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Der Einfluss der EU auf das deutsche Berufsbildungssystem: Lebenslanges Lernen, EQR und ECVET

©2010 Bachelorarbeit 53 Seiten

Zusammenfassung

Seit dem Gipfel von Lissabon im März 2000 ist Bewegung in die europäische Berufsbildungspolitik gekommen. Europa sollte sich bis 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt entwickeln. Zur Erreichung der festgesetzten Ziele existiert eine Vielzahl an europäischen und nationalen Maßnahmen. Das lebenslange Lernen gilt dabei als Kernstrategie, um die Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit Europas sicherzustellen. Zudem sollen Qualifikationen transparent und vergleichbar gemacht, und die Mobilität im Bildungs- und Beschäftigungssystem gefördert werden.
Durch die verstärkte Zusammenarbeit der einzelnen Länder ist die europäische Bildungspolitik weitaus komplexer geworden. Die EU nimmt dabei zunehmend die Rolle des Initiators und Koordinators ein. Das Verständnis für europäische Beschlüsse und Maßnahmen ist demnach die Voraussetzung dafür, nationale Entwicklungen richtig einschätzen und bewerten zu können. Denn aus den europäischen Initiativen ergeben sich auf nationalstaatlicher Ebene enorme Investitionen und ein grundlegender Reformbedarf.
Die in Lissabon gesteckten Ziele waren Anlass für zahlreiche Debatten auf europäischer und nationaler Ebene. Im Jahre 2010 muss man feststellen, dass sie zwar nicht erreicht wurden, aber der Grundstein für die weitere Modernisierung gelegt ist. Die neue Strategie Europa 2020 für Beschäftigung und Wachstum soll daran anschließen.
Diese Arbeit soll einen Überblick über die europäischen Strategien und Instrumente für den Bereich der beruflichen Bildung geben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Zentrale Begrifflichkeiten und bildungspolitische Ziele

Um ein grundlegendes Verständnis für die in der Arbeit verwendeten Begrifflichkeiten und die europäischen Ziele zu entwickeln, werden diese zunächst näher erläutert.

2.1 Berufsbildungspolitik

Der Begriff Berufsbildungspolitik, wie er in dieser Arbeit verwendet wird, umfasst drei Dimensionen (vgl. Bohlinger 2007, S. 10). Zunächst die konstitutionellen Rahmenbedingungen, die durch Rechtsgrundlagen abgesichert sind und damit die berufliche Bildung als Teil der Gesellschaft definieren. Diese strukturelle und institutionelle Dimension bezeichnet man als Polity -Aspekt im Sinne der Staatsorganisation oder Gesellschaftsordnung. Als Zweites die Problem- und Gegenstandsbereiche, durch welche die Berufsbildungspolitik ein spezialisierter Politikbereich wird (Policy -Aspekt). Hier geht es um den Transfer von politischen Strategien. Und die dritte Dimension beschreibt die Prozesse, in denen nationalstaatliche und supranationale Entscheidungsträger mit Hilfe politischer Macht Entscheidungen durchsetzen, damit diese dann kollektiv bindend sind. Unter diesen Begriff der Politics fallen Abstimmungen oder Wahlverfahren. Die Berufsbildungspolitik versteht sich dabei nicht als Teil des Berufsbildungssystems. Es ist eher als dessen Umwelt zu betrachten.

2.2 Berufsbildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland

Im Koalitionsvertrag setzen sich CDU/CSU und FDP das Ziel Deutschland zur Bildungsrepublik zu machen. Dabei soll es darum gehen durch Bildung jedem Individuum die Teilhabe an der modernen Wissensgesellschaft zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen werden die Ausgaben des Bundes für Bildung und Forschung bis 2015 weiter erhöht. Unter anderem werden auch Vereinbarungen „zur Umsetzung der Qualifizierungsinitiative wie zur Bildungsmobilität, insbesondere zu Fragen von Zulassung und Anerkennung von Abschlüssen und Teilleistungen“ (CDU/CSU/FDP 2009, S. 59) angestrebt. Auch für die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen sollen transparente und einheitliche Verfahren entwickelt werden. Zudem wird die Relevanz der deutschen Berufsbildung, und vor allem der dualen Ausbildung als weltweit geschätztes System, hervorgehoben. Die duale Ausbildung soll auch zukünftig international wettbewerbsfähig sein. Um dies zu gewährleisten strebt die Politik eine Flexibilisierung und Modularisierung des Systems bei gleichzeitiger Wahrung des Berufsprinzips an. Als Umsetzung der europäischen Bildungspolitik soll das lebenslange Lernen stärker gefördert und die Forschung zur Kompetenzmessung weiter forciert werden. Die Koalition will „die Entwicklung eines Deutschen Qualifikationsrahmens dazu nutzen, um Gleichwertigkeit, Mobilität und Durchlässigkeit im deutschen und europäischen Bildungsraum zu stärken. Dabei (wird sie) im europäischen Prozess darauf achten, dass das deutsche Bildungssystem sein eigenes Profil wahrt und seine Qualität innerhalb der EU zur Geltung bringt“ (ebd., S. 63).

Auch die SPD als Oppositionspartei hatte das lebenslange Lernen in das Regierungsprogramm 2009 aufgenommen. Sie wollten das duale System stärken und eine Berufsausbildungsgarantie für alle jungen Menschen über 20 einführen, die weder über ein Abitur, noch über einen Berufsabschluss verfügen (vgl. SPD 2009, S. 34). Im Gegensatz zur CDU findet sich im Programm kein Verweis auf den Deutschen Qualifikationsrahmen und es wird lediglich einmal erwähnt, dass der Vertrag von Lissabon verwirklicht werden muss (vgl. ebd., S. 88).

2.3 Berufsbildungssystem in Deutschland

Berufsbildungssysteme sind historisch gewachsene und „oft in sich widersprüchliche Gebilde, geprägt von Reformbestrebungen der jeweiligen Regierungen und beeinflusst durch angrenzende Berufsbildungssysteme anderer Länder“ (Bohlinger 2008, S. 26).

In Deutschland ist die Berufsbildung im Berufsbildungsgesetz (BBiG) gesetzlich verankert. Nach §1 Abs.1 BBiG[1] umfasst die Berufsbildung die Berufsausbildungsvorbereitung, die Berufsausbildung, die berufliche Fortbildung und die berufliche Umschulung. Es basiert auf mehreren grundlegenden Entscheidungen (vgl. CEDEFOP 2007, S. 1):

- grundsätzlich soll allen Schulabgängern eine berufliche Ausbildung geboten werden
- mit den Unternehmen wurde ein kooperatives Ausbildungssystem (duales System) implementiert
- dabei erkennt der öffentliche Sektor (Regierung u. Schulen) den privaten Sektor als gleichberechtigten Partner

Bei bundesweit einheitlichen Standards der beruflichen Erstausbildung, wird in staatlich anerkannten Ausbildungsberufen die für den Übergang in den Arbeitsmarkt erforderliche berufliche Handlungskompetenz vermittelt. Als die zentralen Merkmale des deutschen Berufsbildungssystems „gelten die Berufsfähigkeit, das Berufskonzept und die für den Beruf notwendigen Qualifikationen (sowie) die duale Ausbildung, die die Vermittlung beruflicher Handlungsfähigkeit impliziert“ (Bohlinger 2008, S. 53).

Im Berufskonzept sind bildungstheoretische und berufsbildungstheoretische Aspekte vereint.

2.4 Die berufliche Handlungskompetenz

Obwohl in der Wissenschaft ein einheitlicher Konsens bezüglich der Relevanz von Kompetenzen herrscht, gibt es eine Vielzahl an Definitionen und theoretischen Zugängen, die versuchen dieses Konstrukt zu erklären. Um diesen Begriff zu fassen, muss grundsätzlich zwischen Kompetenzen und Qualifikationen unterschieden werden. Unter Kompetenz wird die Befähigung des Einzelnen selbstverantwortlich zu handeln gefasst. Sie sind ein „Gebilde aus Wissen, Fertigkeiten und Haltungen, die in bestimmten Lebensphasen und –abschnitten gefordert werden“ (Bohlinger 2007, S.19), während die Qualifikation eher auf die Verwertbarkeit von Fähigkeiten und Kenntnissen zielt. Dieser Arbeit liegt das Verständnis des Kompetenzbegriffes von Dehnbostel zugrunde. Demnach umfassen berufliche Kompetenzen „Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissensbestände und Einstellungen, die das umfassende fachliche und soziale Handeln des Einzelnen in einer berufsförmig organisierten Arbeit ermöglichen“ (Dehnbostel 2008, S. 50).

Kompetenzen werden während des gesamten Lebens durch Lern- oder Arbeitsprozesse herausgebildet und stetig weiterentwickelt. Diese Kompetenzentwicklung wird von jedem Individuum selbst aktiv gesteuert. Sie führt zu einer beruflichen Handlungskompetenz, „definiert als die Fähigkeit und Bereitschaft, in beruflichen Situationen fach-, personal- und sozialkompetent zu handeln und die eigene Handlungsfähigkeit in beruflicher und gesellschaftlicher Verantwortung weiterzuentwickeln. Unter einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz ist die Einheit von Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Personalkompetenz zu verstehen“ (ebd., S. 52).

Diese Definition folgt den Ausführungen der KMK, in der die Entwicklung der Handlungskompetenz als Ziel der beruflichen Ausbildung gefordert wird. Die KMK differenziert zwischen Fach-, Personal- und Sozialkompetenz. Bestandteil aller drei Kernkompetenzen ist zudem die Methodenkompetenz, kommunikative Kompetenz und Lernkompetenz (vgl. KMK 2007, S. 10).

Mit dem Konzept der Handlungskompetenz geht eine „Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Subjekt und damit von den Inputs beruflicher Bildung zu ihren Outcomes sowie zu spezifischen Lernfeldern“ (Bohlinger 2008, S. 54) einher. Das Lernergebnis „bezeichnet die Gesamtheit der Kenntnisse, Fähigkeiten und/oder Kompetenzen, die eine Person nach Durchlaufen eines Lernprozesses erworben hat und/oder nachzuweisen in der Lage ist. Lernergebnisse sind Aussagen über das, was ein Lernender am Ende einer Lernperiode wissen, verstehen, können soll (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005, S. 13).

Da der Erwerb von Kompetenzen durch formale, non-formale und informelle Prozesse geprägt ist, müssen Zertifikate das komplette Kompetenzspektrum eines Individuums abbilden können und sich somit auf die Lernergebnisse konzentrieren. Die Ausrichtung auf definierte Lernergebnisse ist aber nicht frei von Kritik. Sie kann z. B. auch bedeuten, „dass das gesamte System der Qualifikationsversorgung nicht auf die Erzeugung von Fähigkeiten in Bildungsgängen mit definierten Inputs ausgerichtet ist, sondern auf die Erfassung und Bewertung irgendwie entstandener Fähigkeiten durch Abgleich mit definierten Outcomes“ (Drexel 2006, S. 16).

Anders formuliert bedeutet es, dass jemand, der nicht den normalen Bildungsweg bestritten hat, aber dennoch dessen Lernergebnisse nachweisen kann, die entsprechende Qualifikation bzw. das entsprechende Zertifikat erhält. Bisher war die rechtliche und finanzielle Stützung von Ausbildungsprozessen durch den Staat auf die Lerninputs fokussiert. Durch die Neuausrichtung auf die Lernergebnisse stellt sich die Frage, inwieweit die rechtliche Festlegung von Lerninputs durch Ausbildungsordnungen, sowie die Verpflichtung des Staates, Ausbildung finanziell zu unterstützen, überflüssig werden (vgl. ebd., S. 17).

2.5 Das informelle Lernen als ungenutzte Ressource

In der heutigen Wissens- und Informationsgesellschaft gewinnt das Lernen stetig an Bedeutung. Aber Menschen lernen nicht nur in schulischen oder beruflichen Institutionen. In allen erdenklichen Situationen wird Wissen vermittelt und aufgenommen, sei es am Arbeitsplatz, im Freundeskreis oder in Freizeitaktivitäten. Dies geschieht bewusst oder unbewusst. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass die meisten Lernprozesse außerhalb von Bildungseinrichtungen stattfinden. Gesellschaftliche Anerkennung erlangt man aber nur innerhalb institutioneller Bildungswege, obwohl wir uns das ganze Leben über in einem ständigen Prozess des Lernens befinden. Dieses wird auch bezeichnet als „lebenslanges Lernen“ (vgl. Hungerland/Overwien 2004, S. 8). Vor diesem Hintergrund wird neben dem festgelegten, institutionalisierten Lernen zunehmend das informelle Lernen anerkannt. Vor allem in der europäischen Bildungspolitik spielt dieser Begriff eine zentrale Rolle. Eine einheitliche Definition für das, was eigentlich informelles Lernen ausmacht, sucht man in der Fachliteratur vergebens.

„Je nach Herkunftsdisziplin und zugrunde liegender theoretischer Ansätze werden in der wissenschaftlichen Diskussion sehr unterschiedliche Kategorisierungsmodelle zur Beschreibung der Unterschiede von formalen und non-formalen bzw. informellen Lernprozessen verwendet“ (Schiersmann/Remmele 2002, S. 23).

Das informelle Lernen wird meist als beiläufiges Lernen verstanden. Es umfasst aber auch unbewusstes und ungeplantes Lernen. Es findet im alltäglichen Leben statt, in familiären Gesprächen, im Freundeskreis, aber auch in der Arbeit. Das informelle Lernen ist meist bezogen auf eine zu lösende Aufgabe oder Problemstellung:

„Informelles Lernen ist ein instrumentelles Lernen, ein Mittel zum Zweck. Der Zweck ist […] nicht das Lernen selbst, sondern die bessere Lösung einer außerschulischen Aufgabe, einer Situationsanforderung, eines Lebensproblems mit Hilfe des Lernens“ (Dohmen 2001, S. 19).

Es wird aber klar vom intentionalen Lernen abgegrenzt:

„Richtet sich intentionales Lernen von vornherein auf ein vorgegebenes Lernergebnis, so stellt sich beim informellen Lernen ein Lernergebnis ein, ohne dass dies im Allgemeinen bewusst angestrebt worden wäre“ (Dehnbostel/Uhe 1999, S. 3).

Zusammenfassend lässt sich das informelle Lernen als ein Lernen außerhalb einer formalen, schulischen Institution beschreiben, was sich meist im Zusammenhang mit anderen Tätigkeiten entwickelt. Das informelle Lernen wurde lange Zeit nur unzureichend betrachtet. Im Zuge des lebenslangen Lernens und der Kompetenzentwicklung bietet aber gerade das informelle Lernen bisher ungenutzte Ressourcen an Wissen und Fertigkeiten, die für die berufliche Handlungsfähigkeit keine unbedeutende Rolle spielen. Wenn man informell erworbene Kompetenzen anerkennen und gegebenenfalls sogar zertifizieren bzw. anrechnen lassen kann, würden Menschen möglicherweise höhere Qualifikationen erreichen bzw. diese wahrscheinlich eher anstreben. Für das deutsche System liegt die größte Herausforderung bei der Anerkennung informell erworbener Kompetenzen. Bislang existiert nur das Instrument der Expertenprüfung für Abschlüsse des dualen Systems und das IT-Weiterbildungssystem, das einen breiteren Zugang für Seiteneinsteiger ermöglicht. Da liegen durchaus Reserven. Gerade letzteres ließe sich auch auf andere Sektoren übertragen (vgl. Hanf 2006, S. 57).

2.6 Internationalisierung und Europäisierung

Die Internationalisierung kann als Umsetzungsprozess der sich intensivierenden weltweiten (Handlungs-) Beziehungen im Zuge der Globalisierung verstanden werden. An einen Absolventen der beruflichen Bildung werden verschiedene Anforderungen gestellt. Er soll über ein möglichst breites Fachwissen verfügen, Methodenkompetenz aufweisen, interkulturelles Wissen sowie Fremdsprachenkenntnisse besitzen (vgl. Bohlinger 2008, S. 26). Durch die zunehmende Vernetzung von Industrienationen werden nationale Curricula durch internationale Bezüge und sogar Auslandsaufenthalte ergänzt. Die Internationalisierung beruflicher Bildung besteht in erster Linie darin „vorhandene Berufsbildungssysteme miteinander zu vernetzen und Auszubildende auf ein Berufsleben in einer globalen Welt vorzubereiten“ (ebd.). In Europa lassen sich Entwicklungen erkennen, die darauf abzielen nationale Strukturen beruflicher Bildung möglichst aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig soll dem aus der Globalisierung resultierenden erhöhten Wettbewerbsdruck begegnet werden. Man spricht dabei von einem Prozess der Europäisierung, der „zahlreiche Überschneidungen mit dem Prozess der Internationalisierung aufweist, sich aber speziell auf die europäischen Länder bezieht“ (ebd., S. 27). Ziel der Europäisierung ist es, die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraumes zu stärken und eventuelle Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU abzubauen. Mit diesem Anspruch geht einher, dass das Berufsbildungssystem, bzw. das Bildungssystem als Ganzes, „seine Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit auf weltweiten Märkten unter Beweis stellen muss“ (Bohlinger 2007, S. 9).

Das Verständnis der eben definierten Begrifflichkeiten ist unerlässlich für die Betrachtung der europäischen und damit auch deutschen Berufsbildungspolitik. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden sie daher immer wieder auftauchen. Die nun folgenden Kapitel befassen sich thematisch mit dem Überblick über die europäische Bildungspolitik. Dabei wird auf die Rolle der EU als politischer Akteur konkreter eingegangen und herausgestellt, welche Institutionen an der Konzeption von Strategien und Maßnahmen beteiligt sind. Um die aktuellen Geschehnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten einordnen zu können, ist es ebenfalls von Bedeutung, die Entwicklungen und die Wirksamkeit europäischer Bildungspolitik näher zu beleuchten. Nach der theoretischen Auseinandersetzung, sowie dem geschichtlichen Abriss, werden die einzelnen Strategien, sowie die zu deren Umsetzung angedachten Instrumente in den Fokus gerückt.

3. Europäische Bildungspolitik

Das Ziel europäischer Bildungspolitik ist es, den europäischen Wirtschaftsraum international wettbewerbsfähiger zu machen. Globalisierung und Internationalisierung wirken dabei direkt auf politische Strategien und gesellschaftliche Prozesse. Mit der EU existiert eine supranationale Organisation, die auf die politischen Entscheidungen der einzelnen Länder einen gewissen Zwang ausübt. Die konkrete Umsetzung von politischen Strategien wird als Prozess des Politiktransfers verstanden. Die politische Einflussnahme im Bereich der Bildungspolitik umfasst aber nicht nur rechtliche Instrumente, sondern auch politische „Überzeugungskraft, die Suche nach Befürwortern oder die schlichte Offenheit von Regierungen bzw. Politikern gegenüber Neuerungen“ (Bohlinger 2007, S. 9). Im Folgenden sollen die Entwicklungen, Strategien und die zur Umsetzung angedachten Instrumente näher beschrieben werden.

3.1 Die Europäische Union als bildungspolitischer Akteur

Im Jahre 1992 entstand die Europäische Union mit Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages und erlangte damit den politischen Vertretungsanspruch für ganz Europa. Durch das Zusammenspiel von nationalen und supranationalen Akteuren muss die EU stets die Interessen einzelner Nationen mit dem gesamteuropäischen Interesseabwägen. Durch das Harmonisierungsverbot kann die EU bildungspolitische Aktivitäten nur in einem begrenzten Rahmen vollziehen, weil ihr keine legislatorischen Instrumente zur Verfügung stehen. „Das Harmonisierungsverbot meint den Ausschluss jeglicher Harmonisierung in Bezug auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsländer“ (Ohidy 2009, S. 66). Allgemein gesehen, brauchen europäische Rechtsakte keinen nationalen Umsetzungsakt mehr. Sollten die Rechte mit den nationalstaatlichen Rechten kollidieren, so hat das Europarecht Anwendungsvorrang, weil es hierarchisch höher verordnet ist. In Deutschland liegt die letzte Entscheidung dennoch beim Bundesverfassungsgericht, wenn das Europarecht dem deutschen Recht entgegen steht (vgl. ebd.).

Obwohl die EU keine eigenen bildungspolitischen Befugnisse in sich vereint, kann dennoch ein zunehmender Einfluss auf die einzelnen Bildungspolitiken der Mitgliedsstaaten beobachtet werden. Durch finanzielle Mittel, wie den Europäischen Sozialfond, der nur gewährt wird, wenn bestimmte Auflagen erfüllt sind, kann die EU indirekt Einfluss nehmen, da die Länder ihre nationalen bildungspolitischen Entwürfe an internationale Vorgaben anpassen müssen (vgl. ebd., S. 67). Außerdem übt die EU einen Druck durch internationale Vergleichsstudien, Bildungsberichte und die Offene Koordinierungsmethode (OMC)[2] aus. Die hierarchische Darstellung der Ergebnisse der Leistungsvergleichsstudien erzeugt einen gewissen Anpassungsdruck, da sie den Erfolgen oder Missständen besonderen Nachdruck verleihen. Die Offene Koordinierungsmethode soll die Bildungspraxis der einzelnen Mitgliedsstaaten der EU respektieren und einen Vergleich ermöglichen, um eigene Stärken und Schwächen erkennen zu können. Die Methode an sich baut auf insgesamt 4 Elemente (vgl. Ohidy 2009, S. 83): Zunächst sollen gemeinsame politische Leitlinien formuliert werden. Die Nationen verpflichten sich dazu, einen konkreten Plan von Aktionen zu entwickeln. Diese werden dann innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zusammen bewertet und jedes Land muss Indikatoren und Benchmarks erarbeiten, um die Umsetzung der politischen Ziele kontrollieren zu können. Somit koordiniert und steuert die EU selbst in dem sensiblen Politikbereich der Bildungspolitik, ohne die Mitgliedsstaaten in ihrer Souveränität zu beschränken.

„Das permanente gemeinsame Monitoring und die gemeinsame Verpflichtung mit anderen Staaten […] bewirken, dass die einzelnen Staaten sich an das gesteckte Ziel annähern“ (ebd., S. 68).

Weiterhin gibt es Aktivitäten der EU, die symbolischen Charakter haben und als Appell zu verstehen sind. Hierunter fällt zum Beispiel das Ausrufen des Jahres lebensbegleitenden Lernens 1996.

An der Ausarbeitung bildungspolitischer Konzepte der EU sind vor allem vier Organe beteiligt: der Europäische Rat, der Rat der Europäischen Union, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der einzelnen Länder zusammensetzt, fungiert dabei als Impulsgeber und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen fest. Er „verabschiedet also allgemeine Leitlinien“ (ebd., S. 70). Der Rat der Europäischen Union bildet zusammen mit dem Europäischen Parlament das zentrale Entscheidungsorgan. Und die Europäische Kommission besitzt mehrere Funktionen:

„Sie ist an der Legislative insofern beteiligt, als sie über Initiativrecht verfügt und dem Rat sowie dem Europäischen Parlament Gesetzesakte vorschlägt, die diese wiederum beschließen. Im Bereich der Exekutive werden von der Kommission verbindliche Durchführungsbeschlüsse getroffen. Schließlich wacht sie als so genannte Hüterin der Verträge über die Anwendung des Vertragsrechtes und leitet bei Verstößen entsprechende Schritte ein“ (Schemmann 2007, S. 108).

3.2 Das Subsidiaritätsprinzip

Das Subsidiaritätsprinzip bildet auf europäischer Ebene die Basis aller bildungspolitischen Entscheidungen.

„Es basiert auf der Überlegung, dass das, was der Einzelne nicht aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gemeinschaft übertragen werden darf, sondern dass diese vielmehr im Bedarfsfall dazu verpflichtet ist, dem Individuum bzw. dem Nationalstaat Hilfe zu leisten“ (Bohlinger 2008, S. 34).

Im Grunde umfasst diese Regelung sowohl die Verpflichtungen der gesamten EU gegenüber den einzelnen Staaten, als auch das Verbot vorschnell einzugreifen, wenn das einzelne Land die benötigten Kompetenzen besitzt, sich selbst eines Problems annehmen zu können. Für die Bildungspolitik gilt, dass die Gemeinschaft weder dazu befugt ist, Bildungsziele oder Bildungsinhalte zu diktieren, noch darf sie Einfluss auf die Gestaltung der Bildungslandschaften der Teilnehmerstaaten nehmen.

„Der Begriff der Subsidiarität gehört im Konzept der Diskussion um einen europäischen Bildungsbegriff zu den Kernbegriffen der berufsausbildungspolitischen Diskussion, weil die Interpretation dieses terminus technicus die politischen Rahmenbedingungen definiert, innerhalb derer politisches Handeln auf europäischer Ebene möglich bzw. nicht möglich ist. Aus der Sicht der Kommission bedeutet das Prinzip der Subsidiarität insofern die Definition berufsausbildungspolitischer Handlungspotentiale, während aus der Sicht der Mitgliedstaaten die Definition der Subsidiarität vornehmlich als Mittel zur Definition der nationalstaatlichen Handlungsautonomie fungiert“ (Lipsmeier/Münk 1994, S. 29f.).

3.3 Wirksamkeit politischer Strategien

Um die Wirksamkeit politischer Strategien der EU zu messen, wird meist geprüft, inwieweit die EU politischen Einfluss auf nationalstaatlichen Maßnahmen hat.

„Für eine korrekte Messung des Impact von Maßnahmen und Strategien zur Umsetzung von Zielen wie z.B. bei den Lissabon-Zielen reicht […] eine Übereinstimmung von Maßnahmen und Richtlinien nicht aus, sondern es muss zudem nachweisbar sein, dass die Maßnahmen tatsächlich und ausschließlich in Folge der Richtlinien ergriffen wurden. Hier liegt eines der Kernprobleme der Wirksamkeitsanalyse politischer Strategien und Prioritäten“ (Bohlinger 2007, S. 11).

Um die Umsetzung ihrer Ziele durch die Mitgliedstaaten dennoch relativ genau verfolgen zu können, wurde die OMC eingeführt. Dabei werden entsprechende Zielvorgaben in Leitlinien festgesetzt und für die jeweiligen Nationen wird ein detailierter Umsetzungsplan erstellt. Durch regelmäßige Evaluation und Monitoring wird demnach die Einhaltung der Zielsetzungen geprüft. Zugleich können die einzelnen Staaten ihr Vorankommen und ihre Erfolge bei der Umsetzung untereinander vergleichen und bewerten.

„Zur Bewertung wird dabei die Methode des Vergleichs in Betracht gezogen, d.h. das Benchmarking soll die Mitgliedstaaten zu besseren Leistungen bewegen. Zudem sollen sich die Nationalstaaten an jenen Ländern orientieren, die die beste Leistung erbringen […] Für diesen Zweck werden jährliche Berichte veröffentlicht und an den Europäischen Rat weitergeleitet. Auf diese Weise soll ein europaweiter Lernprozess der Mitgliedstaaten gefördert werden, durch den die Gemeinschaft eine stärkere Koordinationsfunktion übernehmen würde“ (ebd., S. 12).

Grundsätzlich lässt sich dieses Prinzip mit den Lernstanderhebungen und Leistungsvergleichen wie z.B. PISA in Verbindung setzen. Der Vergleich mit anderen steht im Vordergrund, damit die Staaten einschätzen können, wo sie stehen und welcher Handlungsbedarf sich daraus ergibt.

Die EU gibt in der Berufsbildungspolitik klare Zielsetzungen vor und durch die Motivation der einzelnen Länder, besser zu sein als die jeweils anderen, prüft jede Nation stetig den eigenen Fortschritt der Umsetzung und erarbeitet neue Umsetzungsstrategien. Das System lebt also von dem Vergleich mit anderen und dem Anspruch besser zu sein als der Nachbarstaat. Durch dieses Streben findet eine dauerhafte Evaluation statt und die nationalstaatlichen Maßnahmen können direkt auf die europäischen Leitlinien zurückgeführt werden.

3.4 Lissabon – Kopenhagen – Maastricht – Helsinki

Die europäische Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung hat durch gemeinsame Sitzungen, wie in Lissabon und Kopenhagen, deutlich an Dynamik gewonnen. Die wichtigsten Themen der politischen Initiativen sind „ dabei die Zertifizierung, Transparenz und Übertragbarkeit von Qualifikationen“ (Bohlinger 2008, S. 36). Um die Ausrichtung der europäischen Berufsbildungspolitik sowie die daraus resultierenden Strategien verstehen zu können, muss die geschichtliche Entwicklung der Zusammenarbeit explizit betrachtet werden. Im Gipfel von Lissabon verständigten sich die europäischen Staaten darauf, die Investitionen in das lebenslange Lernen zu erhöhen und insgesamt auch effizienter einzusetzen. Weiterhin wurde hier die berufliche Bildung als strategisches Ziel anerkannt. Im März 2002 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in Barcelona, wo das Programm Allgemeine und berufliche Bildung 2010 verabschiedet wurde, „das dazu beitragen soll, die europäischen Bildungssysteme der allgemeinen und beruflichen Bildung zu einer weltweiten Qualitätsreferenz zu machen. In den Schlussfolgerungen dieses Treffens wurden zudem Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung gefordert, um die Transparenz von Qualifikationen und eine engere Kooperation zwischen den beteiligten Akteuren zu fördern“ (ebd., S. 37).

In der Kopenhagener Erklärung vom November 2002 wurden die Verbesserung der Qualität und die Förderung der Attraktivität der beruflichen Bildung als politische Ziele für Europa definiert. Damit steht sie in unmittelbarer Beziehung zu der Lissabon-Strategie. Die Erklärung zeigt die Verbindlichkeit europäischer Bildungspolitik und zugleich ihre Dynamik (vgl. Rauner et al. 2006, S. 7). Um das vorrangige Ziel der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit Europas zu erreichen, werden „berufliche Bildung und lebenslanges Lernen damit zu zentralen Elementen der europäischen Politikstrategien“ (Bohlinger 2008, S. 38). Die konkreten Ziele der Kopenhagener Erklärung im Bereich der Bildung umfassen (vgl. ebd., S. 38f.):

- die Entwicklung eines einheitlichen Konzepts zur Förderung der Transparenz von Qualifikationen und Kompetenzen
- die Verbesserung der Transparenz in der beruflichen Bildung unter Einbeziehung bereits bestehender Instrumente wie dem europäischen Lebenslauf und dem Europass
- die Qualitätssicherung aufgrund von gemeinsamen Qualitätskriterien für die berufliche Bildung
- die Entwicklung eines europäischen Leistungspunktesystems und die Entwicklung von gemeinsamen Bezugsniveaus und Zertifizierungsgrundsätzen, um die Vergleichbarkeit, Transparenz und Anerkennung von Qualifikationen zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern
- sowie die Validierung informellen und non-formalen Lernens

Allgemein lassen sich also drei wichtige Handlungsfelder erkennen: die Förderung von Transparenz, sowie die Anerkennung von Qualifikationen und die Qualitäts­sicherung in der beruflichen Bildung. Weiterhin wurden drei Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit den Themen Qualitätssicherung, Transparenz und Leistungspunktesystem befassen und Anfang 2003 ihre Arbeit aufnahmen.

In dem Folgebeschluss zur Kopenhagener Erklärung, dem Maastricht-Kommuniqué, wurde im Dezember 2004 die forcierte Zusammenarbeit zur Modernisierung der europäischen Berufsbildungssysteme durch die Bildungsminister der Mitgliedstaaten festgehalten. Außerdem sieht es konkrete Pläne und Maßnahmen für die europäische Umsetzung des EQR und des ECVET vor (vgl. ebd., S. 40). Da die Europäische Union im Jahre 2005 deutlich unzufrieden mit der Umsetzung der Ziele der Lissabon-Strategie war, wurde im Kommuniqué von Helsinki nochmals die Rolle der beruflichen Bildung herausgestellt. Demnach ist sie ein zentraler Faktor zur Erreichung der Wettbewerbsfähigkeit. Darüber hinaus wurde die weitere Umsetzung der Lissabon-Strategie beschlossen, deren Schwerpunkte die Steigerung der Attraktivität, sowie des Stellenwertes der Berufsbildung und die Weiterentwicklung bzw. Erprobung gemeinsamer europäischer Instrumente sind.

[...]


[1] http://bundesrecht.juris.de/bbig_2005/__1.html

[2] Open Method of Coordination

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783863417048
ISBN (Paperback)
9783863412043
Dateigröße
601 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,5
Schlagworte
europäische Bildungspolitik Berufsbildung Qualifikationsrahmen Leistungspunktesystem Europa Bildung

Autor

Thomas Lauszus, geboren 1983 in Karl-Marx-Stadt, jetzt Chemnitz, ist Zeitsoldat bei der Bundeswehr und studierte Bildungs- und Erziehungswissenschaften mit den Schwerpunkten Berufliche Bildung und Beratungspsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, wo er im Jahr 2011 den Bachelorabschluss erlangte. Während des Studiums absolvierte er zwei Praktika bei Bildungsträgern, in denen er sich verstärkt mit der Umsetzung nationaler Bildungspolitik befasste. Diese Praktika sind die Grundlage seiner Masterarbeit.
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