Lade Inhalt...

Retro, Postmoderne, Jugendsubkultur: Eine kritische Betrachtung

©2012 Bachelorarbeit 60 Seiten

Zusammenfassung

Dass die 2000er das Jahrzehnt der Retro-Wellen gewesen seien, wurde in den Feuilletons der Zeitungen, Mode- und Musikmagazine nicht erst nach der Veröffentlichung von Simon Reynolds Buch Retromania thematisiert. Retromania eröffnete der Debatte nach Abschluss des Jahrzehnts jedoch implizit Perspektiven fernab von Kulturpessimismus und der Konstatierung von Kreativitätskrisen. In seiner Bachelorarbeit versucht Manuel Wagner, diese Perspektiven explizit zu machen und die zahlreichen Pop-Anekdoten, die Simon Reynolds bereitstellt, zu sortieren und in einen größeren Zusammenhang zu stellen, namentlich jugend- und subkulturelle Identitätskonstruktionen angesichts des Bruchs mit Authentizitäts- und Fortschrittsparadigmen im postmodernen Zustand. Es werden die feinen Unterschiede zwischen Retro und Nostalgie herausgearbeitet, um - anhand der ästhetischen Geschichte der Jugendkulturen der Nachkriegszeit - Retrowellen nun als originär postmodern verstehen zu können. Anschließend werden die Schwierigkeiten der etablierten Sozialwissenschaften beim Versuch beschrieben, Jugendkultur und Retrophänomene adäquat zu erfassen. Der interdisziplinäre Ansatz der Cultural Studies, welche sich in Deutschland erst seit kurzer Zeit etablieren, soll den soziologischen Werkzeugkoffer erweitern. Auf diesem Weg kann letztendlich der besagte Bruch exemplarisch an jenen illustriert werden, die zeitgenössisch mit den Bezeichnungen Emo und Hipster versehen werden, und an jenen, die gegenwärtig versuchen ihre selbstauthentifizierte und legitimierte Deutungsmacht über diese Bezeichnungen zu verteidigen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.1 2.2 Zeitkulturzitat

Was Nostalgie noch nicht beinhaltet, ist eine Komponente der Gegenwart als Vergleichs- und Bezugsebene. Die Handlungsmotivationen von Retro-Praktiken sind von denen der Nostalgie zu unterscheiden. Dies soll zunächst durch eine Substitution beider Begriffe verdeutlicht werden. Hierzu bietet der Germanist Christoph Bock (2004) den Begriff des Zeitkulturzitats an.

Bock bestimmt zunächst das Kulturzitat, eine Vorstufe des Zeitkulturzitats, als „Relikt, das in dieser [Anm. d. Verf.: der Gegenwartskultur] als ‹Anderes› fungiert“ (2004, S. 1). Die individuelle und soziale Beobachtung solcher Relikte aus zeitlicher Differenz führe dazu, dass Zeitkulturen als „temporäre Sinneinheiten“ (a.a.O., S. 2) erscheinen. Solche temporären Sinneinheiten können in Zeitkulturzitaten etwa als bestimmte Jahrzehnte gedacht werden. Vom Zeitkulturzitat unterschieden sei nach Bock die Zeitkulturkommunikation, die „mit“ anstatt „über“ Kulturzitate angewandt werde und näher am Bereich der alltagssprachlichen Verwendung des Wortes Nostalgie liege (a.a.O., S. 3). Bei Zeitkulturkommunikationen erfolge die Überbrückung der “Kluft zwischen Performanz und Referenz” – der objektiven Nicht-Wiederholbarkeit von Geschichte – über “Ästhetisierung, Verklärung, [und] Romantisierung“ während das Zeitkulturzitat mindestens eine „zeitkulturelle Vergleichsperspektive“ zur Simulation zeitkulturtypischer Erfahrungen voraussetze (ebd.).

Die jeweils zitierte Zeitkultur, etwa die 80er Jahre, sei dabei eine „80er Zeitkultur der Gegenwart” (Bock, 2004, S. 3). Auf Basis der massenmedialen Verfügbarkeit in kulturellen Archiven „dient das Kulturzitat dem Zitierenden als Requisit zur (historisierenden) Ausstaffierung der eigenen Gegenwart“ (a.a.O., S. 4). Dabei sind semantische Umdeutungen und Bedeutungserweiterungen möglich. Bock nennt als Beispiel das Ampelmännchen, das seiner funktionalen, den Verkehr regelnden Komponente eine repräsentative als Symbol der DDR hinzugefügt bekam, die mit „so viel mehr Charme und Menschlichkeit“ gegenüber westdeutschen Ampelmännchen konnotiert werde (ebd.). Dabei gilt für Kulturzitate:

Das Kulturzitat ist nicht irgendein Zeichen, sondern eines, das sich durch eine metonymische Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat auszeichnet. Die Hauptbedeutung (Denotat), dieses Zeichens liegt in der Regel bei einer Zeitkultur bzw. einem Zitatbereich einer Zeitkultur (Musik, Lebensmittel, Mode, etc.). Emotionale und andere Bedeutungen, wie sie durch die Zitierenden appliziert werden, knüpfen als Konnotate an. (ebd.)

Das bedeutet, dass mit dem Signifikat 50er Jahre auch die thematisch zusammengehörigen Signifikanten Wirtschaftswunder, Wiederaufbau oder das Wunder von Bern gemeint sein können. Diese Bedeutung würden auch die Rezipientinnen und Rezipienten in einer alltäglichen Sprechsituation erkennen, sofern eine „Gleichzeitigkeit von Stabilität des Signifikanten und Flexibilität des Signifikats, bei durchgehaltender metonymischer Beziehung zu einer Zeitkultur“ gegeben sei (Bock, 2004, S. 5). Als drei solche alltägliche Situationen kulturzitierender Praxis nennt Bock die Bereiche: Pflege und Verehrung, den Vergleich und das Spiel. Im Bereich der Pflege und Verehrung werde die gegenwärtige Komponente der zeitkulturellen Differenz übersehen. Er diene laut Bock der „Schaffung eines Zuhauses“ aus einem Unbehagen in der Gegenwart heraus, bei dem „Handlungen als (zeitkulturunabhängiges) Tradieren von Werten begriffen“ werden (a.a.O., S. 8). Dieser Bereich ist nahe mit der Nostalgie verwandt und findet seinen alltäglichen Ausdruck bspw. in DDR- Nostalgie (Ostalgie)-Shows, der Inszenierung von 50er Jahre-Gemütlichkeit im Eigenheim oder einer Abschottung gegenüber Neuerungen, die mit der (vorrangig) emotionalen, persönlich-favorisierten (weil bereits gelebten) Zeitkultur nicht in Einklang zu bringen sind. In der zweiten alltäglichen Praxis, dem Vergleich, diene das Zeitkulturzitat dem „Gewinn […] einer sinnlich-konkreten Vergleichsperspektive“, welche Anwendenden eine identifikatorische „Vergleichsbasis als soziale[n] Lernmechanismus für die Unbekannten der modernen Gesellschaft“ biete (a.a.O., S. 9 f). Ein neues Element gegenüber der ersten Alltagspraxis ist hier die Einbeziehung einer nicht selbst erlebten Vergangenheit. Hierdurch tätigen die Anwendenden einen Kulturabgleich, der Gemeinsamkeiten mit der eigenen Lebenswelt oder Vergangenheit sucht: Man sieht „[…] den Trabant und denkt: Käfer.“ (ebd.).

Die letzte alltägliche Praxis ist für die Untersuchung des Umgangs mit Retro-Elementen in Jugend(sub)kulturen von zentraler Bedeutung. Sie dient nicht nur dem Abgleich mit dem Selbst, sondern auch der vorgenannten Ausschmückung der gegenwärtigen Identität aus unterschiedlichen Motivationen. Sie besteht in einem „[…] Spiel mit Kontingenz“ (Bock, 2004, S. 10). Der spielerische Umgang mit Zeitkulturzitaten erfolge nach Bock dabei z.B. aus „Subversivitätsabsichten, aus Protest, aus Lust an Verwandlung, Kombination und Irritation, aus Wertschätzung für Ironie und Uneigentlichkeit“ (ebd.). Was das Spiel mit Zeitkulturzitaten im Vergleich zu den vorigen Praktiken weniger beinhaltet, ist das sentimentale Zurückbeschwören vergangener Zeiten und der Anspruch auf Authentizität, denn die zitierten Zeitkulturen müssen von den Zitierenden nicht selbst aktiv oder passiv erlebt oder erfahren worden sein. Ebenso ist im Spiel nicht die möglichst originalgetreue Reproduktion primäres Anliegen der Zitierenden. Vielmehr handelt es sich hier um einen kreativen und zum Teil eklektischen Umgang mit allem, was in kulturellen Archiven auffindbar ist. Eine derartige Zitationspraxis wird auch bei der Bricolage und im Kulturrecycling angewandt, die Elemente des zu bestimmenden Retrophänomens sein können.

1.2 2.3 Retro

Nachdem Unterschiede in der Zusammensetzung von Retro und Nostalgie über das Zeitkulturzitat beschrieben wurden, kann der Inhalt des eigentlichen Retro-Begriffs näher bestimmt werden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass über die vorliegende Untersuchung hinaus keine Gewähr für eine ähnliche Verwendung und Differenzierung der Begriffe geleistet werden kann. Es kann auch in wissenschaftlichen Texten üblich sein, – sofern sie sich nicht dezidiert mit derselben Thematik beschäftigen – Phänomene als Retro zu bezeichnen, die nach den Begriffsklärungen dieses Kapitels dem Bereich der Nostalgie zuzuordnen wären. Retro gegenwärtig ein Modewort aber noch keinen wissenschaftlichen Terminus dar. Die folgende Annäherung an den ferner zu definierenden Begriff Retro dient dazu, seine Verwendung in der vorliegenden Untersuchung zu erklären. Auch Reynolds versucht in Retromania zunächst eine Definition des Begriffs zu erarbeiten, gesteht aber seine anschließenden Schwierigkeiten bei der konsequenten Verwendung ein (2011, S. xxv-xxvi). Dieser Definitionsvorschlag lautet:

1. Retro is always about the relatively immediate past, about stuff that happened in living memory.
2. Retro involves an element of exact recall: the ready availability of archived documentation (photographic, video, music recordings, the Internet) allows for precision replication […]. As a result, the scope for imaginative misrecognition of the past – the distortions and mutations that characterised earlier cults of antiquity […] – is reduced.
3. Retro also generally involves the artifact of popular culture. This differentiates it from earlier revivals, which, as the historian Raphael Samuel points out, were based around high culture and originated from higher echelons of society – aristocratic aesthetes and antiquarians with a rarified taste for exquisite collectables. Retro’s stomping ground isn’t the auction house or antique dealer but the flea market, charity shop, jumble sale and [sic] junk shop.
4. A final characteristic of the retro sensibility is that it tends neither to idealise nor sentimentalise the past, but seeks to be amused and charmed by it. By and large, the approach is not scholarly and purist but ironic and eclectic. As Samuel puts it, ’retrochic makes a plaything of the past’. This playfulness is related to the fact that retro is actually more about the present than the past it appears to revere and revive. It uses the past as an archive of materials from which to extract subcultural capital (hipness, in other words) through recycling and recombining: the bricolage of cultural bric-a-brac. (a.a.O., S. xxx f)

Die Reproduktion von Kunstwerken ist seit jeher gängige Praxis, „ausgeübt von Schülern zur Übung in der Kunst, von Meistern zur Verbreitung der Werke, endlich von gewinnlüsternen Dritten”, wie Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schrieb (2010 [1936], S. 9). Die Replikation von Kunstwerken aber ist durch das Vorhandensein von gut erhaltenem Archivmaterial und durch die Entwicklung bild- und tonspeichernder Medien bedingt. Diese konnte in ausreichendem Umfang erst in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts technisch umgesetzt werden. Von diesem Zeitpunkt an verbesserte sich die Qualität der einzelnen Kopie gegenüber dem Original durch immer ausgereiftere Technik bis zum heutigen Zeitpunkt, in dem die digitale Kopie (etwa eine MP3-Datei) keinen wahrnehmbaren Unterschied zum Original mehr aufweist.

Reynolds weist darauf hin, dass Retro an der Schnittstelle zwischen Massenkultur und persönlicher Erinnerung stattfände (2011, S. xxx). Die Funktion der persönlichen und kollektiven Erinnerung übernehmen heute die kulturellen Archive, die wie oben beschrieben durch technische Entwicklung immer detailliertere Informationen über Zeitkulturen bieten. Dadurch wird die Fähigkeit Zeitkulturen zu zitieren von individueller Erinnerung, persönlicher Überlieferung und dem Lebensalter gelöst und einer breiteren Masse ermöglicht. Die älteste Zeitkultur, von der eine ausreichende Quellenlage für Retrophänomene vorhanden ist, kann unter genannten Bedingungen erst im frühen 20. Jahrhundert verortbar sein: die sogenannten Goldenen Zwanziger. Diese Zeitkultur ist in den zunehmend digitalisierten Archiven in Form von Filmen und Fotografien auffindbar und zitier-bereit ohne dass der Zustand ihrer Quellen durch Lagerung weiter beeinträchtigt werden könnte.

Allerdings müssen die Quellen in Retro-Anwendungen nicht exakt reproduziert werden. Sie können auch über verschiedene Modifikationen an die Gegenwart angepasst werden, denn die gegenwärtige Retro-Sichtweise auf vergangene Kultur erlaubt, – in den Worten Walter Benjamins – dem „Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen“ und „aktualisiert […] das Reproduzierte“ (2010 [1936], S. 16 f). Indem in Retrophänomenen die Vergangenheit völlig unsentimental zum Materialarchiv für ein ironisches Spiel in der Gegenwart genutzt wird und dabei moderne Konzepte wie Authentizität und Fortschritt durch Dekonstruktion und zeitlicher Beliebigkeit ersetzt werden, kann das Aufkommen von Retro als Marker für den Übergang in die kulturelle Postmoderne betrachtet werden.

2 Das Retro-Jahrzehnt – Vorgeschichte und Ursachen

Reynolds beabsichtigt mit Retromania der Frage nachzugehen, ob die Vielzahl von Retrowellen des vergangenen Jahrzehnts auf ein Ende der Originalität in der Popmusik hindeuten könnte (2011, S. xiv). Er liefert dabei zahlreiche Beispiele für Retrowellen aus den Bereichen, über die sich viele der bekannten Jugend(sub)kulturen definieren: Mode, Musik und Kunst. Diese Bereiche sind so eng miteinander verknüpft, dass eine in einem der Bereiche auftretende Retrowelle sich auf die anderen Bereiche auswirken kann und im Zuge davon auch Jugend(sub)kulturen ein Revival erleben können. Im Folgenden werden zunächst frühere Retrophänomene betrachtet, um Strukturen und Kontinuitäten in diesen zu festzustellen. Anschließend werden Reynolds Betrachtungen über Retrophänomene der Gegenwart illustriert. Mögliche Ursachen für diesen Zustand werden zum Ende des Kapitels insbesondere in der Digitalisierung kultureller Archive gesucht.

2.1 3.1 Retro in der Vergangenheit

Die erste Hälfte der 60er-Jahre habe laut Reynolds noch den Geist der Moderne geatmet und sei durch einen festen Glauben an den Fortschritt gekennzeichnet gewesen, was die futuristischen, von der Raumfahrt inspirierten Mode-Kollektionen von André Courrèges, Pierre Cardin und Paco Rabanne zeigen würden, indem sie streng geometrische Formen und Materialien wie weißes und silbernes PVC[1] verwendeten (2011, S. 183). Der Bruch mit dem Fortschritt und der Zukunft habe sich etwa in den Jahren 1966 und 1967 angedeutet, in denen sich der Fokus der Popkultur zum ersten Mal auf andere Zeiten und Orte verschob (ebd.). Reynolds sieht den Wendepunkt, an dem der Modernismus der 1960er durch einen Vorläufer des späteren Retro-Chic – dem Vintage-Kult[2] – abgelöst wurde, in einer Szene des Films Blowup von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1966 festgehalten: Die Hauptfigur des Films, ein am Puls der Zeit lebender Modefotograf, kauft in dieser Szene einen nutzlosen alten Propeller aus einem Londoner Antiquitätengeschäft, nachdem er zwei junge Hippies (in denen er eine Stil-Avantgarde sieht) aus dem Geschäft kommen sieht (a.a.O., S. 184 ff). Die Hippies haben – dem Vorbild der Feministinnen und Feministen folgend, die durch Secondhandkleidung modischen Ausdruck außerhalb des Diktats der männlich-dominierten Modeindustrie finden konnten – mit dem Tabu gebrochen, Altes wieder zu verwerten, was zu dieser Zeit ein Stigma ökonomisch benachteiligter Gruppen dargestellt habe (a.a.O., S. 193). Gleichzeitig lehnten die Hippies den Warenfetisch der Konsumgesellschaft ab und sahen im Kunststoff Plastik ein Sinnbild für das Schädliche und Unechte in der spätmodernen, kapitalistischen Gesellschaft. Einen Gegenentwurf dazu fanden sie, den Ausführungen des Jugendforschers Klaus Farin zufolge, in der „Idealisierung und Mystifizierung“ weit entfernt lebender, ausgebeuteter und stigmatisierter Völker der Dritten Welt, deren Kleidung die Mode der Hippies inspiriert habe (2011, S. 43).

Während der Vintage-Kult der Hippies noch eher als Paradigmenwechsel vom technologischen Fortschrittsdenken in der Gesellschaft hin zu Entschleunigung und Natürlichkeit zu verstehen ist, fand im frühen Punk der Vollzug des Bruches mit der Moderne statt. Punk stellte die erste – mit dem im vorigen Kapitel behandelten Retro-Begriff kohärente – Modewelle der frühen Postmoderne dar. Die ironisierte Affirmation des Künstlichen und Oberflächlichen sowie des Plastik im Punk intendierte keinen erneuten Paradigmenwechsel, sondern eröffnete das modische Spiel mit Kontingenz. In dieser Schein-Affirmation richtete sich Punk gleichzeitig gegen die mittlerweile im Establishment angekommenen Hippies und in zynischer und nihilistischer Weise gegen alles, was für die Mainstream-Gesellschaft einen Wert darstellte. Punk führte den Adressaten der affirmativen Geste und gleichzeitig sich selbst eine Zukunftslosigkeit vor Augen, die bald Ausdruck im No Future -Slogan fand. Wird diese Affirmation des Künstlichen als Potlatch oder als symbolischer Tausch betrachtet, so bestand das subversive Element im frühen Punk darin, der Gesellschaft eine Opfergabe anzubieten, die sie nicht erwidern konnte.[3]

Wie der Philologe Thomas Hecken feststellte, verwertete und entwertete die Mode der frühen Punks in ihrem „Retro-Eklektizismus“ alle Quellen, deren individuelle Verfügbarkeit durch Technologien wie Farbfernsehen und Videoaufzeichnung nun massenhaft gegeben war: eine Bricolage aus Camp[4], Mode der 50er und 60er Jahre, enganliegenden Biker-Klamotten und tougher Halbstarken-Optik, kombiniert mit der androgynen Erscheinung der in unmittelbarer Vergangenheit aktiven Glamrocker David Bowie, Brian Ferry und Brian Eno sowie Fetisch-Mode (Hecken, 2009, S. 352-355). Im Zuge des postmodernen Eklektizismus von Punk, der symbolische Identitätsansprüche infrage stellte, wurden auch tabuisierte Symbole wie Hakenkreuze und mythisch bzw. religiös aufgeladene wie das christliche Kreuz, der Davidstern, das Pentagramm und weitere aus ihrer Historizität gerissen und in das modische Spiel überführt.[5] Mode beinhalte nach Jean Baudrillard „auf Basis der Abschaffung des Vergangenen“ immer Retro-Elemente, die auch eine „[…] gespenstische Wiederauferstehung der Formen“ darstellen können (1982 [1976], S. 134). Etwa zur Zeit der ersten Punk-Welle 1976 schrieb Baudrillard über die Mode:

Alle Kulturen und Zeichensysteme werden in der Mode ausgetauscht, kombinieren sich, gleichen sich einander an und gehen flüchtige Verbindungen ein, die der Apparat ausscheidet und deren Sinn nirgendwo liegt. Mode ist das rein spekulative Stadium der Ordnung der Zeichen – es gibt keinen Zwang zu irgendeiner bestimmten Kohärenz oder Referenz. (a.a.O., S. 140 f. )

1981 fügte Baudrillard dem hinzu, dass nun ein Zeitalter der Simulation angebrochen sei, in dem alle „phantasms“ (Hirngespinste) der Vergangenheit – neben Ideologien auch Retro-Moden – zurückkehren würden (Baudrillard, 1994 [1981], S. 43 f). Dies geschehe jedoch nicht aus einem Glauben der Menschen an die Hirngespinste, sondern schlicht um Zeiten wiederzubeleben, die größere Abenteuer und Aufregung als die Gegenwart versprachen und in denen das Leben auf dem Spiel stehen konnte (ebd.). Die Sehnsucht der Menschen nach Nervenkitzel beinhalte nach Baudrillards These auch die Sehnsucht nach Zeiten, die durch das alltägliche Vorhandensein von Gewalt geprägt seien, weswegen Baudrillard auch die Möglichkeit des Wunsches der Menschen nach der Wiederbelebung faschistischer Gewalt explizit mit einschließt (ebd.). Baudrillards Beschreibung des Zeitalters der Simulation kann erklären, wieso die frühen englischen Punks nationalsozialistische Symbole in das Spiel mit Kontingenz einbrachten. Aus dem historischen Kontext gerissen, besaß das Tragen von Hakenkreuzen in der Öffentlichkeit ein Provokationspotential, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bei der Umwelt der Punks mindestens die Androhung physischer Gewalt hervorrief und somit schnell den ersehnten Nervenkitzel herbeiführen konnte. Es ist daher anzunehmen, dass bei den frühen Punks selten eine nationalsozialistische Ideologie den Grund für die Verwendung der Symbole darstellte.[6]

Bei der historischen Betrachtung von Retrophänomenen ergeben sich Regelmäßigkeiten und spezifische Handlungsmuster der Anwendenden. Die Retro-Anwendungen neu entstehender Jugend(sub)kulturen beinhalteten stets Elemente genau jener Kultur, von denen sich die in der jeweiligen Gegenwart dominante Jugendgruppe noch vor kurzer Zeit abgrenzte, wodurch die Retro-Anwendenden einen Distinktionsgewinn von der zeitgenössischen Masse der Jugendlichen erzielen konnten. Reynolds spricht in Retromania von einem 20-Jahres-Turnus, in dem Moden, Musikstile und Jugendkulturen ein Revival erleben und Retro-Element neuer Jugend(sub)kulturen werden würden (2011, S. 408 f). In den 1970er Jahren habe es einen 1950er Jahre Retro-Trend (Rock’n’Roll) und in den 1980er Jahren einen verstärkten Bezug zu den 1960er Jahren (Gegenkultur und Aufkommen der Autonomen) gegeben (ebd.). Der in den 1990ern populär werdende Grunge-Rock habe seine Einflüsse aus dem Gitarrenrock der 1970er bezogen und das vergangene Jahrzehnt mit einem bis heute anhaltendem Revival der 1980er Jahre begonnen sowie mit einem Revival von Techno, House und Rave geendet (ebd.).

2.2 3.2 Retromania heute

Bemerkenswert ist, dass sich der von Reynolds angeführte 20-Jahres-Turnus für das letzte Jahrzehnt bestätigte und dazu parallel weitere Revivals und Retro-Trends in schnellerer Abfolge und von kürzerer Dauer stattfanden. Diese zusätzlichen Retrowellen spielten die Geschichte der Jugendphänomene und -bewegungen noch einmal in etwa 3-Jahres-Abständen chronologisch durch, bis sie am Ende des Jahrzehnts wieder mit den Retrowellen des 20-Jahres-Turnus im House-Revival zusammentrafen. Die Gleichzeitigkeit mehrerer Retro-Wellen, die sich auf verschiedene Zeitkulturen beziehen, lässt sich u.a. als mögliche Ursache für die Charakterisierung der letzten Dekade als „Retro-Jahrzehnt“ betrachten.

Die ersten historischen Jugend(sub)kulturen, die zu Beginn der Nullerjahre ein solches zusätzliches Revival erfuhren, waren die Hippies und die Protestbewegung. Ihre erneute Popularität ist in einem größeren Zusammenhang zu betrachten: Der von der republikanischen Regierung der USA in Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001 verkündete War on Terror zog in vielen westlichen Ländern ein Erstarken der Friedensbewegung, Massendemonstrationen gegen die Militäreinsätze der USA in Afghanistan und Irak sowie eine konsensuelle, allgemeine Popularität von Anti-Kriegs-Haltungen nach sich. Lebensstil und Friedfertigkeit der Hippies wurden wiederentdeckt und von Jugendlichen zur Identifikation genutzt, was zu einem gesteigerten Interesse an Musik und Symbolen der Hippies führte. Einige Modeketten erkannten diese Entwicklung und boten kurz darauf Waren mit Symbolen wie der weißen Taube, dem gebrochenen Gewehr, dem CND-Symbol[7] oder Pace-Flaggen zum Kauf an. Es entstanden kulturindustriell forcierte Neo-Subkulturen und die Retrophänomene setzten sich im Verlauf der Nullerjahre in Revivals von Punk- und zuletzt Gothic-Mode fort. Ebenfalls erschienen im Vergleich zu vorigen Jahrzehnten eine hohe Anzahl neuer und wiederveröffentlichter Dokumentarfilme und Bücher über Jugendkulturen. Ferner gab es eine Vielzahl von: Pop-Anthologien und -Diskographien in Buchform, Pop-Ausstellungen, Sondereditionen alter Veröffentlichungen und viele weitere Memorabilien. Einige Buchveröffentlichungen über Post-Punk oder Neue Deutsche Welle, darunter Rip It Up and Start Again von Simon Reynolds (2007) und Verschwende deine Jugend von Jürgen Teipel (2001), bildeten erst die Quellengrundlage für kurz darauf eintretende Retrophänomene und stellen gleichzeitig penible Dokumentationen über Jugend(sub)kulturen und Romantisierungen der jeweiligen Zeitkulturen dar. Die in den Büchern beschriebenen und im Internet kostenlos zugänglichen Tonträger bildeten einen Pool von Zitaten, der jungen Künstlerinnen und Künstlern als Einfluss für neue Popmusik dienen konnte. Auf diese Weise wurde das Pop-Zitat selbst Basis einer Vergemeinschaftung von Kennerinnen und Kennern der jeweiligen Referenzen. Diese verweisen heute nicht nur auf verschiedenen Zeitkulturen des eigenen Kulturraumes sondern auch auf die anderer Weltregionen. Reynolds nennt als Vertreter des „everywhere/everywhen pop“ die New Yorker Band Vampire Weekend, die – sich auf einen ähnlichen Ansatz Paul Simons aus den 1980ern berufend, der jedoch auf der Suche nach Inspirationsquellen noch um die Welt reisen musste – Elemente aus New Wave, Reggae, Afrobeat und Weltmusik aus allen Zeitkulturen zu zeitgenössischem Indie-Rock recyceln (2011, S. 413). Sänger Ezra Koenig, der bereits vor Gründung der Band 2006 in einer Hip Hop-Formation aktiv war, sieht sein ästhetisches Ziel im Einfangen von Vibes, ohne dass es ihm dabei von Bedeutung sei, ob seine Funde mit der eigenen Biographie in Einklang zu bringen wären:

What is authentic for a guy like me? Fourth-generation Ivy-League, deracinated, American Jew … raised in [New Jersey] to middle-class post-hippie parents with semi-Anglophilic tendencies … The obvious answer is that I, like all of us, should be a truly post-modern consumer, taking the bits and pieces I like from various traditions and cultures, letting my aesthetic instincts be my only guide. In fact, all of my friends (even the children of immigrants) seem to be in the same boat. We are BOTH disconnected from AND connected to EVERYTHING. (Zitiert nach: Reynolds, 2011, S. 414 f)

Trotz des umfangreichen Pop-Wissens junger Künstlerinnen und Künstler und der Bandbreite ihres Zitat-Pop konstatiert Reynolds: „Nothing on the game-changing scale of rap or rave came through in the 2000s“ (2011, S. 408). Das Pop-Wissen habe dazu geführt, dass in den vergangenen zehn Jahren lediglich neue Nischen, Sparten und „micro-trends“, jedoch keine originär neuen Jugendphänomene entstanden seien (ebd.). Alle vorigen Dekaden der Popgeschichte seien durch das Aufkommen neuer Jugend(sub)kulturen und einem Gefühl des Fortschritts gekennzeichnet gewesen, wohingegen es der letzten Dekade an „movements and movement“ gefehlt habe (a.a.O., S. 407). Reynolds konstatiert somit, das Jahrzehnt werde zukünftig eher durch musik-technologische Neuerungen, die Verbreitung und Konsum betreffen (z.B. Napster, den Ipod oder Myspace), als durch Musik und Jugend(sub)kulturen in Erinnerung bleiben (a.a.O., S. 411).[8]

2.3 3.3 Die Übermacht des Archivs

Reynolds bringt die gegenwärtige Dominanz von Retrophänomenen in der Popkultur in Zusammenhang mit der Entwicklung des Internets, das ein digitales Kulturarchiv darstelle, welches durch jede Person zum Gebrauch herangezogen werden könne (2011, S. xx f). In diesem Archiv herrsche eine Überdokumentation von Kultur der Vergangenheit, die dort in ihrer Masse die Kultur der Gegenwart überragen würde: eine „Übermacht des Archivs“(vgl. Lintzel, 2011). Laut Reynolds sei diese eine der Ursachen für die Originalitätskrise in der heutigen Popkultur (Reynolds, 2011, S. 56) . YouTube sei nach Reynolds das anschaulichste Beispiel für durch digitale Technologien verursachte Überdokumentation (ebd.). YouTube erlaube, ohne dass den Anwendenden dabei Platz- oder Kostenfragen entstehen würden, Kulturgüter zu speichern und zu verteilen, die daraufhin theoretisch für immer im Netz bleiben könnten (a.a.O., S. 63). Während des Konsums eines Inhalts verweisen darüber hinaus Algorithmen auf eine Vielzahl ähnlicher Inhalte. Nach den Ausführungen von Reynolds (a.a.O., S. 62) stelle YouTube das populärste und umfangreichste Archiv für Popmusik und nutzergenerierte Inhalte im Web 2.0 dar, während für den Bereich der Medienkunst, des Avantgarde-Kinos und neuer Poesie zusätzliche Archive wie UbuWeb und archive.org existierten, die spezialisierter und sorgfältiger kuratiert seien.

Der Backkatalog von Plattenfirmen, der mehr als drei Jahre alte Veröffentlichungen beinhalte, sei vor der massenweisen Verbreitung des Internets schwieriger zugänglich und das Hören alter Musik auf das beschränkt gewesen, was in den Plattenläden angeboten war (a.a.O., S. 57) . Im Jahr 2000 hätten Verkäufe aus dem Backkatalog der Musiklabels noch einen Anteil von 34,4 Prozent der gesamten in den USA verkauften Tonträger besessen. Bis 2008 sei dieser Anteil stetig auf 41,7 Prozent gestiegen. Im Bereich der bezahlten Downloads seien im Jahr 2009 bereits 64,3 Prozent der verkauften Songs aus dem Backkatalog und nur 35,7 Prozent der Songs neuer gewesen (a.a.O., S. 65 f) . Statistiken über illegale Downloads und Filesharing liegen nicht vor, jedoch konstatiert Reynolds, dass auch dort eine starke Tendenz zu Katalog-Musik anzunehmen sei (ebd.).

Im Web 2.0 sind Musik und Biographien der Künstlerinnen und Künstler über ein rhizom-artiges Kontextsystem aus Seiten wie Google , Wikipedia , YouTube und LastFM einsehbar. Darin wird ebenso auf ihre eigenen Einflüsse sowie ihre Wirkungsgeschichte auf gegenwärtige Künstlerinnen und Künstler verwiesen. Durch wenige Mausklicks können Userinnen und User heute musikalische und jugend(sub)kulturelle Nischen erkunden und eine Menge von Tonträgern und Informationen besitzen, wie dies vor der massenweisen Verbreitung des Internets nur wenigen Sammlerinnen und Sammlern möglich war. Die Übermacht des Archivs jedoch alleine im Internet begründet zu sehen, würde zu kurz greifen. Eine Fokussierung auf Vergangenes fand wie im Laufe dieses Kapitels beschrieben in all jenen Medien statt, über die Popkultur vermittelt werden kann: Film, Zeitschriften und Zeitungen, Büchern, und eben auch dem Internet und der Musik. In den letzten beiden Bereichen trat sie nur am deutlichsten zutage. Zusätzlich ist der kulturindustrielle Mainstream, von dem sich die in den 1980ern entstandenen Independent-Labels abgrenzen wollten, im Zuge dieser Entwicklung in einem Auflösungsprozess begriffen. Die Identifikation über musik-assoziierte Jugend(sub)kulturen ist heute nicht mehr eine ausschließliche Angelegenheit von Minderheiten. Vielmehr existiert heute ein „Mainstream der Minderheiten“ (vgl. Holert & Terkessidis, 1996) .

3 Stand der Jugendkulturforschung – Cultural Studies

Unter Jugend wird allgemein der Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter verstanden. Diese Transformation ist in einer zeitlich „variable[n] Übergangsphase“ angesiedelt, die „in enger Beziehung zu dem steht, was sich eine Gesellschaft ökonomisch und politisch leisten kann und will“, zum Zweck der „Aneignung von Kenntnissen, nach der die Erfüllung spezialisierter Rollen innerhalb der ‚Erwachsenen-‘gesellschaft verlangt(e)“ (Kimminich, 2006, S. 35). Gleichzeitig soll die Jugendphase „Autonomiegewinne und […] gewisse Zeiten und Ressourcen der Selbstfindung“ zulassen und ermöglichen (Sūna & Hoffmann, 2011, S. 219).

Die Jugendphase geriet laut der Potsdamer Romanistik Professorin Eva Kimminich um den Wechsel vom 19. in das 20. Jahrhundert in den Blick der Wissenschaft; zunächst als „repressiv erzieherisch orientierte ‚Jugendkunde‘“, die zwei Stereotypen Jugendlicher kannte: das bürgerliche Bild des „christlichen Jünglings“ einerseits und „verwahrloste, gottlose, kriminelle und korrektionsbedürftige“ Jugendliche aus sozial schwachen und Arbeiterschichten andererseits (Kimminich, 2006, S. 36). Positivere Denkweisen über die Jugendphase setzten sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch. So führt Kimminich weiter aus, dass Jugend im Zuge der Kulturkritik Ernst Cassirers und Georg Simmels als „kulturschöpfend“ galt und Jugendlichkeit zu einem humanistischen Wert erhoben wurde, welcher „der Selbstentfremdung der ‚Erwachsenen-‘gesellschaft von nun an entgegentreten sollte“ (a.a.O., S. 36 f). In der zeitnah entstandenen Jugend- und Reformbewegung habe sich das neue „Selbst- und Sendungsbewusstsein“ manifestiert, vor dessen Hintergrund nun auch vermehrt die Kulturproduktion Jugendlicher und ihre „partizipative Rolle im dynamischen Prozess sozialen Wandels“ Objekt wissenschaftlicher Betrachtung wurden (a.a.O., S. 38).

Für die Soziologie der Nachkriegszeit waren Jugendliche interessant, sobald sie in vergemeinschafteter Form die dominanten Normen und Ideologien der Gesellschaft hinterfragten (Sūna & Hoffmann, 2011, S. 219). Die Jugendsoziologie befasste sich seit den 1950er Jahren also bereits mit jugendlichen Lebenswelten, aber eher mit den aus dem gesamtgesellschaftlichen Rahmen fallenden und mit Sub- und Gegenkulturen überschneidenden Erscheinungen von Jugend; sie betrieb eine „Soziologie der Devianz“ (Terkessidis, 2006, S. 156). Hierzu fasst Kimminich zusammen:

Im Blickpunkt des Interesses lagen zunächst immer auffälligere Gestaltungsformen und Handlungsweisen, die vor dem Hintergrund normativer Identitätskonzepte als stufenweise Begleiterscheinungen der ihnen im Kontext spezifischer sozialer Bedingungen zugeschriebenen Persönlichkeitsentfaltung gedeutet wurden. Jugendkulturen wurden daher v.a. als Übergangs- und/oder Gegenkulturen bewertet und sie wurden ausschließlich der Popkultur (im Gegensatz zur Hochkultur) zugeordnet, was ihren Protest bald als kurios und unterhaltsam, aber ohne gesellschaftspolitischen Nutzen erscheinen ließ. Auch ästhetischer Wert oder ein nennenswertes Kreationsvermögen wurde ihr zunächst kaum zugestanden. (2006, S. 39)

Diese Perspektive erklärt, weshalb besonders „Halbstarke, Teddy Boys, Hooligans, Rocker, Hippies, Provos, Mods, Skinheads, Punks, Alternative und Autonome“, die durch politisch motivierte Handlungen oder durch ihr exotisches Äußeres als „widerständig oder ideologisch verdächtig“ betrachtet wurden, bereits kurz nach ihrem ersten Auftreten Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung wurden, die zunächst unpolitische Rave- und Technobewegung jedoch verspätet (Klein, 2004, S. 53).

Die in den 50er Jahren in Großbritannien entwickelten Cultural Studies nahmen von Anfang an die Kulturproduktion und -rezeption von Jugendlichen in den Fokus. Sie verfolgen einen interdisziplinären Ansatz aus Soziologie, Ethnologie, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Kunst-, Kultur- und Geschichtswissenschaften sowie neueren philosophischen Theorien. Besonders die Birminghamer Schule des Center for Contemporary Cultural Studies, mit Vertretern wie Stuart Hall und Dick Hebdige, widmet sich bis heute der „Deutung der symbolischen Natur von Subkulturen, die sich im Spannungsfeld der dominanten politischen und sozialen Verhältnisse über Kleidung, Musik, Jargon und Rituale konstituierten“ (Sūna & Hoffmann, 2011, S. 220). Jugendliche Kultur wird in den Cultural Studies im Gebrauch und im Kontext von „Interrelationen von Staat, Gesellschaft und Individuum, sozialem Gefüge und Identität, gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion, kollektivem Gedächtnis und Symbolkonfigurationen“ betrachtet (Kimminich, 2006, S. 40). Großen Einfluss auf die Cultural Studies übte die Kritik der Kulturindustrie Theodor W. Adornos und Max Horkheimers aus (vgl. Horkheimer & Adorno, 2004 [1944], S. 128-176). Deren Manipulationstheorien lehnten sie jedoch ab und setzten an ihre Stelle den Kampf um hegemoniale Deutungshoheiten zwischen Kulturindustrie und Anwendern in der Alltagskultur (Schweppenhäuser, 2005, S. 162). Später wurden auch Ideen postmoderner Theorie, des Poststrukturalismus, Luhmanns Systemtheorie sowie kritische Ansätze zu Race, Class und Gender integriert. So konstatieren die Cultural Studies heute, Kultur könne nur „als eine Zirkulation von Bedeutung […] in ihren sozialen und ökonomischen Kontexten von Macht und Politik angemessen analysiert werden“ (Kimminich, 2006, S. 40). In dieser Zirkulation von Bedeutung lösen sich, seit Anbruch der Postmoderne, die referentiellen Fixpunkte zunehmend auf. Jean Baudrillard sah darin den Eintritt in das Zeitalter der Simulation markiert: „The great event of this period, the great trauma, is the decline of strong referentials, these death pangs of the real and of the rational that open onto an age of simulation” (1994 [1981], S. 43). Das erste deutliche Hervortreten ironisierender und über Kulturzitate vermittelter Retrophänomene lässt sich zeitlich simultan mit dem Einsetzen dieses Prozesses verorten und als Element des von Baudrillard beschriebenen neuen Zeitalters betrachten.

Laut der Soziologin Gabriele Klein schlugen die Cultural Studies – indem durch eine zweiwertige Perspektive auf Produktion und Rezeption die Verbindung von Kulturindustrie und (jugendlicher) Alltagskultur untersucht wurde – einen dritten Weg zwischen Kritischer Theorie und postmoderner Kulturanalyse ein. Dieser bestand darin, den kreativ handelnden Individuen einen Platz zwischen der übermächtigen Kulturindustrie und der postmodernen Auflösung des Subjekts im Zeitalter von Simulation, Hyperrealität und übersteigerter Individualität einzuräumen.[9] Das Individuum sei nicht vollständig durch die Kulturindustrie fremdbestimmt und besitze Möglichkeiten, zwischen Kulturprodukten zu wählen, deren Bedeutung ebenfalls nicht allein durch die Kulturindustrie bestimmt werde, sondern die durch Rezeption änderbar sei. In diesem Sinne besäßen die Individuen die Möglichkeit, sich Kultur anzueignen (2004, S. 218 f).

[...]


[1] Abk. für Polyvinylchlorid. Bezeichnung für einen Kunststoff.

[2] Vintage ist ursprünglich eine Bezeichnung für wertvolle, ältere Weinjahrgänge. Heute wird die Bezeichnung für gebrauchte Gegenstände verwendet, die durch Gebrauch keinen Wertverlust erfahren sondern im Wert steigen. Ihr Wert begründet sich ein einem Rest von Aura, der ihnen durch Alter und Gebrauch anhaftet. Als Aura beschreibt Walter Benjamin eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (2010 [1936], S. 22). Als Beispiel für eine mögliche Vergegenständlichung der Aura nennt er die Porträtfotografie, deren Funktion im „Kult der Erinnerung an die fernen und verstorbenen Lieben“ (a.a.O., S. 31) bestehe.

[3] Im symbolischen Tausch sah Jean Baudrillard ein Instrument zur Zerstörung eines sich stetig selbst erneuernden Systems. In einem unausweichlichem Tauschprinzip, nach dem für eine großzügige Gabe einer stets noch großzügigere Gegengabe verlangt werde, bleibe dem System nur die Selbstopferung, sobald es keine Gegengabe mehr leisten könne (Blask, 2002, S. 47-52). Dieses Tauschprinzip nordamerikanischer indigener Völker wird ebenfalls Potlatch genannt. Greil Marcus beschreibt in Lipstick Traces (1990) das Streben nach der Ausreizung des Potlatch-Prinzips als subversiven roten Faden von den Züricher und Berliner Dadaisten über die Situationistische Internationale hin zu Punk.

[4] Boheme-Subkultur mit Affinität zum Kitsch.

[5] Anm. d. Verf.: Mit seiner Etablierung zu einer Jugend(sub)kultur wurde dieses Spiel vorerst beendet und Punk entwickelte selbst einen sehr spezifischen Identitätsanspruch. Dadurch wurde Punk eine weitere Zitatquelle mit eigenen (vormals angeeigneten) szene-spezifischen Symbolen und Codes.

[6] Anm. d. Verf.: Eine Wiederholung blieb in Großbritannien nach erstem Bekanntwerden der Praktik aus, da die frühen Punks bald linke politische Inhalte internalisierten und eine Nachahmung in diesem Falle eher keine künstlerische Anerkennung einbrachte. Die Geschmacklosigkeit des Tragens derartiger Symbole nach englischem Vorbild durch die frühen deutschen Punks einige Jahre später (vgl. Teipel 2001) stellt im historischen Kontext der Täterrolle Deutschlands den Inbegriff für ein misslungenes ironisches Zeitkulturzitat durch Plagiieren dar.

[7] Anm. d. Verf.: Das Symbol der CND (Campaign for Nuclear Disarmament) wird im Allgemeinen Friedenszeichen genannt. Es handelt sich hierbei um dieses Symbol: ☮.

[8] Anm. d. Verf.: An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wieso Reynolds am apriorischen Zusammenhang zwischen Popmusik und Jugendkultur festhält und die in Retromania mehrfach auftauchenden Überlegungen, diesen selbst zu thematisieren, ohne weitere Ausführungen wieder verwirft. Eine kurze Behandlung dieser Problematik erfolgt in vorliegender Untersuchung in Kapitel 7 und im Fazit.

[9] Zur postmodernen Auflösung des Subjekts (vgl. Blask, 2002, S. 75-83).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783863417109
ISBN (Paperback)
9783863412104
Dateigröße
331 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1
Schlagworte
Postmoderne Baudrillard Punk Witch-House Cultural Studies Nostalgie Jugenkultur
Zurück

Titel: Retro, Postmoderne, Jugendsubkultur: Eine kritische Betrachtung
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
60 Seiten
Cookie-Einstellungen