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Begabung und Förderung in der Musikerziehung: Ist musikalische Begabung angeboren oder erlernbar?

©2011 Bachelorarbeit 52 Seiten

Zusammenfassung

Wer kennt das nicht? Man wohnt einem Konzert bei und bemerkt die unterschiedliche Art und Weise, wie zwei Pianisten ihre Stücke spielen und präsentieren. An dieser Stelle treten Erklärungsversuche ein, die zumeist sehr objektiv sind. Vielleicht das Alter und die damit einhergehende Erfahrung, oder auch der Zeitraum, in dem ein Instrument schon gespielt wird, sowie die Schwierigkeit des Stückes könnten eine Rolle spielen oder auch der Einfluss des Lehrers, der sein Wissen und seine Fertigkeiten an den Schüler im besten Fall weitergibt. Doch selbst wenn diese objektiven Unterschiede nicht eintreten würden, beide Pianisten dementsprechend beim selben Lehrer, die selbe musikalische Entwicklung in dem gleichen Zeitraum gemacht hätten, folglich alle möglichen objektiven Einflüsse identisch sind, wird dem aufmerksamen Zuhörer wohl immer noch ein Unterschied zwischen diesen Pianisten auffallen.
Die Suche nach einer Begründung für dieses Phänomen endet meist in Äußerungen, die mit einer ‚musikalischen Begabung’ argumentieren. In Ableitung hierzu kann festgehalten werden, dass es scheinbar Fertigkeiten gibt, welche nicht erlernbar, sondern dem Menschen von Geburt an ‚in die Wiege gelegt’ worden sind. An dieser Stelle könnte man vielen pädagogischen Bemühungen der musikalischen Förderung abdanken, da sie dieser Theorie nach ausweglos erscheinen.
Ist die musikalische Begabung wirklich nur angeboren, oder spielen bei ihrer Entfaltung auch andere Faktoren eine Rolle und ist es deswegen auch möglich einen bestimmten Grad der Begabung, also bestimmte Fertigkeiten durch Übung, zu erlangen?
Das sind Fragen, die sich in der Begabtenforschung aus einem starken Dualismus zwischen Anlage und Umweltbedingungen ergeben. Wenn auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen, bekommt der Begriff der Förderung in dieser Diskussion eine neue Bedeutung. Wieso kommt der musikalischen Früherziehung und der damit einhergehenden gezielten Förderung musikalischer Fertigkeiten eine stetig wachsende Bedeutung zu? Welchen Zusammenhang hat diese Tatsache mit den Überlegungen aus der Begabtenforschung? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der musikalischen Begabung und der musikalischen Früherziehung und wenn ja, wie kann dieser im Einzelnen aussehen?
Diesen und anderen Fragen widmet sich diese Arbeit mit dem Ziel, nicht nur das Feld der Begabtenforschung genau zu beleuchten, sondern auch jene Erkenntnisse mit der musikalischen Früherziehung in Verbindung zu bringen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Begabung - musikalische Begabung – Begriffs- und Gegenstandsbestimmung

2.1. Was versteht man unter Begabung

Der Terminus Begabung birgt auf Seiten der Definition eine Komplexität in sich, die je nach Wissenschaftsgebiet, gemeint sind in diesem Fall Pädagogik, Musikwissenschaft und Psychologie, und deren Ziele unterschiedliche Schwerpunkte setzt. Es ist in der Literatur schier unmöglich eine einheitliche Begriffsbestimmung zu finden. Im Bedeutungswörterbuch des Dudens wird unter Begabung eine natürliche Anlage, eine angeborene Befähigung zu bestimmten Leistungen gesehen (DUDEN 2010: 187). Hier wird auch auf die synonyme Verwendung des Begriffes Intelligenz verwiesen[1]. In der vorliegenden Arbeit sollen diese Begriffe getrennt von einander verwendet werden. Da die Verwendung eines Begriffes sehr stark vom Verwendungszusammenhang und theoretischer Bezugsbasis abhängig ist, lassen sich Unterschiede in Bezug auf die Definitionen jenes Begriffes kaum vermeiden. Trotz dieser Differenzen, die sich im Verständnis rund um die Diagnostik und Definition von Begabung in der Literatur oftmals bemerkbar machen, erkennt man in allen Ansätzen die Tendenz, dass die besagte begabte Person, bestimmte Fähigkeiten besitzen muss, die in einem oder mehreren Bereichen extrem über dem Durchschnitt liegen, gemessen an Altersgenossen.

"Wenn man von einem Menschen sagt, er sei begabt, so bescheinigt man ihm in verschiedener Hinsicht Auffälligkeit. [...] Mühelosigkeit offenbart sich im Tun des Begabten. Dinge, die sich andere mit Anstrengungen aneignen müssen, derer sie vielleicht nie in vollem Umfang teilhaftig werden, fallen ihm zu" (Motte- Haber 1984: 104).

Motte- Haber spricht hier ein zentrales Bewusstsein an. Unzweifelhaft kann auch jemand mit viel Übung und Anstrengung ein bestimmtes Niveau oder Ziel erreichen, doch macht sich eine Begabung eben durch das Erreichen eines Ziels ohne jegliche Anstrengung bemerkbar, in einem Wort durch Mühelosigkeit. Begabung ist demnach ein positives Merkmal, eine "positiv bewertete Abweichung" (Motte- Haber 1984: 104).

Welche Dinge jemandem "leicht fallen", hängt natürlich davon ab, welche Fähigkeit oder Anlage eine begabte Person besitzt. Mit Fähigkeit im Allgemeinen ist eine: „geistige, praktische Anlage, die zu etwas befähigt“ und die „Voraussetzung, die neben der Motivation zur Leistungserbringung erforderlich ist (Leistung = Motivation · Fähigkeit)“, gemeint. „Fähigkeiten können sowohl angeboren (Begabungen) als auch erworben (Fähigkeiten) sein und variieren nach dem Grad ihrer Ausprägung von Person zu Person."[2] Diese Notwendigkeit der Spezifizierung einer Begabung zweckentfremdet den Versuch einer allgemeinen Definition von Begabung. Betrachtet man nun das Wort Begabung an sich, wird schnell deutlich, welche Probleme bei der Definition dieses Begriffes mitschwingen. Begabung deutet auf etwas "Gegebenes" hin, auf eine Gabe, die in der äußersten Definition sogar als von Gott gegeben angesehen werden kann (vgl. Hemming 2002: 13). Hieran wird das Kernproblem der ‚Begabung‘ deutlich. Wieso ist ein Mensch begabter als ein anderer? Ist eine Begabung angeboren oder sogar erlernbar? Diese und viele andere Fragestellungen treten unweigerlich auf, wenn es um die Bestimmung von Begabung geht. Im Laufe meiner Arbeit werde ich dieses näher beleuchten.

An dieser Stelle sei zunächst einmal, auch der Vollständigkeit halber, kurz auf den Unterschied zu dem Begriff der Hochbegabung hingewiesen.

"Hochbegabung meint die intellektuelle, d.h. eine besondere geistige Befähigung auf allen Gebieten “ (Billhardt 1997: 65).[3] Die gebräuchlichste Methode, um Hochbegabung zu diagnostizieren, ist die des Intelligenztestes. Auch an dieser Stelle wird der wichtige und unvermeidliche Zusammenhang von (Hoch)Begabung[4] und Intelligenz deutlich. Gewiss ist, dass mit Hochbegabung eine sehr hohe Intelligenzausprägung gemeint ist, die in Zahlen, dem Intelligenzquotienten, ausgedrückt werden kann. Man spricht von "hochbegabt" bei einem IQ von 130 und mehr (vgl. Götting 2006: 33). Allerdings verhält es sich mit dieser Definition ähnlich wie mit der Definition von Begabung. Eine einheitliche Definition von Hochbegabung fehlt, was nicht letzten Endes mit der Tatsache zusammenhängt, dass auch eine Hochbegabung individuelle Ausprägungen hat und nicht alle Hochbegabten eine bestimmte Anzahl von Fähigkeiten aus verschiedenen Bereichen besitzen, sondern dass auch diese Fähigkeiten variieren können.[5] Resümierend kann festgehalten werden, dass Definitionen, Modelle und Konzepte rund um Begabung und Hochbegabung sich allein schon zwecks des ähnlichen Untersuchungsgegenstandes ähneln und, dass dadurch eine Abgrenzung der beiden Begriffe nicht einfacher zu werden scheint. Hemming schreibt hierzu: „ Mit Hilfe dieser Begriffe [gemeint sind hier Hochbegabung und Spitzenbegabung] wird das allgemeine Konzept von Begabung weiter ausdifferenziert“ (Hemming 2002: 22).[6]

Mit dieser Aussage wird deutlich, dass Begabung und Hochbegabung zwar begrifflich zu trennen sind und in keinem Fall synonym verwendet werden sollten, aber ihnen verwandte Forschungsbemühungen inne wohnen.

Neben der nahe liegenden Unterscheidung zwischen Begabung und Hochbegabung soll im Kommenden der Zusammenhang zwischen Begabung und Leistung verdeutlicht werden. Unangefochten ist die Trennung zwischen Begabung und Leistung. Dies macht dieses Begriffspaar aber nicht weniger bedeutend. Die Frage, ab wann jemand begabt oder sogar hochbegabt ist, bleibt auch nach vorangehenden Definitionsansätzen und Andeutungen auf mögliche Testverfahren[7] offen. Meint Begabung, die Fähigkeit, die jemanden dazu befähigen würde auf einem bestimmten Gebiet etwas leisten zu können? Oder spricht man erst von Begabung, wenn jemand eine Leistung, die zum Beispiel über dem Durchschnitt liegt, erbracht hat? (vgl. Freund- Braier 2001: 20). Gewiss kann gesagt werden, dass eine Begabung in keinem Fall die Leistung ist, die eine Person unter größter Anstrengung erbringen würde. Ferner darf Begabung auch nicht mit Leistung gleichgesetzt werden, doch ist nicht zu verachten, dass Begabung diesen Begriff impliziert. Richtet man sich nach dem Alltagsverständnis von Begabung, kann man die Behauptung aufstellen, dass Begabung sich immer durch eine bessere Leistung im Vergleich zu Altersgenossen definieren lässt. Man schließt also "aus Grad der vorhandenen [...] Leistungen auf den Umfang des individuellen Potentials an [...] Begabung" (Gembris 2010: 67). Ein Grundproblem der Begabtenforschung bleibt, dass Begabung niemals unmittelbar erfasst oder gemessen werden kann, auch wenn es unzählige Versuche gibt einen Test zur Messung dieser oder der Intelligenz aufzustellen. Ein Rückschluss auf eine Begabung ist immer nur im Zuge der bisher erbrachten Leistung möglich. Deswegen lässt sich in der Theorie der Begabung auch keine eindeutige Antwort auf das Begabung- Leistungsproblem finden. Vielmehr stehen sich beide Möglichkeiten, Begabung als inne wohnende Fähigkeit und Begabung als Leistung, in Modellen gegenüber.

Ungeachtet der Tatsache, ob begabt oder hochbegabt, lassen sich zwei Richtungen festlegen. "(Hoch)Begabung als Leistung" und "(Hoch)Begabung als Disposition". Ersteres setzt das Kriterium der Beobachtbarkeit voraus, letzteres bezieht sich auf die Anlage, die sich nicht zwangläufig im Verhalten manifestieren muss. In der Literatur stößt man in diesem Zusammenhang auch oft auf die zur Differenzierung verwendeten Begriffe Potenz, damit ist die zugrunde liegende Begabung gemeint und Performanz, die in Leistung umgesetzte Begabung (vgl. Freund- Braier 2001: 21, Hervorhebungen durch den Verfasser).[8]

Abschließend für dieses Kapitel ist zu sagen, dass es bei der begrifflichen Klärung des Terminus Begabung unerlässlich ist das Alltagsverständnis neben den Versuchen wissenschaftlichen Definierens einzubeziehen, um den Praxisbezug, der gerade durch das rationale Einordnen und Eingrenzen von Begriffen verloren geht, zu wahren. Ohne den wissenschaftlichen Bezug wiederum gäbe es kein Fundament, auf welches sich die Forschung stützen könnte. Beide Herangehensweisen, ob wissenschaftlich oder über das Alltagsverständnis, ergeben zusammen eine vollständige Basis, mit der in der Pädagogik umgegangen werden kann. Diese Basis ist Grundlage für einen adäquaten Umgang mit Begabung in der Praxis.

Da die Begabtenforschung nicht nur im deutschsprachigen Raum Vertreter findet und das "voneinander profitieren" beider Seiten Gang und Gäbe ist, kann es durchaus hilfreich sein, sich die Begriffsverwendungen im angloamerikanischen Raum zu Gemüte zu führen. Da diese Begriffe für meine Arbeit keine Relevanz haben, befindet sich hierzu ein Abschnitt im Anhang. (→ Anhang: angloamerikanische Begriffsverwendung)

2.2. Musikalische Begabung und Musikalität

Wie schon angedeutet kann Begabung auf den verschiedensten Gebieten auftreten. So auch auf der Ebene der Musik. Im Folgenden soll daher näher auf die musikalische Begabung und deren begriffliches Umfeld eingegangen werden.

Zu Beginn dieses Abschnittes möchte ich auf das schon angesprochene Alltagsverständnis eines Begriffes zurückkommen. Denn zweifelsohne stellt sich auch hier die Frage, wie musikalische Begabung und Musikalität außerhalb des wissenschaftlichen Fundus verstanden werden. Das Alltagsverständnis dieser beiden Begriffe setzt sich aus einer weiten Spanne zusammen. Es lässt sich wohl kaum in ein paar Sätzen zusammenfassen. Jeder Mensch hat wohl seine eigene Vorstellung vom "musikalisch sein". Trotzdem lassen sich vier grobe Richtungen in den Beschreibungen dieser Begriffe erfassen: Erlebnisfähigkeit, (damit ist das Musikempfinden/- nachempfinden und der Sinn für Musik gemeint) musikpraktische Fähigkeiten (hierzu gehören z.B. Lieder singen, Rhythmus haben, Musik gestalten), kognitive Fähigkeiten (Musik und Noten gut lernen können) und einen allgemein- musischen Bereich (z.B. kreativ sein) (vgl. Gembris 2002: 24). Sicherlich ist das Alltagsverständnis nicht belanglos, vor allem für die Praxisrelevanz, doch die alleinige Beschäftigung mit Begriffen über das Alltagsverständnis reicht nicht aus, um den Versuch des Absteckens jener Begriffe zu unternehmen. Deswegen soll im Folgenden dargestellt werden, welche wissenschaftlichen Definitionen für den Begriff der musikalischen Begabung unternommen wurden.

"Der Begriff >musikalische Begabung< ist ein theoretisches Konstrukt, dass die individuelle unterschiedliche Disposition oder Kapazität zur Entwicklung musi kalischer Fähigkeiten meint und zur Erklärung von Unterschieden in musikalischen Fähigkeiten herangezogen wird" (Gembris 2010: 67, Hervorhebungen durch den Autor).

Die musikalische Begabung meint demnach zunächst einmal die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gebiet, hier zur Musik gehörend.

Anknüpfend erscheint es sinnvoll, erstmal zu klären in welchem Verhältnis die angeführten Begriffe "musikalische Begabung" und "Musikalität" stehen.[9] Dieses Vorhaben stellte sich im Laufe des Erarbeitens als nicht so einfach heraus, denn durch die oftmals äquivalente Benutzung der Begriffe, zeichnen sich Definitionen in der Literatur oftmals durch Willkürlichkeit aus (vgl. Gembris 2002/: 62). Ähnlich wie es in der Psychologie keinen einheitlichen Begabungsbegriff gibt, findet auch der Musikalitätsbegriff keine einheitliche Verwendung.

"Musikalität" meint, in der Literatur oftmals nichts anderes als "musikalische Begabung".[10] Dessen ungeachtet können Unterschiede festgestellt werden. Hemming ist der Ansicht, dass "...die neutralste Form, um eine Vorstellung von Begabung zu evozieren, [...] mit Hilfe der Begriffe Musikalität oder musicality" erfolgt (Hemming 2002: 19). Somit steht der Begriff auch der Anlage- Umwelt Debatte neutraler gegenüber und wird nicht so stark dem Vererbungsaspekt zugeordnet. Allgemein kann man von einer weit verbreiteten Musikalität und einer hohen musikalischen Begabung ausgehen (vgl. Abel- Struth 1985: 158). Im Alltagsverständnis kann ein Mensch zwar musikalisch sein, das beinhaltet aber noch nicht notwendiger Weise eine Begabung auf dem Gebiet der Musik. Dem Begriff der musikalischen Begabung kann also nachgesagt werden, dass er irrtümlicher Weise nur zwischen dem Alternativmerkmalen begabt und unbegabt unterscheidet (vgl. Motte- Haber 1984: Seite). Indessen lässt der Musikalitätsbegriff mehr Bedeutungsnuancen zu.[11] Unterstützt wird diese Ansicht daher das Musikalität zunächst einmal ein Persönlichkeitsmerkmal ist, welches zweifelsohne unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Es ist also sinnvoll zwischen Musikalität und musikalischer Begabung zu unterscheiden.[12]

Aus den vorangehenden Definitionen war immer zu erkennen, dass sich der Begabungsbegriff "auf das individuelle Fähigkeitspotential fokussiert" (Heller 2004: 9).

"Musikalische Begabungen oder Talente bezeichnen außergewöhnliche Fähigkeiten im Bereich der Musik, die freilich sehr unterschiedliche Facetten in dieser Domäne repräsentieren können" (Heller 2004: 9).

Welche "musikalischen" Fähigkeiten gemeint sind, ist in der Literatur unterschiedlich. Abhängig vom zeitlichen Kontext und dem Definitionsverständnis, könnte man an dieser Stelle nur eine exemplarische Liste erstellen. Dies soll sich im Verlauf dieses Kapitels durch den Vergleich der unterschiedlichen Auffassungen über Musikalität und dem zeitlichen Kontext zutragen.[13] Die Fragen nach: Wer ist musikalisch? Und welche Fähigkeiten gehören dazu? werden seit Beginn der Musikalitätsforschung diskutiert. Die historischen Wurzeln der Musikalitätsforschung liegen in musikpädagogischen und musikästhetischen Schriften des frühen 19. Jahrhunderts.[14] Das früheste in der Literatur zu findende Beispiel, ist der Aufsatz "Über die Prüfung musikalischer Fähigkeiten" von Christian Friedrich Michaelis, der 1805 in der Berlinischen Musikalischen Zeitung erschien. Dieser Artikel beinhaltet die Beschäftigung mit musikalischen Merkmalen und deren detailliere Darstellung, sowie das Zusammenfügen dieser Merkmale mit entwicklungspsychologischen Beobachtungen. Ziel war es eine Lösung für das Problem der frühzeitigen Erkennung von musikalischer Begabung zu finden. Dies beweist auch, dass von Beginn an in der Begabtenforschung über Findung und Förderung nachgedacht wurde. Exemplarisch möchte ich an dieser Stelle nur einige Merkmale aus diesem Aufsatz nennen. Michaelis zählt unter anderem zu den musikalischen Merkmalen: das Wiedererkennen von gehörten Tönen und Melodien; das musikalische Gedächtnis; den Grad der Leichtigkeit, Genauigkeit und Feinheit, mit der etwa eine Melodie nachgesungen oder nachgespielt werden kann; musikalische Einbildungskraft; und musikalischen Geschmack (vgl. Gembris 2002: 68). An dieser Stelle ist von Bedeutung, dass diese Merkmale, nach dem Verständnis von Michaelis anhand des Grades der Ausprägung Hinweise auf die Stärke der musikalischen Begabung geben können. Dies ist in Hinblick auf die heutige Begriffsunterscheidung von musikalischer Begabung und Musikalität wichtig.[15] Der Unterschied zwischen einem musikalischem Menschen und einem musikalisch begabten Menschen wird durch die Zuteilung von Nuancen und durch die Chance der Bestimmung eines bestimmten Ausprägungsgrades gewährleistet.[16]

Des Weiteren sollen zwei Autoren exemplarisch für das Verständnis von Musikalität Ende des 19. Jahrhunderts und Beginn des 20. Jahrhundert stehen. Den ersten umfassenden Versuch, die Merkmale eines musikalischen Menschen zu umschreiben, unternahm Theodor Billroth. Er markiert mit seinem Buch "Wer ist musikalisch" den Beginn einer (natur-) wissenschaftlich fundierten Musikalitäts- und Begabtenforschung. Seine nachgelassene Schrift stellt den umfassenden Versuch dar, die Merkmale und Fähigkeiten eines "musikalischen" Menschen zu beschreiben, um das Wesen der Musikalität darzustellen (vgl. Gembris 2002: 31). In der Literatur viel zitiert, ist ein Ausschnitt aus dem Vorwort seines Buches:

"Wer ist musikalisch?[...]wie compliziert (sic!) ist dieser Begriff! Der eine hat vorwiegend rhythmisches Talent und Empfindung [...], der andere hat vorwiegend melodisches Talent [...]; wieder ein anderer erscheint musikalisches durch ein eminent technisches und mechanisches Talent [...]); wieder ein anderer erscheint musikalisch durch eine Übertragung seines intensiven Temperamentes im dramatischen Ausdruck [...]; wieder ein anderer durch kolossales Tonformen und Rhythmus gedächtnis; wieder ein anderer durch Hingabe an die sinnliche Gehörswirkung usw. - In mir ist alles Chaos" (Hanslick 1912: 3).

Diese Worte, die eigentlich in einem Brief an seinen Freund und Kollegen Hanslick gerichtet waren, zeigen nicht nur wie vielfältig der Begriff der Musikalität schon von Beginn an war, sodass der Autor selbst nicht wusste diesen Begriff in einem zu beschreiben, sondern es wird auch deutlich, dass sich das Verständnis, was denn schlussendlich zum musikalisch sein gehört, nicht wesentlich geändert hat. Egal in welchem Zusammenhang Billroth, ob auf der Ebene des Rhythmus, als ein mit unserem Organismus verbundenes Element, über die Beziehung der Tonhöhen oder über den Zusammenhang der Musik mit anderen Künsten, den Versuch unternimmt das Wesen von Musikalität zu benennen, schließt er immer nur rezeptive Fähigkeiten mit ein. Dabei bildet, nach heutigem Wissen, auch der produktive Teil einen wesentlichen Bestandteil von Musikalität. Diesen, bei Billroth unbeachteten, produktiven Teil versucht etwas später (1926) der Mediziner Johannes von Kries, mit dem gleichnamigen Buchtitel "Wer ist musikalisch", auf Basis inzwischen neu gewonnener wissenschaftlicher Erkenntnisse der Psychologie und Sinnespsychologie, zu erörtern. Er bezeichnet verschiedene Typen der Musikalität und ihre signifikanten Merkmale (vgl. Gembris 2002: 67). "So unterscheidet v. Kries produktive und rezeptive Musikalität sowie intellektuelle und gefühlsmäßige Musikalität." (Gembris 2002: 76). Diese verschiedenen Typen sind nach Meinung von v. Kries als unabhängig voneinander zu betrachten.[17] Die Frage, die sich im Zusammenhang mit diesen zwei etwas älteren Ansichten zu Merkmalen der Musikalität anlehnt, ist, welche Ziele die beiden genannten Autoren im Gegensatz zum heutigen Verständnis verfolgen. Billroth und v. Kries stellen im Wesentlichen Beobachtungen und Reflexionen bezüglich der Wirkung von Musik auf und befassen sich mit der Psychologie einzelner Betätigungen, um daraus verschiedene Merkmale abzuleiten (vgl. Gembris 2002: 32).[18]

Für die etwas neueren Musikalitätsauffassungen soll im Folgenden ein Autor exemplarisch dargestellt werden. Verinnerlicht werden sollte dennoch, dass jeweils gesellschafts- und kulturpolitische Strömungen den Begabungsbegriff und auch die Auffassung von Merkmalen der Musikalität beeinflussen. Shuter- Dyson fasst nun nachstehende fünf Fähigkeitsbereiche der Musikalität zusammen: tonale (z.B.: Tonhöhenwahrnehmung, Harmonie hören, Tonalität beim Singen einhalten), rhythmische (z.B.: Nachklopfen und Strukturierung von Melodien), kinästhetische (damit sind motorische Leistungen beim Instrumentalspiel und Singen gemeint), ästhetische (Unterscheidung von "gut" und "schlecht" dargebotener Musik/ Verständnis Tiefe) und kreative (Improvisieren und Komponieren) (vgl. Oerter/Lehmann 2008: 92f). Beim genauen Hinschauen wird die grundlegende Ähnlichkeit zu den Überlegungen Billroths sichtbar. Denn auch er fand schon heraus, dass das musikalisch sein eher "compliziert" als einfach ist. Die Vielfältigkeit des "musikalisch sein" steht bis heute im Mittelpunkt und gewiss ist, dass ein musikalischer Mensch nicht in allen Bereichen ein "Ass " sein muss, um musikalisch oder gar begabt zu sein. Heutige Musikalitätsforschungen hängen zudem eng mit der Entwicklungsforschung zusammen. An dieser Stelle sei dies nur kurz erwähnt, da im zweiten Abschnitt meiner Arbeit näher auf die musikalische Entwicklung eingegangen werden soll.

Heiner Gembris verweist darauf, dass Musikalität keine feste Größe ist, sondern evolutionären Wandel unterworfen bleibt. "Historisch- kultureller Wandel in der Musik ist verbunden mit historisch- kulturellem Wandel in musikalischen Kompetenzen und Fähigkeiten" (Gembris 2002: 84). Auf Grund dessen und der Tatsache, dass ferner noch ästhetische Standpunkte und Bewertungen eine Rolle spielen, ist der Musikalitätsbegriff und die mit ihm verbunden Merkmale vom "musikalisch sein" so schwer zu fassen (vgl. Gembris 2002: 84).

Insgesamt kann gesagt werden, dass sich die Vorstellung vom "musikalisch sein" und die Versuche, dieses in Merkmalen zu beschreiben zwar auf Grund der genannten Unterschiede der jeweiligen Jahrhunderte und deren gesellschaftliche, kulturelle und auch politische Prägung unterscheiden, dennoch sind in den Grundzügen immer ähnliche Überlegungen zu finden. So waren Billroth und v. Kries schon darauf bedacht die verschiedenen Fähigkeiten zu beschreiben, in welchen sich musikalische Begabung äußert (z.B. musikalische Ausdrucksfähigkeit, Unterscheidungsfähigkeit von Tönen, Melodien und Rhythmus). Auf dieser Grundlage der unterschiedlichen Fähigkeiten kamen in den Anfängen des 20. Jahrhunderts Versuche zur Messung dieser Fähigkeiten hinzu, auf welche ich in einem Exkurs näher eingehen werde. Um die 1980er Jahre versuchte man theoretische Modelle zu erstellen, in denen deutlich werden sollte, dass die Fähigkeit musikalischen Sinn zu erzeugen im Mittelpunkt der musikalischen Begabung steht (Konzept der "Audiation" von Edwin E. Gordon), was dann ca. 1990 in der Expertiseforschung mündete, in der das Lernen und die Übung als neues Paradigma hinzutrat (vgl. Gembris 2010: 68).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Versuch Musikalität endgültig zu definieren und ihr eine handvoll feststehende Merkmale zuzuschreiben in Utopie endet. Musikalität wird je nach Zusammenhang oder Gebrauch und vor allen Dingen nach zeitlichem Kontext anders definiert. Einmal werden der Musikalität verschiedene Fähigkeitsbereiche (tonales Hören, rhythmisches Hören usw.) zugeschrieben, ein anderes Mal wird als Grundannahme davon ausgegangen, dass es bei der Musikalität darum ginge die Fähigkeit zu besitzen Musik im "inneren Ohr" zu hören und zu reproduzieren (Audiation bei Gordon). Wieder ein anderes Mal geht es darum, den Sinn der Musik zu erkennen (Sloboba, s. Gembris 2002: 79f; in der vorliegenden Arbeit nicht darauf eingegangen). Diese Komplexität und Unterschiedlichkeit erkannte schon Billroth. Auf Grund dessen ist es sinnvoll heute davon auszugehen, dass Musikalität oder auch musikalische Begabung "...ein Geflecht von miteinander wechselwirkenden Teilleistungen..." ist (Oerter/Lehmann 2008: 94).

Es sollte demnach nicht Ziel der Forschung sein eine endgültig festgesetzte Musikalitätsdefinition zu bestimmen, sondern es sollte vielmehr danach geschaut werden, dass Musikalität als Begriff, mit dem in vielen Bereichen umgegangen wird, auch immer in Relation zum zeitlichen Geschehen und zur jeweiligen Kultur betrachtet werden sollte.

Exkurs: Musikalitätstests

Wie im oberen Kapitel deutlich geworden, ist die Frage nach den Merkmalen der Musikalität entscheidend wichtig für die Forschung. Eng im Zusammenhang mit diesem Forschungsinteressen steht natürlich auch die Frage nach der Messbarkeit beobachteter Merkmale. In diesem Exkurs soll auf Grund dessen, auf die Entwicklung erster Musikalitätstests eingegangen werden.[19]

Zu den Musikalitätstests zählen Fähigkeits- und Leistungstests (vgl. Georgi 2010: 483). Genauer gesagt wird entweder eine Leistung geprüft, diese Tests "...beziehen sich [also] auf die Prüfung von musikalischen Fertigkeiten, die durch Unterricht erlernt wurden..." oder es wird mit einem Begabungs- oder Musikalitätstest "...das von Lernerfahrungen unabhängige, angeborene Potential an musikalischen Fähigkeiten..." gemessen (Gembris 2002: 106f).[20]

Allen liegen operationale Fähigkeitsdefinitionen zu Grunde, an denen zu erkennen ist wie Musikalität und ihre Merkmale sich in dem jeweiligen äußern (vgl. Oerter/Lehmann 2008: 90). Gembris beschriebt welche Aufgabe einem Test zukommen:

"Musikalische Begabungstests sollen ein Instrument der Diagnose sein. Sie sollen die Aufgabe erfüllen, subjektive Urteile über Grad und Ausprägung musikalischer Fähigkeiten durch ein theoretisch begründetes und auf einheitlichen Kriterien beruhendes Beurteilungsverfahren zu ersetzen bzw. zu ergänzen" (Gembris 2002: 109).

Der Anspruch eines empirisch fundierten Tests, so wie es Musikalitätstests erheben wollen, soll also zur Ergänzung zu im Alltag oder in Pädagogik aufgestellten Urteilen dienen, um diese auch auf der Ebene der Forschung zu legitimieren. Hiermit wird deutlich, und darauf verweist auch Gembris, dass Gründe für einen Test nicht nur der Forschung zu Grunde liegen, sondern auch im Gebiet der Pädagogik zu finden sind.

Mit Hilfe eines Tests wird ein empirisches Relativ (Merkmalsausprägung) in ein numerisches Relativ (Zahl) übertragen (vgl. Georgi 2010: 480, Hervorhebungen durch den Verfasser). Daneben sind bestimmte Gütekriterien von Bedeutung. Neben "Zuverlässigkeit" (Reliabilität), mit dem der statistische Wert gemessen wird und geprüft wird, mit welcher Sicherheit ein stabiles Merkmal auch nach mehrmaligem Messen zuverlässig bleibt und "Gültigkeit" (Validität), mit dessen Hilfe Hinweise geliefert werden, ob und in welcher Hinsicht das erfasste Merkmal mit auswärtigen Beurteilungen übereinstimmt (vgl. Oerter/ Lehmann 2008: 90), spricht Georgi noch die "Objektivität" und die "Ökonomie" an. Ersteres meint "...die Unabhängigkeit der Testergebnisse vom Testanwender..." (Georgi 2010: 480) und Letzteres zeigt an, inwiefern ein Test auch in der Praxis und Forschung durchführbar ist (vgl. Georgi 2010: 481).[21] Nur wenn ein Test diesen Standards entspricht kann er sich in der empirischen Forschung legitimieren. Inwieweit die im Kommenden vorgestellten standardisierten Tests diesen Gütekriterien entsprechen, soll in der abschließenden kritischen Begutachtung der Tests erfolgen.

Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Überblick der standardisierten Musikalitätstests dargestellt werden, wobei ich zunächst die Leistungstests außen vor lassen werde, dem Ganzen steht dann eine Auswahl einzelner Testverfahren und ihrer zu messenden Fähigkeiten nach.

Einer der ersten standardisierten Musikalitätstests ist von Carl E. Seashore, der 1919 in seiner Erstauffassung veröffentlichte "Measures of Musical Talent", später dann mit verändertem Titel "Measures of Musical Talents" (1939/1956/1960; 1966 erschien dann die deutsche Fassung) (vgl. Gembris 2002: 110).[22] Diesem ersten Versuch von Seashore folgten bald auch andere Versuche Merkmale von Musikalität durch Testverfahren zu erfassen.[23] Durchschnittlich sind diese Tests meist erst ab acht Jahren anwendbar (die Ausnahme bildet hier Gordon, der explizite Tests für jüngere Kinder entwickelte). Ein sich hieraus entwickelndes Problem ist die unscharfe Aussage über die angeborene Disposition. Denn je älter ein Kind ist, desto eher haben sich angeborenes Potential und Umgebungseinflüsse vermischt, und desto weniger lässt sich eine genaue Aussage über das Erfassen des musikalischen Potentials, welches ja eigentlich das grundlegende Ziel dieser Tests ist, treffen. Allen Begabungs- und Musikalitätstests gemein ist die ausschließliche Prüfung rezeptiver Fähigkeiten (vgl. Gembris 2002: 110). Welche dies im Detail sind, soll im Nachstehenden beispielhaft gezeigt werden.

Der Seashore- Test besteht aus sechs Untertests. Diese Untertests prüfen das Unterscheidungsvermögen für Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe, Tondauer und Rhythmus und das Gedächtnis von Melodien (vgl. Gembris 2002: 110f). Die Tonhöhen- und Tonlängenunterscheidungsvermögen werden zum Beispiel dadurch gestestet, dass die Probanden jeweils 50 Tonpaare zu Gehör bekommen, bei denen entschieden werden muss, ob der gehörte zweite Ton höher oder tiefer oder eben länger oder kürzer war. Auch beim Rhythmustest muss zwischen Gleichheit und Ungleichheit unterschieden werden. Dieses System zieht sich auch durch alle weiteren Untertests: es geht immer um die Veränderung des zuvor gehörten (vgl. Kormann 2010: 386f). Der Musikalitätstest von H. Wing hingegen behandelt auch die Harmonik. In seinen sieben Untertests geht es zunächst einmal um die Akkordanalyse, um die Tonhöhenveränderung und um das Melodiegedächtnis. Diese drei Gruppen bilden den Hauptteil seines Tests. In weiteren vier Subtests werden Rhythmik, Harmonie, Dynamik und Phrasierung geprüft. Bei der Akkordanalyse sollen die Probanden aus 40 Akkorden jeweils die Zahl der Töne angeben, die gehört wurden und anders als bei Seashores Tonhöhenunterscheidung erfolgt diese bei Wing auch über Akkorde, bei denen angegeben werden muss, ob sich ein Ton beim zweiten Mal verändert hat oder nicht (vgl. Kormann 2005: 389).

Nach diesen zwei kurzen Testvorstellungen ist schon zu erkennen, dass das Prüfen von rezeptiven Fähigkeiten sehr unterschiedlich angelegt sein kann. Vorgestellte Testverfahren unterscheiden sich nicht nur in ihrer Systematik, sondern auch in ihrer Alterszuordnung und dem Schwierigkeitsgrad. Seashore empfahl seinen Test ab einem Alter von zehn Jahren, Wing seinen, obwohl dieser komplexer und schwieriger erscheint, schon ab acht Jahren. Anders als Wing betitelt Bentley die Akkordanalyse zwar als wünschenswert für einen Test, zählt diese aber nicht als "grundlegend, elementar und wesentlich für das Musizieren" (Gembris 2002: 112) dazu. Diesen Attributen gerecht werden die anderen drei Bereiche seines Tests: die Tonhöhenunterscheidung, das Tongedächtnis und das Rhythmusgedächtnis (vgl. Gembris 2002: 112).

Es ist zu erkennen, dass grundlegende Ansichten geteilt werden (in allen Test spielt zum Beispiel die Tonhöhenunterscheidung eine Rolle), dennoch ist jeder Test von der subjektiven Auffassung des Autors über Musikalität und dessen Eigenschaften bzw. Merkmalen regelrecht behaftet. Daneben tritt das Problem des nicht Erliegens empirischer Grundlagen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich bei den meisten Tests die Reliabilität nachweisen lässt, dagegen ist die Validität nicht ausreichend belegt (vgl. Georgi 2010:483). Dies bedeutet, dass die musikalischen Leistungen, die eben getestet worden sind und den Ergebnissen nur gering mit den tatsächlichen Leistungen im Leben korrelieren und was dazu führt, dass die Aufgabe einen Test als zusätzliche Legitimation für im Alltag aus Leistungen beobachtete Beurteilungen heranzuziehen, mehr oder minder scheitert. Diese Widersprüchlichkeit hängt auch mit dem naiven Verständnis zusammen musikalische Begabung nach einer Leistung zu beurteilen. Gewiss wird oftmals erst durch eine besonders oder auffällig erbrachte Leistung der Rückschluss und die darauf folgende Förderung erbracht, trotzdem ist der Gedanke das der Grad der Leistung auch den Grad der musikalischen Begabung bestimmt veraltet (vgl. Mühle 1969: 69f). Hier ist immer noch der Zusammenhang mit dem Erlernen von Fähigkeiten und der Übung zu beachten. Auch kann nicht geklärt werden, ob die getesteten musikalischen Fähigkeiten angeboren oder erlernt sind (vgl. Oerter/ Lehmann 2008: 90). Die fehlende Validität hängt auch unweigerlich mit der Tatsache zusammen, dass im Grunde nur rezeptive Fähigkeiten gemessen werden, die natürlich nur in weiterer Beziehung mit vielleicht später erbrachten Leistungen stehen.[24]

Kormann fasst zusammen:

"Die Anwendung von Musikalitätstest als zuverlässige Ausleseinstrumente kann- im Gegensatz zu den Intentionen von Testautoren- weder in pädagogischer noch in entscheidungstheoretischer Hinsicht legitimiert werden" (Kormann 2010: 394).

Die Schwierigkeit Musikalität in all ihren Facetten zu erfassen und abzugrenzen, welche sich aus dem vorherigen Kapitel ergeben hat, spielt auch hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die vielseitige Ausprägung der Musikalität widerspricht sich mit dem eigentlichen Versuch diese erfassen zu wollen. Nach diesen, vor allem für die pädagogischen Absichten, gescheiterten Absichten eines Musikalitätstests, stellt sich notwendiger Weise die Frage welche Verwendung ein Musikalitätstest hat, wenn er keine gültigen Aussagen über die mögliche musikalische Leistung eines Kindes oder Jugendlichen geben kann. Gibt es in diesem Sinne überhaupt eine pädagogischen Nutzen, der auf erzieherische Maßnahmen angewendet werden kann? Gembris verweist darauf, dass der Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Leistung und den Ergebnissen eines Musikalitätstest zwar gering ausfällt, dies bedeutet aber noch nicht dass Musikalitätstest völlig unbrauchbar sind, sondern nur, dass sie Verbesserungswürdig sind (vgl. Gembris 2002: 122). Forschung ist Wissenschaft und Wissenschaft bedeutet stetigen, wenn auch manchmal in der Stagnation verharrenden, Fortschritt und so richtet sich das Augenmerk auf neuere Versuche der Entwicklung von Musikalitätstests. Perspektiven von Musiktests, so Kormann können nicht global, sondern nur in Hinblick auf unterschiedliche Zielsetzungen erfolgen (vgl. Kormann 2005: 395). Die schon genannten zwei neueren Testverfahren, der Wiener Test und das Musik- Screening- Verfahren, sind an dieser Stelle zu erwähnen.[25] Allen Versuchen der Verbesserung entgegen, sollte das Bewusstsein dahingegen gestärkt werden (und darauf verweisen auch die meisten Autoren von Musikalitätstests), dass nicht nur diese Tests als Beurteilungsinstanz fungieren, sondern auch andere Verfahren der Beurteilung sinnvoll eingesetzt werden sollten (vgl. Gembris 2002: 122f).[26]

Das Vorhaben die eine musikalische Begabung zu testen ist schlussendlich die falsche Vorgehensweise. Auch durch einen Test, der nun bestimmte Merkmale der Musikalität testet, die im besten Fall das Ergebnis der Veranlagungsbestätigung bringen, ist ebenso unkritisch. Von Bedeutung ist ein unversperrtes Bewusstsein für die Möglichkeiten und für die Probleme und Fehler von Musikalitätstests. Für die Praxisrelevanz und für unser Alttagsverständnis tragen die Musikalitätstests insofern etwas bei, als dass zu erkennen ist, das Musikalität oder auch eine musikalische Begabung immer auf verschiedenen Ebenen stattfinden kann und dass Musikalität nicht immer zwangläufig etwas mit der erbrachten Leistung zu tun hat.

[...]


[1] Durch die enge Verknüpfung dieser beiden Begriffe, werden diese oftmals in der Literatur fälschlicher Weise synonym verwendet (vgl. Heller 1976: 7). Dies erscheint mir nicht immer sinnvoll, vor allem, wenn von Begabung im Zusammenhang mit Leistung die Rede ist (im Verlauf der Begriffsbestimmung wird dies noch angesprochen). Daraus hervorgehend stellt sich die Frage nach einem sinnvoll benannten Zusammenhang der Begriffe Intelligenz und Begabung. Intelligenz meint im Allgemeinen ein Problemlöseverfahren auf verschiedenen Ebenen und die Anwendung von Lösungsstrategien auf neuartige Probleme (vgl. Brackmann 2007: 153). Allein die Tatsache, dass Intelligenz eine stärkere Tendenz zum Allgemeinen als zum Spezifischen hat, lässt erahnen, warum die synonyme Verwendung problematisch ist. Es ist davon auszugehen, dass eine Begabung immer Bezug auf ein bestimmtes Gebiet nimmt. Nicht ohne Grund schwingt immer ein „begabt wofür/ für was“ in einer Erläuterung dieser mit. Intelligenz darf anderseits aber auch nicht als ein reiner IQ- Wert betrachtet werden.

[2] Lexikon für Psychologie und Pädagogik (o. J. ); Begabung. URL: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/faehigkeit.html (eingesehen am 16.06.2011).

[3] Ursprünglich wurde zunächst der Begriff des Genies für einen Menschen benutzt, der auf einem bestimmten Gebiet etwas Gegenwarts- und Zukunftsbedeutendes vollbringt. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieser Begriff vom Begriff der Hochbegabung abgelöst (vgl. Freund– Braier 2001: 20).

[4] Das Wort "hoch" ist hier in Klammern gesetzt, um zu verdeutlichen, dass es sich um zwei Begriffe handelt, die in keinem Fall synonym verwendet werden sollen.

[5] Am Rande sei noch erwähnt, dass die Identifikation von Hochbegabung durch den IQ- Wert eine Möglichkeit ist, um diese zu diagnostizieren. Weitere fasst Inez Freund- Braier zusammen. Sie beschreibt die Identifikation von Hochbegabung mit vier Methoden. Identifikation über nicht- kognitive Spezialbegabungen, Identifikation durch ein „Expertenurteil“, Identifikation über Leistung und die eben schon erwähnte Identifikation über Intelligenz. Offensichtlich ist, dass die Identifikation über die Intelligenz aus Sicht empirischen Forschung und methodischer Ansätze am sichersten scheint (vgl. Freund- Braier 2001: 31).

[6] An dieser Stelle tritt, wie so oft, die Gaußsche Normalverteilung ein, um das Verhältnis von Begabten, weniger Begabten und Hochbegabten zu verdeutlichen. Vergleichsweise gibt es in einer Klasse in vielen verschiedenen Bereichen begabte Kinder aber nur wenig hochbegabte und auch wenig weniger begabte Kinder.

[7] Hiermit sind neben den erwähnten Intelligenztest auch für den späteren Verlauf meiner Arbeit wichtigen Test zur Musikalität und musikalischen Begabung gemeint, die ich in einem separaten Exkurs darstellen werde.

[8] Zweifelsohne gibt es unumstrittene Vor- und Nachteile. Bei der Auswahl nach "Disposition" werden auch Personen berücksichtigt, die ihr Potential nicht in erkennbarer Leistung umsetzen ("Underachiever"), folgerichtig fallen diese bei der Auswahl über das Leistungskriterium weg. Anderseits werden beim Leistungskriterium auch neben begabten Personen, Personen dazu gezählt, die über ihre Möglichkeiten hinaus Leistung erbringen ("Overachiever"). Letzten Endes wäre es nur wichtig eindeutig zu benennen, welches Auswahlkriterium verwendet wurde. Diese Spezifizierung lässt sich jedoch in dem Zusammenhang in der empirischen Literatur kaum finden (vgl. Freund- Braier 2001: 21).

[9] Auch der der Begriff des musikalischen Talentes tritt oft in der Literatur auf. "Musikalisches Talent" wird aufgrund seiner Herkunft meist synonym mit dem Begriff der musikalischen Begabung, verwendet. Der Begriff "Talent" bedeutet ursprünglich "Gabe, Begabung" im Sinne einer gottgegebenen, angeboren besonderen Begabung (vgl. Duden 2001: 835). Rein etymologisch gesehen wird also beiden Wörtern, sowohl Talent, als auch Begabung eine Angeborenheit oder Vererbbarkeit beigemessen. Gembris plädiert für eine gleichwertige Benutzung, da es sonst nur zu noch mehr Verwirrung auf der begrifflichen Ebene führt. Diesem möchte ich mich anschließen und werde im weiteren Verlauf meiner Arbeit die beiden Begriffe Talent und Begabung synonym gebrauchen.

[10] Synonyme Verwendung zum Beispiel bei Motte- Haber, Helga de la. Musikalische Begabung. In: Motte Haber / Rötter 2005: 552.

[11] Dies wird auch besonders im Zusammenhang mit dem Begriffverständnis und dem Begriffsgebrauch im angloamerikanischen Raum deutlich (→ s. Anhang: Angloamerikanische Begriffsverwendung).

[12] Einen weiteren zentralen Unterscheidungspunkt dieser beiden Begriffe, möchte ich erst im Verlauf der Abreit nennen, da für diesen das Verständnis rund um Anlage und Umwelt eine Rolle spielen (→s. 3.2).

[13] Der Begriff "Musikalität" hat sich erst im 20. Jahrhundert etabliert. In der Zeit davor war die Rede von "musikalisch sein" oder "musikalischem Talent".

[14] Entstanden im Zusammenhang mit Musik- und Gesangspädagogischen Bewegungen.

[15] Ein vergleichendes Vorgehen in Bezug auf das Verständnis von Musikalität heute und Michaelis, lässt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede feststellen. Zum einen liegen seinen Ansichten schon wahrnehmungspsychologische Einsichten zu Grunde, allerdings lassen sich seine Überlegungen zum Geschmack und dessen Rolle als Merkmal einer musikalischen Begabung heute wohl kaum legitimieren. Dies zeigt, das der zeitliche Kontext immer zu berücksichtigen ist (vgl. Gembris 2002: 67f).

[16] An dieser Stelle sei noch mal auf den Musikalitätsbegriff und der von ihm ausgestrahlten größeren Zulässigkeit von Nuancenbildung auf Ebene des Begriffverständnisses im Gegenzug zu dem eng gefassten Begriff der musikalischen Begabung hingewiesen.

[17] Für die heutige Sicht eine wohl etwas überkommende Ansicht, obwohl diese relativ naive Ansicht im Alltäglichen noch oft benutzt wird, um die fehlenden Leistungen eines Kindes auf einem Gebiet zu erklären: ein Kind, welches im z.B. mathematischen nicht gut sei, erbringt z. B. in den musischen Fächern automatisch eine bessere Leistung.

[18] Zu erkennen ist die fortlaufende Entwicklung zum Verständnis des Begriffes Musikalität. V. Kries lehnt zwar an Aussagen Billroths an, entwickelt sein Konzept aber dahingegen weiter, als das er, neben der rezeptiven auch die produktive Seite an der Musikalität betont. Trotz Gemeinsamkeiten zu heutigen Ansichten stagnierten Überlegungen zu diesem Gebiet nicht und so können Unterschiede zum heutigen Stand nicht ausgeschlossen werden. So beziehen sich nachfolgende Forscher (zum Beispiel A. Wellek, W. Dray und G. Révész / nähere Erläuterungen hierzu führt Gembris 2002 aus) zwar auch auf die Beschreibung verschiedener Typen der musikalischen Begabung, beschreiben diese aber nicht wie v. Kries auf heuristische- phänomenologische Art, sondern führen empirische Forschungen durch (vgl. Gembris 2002: 77).

[19] In Anlehnung an Methoden der Intelligenzforschung lassen sich zwei Modellrichtungen erkennen, die jeweils eine unterschiedliche Vorstellung von Musikalität evozieren. Gemeint ist hier zum einen die multifaktorielle Theorie, welche davon ausgeht, dass Musikalität aus verschiedenen singulären Fähigkeiten besteht, die nicht zwangsläufig in Verbindung miteinander stehen, sodass diese auch unabhängig voneinander bewertet werden können (z.B.: Seashore). Zum anderen sollen die Theorien rund um den Generalfaktor angesprochen sein, welche folgerichtig das Gegenteil vom Erstgesagten meinen, nämlich Musikalität als eine geschlossene Fähigkeit (z.B.: Révész). H. Gembris beschreibt an dieser Stelle, dass Edwin Gordon mit seiner Begabungstheorie einen Mittelweg zwischen diesen beiden Kontroversen findet (vgl. Gembris 2002: 100f).

[20] Wie solch eine Klassifikation von Musiktest im Detail aussieht steht zwar nicht zur Diskussion, trotzdem gibt es leicht von einander zu unterscheidende Ansichten, die kurz dargestellt werden sollen. So gibt es Autoren, die gängige Musiktests in vier Fraktionen einteilen. Neben den zwei genannten (musikalische Begabungs- und Leistungstests) werden Gesangs- und Instrumentaltest sowie Test der musikalischen Wertung und Einstellung voneinander differenziert (Füller 1974, zit. nach Kormann 2005: 373). Meißner und andere Autoren schließen sich jedoch der Meinung Gembris mit folgender Begründung an: "Leistungstests zielen auf die Kontrolle des erworbenen Wissens, erworbener Fähigkeiten, während Begabungstests jene Fähigkeiten erfassen sollen, die vom Lernprozess weitgehend unabhängig sind" (Meißner 1987: 431ff, zit. nach Kormann 2005: 374).

[21] Hiermit sollen die drei Hauptkriterien angesprochen sein. Kormann unterteilt diese Gütekriterien noch weiter in Haupt- und Nebengütekriterien. So zählt er zu den Hauptkriterien, die schon genannte Reliabilität, die Validität und die Objektivität und teilt die Ökonomie den Nebengütekriterien zu (vgl. Kormann 2005: 375- 386). Zudem nennt er als Nebengütekriterien die Normierung, diese ermöglicht durch die Ausrichtung möglichst großer Stichproben die Einordnung des spezifischen und individuellen Ergebnisses eines Tests in ein Bezugssystem, und die Testfairness, die die Vermeidung jeglicher Diskriminierung und Benachteiligung einzelner Testpersonen meint (vgl. Kormann 2005: 384f).

[22] Zweifelsohne interessierte die Vorstellung der Messbarkeit von musikalischen Merkmalen nicht einfach aus heiterem Himmel. Die Neugier, zum Beispiel das Hörverhalten von Kindern zu dokumentieren, also wissenschaftliche Experimente hierzu durchzuführen und aufgrund dessen dann auf den musikalischen Grad des Entwicklungsstandes zu schließen, führte schon Carl Stumpf mit den so genannten ersten Kindertagebüchern durch. So prüfte er bei seinem Sohn und anderen Kindern zwischen fünf bis acht Jahren deren Tonhöhenunterscheidungsvermögen und dokumentierte dies, sich auch dessen bewusst, dass sich aus dieser Methode auch ein praktischer Musikalitätstest entwickeln ließe (vgl. Gembris 2002: 106).

[23] Weitere Autoren solcher Tests waren Herbert D. Wing 1961 "Standardized Test of Musical Intelligence", Arnold Bentley 1965 "Measures of musical Abilities", sowie mehrere Verfahren von Edwin E. Gordon (→ s. Abbildung 1). Neuere im deutschen Sprachraum zu findende Ansätze sind zum Beispiel das "Musik- Screening- Verfahren für Kinder" von Armin Jungbluth, Roland Hafen und Hans G. Bastian welches 2004 auf den Markt kam und der computerunterstützte "Wiener Test" der 2003 von Erich Vanecek, Ingrid Preusche und Heinz Längle erschien (vgl. Georgi 2010: 483).

[24] Gembris verweist darauf das Musikalitätstest dazu tendieren "...kognitive Elemente der musikalischen Wahrnehmung..." in den Vordergrund zu stellen, was nicht letzten Endes damit zusammenhängt, dass gerade diese Fähigkeiten im Alltagsverständnis als musikalisch angesehen werden, und dass auch der eigentliche Vorteil, nämlich dass Musikalitätstest keine direkten musikalischen Erfahrungen wie Notenlesen oder das spielen eines Instrumentes benötigen, zu Gunsten der in Musikkulturkreisen definierten Basis über Musikalität zum Kritikpunkt wird (vgl. Gembris 2002: 120).

[25] Einen kleinen Überblick zu diesen zwei Testverfahren verschafft Kormann 2005 (Seite 3295- 397).

[26] Natürlich werden neue Testverfahren dahingegen verbessert, als dass sie zum Beispiel versuchen nicht nur mehr rezeptive, sondern auch reproduktive Fähigkeiten, wie sich zum Beispiel zu einem Rhythmus bewegen, bewertet werden.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863417055
ISBN (Paperback)
9783863412050
Dateigröße
247 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
2
Schlagworte
musikalische Früherziehung Musikalität musikalische Entwicklungspsychologie Begabtenforschung Musik
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Titel: Begabung und Förderung in der Musikerziehung: Ist musikalische Begabung angeboren oder erlernbar?
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