Pornographie und sexuelle Identität: Wie wirkt sich der Konsum von Pornographie auf die Entwicklung der männlichen Sexualität aus?
Eine Fallstudie
Zusammenfassung
Diese gesellschaftlichen Tendenzen und die Frage nach ihren Auswirkungen veranlassten den Autor nachzuforschen, welche Auswirkungen dieser Trend, vor allem im Hinblick auf die Entwicklung der sexuellen Identität eines männlichen Heranwachsenden, haben kann. Dabei ist auch zu klären, ob Pornographie die Ursache für bestimmte sexuelle Neigungen oder Störungen sein kann, oder ob diese ihren Ursprung eher in anderen Entwicklungs- und Einflussvariablen haben. Dies ist auch deshalb für die Pädagogik relevant, da die Sexualerziehung in einer Gesellschaft, in der Sexualität vermehrt in den Fokus rückt, eine immer bedeutsamere Stellung einnimmt. Auch die Positionierung der Erzieher und Eltern im Hinblick auf Pornographie spielt hierbei natürlich eine entscheidende Rolle.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Was ist Pornographie
3. Historische Entwicklung der Pornographie
4. Sexualität – Gesellschaftliche und individuelle Aspekte
4.1 Gesellschaftliche Perspektiven: zwischen Freiheit und Moral
4.2 Die Entwicklung der sexuellen Identität
4.3 Orientierung, Neigung, Störung
5. Einfluss von Pornographie auf die Entwicklung der sexuellen Identität
6. Methodisches Vorgehen
7. Reflektierende Interpretation
8. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
I Interviewtranskription
II Formulierende Interpretation
1. Einleitung
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welchen Einfluss Pornographie auf die Entwicklung der sexuellen Identität des Mannes hat. Ein Grund in diese Richtung zu forschen, ist die häufige Konfrontation mit sexuellen Inhalten in der Öffentlichkeit durch Fernsehwerbung, Plakate oder Filme. Die Darstellung von sexuellen Inhalten im öffentlichen Leben hat, meinem subjektiven Empfinden nach, in den Vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dazu kam der Faktor, dass die Beschaffung von pornographischem Material durch Medien wie das Internet heute so leicht geworden ist, wie nie zuvor. Diese gesellschaftlichen Tendenzen und die Frage nach ihren Auswirkungen gaben genug Grund nachzuforschen, welche Auswirkungen dieser Trend, vor allem im Hinblick auf die Entwicklung der sexuellen Identität eines männlichen Heranwachsenden, haben kann. Dabei ist es auch interessant zu klären, ob Pornographie die Ursache für bestimmte sexuelle Neigungen oder Störungen sein kann oder ob diese ihren Ursprung eher in anderen Entwicklungs- und Einflussvariablen haben. Dies ist auch deshalb für die Pädagogik relevant, da die Sexualerziehung in einer Gesellschaft, in der Sexualität immer mehr in den Fokus rückt, eine immer bedeutsamere Stellung einnimmt. Dabei spielt die Positionierung der Erzieher und Eltern im Hinblick auf Pornographie natürlich auch eine entscheidende Rolle.
Im Rahmen meiner Arbeit beschäftige ich mich vor allem mit der männlichen Sexualität, da der Konsum von Pornographie unter männlichen Jugendlichen wesentlich verbreiteter ist als bei weiblichen Heranwachsenden und diese Arbeit deshalb implizit davon ausgeht, dass der Einfluss von Pornographie somit auch größer ist als bei Mädchen. Die Verteilung des Konsums kann man deutlich an einer im Jahr 2007 durchgeführten Schweizer Umfrage erkennen, bei der im Alter von 11 bis 16 Jahren 95% der Jungen und lediglich 27% der Mädchen bereits Kontakt mit porno- graphischem Material hatten (vgl. Berner Gesundheit 2007, S.4).
Um das Thema dieser Arbeit adäquat zu beleuchten, soll der theoretische Teil der Arbeit anfangs den Begriff der Pornographie näher erläutern und ihn in den Kontext seiner historischen Entwicklung stellen. Dazu wird die Entwicklung der generellen Auseinandersetzung gesellschaftlicher Perspektiven wie sexuelle Freiheit und Moral diskutiert. Im Anschluss an die kollektiven Phänomene wird ausführlich auf die individuellen Entwicklungsfaktoren der männlichen sexuellen Identität eingegangen und es werden mögliche Ursachen abweichender sexueller Neigungen veranschaulicht. Zuletzt werden die gewonnen Erkenntnisse über Pornographie und die Entwicklung der sexuellen Identität des Mannes miteinander verknüpft, um einen Einblick davon zu erhalten, welche möglichen Einflusse der Konsum von Pornographie auf die Entwicklung der männlichen sexuellen Identität haben kann.
Im praktischen Teil der Arbeit wird ein autobiographisch narratives Interview von einer Person, die regelmäßig Pornographie konsumiert, dargestellt und mit Hilfe der dokumentarischen Methode beschrieben und interpretiert. Das Fallbeispiel soll primär dazu dienen, die sexuelle Entwicklung eines Pornographie-Konsumenten kennenzulernen. Das Erkennen und Beleuchten seiner biographischen Sinn- und Deutungsstrukturen könnte nicht nur bei der Generierung neuer Hypothesen hilfreich sein, auch könnte es bereits bestehende wissenschaftliche Deutungen bestätigen. Auch bei der praktischen Betrachtung stehen die Entwicklung der sexuellen Identität des Mannes und ihr Zusammenhang mit dem Einfluss von Pornographie im Mittelpunkt der Analyse. Im Fazit sollen dann die Erkenntnisse aus dem theoretischen und praktischen Teil der Arbeit gemeinsam vorgestellt werden, um mögliche Übereinstimmungen und Ergänzungen jener Hypothesen zu finden, die sich auf die Fragestellung beziehen, inwiefern Pornographie die Entwicklung der männlichen sexuellen Identität beeinflusst.
2. Was ist Pornographie
Der Begriff der Pornographie wird in vielen Kontexten nicht hinreichend bestimmt. Die mögliche Diskrepanz zwischen dem Alltagsbegriff und der wissenschaftlichen Definition von Pornographie kann des Weiteren zu Verwirrung führen. Für eine wissenschaftliche Arbeit ist eine Konturierung des Wortes gerade deshalb um so mehr von Nöten. Wenn man das Wort „Pornographie“ in seine Bestandteile zergliedert, entdeckt man die beiden altgriechischen Worte „Pórne“ und „Graphein“, die, wenn man sie in die deutsche Sprache übersetzt, „Hure“ und „Schriften“ bedeuten. Wenn man diese beiden Worte im Anschluss verbindet, ergibt sich also als relativ freie Übersetzung des Wortes „Pornographie“ die deutsche Bedeutung „Hurenschriften“. Trotz der relativ eindeutigen Benennung ist es sinnvoll, die Grenzen des Begriffs etwas genauer zu bestimmen. Der Fokus der Pornographie liegt in der expliziten Darstellung von Sexualität in Worten und Bildern. Dabei hat das Wort Pornographie immer einen leicht negativen Anklang. Dieser entsteht dadurch, dass die Darstellung von sexuellem Verhalten in der Geschichte und auch heute noch Sexualnormen anderer Menschen verletzt. In der 4. Strafrechtsreform, die 1973 vom deutschen Bundestag verabschiedet wurde, löste das Wort „Pornographie“ die veraltete Terminologie der „unzüchtigen Schriften" ab und wurde im gleichen Schritt als Aufzeichnungen, die „sexuelle Gewalttätigkeiten, den sexuellen Missbrauch von Kindern oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand hat", definiert (vgl. Selg 2003, S. 58).
Bei der Darstellung des Sexualaktes werden Menschen häufig degradiert. Durch diese Herabwürdigung wird die Menschenwürde indirekt in Frage gestellt. Häufiges Opfer dieser Degradierung sind Frauen und Kinder. Außerdem generiert Phonographie nicht selten schwerwiegende Stereotype, wie beispielsweise den Mythos, dass Frauen gerne vergewaltigt werden wollen. Da es auch sexuelle Darstellungen gibt, die ohne Degradierung von statten gehen, empfiehlt Prof. Herbert Selg, ehemaliger Professor für Psychologie an der Universität Bamberg, letztere mit dem Begriff der "Erotographie"(Liebesschriften) von der Pornographie abzugrenzen. Pornographie hat außerdem die explizite Intention, den Betrachter sexuell zu erregen, da sonst auch ein Wäschekatalog zum pornographischen Material gezählt werden müsste (vgl. ebd., S. 58-61).
Da es im Bereich der Pornographie eine enorme Anzahl von Genres gibt, ist es sinnvoll, diese in ein kategorisches Kontinuum zu gliedern. Dabei bewegen wir uns kontinuierlich von einem Pol, der Filme beinhaltet, bei denen Gefühle und Geschichten im Vordergrund stehen- vergleichbar mit Erotographie - zum anderen Pol der Darstellung des reinen Sexualaktes. Dabei entstehen die Unterkategorien „erotischer Film“ (sexuelle Beziehungen auf der Ebene von Metaphern, kindlichen und erwachsenen sexuellen Urphantasien), „Sex and Crime-Film“ (Filme in denen die Darsteller nach dem Verkehr wegen ihrer „sündhaften“ Handlungen bestraft werden), „Nudie“ (Zeigen von Nacktheit der Frau steht im Vordergrund, keine sexuelle Handlung), „Sexploitation Movie“ (vereinfachte Version des erotischen Filmes), „Sexfilm“ (Simulierter oder indirekt dargestellter Verkehr), „Fake-Porno“ (wie ein realer Pornographiefilm, nur kann man die sexuelle Handlung nicht klar erkennen), „Maistream-Porno“ (10-min. Sex-Filme ohne Handlung), „Star-Porno“(Pornofilme mit einem bestimmten Hauptakteur im Vordergrund), „Spezial-Porno“ (soll besondere Wünsche und Obsessionen bedienen - schwangere, besonders gekleidete Frauen, Märchen, Fetisch, Rollenspiele), „Amateur-Porno“ (absolute Authentizität) und letztendlich die verbotene Filmkategorie „Hard Core Porno“ (Sexualität mit Gewalt, mit Tieren oder mit Kindern) (vgl. Seeßlen 1994, S.72 - 77).
Beim Konsum von Pornographie existiert selten eine Vermittlung vom sexuellen Verständnis für die wichtigen emotionalen Prozesse und die Notwendigkeit des beidseitigen Einverständnisses. Die Frau wird in vielen Filmen dargestellt, als sei sie immer und überall für den Sexualakt bereit, der Mann hingegen wird als nie ermüdender Erotomane propagiert. Der Betrachter wird hierbei dazu angeregt, bestimmte Erwartungen bezüglich des realen Sexuallebens aufzubauen und einen inneren Leistungsdruck zu entwickeln.
Außerdem spielt im „Mainstream-Porno“ das Thema Liebe keine Rolle. Es geht ausdrücklich um die Darstellung des reinen Sexualakts. Bindungen und mögliche Eifersucht sind nicht von Belang. So kommt es zur Darstellung einer scheinbar völligen Ersetzbarkeit von Beziehungen. Die Extremform dieser Darstellung ist die Massenorgie. So wird die Bereitschaft zu sofortigem Sex und eine bindungslose Lebensweise im pornographischen Film belohnt (vgl. Seeßlen 1994, S. 77 f).
Neben der kategorischen Gliederung von Pornographie bietet sich jener Ansatz an, den Begriff der „Pornographie" aus der historischen Perspektive als das zu bezeichnen, was zeitgenössisch als jenes benannt wurde. Beispielsweise hatte man in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine andere Vorstellung von dem was „unzüchtig“ sei, als in den siebziger Jahren (vgl. ebd., S. 13). Deshalb ist es sinnvoll, den pornographischen Film in seiner historischen Entwicklung zu betrachten.
3. Historische Entwicklung der Pornographie
Die Ursprünge des pornographischen Films reichen weit zurück. 1896 wurde in Frankreich der erste Film mit dem Namen „Le Bain“ (das Badezimmer) in einem öffentlichen Vorführraum uraufgeführt. Inhalt des Filmes war eine ausgedehnte Striptease-Szene. „Le Bain" spornte andere Kamerabesitzer an und so verbreite sich diese Art von Filmmaterial schnell im gehobenen gesellschaftlichen Milieu. Schon 1907 wurden die ersten Filme in geschlossenen Räumen von Bordellen angeboten. Damit war bereits ein erster Schritt der Privatisierung des pornographischen Films getan. Die Darsteller waren meistens Personen der Nobelprostitution Frankreichs. Die dort gedrehten Filme wurden recht schnell in den umliegenden Ländern bekannt und vielfach exportiert. Häufig stand in den Filmen die Frau im Mittelpunkt. Männer kamen entweder gar nicht oder nur als voyeuristische Randfiguren vor. In den 20er Jahren hatten sich schon die drei Genres Luxuspornographie, Bordellpornographie und Alltagspornographie etabliert (vgl. Seeßlen 1994, S. 80 ff).
In den dreißiger Jahren verfiel die Entwicklung von Pornographie in den Untergrund. Zudem wurden häufiger private Sexualakte gezeigt. Die kollektiven Anforderungen an das bürgerliche Verhalten waren gestiegen und fast zeitgleich wurden die pornographischen Darstellungen immer trivialer und dienten vor allem zur Wirklichkeitsflucht (vgl. Seeßlen 1994, S. 116 ff).
Anfang der vierziger Jahre spielten häufig Ärztefiguren Hauptrollen in Pornofilmen. Dies wird oft als Reflex auf die bedrohliche politische Weltlage interpretiert. Der machtvolle institutionalisierte Mann sollte sozusagen als letzte Sicherheit im Chaos des zweiten Weltkrieges fungieren (vgl. ebd., S. 140 f).
Nach dem Krieg schien die kapitalistische amerikanische Gesellschaft eine Krise zu durchlaufen, bei der an die Bevölkerung ein sehr enges moralisches Korsett angelegt wurde. Pornographie wurde nun, mehr denn je, als „Schmutz" und „Schund" betrachtet. Filme, die zu dieser Zeit gedreht wurden, sind durch eine außerordentliche Hierarchie von Mann zur Frau hin, und der damit verbundenen Gewalt und Entwertung, gekennzeichnet. Die Akteurin musste auch ohne sexuelles Verlangen den Mann befriedigen. Somit kam es in den 50er Jahren bezogen auf die Machtdemonstration der Männlichkeit zu einer ersten Welle von Analverkehr-filmen (vgl. ebd., S. 147 ff).
In den 60er Jahren wurden dann viele „Nudies“ produziert, bei denen vor allem wieder nackte Frauen und nicht der Sexualakt im Vordergrund standen. Außerdem machte die Filmindustrie technische Fortschritte (bewegliche Kamera usw.), durch die auch die Qualität der Pornofilme anstieg (vgl. ebd., S. 198 f).
In den 70er Jahren kam es dann, in einer durch den Vietnamkrieg, die Emanzipation der Afroamerikaner und die studentische Protestbewegung zutiefst verunsicherten westlichen Gesellschaft, zum Durchbruch des ersten öffentlich gezeigten pornographischen Filmes. „Deep Throat" (1973) gilt hierbei als berühmtester Film, welcher der Generation aufzeigte, dass die Pornographie aus dem Stadium der Kriminalität ausgebrochen war und die Darsteller nun selbstbestimmter waren. Diese wollten nun nicht mehr anonym sein und daher öffentlich für ihre Arbeit anerkannt werden. "Deep Throat" gehörte zu den zehn erfolgreichsten Filmen der 70er Jahre (vgl. Seeßlen 1994, S. 225 ff).
In den 80er Jahren wurde, auf Grund der hohen Technikkosten für Pornofilme, die Handlung extrem geschmälert. Die Pornographie wurde wieder verstärkt auf den sexuellen Akt reduziert und war durchzogen von Gewalt. Das Publikum bestand vor allem aus Arbeitslosen und gesellschaftlichen Außenseitern. Pornographie stellte für diese Menschen eine Flucht aus einer technisierten Welt in eine Wirklichkeit dar, in der der Körper noch als wichtiges Instrument geachtet wird. Das Starsystem der 70er Jahre verfiel durch die enorme Menge an Produktion, denn durch den Videomarkt, der in den 80ern entstand, war es ein Trend geworden, zu Hause einen eigenen Pornofilm zu besitzen. Die Kinos zeigten nun nur noch 4 % pornographische Filme. Immer seltener wurden solche Filme zur Sensation, denn sie waren schon fast zur Normalität geworden (vgl. Seeßlen 1994, S. 274 ff).
Durch die Entwicklung von Satelliten-Fernsehen, DVDs und vor allem Internet, gab es in den 90er und 2000er Jahren einen erneuten Schub in der Herstellung von Pornographie. Sie war ein dazugehöriger Teil der gängigen Unterhaltungsform geworden. Heute ist Pornographie zu einem der größten Geschäfte überhaupt herangewachsen. In den USA werden jährlich 10 Milliarden Dollar Umsatz gemacht. Die Filmproduktionen von Hollywood bringen im Gegensatz dazu etwa 1,5 Milliarden Euro weniger ein (vgl. Juffer 2004, S. 45).
Die Entwicklung von Internetseiten, die es möglich machen die Videos ohne Zeitverzögerung online anzuschauen ersparen dem heutigen Konsumenten den Gang in die Videothek. Alles was heute benötigt wird, um Pornographie zu schauen, ist ein Computer mit Internetanschluss. Damit ist das Konsumieren von Pornographie immer und überall möglich geworden (vgl. Eder 2008, S.3).
4. Sexualität – Gesellschaftliche und individuelle Aspekte
Das folgende Kapitel wird zum einen auf die gesellschaftliche Entwicklung der Sexualität eingehen. Dabei spielen vor allem kollektive Phänomene und ihre Auslöser einer Rolle. Daraufhin wird die Entwicklung der Sexualität beim Individuum beleuchtet. Schließlich werden sexuelle Orientierungen, Neigungen und Störungen behandelt. Vor allem die beiden letzten Aspekte stehen in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Ansatz, da das, was als Neigung oder Störung bezeichnet wurde, also das, was von der Norm abwich, immer auch eng mit der gesellschaftlichen Norm von Sexualität verknüpft war. Dass die individuumsbezogene Betrachtung der Entwicklung von Sexualität auch immer mit dem Kontext der Einzelperson zusammenhängt ist ebenfalls nicht zu leugnen. Insofern ist das folgende Kapitel eine Analyse von Perspektiven die im eigentlichen Sinne eng miteinander verflochten sind.
4.1 Gesellschaftliche Perspektiven: zwischen Freiheit und Moral
Der Kampf zwischen den, auf die Sexualität bezogenen, gesellschaftlichen Perspektiven der Freiheit und der Perversion ist so alt wie die Menschheit selbst. Doch es gab immer wieder Extreme in der geschichtlichen Entwicklung. Dabei war die Menschenbewegung, die für sexuelle Freiheit kämpfte häufig davon überzeugt, dass eine rigide zurückgehaltene Sexualität den Menschen krank mache. Die moralische Opposition, welche die freie Sexualität für pervers erklärte, war hingegen der Auffassung, es mache den Menschen krank und faul, sich seinem sexuellen Verlangen hinzugeben. Vor allem über den Kampf der beiden Parteien in der Neuzeit ist heute Einiges bekannt. So wurde die erste Periode der sexuellen Enthaltsamkeit vom Konzil von Trient 1563 als Antwort auf die Reformation angestoßen und strikt von den Klerikern umgesetzt. Diese Tendenz wurde dann auch zunehmend von der Dorfbevölkerung übernommen. Zu dieser Zeit warnte der christlich-normative Diskurs auch öffentlich vor Wollust. Das Ideal für Mann und vor allem für die Frau war somit vollkommene Enthaltsamkeit. Dieses konnte etwa durch den Eintritt ins Kloster verwirklicht werden (vgl. Muchembled 2008, S. 38).
Zwischen Mitte des 16. Jahrhunderts und Ende des 17. Jahrhunderts wurde die sexuelle Repression schließlich durch Gesetze und sogenannte Sittlichkeitsvorschriften von der Kirche normativ verankert (vgl. ebd., S. 39).
Von 1700 bis 1960 propagierten die Kirchenväter im Beichtstuhl dem klassischen Ehepaar, das in dieser Zeit die Zentrale Einheit in der Gesellschaft darstellte (vgl. ebd., S. 40), die einzige zulässige Sexposition, die Missionarsstellung (vgl. ebd., S. 41).
Die ungezügelte weibliche Lust wurde als teuflisch deklariert. So sollte die Frau in göttlicher Direktive lediglich ihre sexuellen Pflichten gegenüber ihrem Ehemann erfüllen. Dies bedeutete für sie, die reine Empfängnis ohne Lust erleben zu müssen. Im 19. Jahrhundert setzte sich dann vollkommen die Vorstellung einer keuschen und gehorsamen Frau durch. Der Mann stand in einer doppelmoralischen Rolle, da er ein frenetischer Geliebter sein konnte und es ihm gleichzeitig möglich war, ohne Schuldgefühle zu Prostituierten zu gehen (vgl. ebd., S. 48). Es war in dieser Zeit sogar ein besonderer Beweis für die Männlichkeit, Prostituierte regelmäßig aufzusuchen (vgl. ebd., S. 49).
Trotz der großflächigen Befolgung der christlichen Normen gab es auch zu dieser Zeit Vertreter der sexuellen Freiheit. Der Adel, der sich weiterhin in Zügellosigkeit und am Ideal unbegrenzten Konsums orientierte, ließ es nicht zu, sich Schuldgefühle für die ausgelebte Freiheit machen zu lassen (vgl. ebd., S. 46).
Das Bild von Sexualität, das der Klerus vertrat, behielt jedoch die Übermacht, bis sich in den 1960er Jahren in Europa und den U.S.A. ein neues hedonistisches Modell ausbreitete. Darin enthalten waren ein starkes Ersuchen einer Neudefinition der Sexualitätsformen, die erotische Selbstbestimmung für Frauen und die Anerkennung der Rechte von Homosexuellen (vgl. ebd., S. 40). Die Voraussetzungen für diese enorme Erweiterung der sexuellen Freiheit entwickelten sich aus dem Nahrungsmittelüberfluss, der zu dieser Zeit viel weniger Armut hervorbrachte als in den Jahren zuvor, der gestiegenen Lebenserwartung (vgl. Muchembled 2008, S. 52), der Verbreitung der Antibabypille, der Enttabuisierung von Pornographie, der Studentenbewegungen, Frauengruppen, Aktionsgruppen von Lesben und Schwulen (vgl. Herzog 2005, S. 173) und vielen anderen Faktoren. In Deutschland war die Entwicklung vor allem ein Ergebnis des wütenden Aufschreis über die sexuelle Repression des dritten Reiches (vgl. ebd., S. 174).
Für die Männer hatte sich durch diese Entwicklung ein höherer Leistungsdruck abgezeichnet. Die sexuellen Grenzen zwischen den höheren Altersgruppen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen wurden flexibler. Die Ehe war nun keine verpflichtende Voraussetzung mehr für sexuellen Verkehr. Mit dem Verschwinden dieser Normen umzugehen, war für viele Männer schwierig (vgl. Muchembled 2008, S. 54). Trotzdem behielt die Bewegung ihre Stärke und es kam als Folge der sexuellen Befreiung zu einer Überarbeitung von Gesetzen, die Ehebruch/Scheidung, Homosexualität, Pornographie, Prostitution und Abtreibung betrafen (vgl. Herzog 2005, S. 174). Die Kleinfamilie, die für die soziale Deformation und den massiven Triebverzicht (vgl. ebd., S. 371) der eigenen Generation verantwortlich gemacht wurde, wurde von Befürwortern der sexuellen Revolution verdammt (vgl. ebd., S. 207). So erklärten sie weiterhin, dass der sexuelle Trieb empfindsam sei und die Freude am Sex, die nicht natürlich und notwendigerweise vorhanden sein muss, gezielter Kultivierung bedürfe (vgl. ebd., S. 206). Nicht ausgelebte Sexualität führe hingegen zu Aggressivität und Mordlust (vgl. ebd., S. 192).
Die Entwicklungen der sexuellen Veränderungen der 60er und 70er Jahre sind auch heute noch zu spüren. Auf beiden Seiten des Atlantiks werden heute die alten Leitsätze der freiwilligen Keuschheit mit Nachdruck zurückgewiesen (vgl. Muchembled 2008, S. 61). Die katholische und protestantische Kirche haben massiv an Macht verloren (vgl. ebd., S. 59). Doch gleichzeitig ertönen Stimmen, welche die heutige Welt als eine des schrankenlosen Genusses bezeichnen. Familien bestehen, vor allem durch Möglichkeiten der Verhütung, häufig aus Triaden oder gar nur noch aus einer Dyade ohne Kind. Ob diese Familienform der Ausdruck eines übermäßig gesteigerten Egoismus‘ darstellt, ist noch nicht geklärt (vgl. ebd., S. 58). Doch es kann festgehalten werden, dass die beiden Pole der Sexualität und der Moral, ebenso wie der Pornographie und der Zensur, schon lange Zeit miteinander existieren und im Kampf gegeneinander um Macht und Einfluss ringen. Möglicherweise wäre ihre Existenz ohne den jeweiligen Gegenpart nicht denkbar (vgl. Seeßlen 1994, S. 391).
Die heutige Sicht auf Sexualität und die daraus resultierende Sexualerziehung scheint sich auf einem Mittelweg zwischen den zwei Extremen zu befinden. Sexualität wird von einigen Menschen immer noch häufig tabuisiert und als „verdorben“ und „triebhaft“ angesehen. Auf der anderen Seite scheint die Erreichung einer positiven Einstellung zum eigenen Körper für die moderne Gesellschaft wichtig zu sein (vgl. Altenthan 2002, S. 382 f). Die Mischung der beiden Polaritäten zeigt sich in den, vom Buch „Pädagogik“ (Althenthan et al. 2002) formulierten, Zielen der modernen Sexualerziehung. Als wichtigste Faktoren werden hier eine positive Einstellung zu Sexualität, die Auffassung der Sexualität als Bestandteil des Menschen, Akzeptanz des Körpers und seiner Funktionen, Wahrnehmung und Mitteilung von Gefühlen und Bedürfnissen, Vorbereitung auf reifebedingte Entwicklung, Bejahung des eigenen, Schätzen des anderen Geschlechts und verantwortungsvolles Praktizieren von Sex (vgl. ebd., S. 385 f). Man erkennt zwar durch Formulierungen wie die Akzeptanz der körperlichen Bedürfnisse eine klare Distanzierung zur moralischen Ansicht der „Gelüste des Fleisches“, findet aber auf der anderen Seite durch die Akzentuierung der sexuellen Verantwortung eine nicht abzustreitende Abgrenzung zur 68er-Bewegung, welche die Verantwortung, die Sexualität mit sich bringt, nicht unbedingt in den Vordergrund ihrer Kampagne setzte.
4.2 Die Entwicklung der sexuellen Identität
Sexualität wird als eine biologisch manifestierte Form des menschlichen Erlebens definiert, deren Ausprägungen sich auf mannigfaltige Bereiche von Körper und Geist beziehen können (vgl. Strauß 2010, S. 13). Physische Manifestationen der Sexualität sind im Wesentlichen die genetische Ausstattung, die Keimdrüsen, die äußeren und inneren Geschlechtsmerkmale und geschlechtstypische Differenzierungen im Gehirn.
Die menschliche Sexualität hat eine biologische Funktion, den Fortbestand des Erbguts zu sichern, eine selbstbestätigende Funktion, die den Selbstwert des Individuums steigert und eine interpersonale Funktion, die den einen Teil der zwischenmenschlichen Beziehung beeinflusst. Wovon ein Mensch im Einzelnen erregt wird, ist häufig von biologischen, psychischen und soziokulturellen Einflüssen abhängig (vgl. ebd., S. 14).
Die Entwicklung der Sexualität wird im Allgemeinen als Geflecht aus verschiedenen Entwicklungslinien betrachtet (vgl. ebd., S. 13). Dabei sind vor allem biologische Merkmale, die subjektiv erlebte sexuelle Identität, die auch Geschlechtsidentität genannt wird, und die öffentlich präsentierte gesellschaftliche Rolle, die auch als Geschlechtsrolle bezeichnet wird, von Belang. Hierbei kann man vor allem erkennen, dass das Erleben und Verhalten der Sexualität nicht nur eine Folge von biologischen Aktivierungen ist (vgl. Fiedler 2004, S.53), sondern vielmehr eine Interaktion zwischen Anlage und Umwelt stattfindet, in derer Mittelpunkt, die kritische Periode, also ein zeitliches Entwicklungsfenster, steht, in der bestimmte Verhaltensformen extrem leicht erlernbar und formbar sind (vgl. ebd., S.58).
Wenn man die biologischen Reifebedingungen betrachtet, fällt auf, dass das morphologische Geschlecht schon während der Schwangerschaft bestimmt werden kann und spätestens nach der Entbindung durch den Geburtshelfer eine Kategorisierung und die Festlegung des behördlichen Geschlechts anhand des postnatalen Zustands der äußeren Geschlechtsorgane stattfindet (vgl. ebd., S.56).
Erste sexuelle Verhaltensweisen können jedoch schon vor der Geburt festgestellt werden. Beispielsweise berühren manche Föten ihr Genitale. Bei Jungs tritt nicht selten eine Erektion auf. Die Kerngeschlechtsidentität, also die Fähigkeit zu wissen, welchem Geschlecht man angehört, bildet sich in der Regel am Ende des zweiten Lebensjahres heraus (vgl. Strauß 2010, S.14). Schon beim Kleinkind können bezüglich der Erregung schon spezielle Verhaltensweisen des Geschlechtslebens beobachtet werden und es genießt schon relativ frühzeitig, wenn es selbst oder einer seiner Elternteile sein Geschlechtsorgan oder andere erogene Zonen berührt. Das Kind kann dabei sogar einen Orgasmus erleben (vgl. Fiedler 2004, S.57).
Die endgültige Festlegung der Geschlechtsidentität findet dann im vierten Lebensjahr statt. Falls bei der Entbindung ein falsches Geschlecht erkannt worden ist und die Eltern das Kind bis zum vierten Lebensjahr in diese Richtung erzogen haben, muss zu diesem Zeitpunkt schon eine massive Kehrtwendung in der sexuellen Erziehung geschehen, um das Kind zu der nun als richtig erachteten Geschlechtsrolle hin zu erziehen (vgl. ebd., S.58).
Die grobe Aneignung der rollenspezifischen Verhaltensweisen ist bis zur Einschulung meist abgeschlossen. Sie sind in ihrer Ausprägung jedoch noch sehr starr.
Etwa ab dem 8. Lebensjahr sind dann die kognitiven Strukturen so weit ausgebildet, dass das Kind in der Lage ist, selektiv Eigenschaften von differenzierten Rollenmodellen zu übernehmen.
Durch die im Jugendalter neu entwickelte Fähigkeit zum abstrakten Denken entsteht dann eine weitere Ausdifferenzierung und Neubewertung der endgültigen adoleszenten Sexualidentität (vgl. Strauß 2010, S.15).
Bei den Mädchen steht in der Pubertät vor allem der Eintritt der Menarche, bei Jungs vor allem die Fähigkeit zur Onanie, im Vordergrund. Dabei lernen Jungen die Masturbation und den Orgasmus häufig durch Peers, Mädchen selbige eher durch körperliche Selbstentdeckung oder zufälligen Kontakt, kennen (vgl. Strauß 2010., S. 14). Die Masturbation wird häufig um seiner selbst willen ausgeführt, kann aber auch als Ersatz für fehlende interpersonale sexuelle Aktivität gesehen werden (vgl. Bancroft 1985, S.117). Dass Masturbation unter religiös erzogenen männlichen Jugendlichen wesentlich seltener in Erscheinung tritt als bei atheistisch sozialisierten Kindern (vgl. ebd., S.119), spricht dafür, dass die Sozialisation der jeweiligen Kultur bei der sexuellen Entwicklung ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt.
Ab dem Zeitpunkt der Geschlechtszuweisung während der Geburt, ist ein kulturspezifisches Erziehungsverhalten der Bezugsperson zum Kind zu erkennen (vgl. Strauß 2008, S. 14). Die Eltern tragen dabei ganz spezielle Erwartungen an das Kind heran und beeinflussen damit die Erziehung (vgl. ebd., S. 15). Ausprägungen davon können zum Beispiel Namensgebung, Kleidung, Haarschnitt und Spielsachen sein (vgl. Fiedler 2005, S.57). Durch den Spracherwerb ordnet sich das Kind dann selbst einem Geschlecht zu und eignet sich entsprechend dieser Kategorisierung bestimmte geschlechtsspezifische Rollenmodelle an. Eine Ausdifferenzierung dieser Modelle vollzieht sich später vor allem durch kulturspezifische Bilder, Vorschriften und soziale Erwartungen. Die Präsentation der Geschlechterrolle wird dabei im Einzelnen zwar durch die internalisierte Geschlechtsidentität mitbestimmt, wird jedoch im Großteil von den Erfahrungen von Erziehung, Modellen und Peers beeinflusst (vgl. ebd., S.59).
Dabei sollte man sich bewusst vor Augen halten, dass Geschlechterrollen immer schon von soziokulturellen Veränderungen geprägt wurden (vgl. Strauß 2010, S. 15).
Das kann man daran erkennen, dass religiöse und ökonomische Vorschriften lange eine Volljährigkeit beim sexuellen Verkehrsbeginn verlangten. Heute scheint sich eher eine Annäherung des ersten sexuellen Kontaktes zu Beginn der Geschlechtsreife abzuzeichnen (vgl. Fiedler 2005, S.62).
Gerade im Hinblick auf das männliche Geschlecht, gibt es neben den genannten, einige spezielle Faktoren, die für die Entwicklung der männlichen sexuellen Identität von enormer Bedeutung sind. Zum einen spielt die allgemeine sexuelle Annäherung unter Kindern eine große Rolle. Dazu gehört auch die soziale Polarisierung, die zum Beispiel in der Entdeckung des erigierten Penis eines anderer Jungen Ausdruck findet. Auch die sexuelle Identifikation ist ein wichtiger Faktor. Dabei eifern die Jungs in der Regel den etwas älteren Jugendlichen nach und beneiden ihre sexuellen Erfolge. Die sexuelle Identität kann auch durch homosoziales Verhalten ausgebildet werden. Darunter wird die Neigung männlicher Jugendlicher verstanden, Beziehungen mit Mädchen einzugehen, um dadurch ihren Rang in der männlichen Peergroup zu optimieren. Des Weiteren spielen natürlich unspezifische biologische Faktoren eine Rolle, wie zum Beispiel, die niedrigere Erektionsschwelle der 12 – 14-jährigen Jugendlichen. Es ist für die Jungs bei der späteren Kanalisierung der Sexualität vor allem wichtig zu wissen, was ihre Freunde als sexuell erregend empfinden. Natürlich kann es auch Faktoren geben, die die Entwicklung der Sexualität behindern. Dabei wirkt Angst, vor allem im Zusammenhang mit sexuellem Misserfolg, also der Angst vor Zurückweisung, und in Relation zu sexuellem Erfolg, die sich in Schuldgefühlen oder Furcht vor negativen Folgen des Genusses äußern kann, als Hemmfaktor im Verlauf des sexuellen Lernens. Ein weiterer wichtiger Einfluss im Hinblick auf die sexuelle Entwicklung, ist die Eltern-Kind-Beziehung. Dabei kann das Bestrafen von sexuellen Handlungen zu Scham- und Schuldgefühlen führen (vgl. Bancroft 1985, S. 24 ff).
Sexualität und Bindung beeinflussen sich gegenseitig. Im Gehirn manifestieren sie sich in zwei getrennten Arealen, die jedoch durch eine große Zahl von Neuronensträngen miteinander verknüpft sind. Man nimmt heute an, dass sie die Fähigkeit haben, sich gegenseitig zu regulieren. Ein Beispiel dafür kann sein, dass ein Mann gewisse sexuelle Praktiken vermeidet, um Intimität auszuweichen (vgl. Strauß 2010, S. 150). Dadurch hat die Bindung entscheidenden Einfluss auf sexuelle Neigungen und umgekehrt.
Was die weitere Entwicklung der sexuellen Identität im Erwachsenenalter angeht, gibt es in der Literatur zurzeit keine Hinweise darauf, dass noch einflussreiche Variablen hinzukommen. Doch diese Ansicht sollte zumindest in Bezug auf die öffentlich präsentierte gesellschaftliche Rolle überdacht werden. Immerhin gibt es eine erhebliche Anzahl von so genannten „Coming-Outs“, die bei Homosexuellen gerade häufig im Erwachsenenalter stattfinden.
4.3 Orientierung, Neigung, Störung
Bei der Beschreibung sexueller Verhaltensweisen und deren Abweichungen werden in der Literatur häufig die drei Begriffe Orientierung, Neigung und Störung verwendet. Es ist sinnvoll diese so zu betrachten, als stünden sie in einem Kontinuum zueinander, wobei die Anzahl der Personen, auf die der jeweilige Begriff zutrifft, bei der menschlichen Bevölkerung von der Orientierung bis hin zur Störung abnehmend auftritt. Eine bestimmte sexuelle Orientierung hat im Prinzip jeder Mensch. Ausnahmen bilden asexuelle Personen, die von Geburt an kein Bedürfnis nach sexueller Interaktion haben. Die Sexualität hat ihre Ursprünge vor allem in der Jugend, in der es zur Ausprägungen erotischer Fantasien kommt, die in bestimmten Präferenzen (spezielle Fantasien) und in der sexuellen Orientierung (Partnerwahl) ihren Ausdruck finden. Der Grund für die sexuelle Orientierung der Jugendlichen in der Pubertät ist die hormonelle Veränderung, die eine schnell zunehmende sexuelle Reaktionsfähigkeit mit sich zieht (vgl. Fiedler 2005, S.59). Die Ausprägungen der speziellen Orientierung können sich von Fantasien bis zu ersten sexuellen Kontakten erstrecken. Fantasien mit sexuellem Zusammenhang formen dabei die interne Repräsentation von Sexualität und tragen gleichzeitig zur Entwicklung der sexuellen Vorlieben und der Vorstellungen von Beziehungen bei (vgl. ebd., S.62).
Spezielle Neigungen sind bedeutende personalisierte Erlebnisse sexueller Erregung, die sich in ihrer Besonderheit und Form eventuell auf erste sexuelle Erfahrungen und auf ihre Zusammenhänge zurückführen lassen (vgl. ebd., S.212). Bei der Entwicklung der Neigung entsteht meistens ein inneres Skript zur Befriedigung, das seine eigene Dynamik besitzt (vgl. ebd., S.213).
Auch lassen sich die speziellen Neigungen häufig auf Lernerfahrung in der Bindung zu den Eltern oder anderen Bezugspersonen zurückführen (vgl. Strauß 2010, S. 17 f). So haben Studien ergeben, dass eine sichere Bindung zu den Eltern in der Kindheit im Erwachsenleben häufig zu einem geringen Interesse an Seitensprüngen führt und beim Sex im Allgemeinen der Austausch und der körperliche Kontakt im Mittelpunkt stehen. Personen, die in ihrer Kindheit eine vermeidende Bindung entwickelten, waren häufiger offen für Gelegenheitssex ohne Liebe. Sie hatten generell bei sexuellem Kontakt ein geringeres Gefühl von Vertrautheit. Diejenigen, welche von einer ambivalenten Bindung betroffen waren, fanden sexuelle Praktiken nicht wichtig. Für sie stand das Gehaltenwerden im Vordergrund (vgl. ebd., S. 18). Auch konnte herausgefunden werden, dass Personen, die eine vermeidende Bindung besaßen, generell eine negative Einstellung gegenüber partnerbezogenen sexuellen Aktivitäten hatten. Von ihnen wurde die Masturbation vorgezogen. Man kann in solchen Fällen häufig von einem Zwang zur Selbstgenügsamkeit sprechen (vgl. ebd., S. 151). Außerdem wird bei diesem Bindungstyp bei männlichen Jugendlichen generell eine geringere sexuelle Aktivität beobachtet. Vermeidende junge Frauen sind eher früh und häufig sexuell aktiv (vgl. ebd., S. 152). Da sexuelle Verhaltensweisen oft mit inneren und äußeren Lernerfahrungen zusammenhängen (vgl. ebd., S. 17 f), liegt es auf der Hand, dass sexuelle Neigungen auch in den Dienst persönlicher Motive genommen werden. So können Gefühle wie Verbundenheit, Beruhigung, Selbstachtungssteigerung und Machtbestätigung durch sexuelle Aktivität generiert werden (vgl. Strauß 2010, S. 168). Der Begriff der sexuellen Störung muss von dem der Neigung abgegrenzt werden. Es liegt dann eine Störung vor, wenn der zwanghafte Wunsch besteht mit einer nicht zustimmenden Person die jeweilige Vorliebe zu praktizieren, oder wenn die sexuellen Fantasien zu deutlichem psychischem oder physischem Schmerz oder zwischenmenschlichen Schwierigkeiten führen. Dieses Verhalten kann Auswirkungen auf soziale, berufliche und andere Lebensbereiche haben (vgl. Fiedler 2005, S.186). Es ist also die Unfähigkeit seine Sexualität in einer Wir-Beziehung zu gestalten (vgl. Nissen 2005, S. 11), meist resultierend aus der generellen Unfähigkeit eine zwischenmenschliche Beziehung auf Dauer aufrecht zu erhalten und auszugestalten (vgl. Fiedler 2005, S.187).
Es handelt sich um keine Störung, wenn kein subjektives Leiden, keine Schädigungen und sexuelle Delinquenz auftreten (vgl. ebd., S.186). Historisch gesehen galt eine gestörte Sexualität als zu bestrafende Perversion. Die Psychiatrie hatte sich dieser Verhaltensweisen in humaner Absicht angenommen, um die betroffenen Menschen aus dem Bereich übertriebender juristischer Verfolgung zu befreien (vgl. ebd., S.180). Dieser Ansatz hat in Folge zwar zur Liberalisierung menschlicher Sexualerziehung beigetragen, im Gegenzug jedoch zur Stigmatisierung "perverser" Handlungen beigetragen (vgl. ebd., S.175).
Was die Gesellschaft zu ihrer Zeit ablehnte, war im auch im hohen Ausmaß davon abhängig, was die Sexualwissenschaftler, Psychiater und Psychologen als nicht „normal“ betrachteten. Da das Bild der Wissenschaftler natürlich auch von der Gesellschaft beeinflusst wurde, kann man von einer gegenseitigen Interaktion sprechen (vgl. ebd., S.178).
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze bezüglich sexuellen Störungen. Nach Sigmund Freud entstand die von ihm benannte „Perversion“ durch eine fixierte oder gehemmte psychosexuelle Entwicklung. Seiner Ansicht nach wird jedes Kind mit einem starken Sexualtrieb geboren, der generell auf jedes beliebige Objekt angewendet werden kann. Die Aufgabe der Erziehung sei es, die Sexualität in die richtigen Bahnen zu lenken. Gelingt dies nicht in ausreichendem Maße, fällt, so Freud, die Sexualität in den polymorphen Ausgangzustand zurück und fixiert sich in einem von der Gesellschaft ungewünschtem Feld (vgl. ebd., S.175). Heute bezweifelt die Wissenschaft, dass es einen für jeden gültigen Ausgangstrieb gibt, der in jede Richtung geformt werden kann (vgl. ebd., S.176). Auch wurde der Begriff der Perversion durch die Worte „Paraphilie“(DSM IV) und „Störung der Sexualpräferenz“(ICD-10) ersetzt (vgl. Fiedler 2005, S.181).
Dem behavioristischen und kognitiven Ansatz folgend, sind die wichtigsten Elemente zur Entstehung einer sexuellen Störung klassische und operante Konditionierung, Modelllernen, Probleme bei der Verarbeitung der Realität, fehlendes Wissen, Bewertung und Selbstregulation. Dabei wird zwischen auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren unterschieden (vgl. Kockott 2000, S.26). Auslöser von sexuellen Störungen können allgemeine Gehemmtheit, Sexualängste, Tabuisierung von Sex in der Erziehung, Lerndefizite und sexuelle Mythen, Partnerschaftskonflikte, mangelnde partnerschaftliche Kommunikation, psychosexuelle Traumata, Probleme der eigenen Geschlechtsidentität und Stress sein (vgl. ebd., S.27). Aufrechterhaltende Faktoren sind vor allem gelernte Verhaltensabfolgen der gestörten Sexualität, Selbstverstärkungsmechanismen und der negative Umgang des Partners mit dem Problem. Letzerer kann auch zur einer Konfliktvermeidung des Betroffenen führen, die allgemeine partnerschaftliche Unzufriedenheit verstärken kann (vgl. ebd., S.30).
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Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2010
- ISBN (PDF)
- 9783863416935
- ISBN (Paperback)
- 9783863411930
- Dateigröße
- 398 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Erscheinungsdatum
- 2013 (Juli)
- Note
- 1,1
- Schlagworte
- Sexualität Medien Jugend Mann sexuelle Neigung Sexualerziehung Pädagogik