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Handlungs- und produktionsorientierte Methoden zur Förderung der Lesekompetenz: Max Frischs Drama 'Andorra' im kompetenzorientierten Deutschunterricht

©2011 Examensarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit untersucht die Möglichkeiten und Grenzen handlungs- und produktionsorientierter Methoden im Rahmen eines kompetenzorientierten Deutschunterrichts am Ende der Sekundarstufe I. Dazu wird die Planung einer Unterrichtssequenz zum handlungs- und produktionsorientierten Erschließen des dramatischen Textes 'Andorra' von Max Frisch mit dem Fokus der Lesekompetenzförderung theoretisch fundiert. Auf der Basis tiefgehender Überlegungen zur Lesekompetenz selbst, aber auch zu handlungs- und produktionsorientiertem Literaturunterricht und zum Drama 'Andorra' findet dann die eigentliche Planung und Durchführung einer Unterrichtssequenz statt, die schließlich eingehend evaluiert wird.
Im Zentrum stehen einige exemplarisch aus den eingesetzten Methoden ausgewählte handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, die zuerst theoretisch beschrieben und schließlich nach dem Praxistest eingehend hinsichtlich ihrer Funktionalität zur Förderung der Lesekompetenz überprüft werden. Besonders interessant ist hierbei natürlich die Frage, ob die eingesetzten Verfahren dazu in der Lage sind, auch eher leseschwachen Schülern einen Zugang zu einem solch anspruchsvollen Dramentext zu ermöglichen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.2.3. Die Vorgaben der Bildungspolitik

Die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien und die nachfolgende Diskussion um deutsche Schülerleistungen zog eine unter dem Namen 'Bildungsreform' beworbene Entwicklung im deutschen Schulsystem nach sich, welche einen Wandel von der Inputsteuerung zur Output­orientierung forderte.[1] Wissenschaftliche Fundierung bildete die Klieme-Expertise,[2] in deren Folge Bildungsstandards als verbindliche und systematisch überprüfbare Lernergebnisse ('Output') der Schüler zu einem definierten Zeitpunkt, wie etwa dem Mittleren Schulabschluss, durch die Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen wurden.[3]

Für das Fach Deutsch werden im Rahmen der Bildungsstandards durch die KMK die folgenden vier Kompetenzbereiche definiert:[4]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die nähere Beschreibung des Bereiches 'Lesen' lässt den Einfluss des PISA-Konzepts deutlich werden, denn hier ist durch die Betonung der Bedeutung von gesellschaftlicher Partizipation und der drei Ebenen Verstehen, Reflektieren und Bewerten die Vorstellung von Lesekompetenz als 'reading-literacy' eingeschlossen. Die KMK geht in ihrer Beschreibung des Teilbereichs allerdings darüber hinaus, wodurch ein umfassenderes Verständnis von Lesen deutlich wird, ohne dass aller­dings Lesen oder Lesekompetenz näher definiert werden. Es wird allerdings dem Leseverstehen in der den Kompetenzbereich beschreibenden Leitidee eine Leseinteresse und Lesefreude fördernde Wirkung zugeschrieben sowie ein Beitrag zur Ausbildung von Empathie und Fremdverstehen.[5]

Damit ist eine Unterrichtseinheit zu Max Frischs „Andorra“ zur Förderung von Lese­kompetenz mit Hilfe handlungs- und produktionsorientierter Methoden auf Ebene der Bildungs­standards bereits legitimiert, denn die Schüler werden sich den Text erschließen müssen und die handlungs- und produktionsorientierten Methoden tragen dabei idealiter zur Steigerung von Lese­interesse und Lesefreude sowie Empathiefähigkeit bei.[6] Konkreter wird das Vorgehen allerdings auch noch durch die Formulierung der Standards im Bereich Lesen gerechtfertigt, denn hier werden produktive Methoden, wie bspw. adressatenbezogenes Schreiben, das Weiterschreiben oder Um­schreiben literarischer Texte, explizit genannt.[7]

Der Berliner Rahmenlehrplan für Deutsch in der Sekundarstufe I versteht sich als die Umsetzung der Bildungsstandards und folglich sind auch hier mannigfache Bezüge zum geplanten Vorgehen zu finden. Wesentlich erscheint an dieser Stelle, dass natürlich auch im Rahmenlehrplan bereits in der allgemeinen Beschreibung der Kompetenzbereiche und des Kompetenzerwerbs Lese­kompetenz als wesentliche Voraussetzung für den Informations- und Wissenserwerb beschrieben wird, damit als Schlüsselkompetenz für das im Informationszeitalter immer wichtiger werdende lebenslange, selbstgesteuerte Lernen und für jede Form von Partizipation. Diese Betonung der Wichtigkeit des Lesens rechtfertigt nun allerdings den Einsatz jeglicher Texte. Genuine Eigenschaft literarischer Texte ist allerdings die fiktionale Gestaltung, welche durch die Schüler in ihrer Wirkungs­weise erschlossen werden kann. In literarischen Texten werden in unterschiedlicher Weise und oft mehrdeutiger Sprache Perspektiven, Standpunkte, Konfliktverläufe und -lösungen präsen­tiert, zu denen sich die Schüler positionieren, indem sie in eine Interaktion mit dem Text treten. Die Auseinandersetzung mit dem Sinnangebot literarischer Texte ist laut Rahmenlehrplan explizit auch mittels produktiver Verfahren wünschenswert.[8]

Diese allgemeinen Vorgaben werden dann mittels der Standards für die einzelnen Kompetenzbereiche nochmals konkretisiert. Den für die geplante Reihe identifizierten Schwerpunkt bildet dabei der Kompetenzbereich 'Lesen: Verstehen von literarischen Texten/fiktionalen Texten und Medien – 9/10',[9] da es vor allem um die Erschließung des Dramas mit Hilfe handlungs- und produktionsorientierter Methoden geht.[10] Daher gilt es zu beweisen, dass damit auch eine Förderung von Lesekompetenz einhergeht.

2. Theoretische Überlegungen zur Vorbereitung der Unterrichtseinheit

2.1. Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht

Handlungs- und Produktionsorientierung ist kein Novum im Literaturunterricht.[11] Wie bereits dargestellt, verweisen selbst die bildungspolitischen Vorgaben auf handlungs- und produktions­orientierten Umgang mit Literatur, um den klassisch analytisch-interpretierenden Zugang zu ergänzen. Dennoch ist eine Begriffsklärung als Fundierung für die weiteren Überlegungen notwendig, da zum einen immer wieder eine Vermischung mit kreativen Methoden stattfindet und zum anderen auch das Konzept des handlungs- und produktionsorientierten Umgangs mit Literatur durch unterschied­liche Didaktiker verschieden bezeichnet und geprägt wurde.[12]

Literaturtheoretische Basis des modernen handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes bildet vor allem die Rezeptionsästhetik, welche den Leser als Koproduzenten des Textes sieht, weil dieser die Bedeutung erst im Lesevorgang generiert, indem durch den Text gegebene Leerstellen durch den Leser gefüllt werden. Handlungs- und produktionsorientierte Methoden bieten die Möglichkeit, dies durch produktive Tätigkeit nicht nur in Gedanken, sondern konkret zu tun.[13] Hinzu kommen Einflüsse aus Postmoderne und Dekonstruktion, die vor allem darin deutlich werden, dass der Text nicht nur als geschlossenes Ganzes zu behandeln ist, sondern durchaus auch in ihn eingegriffen werden kann.[14] Die Radikalisierung der Rezeptionsästhetik kommt zudem in den aktuellen Einflüssen des Konstruktivismus zum Ausdruck, welcher maßgeblich auch die Vorstellung vom Prozess des Lesens prägt und die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren ebenfalls legitimiert, da in diesen eben jeder Leser für sich den Bedeutungsgehalt konstruieren muss.[15]

Ist von handlungs- und produktionsorientiertem Literaturunterricht die Rede, wird zuweilen der Anschein eines zusammengehörigen und klar definierten Begriffspaares suggeriert.[16] Dabei ist zu beachten, dass sowohl Handlungsorientierung als auch Produktionsorientierung eigenständige didaktische Prinzipien darstellen. Dabei meint Handlungsorientierung in diesem Zusammenhang einen ganzheitlichen Zugang zu Literatur, möglichst unter Einbezug aller Sinne, der die Selbsttätig­keit der Schüler befördert.[17] Produktionsorientierung verweist dagegen darauf, dass durch den han­delnden Umgang mit Texten neue Texte, Textvarianten oder auch ganz andere Produkte entstehen.[18] Der Schwerpunkt liegt häufig auf schriftlichen Verfahren des Ergänzens, Um- oder Weiter­schreibens, damit eher auf produktionsorientierten Verfahren, die zum Teil allerdings Mischformen darstellen.[19]

Das Zusammenspiel von Handlungs- und Produktionsorientierung erfährt damit eine breite didaktische Begründung, denn unter diesen Begriffen zusammengefasste Methoden ermöglichen den Schülern eine eigenständige, selbstgesteuerte und intensive Auseinandersetzung mit dem Text. Dem Lehrer ist es möglich, einen individualisierenden Unterricht anzubieten, in welchem die Schüler je nach Interesse, Begabung oder Lernertyp differenziert Aufgaben wählen können. Die Auseinandersetzung mit den Schülerprodukten, die auch vor allem bezugnehmend zum Ausgangs­text erfolgen sollte, bietet die Möglichkeit zur Reflexion des eigenen Arbeitsprozesses und zur Beurteilung der Ergebnisse. Guter handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht geht zusammenfassend also idealiter unter anderem mit einer hohen Lesemotivation, einem hohen Selbststeuerungsgrad und einer hohen Schüleraktivität einher.[20]

Der Einsatz dieser Verfahren garantiert dabei allerdings natürlich noch nicht guten Unterricht. Der Vorwurf der Beliebigkeit der Schülerprodukte ist unter Umständen genauso gerecht­fertigt, wie jener bezüglich des unreflektierten Umgangs mit Literatur oder des wahllosen Einsatzes entsprechender Methoden ohne weiteren Erkenntniswert, sondern lediglich der Methode wegen.[21] Hier muss klar sein, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren immer auch mit analytischen Verfahren kombiniert werden sollten und dass letztlich auch für die Schülerprodukte Kriterien entwickelt werden müssen, auf deren Basis sie beurteilt werden können. Letztlich muss es beim handlungs- und produktionsorientierten Umgang mit Literatur um gestaltendes Interpretieren gehen, denn die Auseinandersetzung mit dem Text dient ja der Texterschließung.[22] Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht darf nicht mit kreativem Schreiben verwechselt werden, bei welchem der Ausgangstext gleich einem Bildimpuls oder Ähnlichem nur Ausgangspunkt für völlig freies Schreiben bildet.[23]

2.2. Förderung von Lesekompetenz

Der Stellenwert der Lesekompetenz für individuelles Lernen und Partizipation wurde ebenso dargestellt, wie die sich daraus abgeleiteten Forderungen zur Förderung von Lesekompetenz. Dabei muss natürlich im Rahmen dieser Arbeit vorerst geklärt werden, welche Art von Lesekompetenz in meiner Unterrichtsreihe zu Frischs 'Andorra' primär gefördert werden soll. Klar sollte sein, dass es sich bei der Lesekompetenz, welche im Deutschunterricht gefördert wird, um mehr handeln muss, als 'reading-literacy' im Sinne von PISA.[24] Wie dargestellt implizieren auch die Bildungsstandards und Rahmenlehrplanvorgaben einen weiter gefassten Lesekompetenzbegriff, ohne diesen allerdings weiter zu spezifizieren.

Im Rahmen dieser Arbeit wird Lesen als aktive Konstruktionsleistung des Individuums verstanden, bei der Textinhalte mit Vor- und Weltwissen verknüpft werden. Die Teilleistungen Lesefertigkeit, als Fähigkeit, Grapheme in Phoneme umzuwandeln, und Leseverständnis, als Fähig­keit, den Sinngehalt des Gelesenen zu entnehmen, führen zusammen zu einer mehr oder weniger kohärenten mentalen Repräsentation der Textbedeutung. Dem Kompetenzbegriff Weinerts folgend ist Lesekompetenz damit eine Disposition, die ihren Träger befähigt die unterschiedlichen Anforderungen des Textes erfolgreich zu bewältigen.[25] Dies impliziert, dass das Lesen eines literarischen Textes nicht mit dem Umgang mit Sachtexten gleichgesetzt werden kann, weil jede Textsorte eine spezifische Anforderung an den Leser stellt.[26]

Damit wird deutlich, dass es mehrere Einflussfaktoren auf den Leseprozess gibt, welche die Lesekompetenz determinieren. Diese sind sowohl textimmanent als auch leserseitig und können im Rahmen eines Tetraedermodells in vier Merkmalsklassen gruppiert werden:[27]

Diese Determinanten der Lesekompetenz sind nun als jene Stellschrauben zu betrachten, an welchen durch Schüler und Lehrer gedreht werden kann, um eine Förderung der Lesekompetenz zu erreichen.[28] Wesentlich erscheint, an dieser Stelle bereits festzuhalten, von welcher Leseanforderung ausgegangen werden soll. Es kann meines Erachtens im Literaturunterricht nicht nur um das verstehende Lesen gehen, da dies nicht dem Gegenstand Literatur gerecht wird.[29] Damit scheiden allerdings auch alle gängigen Kompetenzmodelle zur Messung von Lesekompetenz aus, da diese sich lediglich auf das sinnentnehmende, verstehende Lesen beschränken.[30] Diese Art von Lesen ist natürlich auch wesentliche Voraussetzung für das Verständnis des Dramentextes, doch der inten­siven Auseinandersetzung mit der Thematik des Dramas wird eher das reflexive Lesen gerecht. Damit ist ein Lesen gemeint, welches textbezogen die enthaltenen Probleme aufwirft sowie Inhalte hinterfragt und welches leserbezogen die eigene Haltung bewusst macht, um die Möglichkeit eines Perspektivwechsels zu schaffen.[31] Auf weitere Determinanten der Lesekompetenz wird bezug­nehmend zum methodischen Schwerpunkt und literarischen Gegenstand noch konkret eingegangen werden, was allerdings eine vorherige Auseinander­setzung mit letzterem, also mit Max Frischs „Andorra“ voraussetzt.

2.3. Implikationen durch das Drama „Andorra“ von Max Frisch

Frisch hat mit dem Kommentar zum Stück, Andorra sei der Name für ein Modell und habe nichts mit dem Kleinstaat gleichen Namens oder einem anderen Kleinstaat zu tun, eine wesentliche Prämisse für die Deutung des Dramas aufgestellt.[32] Dieser damit angesprochene modellhafte Charakter des Stückes wird zudem in der Zeichnung der Figuren, des Schauplatzes und auch im Handlungsverlauf deutlich. Der Einfluss des Epischen Theaters ist unverkennbar und wird von Frisch in einem Interview mit Ernst Wendt selbst betont. Das Modell diene ihm als Mittel, eine Thematik durch Entaktualisierung freizulegen.[33] Die Thematik ist freilich zur Entstehungszeit mehr als aktuell, denn die Fabel des Stückes entstand als Prosaskizze 1946 in unmittelbarer Nach­kriegs­zeit, zur Zeit der Nürnberger Prozesse. Die Arbeit am Drama fand dann vor allem zwischen 1958 und 1961 statt.[34] 1960 wurde Eichmann gefasst und in Israel der Prozess gemacht.

Dies macht deutlich, dass „Andorra“ trotz aller Betonung des Modellcharakters, auch ein Stück seiner Zeit ist. Dabei hat es allerdings den Anspruch ein Stück jeder Zeit zu sein, denn die Art, wie in „Andorra“ die 'normale' Gesellschaft einen Menschen durch Vorurteile in eine bestimmte Rolle drängt, ist leider zeitlos. So spielt es vor dem Hintergrund der Judenverfolgung und weist Bezüge zur Zeitgeschichte auf, etwa durch die Ähnlichkeit der schwarzen Soldaten mit der SS, bleibt dabei aber exemplarisch und gleichnishaft, da mit Andri nur ein einzelner vermeintlicher Jude um Integration ringt, mit Ablehnung, Ausgrenzung und letztlich Ermordung für seine gefühlte Andersartigkeit bestraft wird. Frisch geht es dabei um die Anfänge der Ausgrenzung durch Vorurteile und Mitläufertum sowie mit didaktischem Anspruch darum, wie diesen Vorgängen von Beginn an entgegentreten werden könnte und müsste.[35] Die Wirkmächtigkeit des Vorurteils wird dadurch noch massiv betont, dass Andri ja gar kein Jude ist, sondern nur durch die stereotypen Vorstellungen der Andorraner zu dem gemacht wird, was von ihnen unter einem Juden verstanden wird. Andri selbst zeigt die Bezüge zur Sündenbocktheorie auf, indem er sich selbst als Träger des Bösen in Betracht zieht, das durch die Anderen vernichtet werden wird.[36]

Dies ist eine von vielen Vorausdeutungen zu Beginn des Dramas, welche die Struktur als komponiertes Gesamtgefüge erscheinen lässt, in dem trotz der Auflösung der klassischen Dramen­form natürlich keine Szene wahllos platziert ist.[37] Die Einfügungen der Zeugenschranke durch­brechen Raum und Zeit, betonen die Schuld und Unbelehrbarkeit der Andorraner sowie damit den lehr­haften Charakter des Stückes. Barblins Schlussworte nivellieren zudem nicht nur die Unschuld Andorras und seiner Bewohner, sondern fordern zusammen mit dem Element der Zeugen­vernehmung auch dazu auf, über eine Anklage der Schuldigen oder Möglichkeiten der Intervention nachzudenken.[38] Das ganze Drama kann auch auf der Basis des Schuldeingeständnisses des Paters gelesen werden. Sein Ausspruch „Du sollst dir kein Bildnis machen [...]“[39] ist nicht nur Teil des Dekalogs,[40] sondern auch Titel eines Tagebucheintrags von Max Frisch, in welchem er die soziale Determiniertheit des Menschen reflektiert,[41] die im Falle Andris schließlich sogar in seiner Selbst­wahrnehmung aus einem andorranischen Jungen einen verfolgten Juden machte.[42]

2.4. Beitrag handlungs- und produktionsorientierter Methoden zur Förderung von Lesekompetenz in der Auseinandersetzung mit Max Frischs „Andorra“

2.4.1. Zusammenführung der theoretischen Überlegungen

Die besondere Herausforderung besteht nun an dieser Stelle darin, aufzuzeigen, inwieweit die bis­herigen recht theoretischen Überlegungen zum methodischen Vorgehen, Lesekompetenzförderung und Sachgegenstand einen Nutzen für die praktische Umsetzung bieten. Weitgehend unbestritten ist, dass handlungs- und produktionsorientierte Methoden einen wesentlichen Beitrag zur Förderung von Lesekompetenz leisten können. Dies tun sie vor allem auch deshalb, weil die Schüler durch gestaltende Methoden eine höhere Motivation erfahren, sich mit dem Text auseinander zu setzen. Die Förderung von Lesemotivation steht in direktem Zusammenhang mit der Förderung von Lesekompetenz, denn eine erhöhte Motivation ist zum einen auf Dauer habituell und zum anderen führt sie zur Erhöhung der Lesemenge, womit ein erweitertes Weltwissen, Strukturwissen, ein größerer Wortschatz und schnellerer lexikalischer Zugriff einhergeht.[43] Kurz gesagt führt also Freude am Lesen zu mehr Freude am Lesen, zu mehr Lesen und damit zu mehr Lesekompetenz, wodurch erneut die Schwelle zur Auseinandersetzung mit einem Text sinkt. Diese Lese­motivation zu entwickeln bzw. aufrecht zu erhalten ist direkte Forderung des Rahmen­lehr­plans[44] und in Anbetracht des durch Sprache und Form eventuell von den Schülern als recht anspruchsvoll empfundenen Dramas „Andorra“ auch eines der Hauptziele der Unterrichtssequenz. Da sich Kompetenz in der Bewältigung gestellter Aufgaben zeigt,[45] ist dies auch der primäre Nachweis eines Erfolgs der Sequenz.

Direkt damit einher geht die zu erwartende hohe Schüleraktivität, die durch die Ganzheit­lich­keit des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes erreicht werden soll. Die Schüler wählen selbstgesteuert ihren Interessen und Begabungen entsprechende Lernwege aus, trainieren damit metakognitive Strategien, die wesentliche Voraussetzung für die Kompetenz­ent­wick­lung sind. Bezogen auf die Lesekompetenz bedeutet dies zum Beispiel die Auswahl situations- und anforderungs­ange­messener Lesestrategien.[46] Am konkreten Beispiel „Andorra“ gibt es zum einen die Möglichkeit, in einer gelesenen Passage alle unbekannten Wörter zu markieren, um deren Bedeutung anschließend zu klären. Als schülereigener Text zum Text, der gleichzeitig Wortschatz und Weltwissen erweitert, wird dann ein Glossar zum Drama angelegt werden. Als weitere Lese­strategie kann das Gelesene visualisiert werden, etwa durch die Skizzierung eines Szenenbildes oder die Veranschaulichung der Beziehungen der Figuren in einem Strukturdiagramm. Dies kann bei diesem Dramentext das Verständnis erheblich erleichtern, da die Figuren sich durch ihr Verhalten lediglich selbst vorstellen, der Leser muss Figurenrede und -verhalten interpretieren und zuordnen und bekommt keine einordnenden Erläuterungen durch einen Erzähler.[47]

Szenische Verfahren, wie die Gestaltung eines Rollenspiels oder der Bau von Stand­bildern ermög­lichen es, den Schülern das Figurenverhalten und die Stimmung in einer Szene bewusst zu machen. Sie können zudem dazu beitragen, Dialogstrukturen und die Funktion von Regie­anweisungen auf­zuzeigen. Sie dienen allerdings nur dem Textverständnis, befördern somit den Aufbau einer mentalen Textrepräsentation, wenn sie von analytischen Verfahren begleitet werden.

2.4.2. Hypothesen und Indikatoren

Nachfolgende Übersicht soll die aus den bisherigen Überlegungen ableitbaren Hypothesen darstellen und mit zu überprüfenden Indikatoren verknüpfen:

1. Handlungs- und produktionsorientierte Methoden beeinflussen die Lesemotivation positiv und befördern damit die Lesekompetenz.

- Indikator: Die Schüler bewältigen mehrheitlich das schwer verständliche Drama.

2. Handlungs- und produktionsorientierte Methoden bieten die Möglichkeit, unterschiedliche Lerner­typen anzusprechen und ermöglichen den Schülern individuelles Lernen.

- Indikator: Die Unterrichtssequenz zeichnet eine hohe Schüleraktivität und intensive Auseinandersetzung mit dem Drama aus.

3. Einige handlungs- und produktionsorientierte Methoden ermöglichen eine Perspektiv­übernahme, welche zum vertieften Verständnis der Handlungsmotivation einzelner Figuren beitragen kann.

- Indikator: Die Schüler sind in der Lage, Gedankengänge und Verhaltensweisen einzelner Figuren nachzuvollziehen (z.B. jene Andris bezüglich Identität, Selbst- und Fremd­wahrnehmung).

4. Bei der Anwendung einzelner handlungs- und produktionsorientierter Methoden (z.B. Standbild, szenisches Lesen) werden spezifische Merkmale der Textsorte direkt erfahrbar, womit literarische Kenntnisse induktiv vermittelt werden, die wiederum beim Verständnis des Dramas nutzbar sind.

- Indikator: Die Schüler wissen um Spezifika wie Dialogstruktur, Regieanweisungen etc.

5. Durch die Vorbereitung bzw. Begleitung handlungs- und produktionsorientierter Methoden mittels analytischer Verfahren kann die Gefahr der Verselbstständigung der Kreativität gebannt werden, wodurch das Ziel, die Auseinandersetzung mit dem Text, nicht aus den Augen verloren wird.

- Indikator: Die Schülerprodukte weisen eine enge Bindung zum Drama auf und tragen zu seinem Verständnis bei.

6. Durch die Erstellung eines gemeinsamen Glossars zum Drama erweitern die Schüler ihren Wortschatz und ihr Weltwissen, wodurch die Lesekompetenz direkt befördert wird.

- Die Schüler können Begriffe wie weißeln, Jude, Klagemauer, Amtsarzt usw. erklären.

3. Planung der Unterrichtseinheit

3.1. Analyse der Lerngruppe als Ausgangspunkt für die Planung

3.1.1. allgemeine Beschreibung der Lerngruppe

Einen Eindruck von der Lerngruppe habe ich bereits zu Beginn der Arbeit versucht zu vermitteln. Generell sind die Schüler mir gegenüber aufgeschlossen und freundlich gesinnt, weshalb ein gutes Arbeiten in den meisten Deutschstunden möglich ist. Dieses positive Arbeitsklima musste zu Beginn meines Vorbereitungsdienstes, seit welchem ich die Klasse eigenständig unterrichte, aller­dings auch erarbeitet werden. Zum Klassenklima ist zu sagen, dass es hier und da leichte Reibereien zwischen einzelnen Schülergruppen gibt, die ab und an auch störenden Einfluss auf den Unterricht nehmen. Die Lerngruppe besteht aus insgesamt 29 Schülern, wovon 17 männ­lich und 12 weiblich sind. Insgesamt fünf Schüler sind mit einer LRS diagnostiziert, wobei zudem drei weitere Schüler große Schwächen im Fach Deutsch und hier besonders im Bereich der Recht­schreibung aufweisen. Hieran wird beispielhaft die große Leistungsstreuung innerhalb der Lern­gruppe deutlich, die auch in anderen fachspezifischen Bereichen wie etwa der mündlichen und schrift­lichen Ausdrucks­fähigkeit, Lesefertigkeiten, aber ebenso ganz allgemein, bezüglich Konzentrations­fähigkeit, Arbeitstempo oder kognitiver Leistungs­fähigkeit ersichtlich ist.

Die Schüler lesen mit Frischs „Andorra“ ihre zweite umfangreichere Ganzschrift. Sie lasen in der achten Klasse mit mir bereits Kellers „Kleider machen Leute“, davor allerdings wohl ledig­lich kürzere Geschichten, wie etwa kleine Kriminalgeschichten. Einige Schüler haben in der Grund­schule bereits eine Ganzschrift gelesen, wie bspw. „Ben liebt Anna“. In jedem Fall handelt es sich nun aller­dings bei meinem aktuellen Vorhaben um die erste vollständige Dramenlektüre und allem Anschein nach auch um die erste Berührung der Schüler mit der Gattung Dramatik.

Es ist nicht davon auszugehen, dass die Schüler von sich aus mehrheitlich genug Lese­motivation auf­bringen, um das Drama selbstständig zu lesen, weshalb versucht wird, die Schüler durchgehend zum sukzessiven Lesen zu ermutigen und dies auch in den Unterricht zu verlagern, sowie mit einer Hörspielfassung zu unterstützen.

3.1.2. Auswertung der Eingangsbefragung

Der Umgang mit Medien kann gleichzeitig als eine Ursache und eine Folge des Ausprägungs­grades der Lesekompetenz gesehen werden. Wie bereits eingangs dargestellt, wird die Lesekompetenz vor allem durch die Auseinandersetzung mit Schriftlichkeit befördert, weshalb es im Rahmen dieser Arbeit zur Förderung von Lesekompetenz durch handlungs- und produktions­orientiertes Erschließen eines Dramas natürlich interessant ist, die Schüler zu ihren Medien­nutzungs­gewohnheiten zu befragen. Da dies mittels eines kurzen schriftlichen Tests im Vorfeld der dargestellten Unterrichtssequenz geschah, bot es sich an, auch basale Kenntnisse und Fähigkeiten bezüglich des Untersuchungsschwerpunktes abzufragen, um daraus eventuell Rückschlüsse für die Planung der Unterrichtssequenz ziehen zu können.[48]

Der Test wurde bewusst einfach und kurz gehalten, zum einen, um die Schüler nicht schon Wochen vor Beginn der Unterrichtssequenz zu verschrecken und sie mit einem Fragenkatalog zu über­fordern sowie zum anderen, um noch eine den Umständen entsprechende adäquate Auswertung innerhalb der im Umfang beschränkten Prüfungsarbeit zu gewährleisten. Dies bringt es allerdings mit sich, dass vielleicht nicht jedes relevante Untersuchungsinteresse abgefragt werden konnte und auch in der Auswertung muss sich auf die aus meiner Sicht interessantesten Ergebnisse beschränkt werden.

Besonders interessant erscheint mir, dass mit 20 von 27 Schülern eine große Mehrheit angibt, außerhalb der Schule zu lesen und dies größtenteils intrinsisch motiviert:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nur insgesamt sieben Schüler geben an, außerhalb der Schule gar nicht zu lesen, wohingegen alle anderen zumindest für eine halbe Stunde täglich in ihrer Freizeit lesen.[49] Dies ist ein besseres Ergebnis als ich es erwartet habe und insofern war ich freudig überrascht. Zwar geben insgesamt neun Schüler an, nur zu lesen, wenn dazu ein gewisser Zwang besteht, etwa in schulischen Zusammenhängen, doch die Mehrheit der Schüler antwortet, von sich aus, bzw. für ein höheres Ziel zu lesen.[50] Nun würde es zu weit gehen, aus diesen Zahlen bereits auf eine stabile Lesemotivation bei einer Mehrzahl der Schüler zu schließen. Ein Dämpfer für eine solche euphorische Inter­pretation der Zahlen ergibt sich aus der Auswertung der Frage nach dem Spaß beim Lesen in Schule und Freizeit. Hier geben nur acht Schüler an, gern oder sehr gern zu lesen, wohingegen 17 Schüler dem Lesen eher gleichgültig gegenüberstehen. Allerdings antworten nur zwei Schüler, dass sie sehr ungern lesen würden, womit sich die Zahl der Schüler, die dem Lesen eher ablehnend gegen­über­stehen, erheblich reduziert. Dies ist insofern erfreulich, als dass immerhin fünf Schüler angeben, nur unter großer Anstrengung Texte zu verstehen.[51] Dies bedeutet also, dass zumindest 25 der 27 Schüler dem Lesen eher neutral bis positiv gegenüberstehen und dies, obwohl einige Schüler es als sehr anstrengend empfinden, Texte zu verstehen.[52]

Diese eher positiven Ergebnisse der Befragung werden gerade bezüglich der Zeit, die Schüler außerschulisch nach eigenen Angaben mit dem Lesen verbringen, relativiert, wenn sie in Konkurrenz zu anderen Medien betrachtet werden. Bücher, Zeitschriften und andere textgebundene Medien nehmen in der Freizeit der Jugendlichen eine untergeordnete Stellung ein, verglichen mit anderen Medien, wie Fernsehen, Internet oder auch Computerspielen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Allerdings muss zur Nutzung des Internets gesagt werden, dass dies natürlich auch schriftbasiert ist und die Schüler hier größtenteils antworten, das Internet als Kommunikationsplattform zu benutzen. Es wäre sicherlich im Rahmen der Lesekompetenzförderung wünschenswert, wenn Schüler etwas weniger Zeit damit verbringen würden, Computerspiele zu spielen oder Fernsehen zu schauen, um stattdessen öfter ein Buch oder eine Zeitschrift zu lesen. Jedoch entspräche eine solche Forderung nur dem Wunschdenken eines Deutschlehrers, nicht aber den Nutzungsgewohnheiten der Jugendlichen. Zur Förderung der Lesekompetenz müsste also vielleicht das Potential ausgeschöpft werden, welches die Schülergewohnheiten bereits bieten. Insofern kann vielleicht als Fazit aus der Erhebung zum Medienkonsum gezogen werden, dass die Schüler zwar in ihrer Freizeit auch lesen, aber viel häufiger mit anderen Medien beschäftigt sind. Diese anderen Medien könnten und sollten auch in den Deutschunterricht einbezogen werden, etwa indem leidenschaftliche Spieler die narrativen Elemente ihres aktuellen Lieblingscomputerspiels präsentieren oder indem über einen erweiterten Textbegriff auch Filme im Deutschunterricht analysiert werden. Auch könnte man die Schülerkommunikation im Internet untersuchen, um den Unterschied zwischen Standard und Sub­standard zu verdeutlichen, die Schüler damit für adressatenbezogene Kommunikation interes­sieren und die Notwendigkeit sprachlicher Richtigkeit in formellen Zusammenhängen verdeutlichen.

Im Rahmen der Unterrichtssequenz zur Erschließung des Dramas bietet es sich an, den Schülern zu vermitteln, dass es sich beim Internet nicht nur um ein Unterhaltungsmedium handelt, mit welchem man kommunizieren kann, sondern dass es auch Informationsmedium ist, welches zur Texterschließung wesentliche Dienste leisten kann. So ist die Idee geboren, die Schüler unbekannte Begriffe im Internet recherchieren zu lassen, um gemeinsam ein Klassenglossar zum Drama zu erstellen. Frischs Stück eignet sich insofern gut zur Wortschatzerweiterung, als dass die verwendete Sprache auf die Schüler zwar leicht antiquiert wirkt, aber dennoch im Allgemeinen verständlich ist, weshalb die Jugendlichen nicht generell durch den Text abgeschreckt werden. Sie beinhaltet durch das Alter des Textes allerdings einige Worte, die den Schülern nicht bekannt sind, wie auch die Befragung zur Eingangsszene zeigte.[53]

Die Anwendungsaufgaben haben darüber hinaus ergeben, dass die Ausgangslage keine schlechte ist, denn die meisten Schüler haben erkannt oder vielleicht auch richtig geraten, dass es sich um einen Auszug aus einem dramatischen Text handelt und auch das Textverständnis war größten­teils richtig.[54] Die Begründung der Gattungswahl erfolgte allerdings kaum oder war recht ober­flächlich. Dies und auch die Tatsache, dass immerhin zwölf Schüler trotz Regieanweisungen und Dialogstruktur nicht erkannt haben, dass es sich um eine szenische Gestaltung handelt, waren Grund für eine Thematisierung der Gattungen und ihrer spezifizierenden Merkmale in einer der Examensreihe vorausgehenden Deutschstunde.

Die Eingangsbefragung hat also ergeben, dass die meisten Schüler die Lust am Lesen nicht verloren haben, und somit potentiell für Literatur zu begeistern sind. Natürlich steht am Ende auch das vorher bereits zu erwartende Ergebnis, dass die tägliche Mediennutzung nicht durch das Lesen domi­niert ist, doch dies kann auch als Chance für den Deutschunterricht gewertet werden. Nur wenige Schüler lesen ausgesprochen gern, zwei sogar äußerst ungern. Allen Schülern und auch jenen, die Lesen als Anstrengung empfinden wird entgegen gekommen, indem das Drama zum einen regelmäßig im Unterricht gemeinsam gelesen wird und indem zentrale Passagen als Hörbuch­version gemeinsam angehört werden. So wird den Schülern ein weiterer Zugang zum Text eröffnet, die Schwelle zur Auseinandersetzung mit dem Text bewusst niedrig gesetzt. Dies mit dem Ziel, dass mög­lichst viele Schüler im Sinne des reflexiven Lesens für sich einen Mehrwert aus der Aus­ein­ander­setzung mit dem Drama ziehen, indem sie den aktuellen Bezug erkennen, ihre eigenen Ein­stel­lungen wahrnehmen und gegebenenfalls überdenken. Es wird dabei davon ausgegangen, dass Schü­ler, die erkennen, dass Literatur sie betrifft und in fiktiven Welten Probleme darstellt, die auch ihre Probleme sein könnten, vielleicht in Zukunft wieder die Auseinandersetzung mit Literatur wagen.

[...]


[1] Die Inputsteuerung bleibt in Form von Haushaltsplänen, Rahmenlehrplänen oder auch der Gestaltung der Lehrerbildung weiterhin vorhanden, doch wird mit der Fokussierung des Outputs ein weiteres Element einbezogen, durch welches die Bedeutung von Inhalten in den Hintergrund und die individuelle Kompetenzentwicklung des einzelnen Schülers in den Vordergrund rückt, was einem Paradigmen-Wechsel entspricht. Siehe dazu auch Köller 2007, S. 13.

[2] Siehe dazu Klieme u.a. 2007.

[3] Unterschieden werden für das Fach Deutsch die Standards für den Primarbereich (siehe KMK 2005a), für den Hauptschulabschluss (KMK 2005b) und den Mittleren Schulabschluss (KMK 2004).

[4] Darstellung angelehnt an KMK 2004, S. 8. Es ist dabei allerdings fraglich, ob die definierten Teilbereiche überhaupt als Kompetenz­bereiche gelten können, da es sich bei der Darstellung nicht um ein übergeordnetes Kompetenz­modell für das Fach Deutsch handelt und sie nicht den Ansprüchen der Klieme-Expertise gerecht wird, weil bspw. die Unterteilung in Niveaustufen völlig fehlt, vgl. dazu Klieme 2007, S. 74ff. Zudem sind die Bereiche unpräzise beschrieben und eigentlich nicht voneinander abgrenzbar. Zur Kritik siehe auch Helmke 2004, S. 106f. und Kammler 2006, S. 8ff.

[5] Vgl. KMK 2004, S. 9 und siehe zur Interpretation dieser Passage auch Köster 2003, S. 2ff.

[6] Es ist zumindest anzunehmen, dass ein solches Vorgehen stärker die Vorgaben erfüllt, als ein klassischer fragend-entwickelnder Literaturunterricht.

[7] Vgl. KMK 2004, S. 14. Die produktiven Schreibformen lassen sich darüber hinaus auch dem Kompetenzbereich Schreiben zuordnen, vgl. KMK 2004, S. 12. Das szenische Spiel einzelner Passage findet sich zudem im Bereich Sprechen und Zuhören, vgl. KMK 2004, S. 11. Da der Fokus auf dem verstehenden Umgang mit dem literarischen Text liegt, haben die anderen Kompetenzbereiche allerdings lediglich dienende Funktion.

[8] Vgl. RLP, S. 9 und 11.

[9] Siehe dazu RLP, S. 37f. Andere Kompetenzbereiche, wie etwa der Bereich Lesefertigkeiten, also das Auswählen und Anwenden angemessener Lesetechniken und -strategien (RLP, S. 35), die kommunikativen Fähigkeiten zum Austausch über das Drama (RLP, S. 48ff.) oder die für produktive Verfahren notwendigen Schreibfertigkeiten und -handlungen (RLP, S. 39ff.) sind häufig zudem beteiligt und können auch für einzelne Stunden den Schwerpunkt bilden, haben allerdings in der Gesamtbetrachtung der Sequenz eine dienende Funktion.

[10] Da Frischs „Andorra“ sicher als 'kulturell bedeutsamer Text' verstanden werden kann, ist sein Einsatz in der 9. Klasse auch durch die Themenvorschläge des RLP gerechtfertigt, siehe dazu S. 60.

[11] Spinner verweist in seiner Vorgeschichte auf Lessings Fabeldidaktik, welche bereits handlungs- und produktionsorientierte Züge aufweise, wie auch einige reformpädagogische Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vgl. Spinner 2006, S. 248ff.

[12] Eine knappe Übersicht bietet Spinner 2006, S. 253ff.

[13] Vgl. Spinner 2008, S. 184f. Zum Lesevorgang aus rezeptionsästhetischer Sicht siehe auch Iser 1979.

[14] Vgl. Spinner 2006, S. 251f.

[15] Vgl. Spinner 2008, S. 185. Das Verständnis von Lesen und Lesekompetenz soll nachfolgend noch präzisiert werden. Festgehalten werden kann in diesem Zusammenhang allerdings bereits, dass Lesen aktuell als aktive Konstruktions­leistung des Individuums verstanden wird, durch welche eine kohärente mentale Repräsentation der Textbedeutung entsteht, vgl. Artelt u.a. 2007, S. 11f.

[16] Der Terminus ist seit der gleichnamigen Publikation von Gerhard Haas geläufig, siehe Haas 1984, und geht auf Vorarbeiten von Ulshöfer, Waldmann u.a. zurück, vgl. Spinner 2006, S. 249ff. Daneben ist allerdings mit jeweils leicht abweichender Akzentuierung auch die Rede von 'produktiven Verfahren', siehe Spinner 1987, 'produktivem Umgang', siehe Waldmann 2006 oder bei Menzel auch von 'operativen Verfahren', vgl. auch Haas/Menzel/Spinner 1994, S. 25.

[17] Untergliedert werden können handlungsorientierte Verfahren nochmals in szenische Verfahren (z.B. Standbildbau, Pantomime), visuelle Verfahren (z.B. Collagen, Skizzen) und akustische Verfahren (z.B. Vertonung), siehe dazu Spinner 2008, S. 191ff.

[18] Klassisch werden Textstellen ersetzt, Überschriften gefunden oder Paralleltexte verfasst. Hier wird die enge Verbindung zwischen handlungs- und produktionsorientiertem Literaturunterricht und dem Schreibunterricht deutlich, siehe dazu Spinner 2008, S. 187f. Für die Begriffsbestimmung siehe u.a. Spinner 2006, S. 247. Wie weit der Begriff des 'Produkts' gefasst wird, ist eine ganz eigene Diskussion, bei der deutlich wird, dass auch die Grenzen zwischen Handlungs- und Produktionsorientierung verschwimmen. So kann bspw. auch ein Standbild ein Produkt sein, weil es ein durch Schüler hergestelltes Arbeitsergebnis ist.

[19] Vgl. Spinner 2008, S. 191f. und auch Paefgen 1999, S. 126f. Einige Autoren, hervorzuheben ist z.B. Waldmann 1984, haben sich bemüht, die einzelnen Verfahren durch die Herausstellung ihrer Spezifika zu systematisieren. Die Auflistung einer solcher Unterscheidung erscheint an dieser Stelle jedoch in Anbetracht des begrenzten Raumes und der Vielzahl von unterschiedlichen Methoden nicht sinnvoll, zumal es in der Praxis in der Regel zu Mischformen kommt, die an den Bedingungsfaktoren und dem Gegenstand orientiert zurechtgeschnitten sind.

[20] Vgl. Spinner 2008, S. 186f.

[21] Weitere Einwände sind gängig, vgl. dazu u.a. Einecke o.J.. Die grundlegenden Kritikpunkte werden auch von den Vertretern selbst antizipiert und widerlegt, siehe dazu Haas/Menzel/Spinner 1994, S. 22ff.

[22] Hierzu gibt es allerdings auch kontroverse Meinungen, für einen Überblick dazu siehe Spinner 2006, S. 253ff. Meines Erachtens schließen sich jedoch Ansätze wie Paefgens 'textnahes Lesen' und der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht nicht aus, da wesentliche Grundlage für jeglichen gestaltenden Umgang die intensive Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext bildet. Zum 'textnahen Lesen' siehe u.a. Paefgen 2008.

[23] Zu möglichen Kritikpunkten siehe Spinner 2008, S. 190f. Die Unterscheidung zwischen gestaltendem Schreiben und kreativem Schreiben wird gut im Rahmenlehrplan deutlich, in welchem beide Bereiche klar voneinander getrennt werden und bezeichnenderweise das gestaltende Schreiben dem interpretierenden Schreiben zugeordnet wird, siehe dazu RLP, S. 40 und S. 45.

[24] Diese Art der Grundbildung im Bereich des Lesens muss natürlich gefördert werden, allerdings betrifft dieser Auftrag alle Fächer und ist keine ausschließliche Aufgabe des Deutschunterrichts. Erfreulicherweise schlägt sich dies auch in einzelnen Initiativen nieder, wie bspw. jene im Land Brandenburg, siehe dazu Leubner 2010.

[25] Vgl. Artelt u.a. 2007, S. 11f. Für Weinerts Kompetenzbegriff, welcher auch der Klieme-Expertise und damit den Bildungsstandards zu Grunde liegt, siehe Weinert 2001.

[26] Die zu unterscheidenden Anforderungen der einzelnen Textsorten stellt Rosebrock 2007 überzeugend dar. Demnach fördert und fordert der Umgang mit Literatur in Abgrenzung zum Umgang mit Sachtexten vor allem die Imaginations- und Empathiefähigkeit, ebd. S. 57f. Dies stützt die Haltung vieler Literaturdidaktiker, welche auf eine spezifische 'literarische Kompetenz' bestehen, die sich v.a. im gegenstandsgerechten Umgang mit Literatur zeigt, den die PISA-Studie vermissen lässt, siehe dazu u.a. Abraham 2005. Meines Erachtens nach deckt allerdings ein weit gefasster Lesekompetenzbegriff durchaus den gegenstandsgerechten Umgang mit Literatur ab, weshalb in dieser Arbeit nicht der schwierige Versuch unternommen werden muss, literarische Kompetenz klar zu definieren.

[27] Abbildung aus Artelt u.a. 2007, S. 12. Andere Autoren, wie etwa Streblow 2004, identifizieren ähnliche Determinanten, sind allerdings für diese Arbeit insofern nicht brauchbar, als dass sie sich auf den begrenzten Lesekompetenzbegriff der PISA-Studie stützen, der den Anforderungen literarischer Texte nicht gerecht wird. Hier liegt die Stärke von Artelt u.a., denn sie identifizieren mit den unterschiedlichen Leseanforderungen auch Möglichkeiten mit einem literarischen Text mehr anzufangen, als lediglich Informationen zu entnehmen, etwa durch reflexives oder involviertes Lesen.

[28] Hierbei muss klar sein, dass Kompetenzentwicklung immer ein fortwährender und langwieriger Prozess ist, bei dem gerade bei einer solch komplexen Kompetenz nicht innerhalb einer Unterrichtssequenz massive Veränderungen herbeizuführen sind.

[29] Dies ist der Hauptkritikpunkt an der PISA-Testung, weshalb einige Autoren für eine separate Betrachtung des Umgangs mit literarischen Texten plädieren, siehe dazu etwa Artelt/Schlagmüller 2004, S. 177ff. oder auch Kammler 2006, S. 8ff.

[30] Beispiele dafür sind das Lesekompetenzmodell der PISA-Studie, siehe u.a. PISA-Konsortium 2004, S. 93-97 und Artelt u.a. 2004, S. 139-145, sowie auch das vom IQB zu den Bildungsstandards entwickelte Kompetenzstufen­modell, welches eigentlich nur eine Anpassung des PISA-Modells an die Bildungsstandards vornimmt, ohne allerdings die ebenfalls durch die KMK geforderten Aspekte Empathie, Fremdverstehen, Lesefreude und Leseinteresse zu berücksichtigen. So bildet auch dieses Modell lediglich Leseverstehen ab. Siehe dazu IQB 2009. Modelle der Literaturdidaktik, wie bspw. jenes von Spinner 2006 oder der Ansatz von Abraham 2005 sind noch nicht ausgereift, weshalb auch sie sich nicht für eine Nutzung eignen, wie auch Kammler 2007 richtig feststellt.

[31] Vgl. Artelt 2007, S. 22.

[32] Diese Erklärung des Titels findet sich als Beigabe jeder Ausgabe, siehe Frisch 1975, S. 4 und fand sich auch bereits im Programmheft der Uraufführung des Schauspielhauses Zürich 1961/62. Hier verortet Frisch sein Andorra be­zeich­nenderweise auf einer literarischen Weltkarte zusammen mit u.a. Dürrenmatts Güllen und Brechts Sezuan. Vgl. dazu die umfangreiche Text- und Quellenzusammenstellung zu Frisch von Bolliger/Obschlager/Schütt 2001, S. 155.

[33] Vgl. Bolliger/Obschläger/Schütt 2001, S. 160.

[34] Zur Entstehungsgeschichte des Dramas siehe u.a. Gladiator 2010, S. 11f. Die Prosaskizze „Der andorranische Jude“, 1950 in Frischs „Tagebuch 1946-1949“ veröffentlicht, findet sich u.a. in Volkmann/Volkmann 2000, S. 71.

[35] Vgl. erneut das Interview mit Wendt in Bolliger/Obschläger/Schütt 2001, S. 160. Feigheit hat beispielsweise der Geselle Fedri gezeigt, als er die Verurteilung seines neuen Freundes Andri durch den Tischlermeister zuließ, um sich selbst zu schützen, vgl. Frisch 1975, S. 33ff. Bereits am Kulminationspunkt des Stückes zeigt dann der Pater als einziger Zeuge für Andris Unschuld am Tod der Senora, dass er nicht in der Lage ist, für die Wahrheit und das Leben seines Schützlings einzustehen, vgl. Frisch 1975, S. 115.

[36] Vgl. Frisch 1975, S. 28 und zur Sündenbocktheorie siehe etwa den auch für Schüler der Mittelstufe geeigneten Text von Wilhelm Reich in Volkmann/Volkmann 2000, S. 72.

[37] Zu den vielfachen Vorausdeutungen im ersten Bild siehe die Übersicht in Volkmann/Volkmann 2000, S. 19 sowie zur Ringkomposition ebd., S. 58. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die das Stück durchziehende Symbolik.

[38] Vgl. auch Gutknecht/Krapp/van de Laar 2006, S. 5.

[39] Max Frisch 1975, S. 65.

[40] Je nach Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit Bestandteil des Ersten oder Zweiten Gebotes.

[41] Der Eintrag, im Original in Frischs „Tagebuch 1946-1949“, wurde vielfältig abgedruckt; ich beziehe mich auf Volkmann/Volkmann 2000, S. 49f.

[42] Dies wird besonders im zweiten Gespräch mit dem Pater deutlich, siehe dazu Frisch 1975, S. 85ff.

[43] Vgl. Artelt u.a. 2007, S. 19f. und siehe auch Möller/Schiefele 2004 sowie Streblow 2004, S. 280f.

[44] Vgl. RLP S. 11.

[45] Vgl. Weinert 2001, S. 27f.

[46] Dies ist als Aktivität des Lesers eine wesentliche Determinante der Lesekompetenz, vgl. Artelt u.a. 2007, S. 29f.

[47] Es ist anzunehmen, dass dies für die Schüler eine neue Erfahrung darstellt, da sie zuvor im schulischen Kontext noch keine dramatischen Texte behandelt haben.

[48] Der von den Schülern ausgefüllte Bogen findet sich im Anhang; er wurde von den SuS anonym ausgefüllt.

[49] Gelesen werden vor allem altersgemäße Ganzschriften und Jugendzeitschriften.

[50] Es ist anzunehmen, dass zwischen den sieben Schülern, die in ihrer Freizeit gar nicht lesen und den neun Schülern, die angeben, ausschließlich extrinsisch motiviert zu lesen, eine gewisse Korrelation besteht.

[51] Verwiesen sei an dieser Stelle nochmals auf die fünf Schüler mit einer diagnostizierten LRS.

[52] Gerade bzgl. der Selbsteinschätzung eigener Stärken und Schwächen sowie auch bei den Angaben zu den eigenen Gewohnheiten darf die 'sozial erwünschte Antwort' als Faktor bei einer solchen Befragung nicht außer Acht gelassen werden. So mag es zumindest unbewusst eine gewisse Hemmschwelle geben, im Deutschunterricht eher negative Antworten bzgl. des Lesens abzugeben.

[53] Die Worte 'weißeln' und 'andorranisch' waren die häufigsten Nennungen. Diese sind vor allem in diesem Drama von Bedeutung und ihre Kenntnis kann nicht ernsthaft als wirksame Wortschatzerweiterung zur Förderung von Lesekompetenz ausgegeben werden. Einige Schüler gaben allerdings auch die Worte 'Stecken', 'lungern' oder 'Michelin-Männchen' an. Ziel des Glossars ist es eher, ebensolche Worte, die auch außerhalb des Dramas eine gewisse Relevanz besitzen, durch die Schüler mit Hilfe des Internets klären zu lassen.

[54] Immerhin 15 Schüler haben den Textauszug der Gattung Dramatik zugeordnet und immerhin 20 Schüler haben die richtige Inhaltsbeschreibung gewählt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863417185
ISBN (Paperback)
9783863412180
Dateigröße
9.4 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1
Schlagworte
Literaturdidaktik Standbild Rollentext innerer Monolog Leseförderung

Autor

Stefanie Grzesikowski, Jahrgang 1982, studierte Deutsch sowie Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde an der Universität Potsdam und schloss ihr Studium erfolgreich mit dem Ersten Staatsexamen ab. Bereits während des Studiums bildeten u. a. handlungs- und produktionsorientierte Verfahren sowie im Zuge der Diskussion um die Ergebnisse der ersten PISA-Studie auch der Lesekompetenzerwerb Interessenschwerpunkte. Diese konnten im Rahmen des in Berlin absolvierten Vorbereitungsdienstes noch vertieft werden, wie in vorliegender Publikation deutlich wird.
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Titel: Handlungs- und produktionsorientierte Methoden zur Förderung der Lesekompetenz: Max Frischs Drama 'Andorra' im kompetenzorientierten Deutschunterricht
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