist in Deutschland seit 1960
kontinuierlich gewachsen, so dass die Sozialquote - also das Verhältnis der
Sozialleistungen zum Bruttoinlandsprodukt - 1960 noch bei 21 % lag, 2008 bereits
29,0 % und 2010 30,4 % betrug. Die Finanzierung von Sozialleistungen erfolgt über
Beiträge der Erwerbstätigen und deren Arbeitgeber zu den Sozialversicherungen
(Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) sowie durch Zuschüsse des
Bundes. In den vergangenen Jahren hat sich der relative Anteil der Sozialbeiträge an der
Finanzierung der Gesamtausgaben allmählich verringert, d. h. der Anteil der
öffentlichen Mittel ist gestiegen von 31,4 % im Jahr 1991 auf 36, 4 % im Jahr 2010
(geschätzter Datenstand im Mai 2011). Insbesondere die GRV (aber auch die
Arbeitslosenversicherung) bedürfen zur Deckung ihrer Ausgaben vermehrt
Bundeszuschüssen. Insgesamt werden die Ausgaben der Sozialversicherungen nur noch
zu 80 % durch Beiträge der Versicherten finanziert. Den größten Anteil an den
Gesamtausgaben des Sozialbudgets hat die Rentenversicherung. Nach den Angaben des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales betrug 2010 der Anteil der
Rentenversicherung am Sozialbudget 31.9 % - es wurden 292,7 Mrd. Euro für Alters-
und Hinterbliebenenrenten ausbezahlt.
24
,
25
In öffentlichen Diskussionen wird daher vor allem die Art und Weise der Finanzierung
von Sozialversicherungen, insbesondere die der GRV, thematisiert. Infrage gestellt wird
22 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 280.
23
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 440.
24
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 445, 449, 459.
25 Vgl. o.V.: Sozialbudget 2010, Online im Internet:
http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a230-10-sozialbudget-
2010.pdf;jsessionid=7BE86B4E7101F33CE48FF050E5374D92?__blob=publicationFile
10.08.2011, S. 5 und 29.
7

z. B. die Eingrenzung der Gruppe der Beitragszahler: Warum nur abhängig Beschäftigte
und nicht alle Erwerbstätigen (also auch Beamte und Selbständige)? Es wird aber auch
darüber nachgedacht, ob die Verwertung der Beiträge die richtige ist, denn
altersabhängige Risiken können sowohl durch Kapitaldeckungs- als auch durch
Umlageverfahren abgedeckt werden. Bis 1957 war die GRV in Deutschland
kapitalgedeckt und wurde dann auf eine Umlagenfinanzierung abgestellt. In Anbetracht
der Probleme, die aufgrund der Altersstrukturänderungen auf die Bevölkerung
zukommen, wird u.a. auch gefordert, das kapitalgedeckte Verfahren wieder einzuführen.
Daher eine kurze Gegenüberstellung der beiden Finanzierungsarten:
26
Kapitaldeckungsverfahren beruhen auf Ansparen und Akkumulieren der
Versichertenbeiträge in der Erwartung, der Kapitalstock möge zusammen mit
rentierlichen Zinserträgen (hoffentlich) ausreichen, um die Leistungsansprüche der
Rentenbezieher abdecken zu können. Die Herausforderung hierbei besteht darin, einen
hinreichend hohen Kapitalstock gewinnbringend anzulegen und ihn gegen Risiken auf
Finanzmärkten abzusichern. Es entstehen Abhängigkeiten vom Marktzins, den
Bedingungen auf dem Kapitalmarkt und unzureichender Transparenz auf der
Angebotsseite. Ungewissheiten im Hinblick auf Inflations- und Ertragsentwicklungen
kommen hinzu. Inwieweit sich zukünftige demografische Gegebenheiten langfristig
ungünstig auf die Finanz- und Kapitalmärkte auswirken werden, ist ebenfalls
weitgehend offen. Das Kapitaldeckungsverfahren wird seit der Rentenreform von 1957
in der GRV nicht mehr angewandt. Es beruhen jedoch betriebliche und private
Altersvorsorgeprodukte auf dieser Finanzierungsform. Bedenken sollte man bei dieser
Art der Finanzierung die steigende Lebenserwartung und die damit verbundene längere
Bezugsdauer der Rentenbezüge. Was passiert, wenn der Leistungsempfänger nicht
lange genug und nicht in ausreichender Höhe Beiträge angespart hat und/oder, wenn er
wider Erwarten viel länger lebt?
27
Das Umlageverfahren umgeht diese Problematik insofern alle Einnahmen aus
Versichertenbeiträgen der heutigen Arbeitnehmer sofort wieder an die
Leistungsempfänger ausgezahlt werden. Es werden so gut wie keine Gelder angespart,
weil man annimmt, dass die Einnahmen immer die Ausgaben decken werden. Dieses
Verfahren untersteht aber der direkten Abhängigkeit demografischer und
konjunktureller Bedingungen einer Volkswirtschaft. Problematisch wird diese Form der
sozialen Sicherung, wenn die Ausgaben ­ aufgrund einer steigenden Anzahl von
Leistungsberechtigten ­ stark anwachsen und einer verhältnismäßig kleinen Zahl von
26 Vgl. Gründinger, Wolfgang: Wir haben ein Luxusproblem ­ Demografischer Wandel, eine
Podiumsdiskussion aus der Reihe ,,Literatur und Wirtschaft" der Unternehmensberatung Roland
Berger, in: WirtschaftsWoche Nr. 41, 10.10.2011, S. 140.
27 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 285 f.
8

Leistungserbringern aufgebürdet wird. Nach einschlägigen Berechnungen sind die
deutschen Sozialkassen schon heute ungedeckte (weil nicht angesparte)
Verpflichtungen in Höhe von 5 Billionen Euro eingegangen (sog. implizite
Staatsschulden). Diese Leistungsversprechen der Kranken-, Pflege, und
Rentenversicherung drohen zukünftige Generationen zu überfordern, weil der Zahl der
Empfänger schlicht eine zu geringe Zahl von Beitragszahlern gegenübersteht. Es
entsteht eine sog. Nachhaltigkeitslücke, die zu schließen ein noch ungelöstes Problem
darstellt.
28
,
29
Abgesehen von dieser außerordentlichen Form der Belastung für künftige Generationen
kann die Kopplung der Sozialbeiträge an Löhne und Gehälter grundsätzlich auf Seiten
der Arbeitnehmer aufgrund der hohen Abgaben zu Frustration und damit zu
verminderter Leistungsbereitschaft führen. Dieser Effekt könnte sich künftig bedingt
durch steigende Beitragssätze wegen des ungleichen Verhältnisses
Beitragszahler/Leistungsempfänger sogar noch verstärken. Was die Arbeitgeber betrifft,
so könnten zuweilen die hohen Lohnnebenkosten die mangelnde Bereitschaft
begründen, im Inland Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Folge davon sind dann wiederum
weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, was zu einem Anstieg der
Leistungsempfänger und dann ebenfalls konsequenterweise zu höheren
Sozialversicherungsbeiträgen führen könnte. Um dieses Dilemma zu umgehen, wird
empfohlen, alle Erwerbseinkommen in die Versicherungspflicht einzubeziehen und
versicherungsfremde Leistungen grundsätzlich über Steuergelder zu finanzieren. Man
erhofft sich damit auf ein erträgliches Maß begrenzte Sozialversicherungsbeiträge, die
den Faktor Arbeit so wenig als möglich belasten.
30
,
31
2.2 Altersversorgung
als
wesentlicher Baustein sozialer Sicherung
Das Alter bringt es mit sich, dass der Mensch allmählich körperliche und geistige
Vitalität einbüßt und nur noch bedingt für seinen Lebensunterhalt sorgen kann. Hinzu
kommen ggf. Invalidität, chronische Erkrankungen, Demenz u.v.a.m. Infolgedessen ist
Alterssicherung einer der wichtigsten Aspekte sozialer Sicherung. Lt. einer Umfrage der
Arbeiterwohlfahrt hat jeder dritte bzw. bei den 18 ­ 29jährigen sogar jeder zweite
28 Vgl. Lampert, Heinz, Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 284.
29
Vgl. Heilmann, Dirk; Schrinner, Axel: Staatsverschuldung - Die unbequeme Wahrheit,
Sonderbeilage Handelsblatt, Nr. 185, 23./24.09.2011, o.S.
30
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 459.
31 Vgl. o.V.: Die Zukunft der Arbeit denken, Online im Internet:
http://ftp.iza.org/compacts/iza_compact_de_12.pdf, 10.08.2011, S. 17.
9

Deutsche Angst vor Altersarmut, ein Zeichen für die Brisanz der Thematik und die noch
ungelösten Aufgaben auf diesem Gebiet der sozialen Sicherung.
32
Per Definition umfasst Altersvorsorge alle Maßnahmen, die eine Person im Laufe ihres
Lebens trifft, um ihren Lebensunterhalt im Alter (möglichst auf gleichbleibendem
Niveau) sicher zu stellen. Die gegenwärtig in Deutschland von staatlicher Seite als
optimale Alterssicherung propagierte Strategie stützt sich auf drei Säulen:
Säule 1 ist die Umlagen-finanzierte gesetzliche Vorsorge in Form von Beiträgen
aller unselbstständig Beschäftigten und deren Arbeitgeber zur Gesetzlichen
Rentenversicherung. Die GRV ist so konzipiert, dass die Beitragszahlung nicht nur
dem Grunde nach, sondern auch entsprechend der Beitragshöhe einen
Leistungsanspruch begründet.
Säule 2 ist die betriebliche Altersvorsorge. Diese wird entweder gemeinsam von
Arbeitnehmer und Arbeitgeber oder von letzterem allein getragen und wird in ein
vom Arbeitgeber verwaltetes Sparprodukt eingezahlt. Ein Arbeitsplatzwechsel kann
unter Umständen zum Verlust des Kapitalstocks für den Arbeitnehmer führen.
Säule 3 ist die von der Politik immer stärker propagierte private Vorsorge. Sie setzt
eigenverantwortliches Ansparen von Kapital voraus (s. Individualprinzip),
beispielsweise in Form von Aktienfonds/Sparplänen, staatlich geförderter Riester-
Rente, staatlich geförderter Rürup-Rente, Lebensversicherungen oder als Erwerb
von Immobilienbesitz.
Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden 80 % der Alterssicherungsausgaben
über die umlagenfinanzierte GRV, 10% über betriebliche Alterssicherung und 10 %
durch private Altersvorsorge erbracht. Die GRV ist nach wie vor die wichtigste Art der
Altersvorsorge in Deutschland.
33
,
34
,
35
,
36
Das Thema Alterssicherung wird in naher und ferner Zukunft vermehrt an Bedeutung
gewinnen. Nach den im Statistischen Jahrbuch 2011 veröffentlichten Zahlen gehört
Deutschland weltweit zu den Ländern mit der ältesten Bevölkerung - gleichauf mit
Italien und direkt hinter Japan, das den 1. Platz dieser Rangliste belegt. 1950 waren nur
10 % der deutschen Bevölkerung älter als 65 Jahre, 2010 waren es bereits ca. 20 %.
Demgegenüber hat sich die Geburtenrate deutlich verringert: Während in Indien auf
32 Vgl. o.V.: Angst vor Altersarmut, Süddeutsche Zeitung, Nr. 229, 05.10.2011, S. 6.
33 Vgl. o. V.: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Das Renten-ABC, Nr. 108, 3. Aufl. Berlin:
3/2010, S. 7.
34 Vgl. Schmähl, Winfried: Soziale Sicherung: Ökonomische Analysen, Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2009, S. 218.
35 Vgl. o. V.: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Die Renteninformation ­ mehr wissen,
Nr. 104, 7. Aufl., Berlin: 2/2011, S. 15.
36 Vgl. Schmähl, Winfried: Soziale Sicherung: Ökonomische Analysen, a. a. O., S. 227.
10

1.000 Einwohner 23 Neugeborene kommen und in Frankreich immerhin noch 13, sind
es in Deutschland nur noch 8. Die Lebenserwartung dieser derzeit geborenen Menschen
hat sich beträchtlich erhöht und ist ca. 14 Jahre höher als derjenigen Menschen, die
1950 zur Welt kamen. Diese Zahlen offenbaren nicht nur die Relevanz funktionierender
Altersicherungssysteme, vielmehr auch die Dringlichkeit von Maßnahmen, die es
Familien und vor allem Frauen ermöglichen, Kinder (künftige Beitragszahler für die
Rentenkassen) aufzuziehen. Die nach dem Prinzip der Umlagenfinanzierung
funktionierende GRV beruht auf einem Generationenvertrag, d.h. einer
gesellschaftlichen Vereinbarung, nach der die jeweils beitragszahlenden Erwerbstätigen
den in Rente befindlichen Personen durch ihre Produktivität das Alter finanzieren in der
berechtigten Erwartung, dass nachfolgende Generationen qualifizierter Arbeitskräfte
dies ebenso für sie tun werden. Neben den im Erwerbsleben stehenden und durch ihre
Produktivität die Beiträge erwirtschaftenden Personen, haben folglich diejenigen
erheblichen Anteil an der Alterssicherung, die eine neue Generation von Arbeitskräften
aufziehen - dies sind derzeit zumeist Frauen.
37
,
38
Die Zahlungsversprechen der Rentenkassen (sog. implizite Schulden) belasten künftige
Generationen. Folglich muss eine Gesellschaft, die ihre älteren Mitglieder versorgen
möchte, in Kindererziehung investieren oder sie muss Geld sicher und gewinnträchtig
auf einem stabilen und ergiebigen Kapitalmarkt anlegen: ,,Eine Gesellschaft, die im
Alter gut leben will, muss entweder Kinder haben oder sparen. Wenn sie beides nicht
tut, muss sie hungern."
39
Auch die für die betriebliche Altersvorsorge auf dem Kapitalmarkt angelegten Gelder
und die der privaten Kapitalanleger können nur dann eine vernünftige Rendite
erwirtschaften, wenn es eine mengenmäßig und/oder äußerst produktive Generation von
Erwerbstätigen gibt, die für ausreichend hohes Wirtschaftswachstum sorgt. Geldanlagen
jedweder Art können immer nur dann rentierliche Erträge abwerfen, wenn das Kapital
in Kombination mit menschlicher Arbeitskraft Gewinne erwirtschaftet ­ Wert schöpft
bzw. Werte schafft.
40
,
41
Aus der Perspektive des Individuums sind bei einer weitgehend lohnabhängigen
Alterssicherung Ertrag und Dauer einer Erwerbstätigkeit Voraussetzung für ein
37 Vgl. Öchsner, Thomas: Schöner wohnen, länger leben ­ Statistiker ermitteln, wie sich das Leben der
Deutschen in den vergangenen 60 Jahren ziemlich verändert hat, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 230,
06.10.2011, S. 19.
38
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 450 und 462f.
39 Sinn, Hans-Werner im Gespräch mit Heilmann, Dirk: ,,Es kommen große Lasten auf Deutschland
zu", in: Handelsblatt Nr. 185, 23./24.09.2011, S. 34.
40 Vgl. Schmähl, Winfried: Soziale Sicherung: Ökonomische Analysen, a. a. O., S. 406 f.
41 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 286.
11

gesichertes Leben im Alter. Aus gesamtgesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher
Sicht betrachtet, funktioniert Altersicherung jedoch nur, wenn ausscheidendes
Arbeitskräftepotential kontinuierlich durch nachfolgendes ersetzt wird.
42
Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind es somit vor allem Frauen bzw. Mütter, die dafür
Sorge tragen, dass unsere Wirtschaft und unser Alterssicherungssystem auch künftig
funktionieren kann. Einschlägige Studien und Untersuchungen belegen, dass Frauen
ihre Erwerbstätigkeit mit Eintritt der Mutterschaft erheblich reduzieren, auf diese Weise
der Gesellschaft einen wichtigen Dienst erweisen, sich selbst damit aber schaden, wie
die Rentenauszahlungen an Frauen mit familienbedingten Erwerbsunterbrechungen
belegen. An den niedrigeren Altersbezügen der Frauen lässt sich erkennen, dass es noch
nicht gelungen ist, die Leistung der Familienarbeit angemessen zu honorieren, vor allem
im Alter. Der europäische Vergleich zeigt, dass Länder, die die Bedingungen für
Frauenbeschäftigung verbessert haben (z. B. durch ausreichende Kinderbetreuung und
familienfreundliche Arbeitszeiten), höhere Geburtenraten aufweisen. Dies scheint zu
belegen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Entscheidung für Kinder
positiv beeinflusst. Frauen- bzw. Kinder-freundliche Verhältnisse in Wirtschaft und
Gesellschaft können folglich als entscheidende Faktoren für Wirtschaftswachstum und
als Gewähr für Altersvorsorgung gesehen werden.
43
,
44
,
45
3
Die Gesetzliche Rentenversicherung ­ gestern und heute
3.1
Entstehung und Entwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung
3.1.1
Von der Kaiserzeit bis nach dem II. Weltkrieg
Die GRV ist nach wie vor die wichtigste Säule der Altersversorgung in Deutschland. Es
ist daher hilfreich zur Beurteilung des heutigen Alterssicherungssystems, die
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umstände zu kennen, die zu einer
ersten staatlich institutionalisierte sozialen Sicherung führten. Die durch die
Industrialisierung bedingten gravierenden Umwälzungen und die damit in
Zusammenhang stehenden sozialen Probleme machten zur Stabilisierung des
politischen und gesellschaftlichen Status Quo die Einführung einer sozialen Sicherung
notwendig. Bei der Ausgestaltung dieser neuen Institution wurden die geltenden
42
Vgl. Baßeler, Ulrich; Heinrich, Jürgen; Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der
Volkswirtschaft, a. a. O., S. 463.
43 Vgl. o. V.: Neue Wege ­ Gleiche Chancen, a. a. O., S. 166.
44 Vgl. Köcher, Renate: Anreize setzen, in WirtschaftsWoche Nr. 38, 19.09.2011, S. 48.
45 Vgl. o. V.: Gleichstellung von Frauen und Männern, a. a. O., S. 6.
12

Leitbilder und Rollenvorstellungen zugrunde gelegt. Die heutigen Reglements der GRV
sind ­ trotz zahlreicher Reformen ­ noch geprägt von den Leitbildern ihrer
Entstehungszeit, insbesondere einer durchgängigen Erwerbstätigkeit, wie sie typisch ist
für männliche Lebensverläufe. Die Kenntnis des Warum und des Woher ist nützlich bei
der Entwicklung von Strategien zur Abhilfe.
46
Bis zur sozialpolitischen Gesetzgebung Ende des 19. Jh. durch Otto Fürst von Bismarck
gab es in Deutschland keine institutionalisierte staatliche Alterssicherung. Die ersten
Schritte zu einer sozialen Absicherung der Industriearbeiter und kleinen Angestellten
wurde durch die sog. ,,Magna Charta der deutschen Sozialversicherung", der
Kaiserlichen Botschaft von Kaiser Wilhelm I, 1881 eingeleitet und in der Folge durch
Bismarck, dem damaligen Reichskanzler, peu à peu umgesetzt. Es wurden die drei
Säulen der Sozialversicherung geschaffen:
47
,
48
-
Gesetz zur Krankenversicherung (1883)
-
Gesetz zur Unfallversicherung (1884)
-
Gesetz zur Invaliditäts- und Alterssicherung (1889)
In der Alters- und Invaliditätsversicherung waren alle Arbeiter ab dem 16. Lebensjahr
versicherungspflichtig. Finanziert wurde die Versicherung durch paritätische Beiträge
der Arbeitgeber und der Versicherten sowie einem Reichszuschuss. Als
Renteneintrittsalter galt zunächst das vollendete 70. Lebensjahr. 1916 wurde diese
Altersgrenze auf 65 herabgesetzt. Dieses erste Altersicherungsgesetz sah lediglich
Renten für die Versicherten vor, nicht für etwaige Hinterbliebene, was insofern
bedeutsam ist, als das gesellschaftliche und politische Leitbild jener Zeit die
Lebensaufgabe der Frau in der Funktion der Mutter und Ehefrau sah. Ihr Wirkungskreis
sollte im Haus und nicht im Erwerbsleben sein. Die Realität entsprach zwar nicht
diesem Paradigma, denn 1907 waren immerhin 70 % aller unverheirateten, 30 % der
verheirateten Frauen und 40 % aller Witwen voll erwerbstätig. In diesen Angaben sind
die in der Landwirtschaft tätigen Frauen und Heimarbeiterinnen nicht mit eingerechnet.
Trotz des hohen Anteils an weiblichen Erwerbspersonen wurden Frauen z.B. in der
Unfallversicherung nur als Witwen berücksichtigt und in der Alters- und
Invalidenversicherung galt die weibliche Versicherte als Ausnahme. Beiträge und
Renten von Frauen sollten nur zwei Drittel derer von Männer betragen. Es kann daher
von einer bewussten Benachteiligung bis hin zur Ausgrenzung weiblicher Personen
gesprochen werden. Die Rentenauszahlungsbeträge waren zudem für alle Empfänger
46
Vgl. Riedmüller, Barbara: Frauen- und familienpolitische Leitbilder im deutschen
Alterssicherungssystem, a. a. O., S. 36 f.
47 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch ­ Ehe und soziale Sicherheit der Frau gestern ­ heute
und morgen, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 1983, S. 38 f.
48 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 82 f.
13

extrem bescheiden und nicht als Lohnersatz gedacht, so wie dies heute (noch) der Fall
ist. Sie sollten ,,die Schwiegertochter dazu veranlassen, den Schwiegervater im Haushalt
zu behalten"
49
, wie Bismarck es formulierte. Wie mit der Schwiegermutter zu verfahren
sei, wurde bezeichnenderweise nicht erwähnt. So rudimentär diese Sozialgesetze auch
heute erscheinen mögen, so hatten sie doch dahingehend große Bedeutung, als zum
ersten Mal ein Rechtsanspruch auf Sozialleistungen eingeräumt wurde.
50
,
51
,
52
Die von Bismarck eingeführten Sozialreformen entsprangen nicht (nur) humanitärer
Intention, sozial schwache Mitglieder der Gesellschaft abzusichern, sondern waren auch
der Versuch, mit Hilfe sozialer Befriedung die bestehende Gesellschaftsordnung zu
erhalten. Die Sozialversicherung war gewissermaßen für die Arbeiter das ,,Zuckerbrot
zur Peitsche". Durch Integration in Staat und Gesellschaft sollten ihre
Organisationsbestrebungen zu Selbsthilfegruppen und Parteien bekämpft werden.
53
Auf Frauen bezogen, bedeuteten die Reformen, sofern sie unter die
Versicherungspflicht fielen (anfangs nur Arbeiterinnen, keine Hausangestellte oder in
der Landwirtschaft tätige Arbeitskräfte), in den Arbeitspausen einen Arzt aufsuchen zu
dürfen, bis zu 13 Wochen Krankengeld, bis zu sechs Wochen nach einer Niederkunft
Wochengeldunterstützung und eine Altersrente ab dem 70. Lebensjahr (das viele Frauen
nicht erreichten) sowie Invalidenrente beziehen zu können. Diese finanziellen
Leistungen waren jedoch zu dürftig, um das Existenzminimum zu sichern. Konnten
Angehörige nicht helfen, war der demütigende Gang zur Armenfürsorge noch immer
unausweichlich.
54
Aufgrund des frauenfeindlichen Eherechts blieb einem großen Teil der Frauen der
Zugang zum Arbeitsmarkt ohnehin versperrt. Mit in Kraft treten des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB) am 1. Januar 1900 war gesetzlich festgelegt, dass die
grundsätzliche Gleichstellung von Mann und Frau mit der Eheschließung endete. Der
Ehemann verfügte weitgehend über Einkommen und Vermögen der Ehefrau, er hatte
das Recht einen Arbeitsvertrag seiner Frau zu kündigen und die Ehefrau war sowohl zur
unentgeltlichen Mitarbeit im Geschäft des Mannes als auch zur Führung des
gemeinsamen Haushaltes verpflichtet. Somit waren die Möglichkeiten einer
verheirateten Frau, eine eigenständige Existenz- und Alterssicherung aufzubauen
extrem beschränkt. Für diejenigen, die trotz allem einer Erwerbstätigkeit nachgingen,
49 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 40.
50 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 83.
51
Vgl. Riedmüller, Barbara: Frauen- und familienpolitische Leitbilder im deutschen
Alterssicherungssystem, a. a. O., S. 37 f.
52 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 39 f.
53 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 84 f.
54 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 40 f.
14

wirkte sich die offiziell geltende Lohndiskriminierung nachteilig auf die Höhe von
Krankengeld und Rente aus.
55
,
56
Im BGB wurde zwar einerseits die persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit der
Ehefrau vom Ehemann festgeschrieben, ohne aber andererseits den Ehemann für den
Fall seines Ablebens zur Vorsorge für seine Frau zu verpflichten. Die Sterblichkeitsrate
verwitweter und geschiedener Frauen um die Jahrhundertwende ist ein klares Indiz für
die existenzbedrohende Konsequenz dieser Nicht-Regelungen: Sie lag um etwa 25 %
höher als die verheirateter Frauen, auch die Selbstmordrate lag bei knapp 20 % und
somit doppelt so hoch wie die verheirateter Frauen. Eine Regelung zur
Hinterbliebenenversorgung wurde erst 1911 eingeführt und auch nur als
,,Nebenprodukt" einer völlig anderen politischen Diskussion im Jahre 1902. Im Konflikt
um die Erhöhung von Zolltarifen zum Schutze der einheimischen Landwirte vor der
Einfuhr billiger Lebensmittel aus dem Ausland, schlugen die Abgeordneten der
Zentrumspartei als Kompromiss vor, die Mehreinnahmen zugunsten einer Waisen- und
Witwenversorgung im Interesse der Arbeiterschaft zu verwenden. Sie konnten sich auf
diese Weise sowohl die Stimmen der Landwirte als auch die der mit höheren Preisen
konfrontierten Verbraucher sichern.
57
1911 war auch das Jahr, in dem zusätzlich zu den Arbeitern die Angestellten in der
Rentenversicherung pflichtversichert und die einzelnen Versicherungsgesetze zur
Reichsversicherungsordnung zusammengefasst wurden. Die Hinterbliebenenregelungen
galten bis 1949 nur für die Witwen der Angestellten, erwerbsfähigen Arbeiterwitwen
blieb sie verwehrt - auch denen, die bereits ein hohes Alter erreicht hatten - da der
Gesetzgeber es als zumutbar ansah, dass diese Frauen ihre Existenz mit
Tagelöhnerarbeiten sicherten. Ganz anders beurteilte man die Situation von
Angestelltenwitwen, denen eine unbedingte Witwenrente in Höhe von 40 % der
Versichertenrente zugestanden wurde. Die Gleichstellung der Arbeiterwitwe mit der
Angestelltenwitwe erfolgte erst 1949 im Zuge des Sozialversicherungs-
anpassungsgesetzes.
58
,
59
,
60
,
Obgleich die Einführung der Witwenrenten für die betreffenden Frauen eine
Erleichterung darstellte, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass mit Beschreiten
dieses Weges zur Lösung der weiblichen Alterssicherungsproblematik, einer künftigen
sozialen Abhängigkeit der Frau vom Ehemann Tür und Tor geöffnet wurde und sich
55 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 49 ff.
56 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 24.
57 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 55 f.
58 Vgl. Lampert, Heinz; Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. O., S. 87 f.
59 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 63 ff.
60 Vgl. Kohleiss, Annelies: Sie heiratet ja doch, a. a. O., S. 70.
15

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955495497
ISBN (Paperback)
9783955490492
Dateigröße
353 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Wiesbaden e.V.
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
Soziale Sicherung Rentenversicherung Erwerbsleben Berufswahl Alterssicherung

Autor

Herta Kaltwasser, geb. 1960. Biologiestudium bis zur Geburt des 1. Kindes, danach Hausfrau, dann Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin, später berufsbegleitende Ausbildung zur Bürokauffrau. Berufstätigkeit als Sekretärin in verschiedenen Branchen. Seit 2007 Sekretärin in einem Krankenhaus, berufsbegleitendes BWL-Studium mit Schwerpunkt Personalmanagement.
Zurück

Titel: Altersversorgung von Frauen als Spiegel ihrer Erwerbstätigkeit: Gestern und heute
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
73 Seiten
Cookie-Einstellungen