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Nach „La violencia“ in Kolumbien: Drogen, Vertreibung, Paramilitär, Guerilla und Politik

©2011 Bachelorarbeit 57 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit thematisiert die Verbindung aus direkter, kultureller und struktureller Gewalt, die in Kolumbien von den drei Akteuren FARC, Paramilitär und der Regierung Uribes ausgeübt wird, und geht der Frage nach, inwiefern sich diese Gewalten gegenseitig beeinflussen. Bei einer detaillierten Analyse werden verschiedene Themen wie der Drogenhandel, die Landvertreibung, soziale Konflikte und das Gesetz 'Ley de Justicia y Paz' behandelt, um herauszustellen, ob zum einen die Theorie von Johan Galtung auf den Konflikt in Kolumbien angewandt werden kann und zum anderen welche Folgen die Gewaltausübungen der einzelnen Akteure für zukünftiges Handeln haben werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Das Dreieck kultureller, direkter und struktureller Gewalt nach Johan Galtung

In den 1970ern entwarf Johan Galtung die Theorie des „ Direct-structural-cultural violence triangle[1], um verschiedene Arten von Gewalt und deren Zusammenwirkungen aufzuzeigen. Johan Galtung wurde am 24. Oktober 1930 in Oslo geboren. Er ist Mathematiker, Soziologe, Politologe und Friedensforscher. Zudem ist er aufgrund seiner Analysen und Theorien zur Lösung von Konflikten Träger des alternativen Friedensnobelpreises und gilt durch die Gründung des ersten Friedensforschungsinstituts in Oslo (PRIO = Peace Research Institut Oslo) als einer der Gründerväter der Friedens- und Konfliktforschung.[2] Heute lehrt er an der Universität von Hawaii, der Fernuniversität Hagen, der Universität Oslo und der Friedensuniversität in Schleining in Österreich. Johan Galtung beschäftigt sich mit der Gewaltausübung in verschiedenen Ländern, dadurch bezieht er viele Handlungsstränge in seine Theorien ein.

Auch wir werden jeden Tag mit Gewalt konfrontiert, sei es im persönlichen Umfeld oder durch den Einsatz von Kampfjets in Libyen durch internationale Truppen. Doch was ist Gewalt? Wie werden Frieden oder Gewalt definiert? Nach Galtung „ [liegt] Gewalt (…) vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“[3] Unter „aktuell“ und „potentiell“ ist Folgendes zu verstehen: Bei einem Tsunami, der auf die holländische Küste trifft und dadurch das gesamte Land verwüstet, ist das Potentielle größer als das Aktuelle, es wird jedoch keine Gewalt ausgeübt, da das Aktuelle nicht vermeidbar gewesen ist und im momentanen Zeitraum niemand von einer solchen Katastrophe in diesem Gebiet ausgeht und diese nicht hätte vermieden werden können. Hätte die Bevölkerung von dem Tsunami gewusst und wäre nicht geflüchtet, wäre das Aktuelle größer als das Potentielle, da mehr Menschen verletzt werden als man hätte vermeiden können.

Ebenfalls ist bei der Definition zu beachten, dass sie sehr allgemein gehalten ist. Ein Faktum, dass das OED (Oxford English Dictionary) anders formuliert, wenn es Gewalt wie folgt definiert: „ The exercise of physical force so as to inflict injury on or damage to persons or property; action or conduct characterised by this.“ [4] Gewalt kann und muss somit in Unterkategorien unterteilt werden, um Kontroversen zu vermeiden und vielen Diskussionspunkten gerecht zu werden. Es ist zu beachten, dass Galtungs Modell im Nachhinein Debatten ausgelöst hat, da die Einteilungen nicht konkret genug erfolgten. Aus diesem Grund ist am Ende der Arbeit aufzuzeigen, ob die Theorie erstens noch anwendbar ist und zweitens wo ihre Grenzen liegen. Die Unterteilung ist für diese Bachelorarbeit essenziell, um aufzuzeigen, welche Art von Gewalt die jeweiligen Akteure in Kolumbien anwenden.[5] Um eine solche Differenzierung zu ermöglichen, entwarf Johan Galtung seine Theorie des Dreiecks der Gewalt in Anlehnung an das bereits bekannte „Konfliktdreieck“. Letzteres besteht aus drei Spitzen: Konflikt (K), der durch Gefühle, Konfliktverhalten (V), das durch tatsächliche Handlungen und Konfliktattitüde (A), die durch den Zwiespalt ausgedrückt werden.[6]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In diesem Dreieck beeinflussen sich die jeweiligen Faktoren sowohl in Kreisform als auch eine Spitze die jeweils andere. Daher kann ein Konflikt durch jede der drei Spitzen ausgelöst und von jeder der drei Spitzen wieder beendet werden, zumindest ist dies der Grundgedanke des Modells. Diese gegenseitige Beeinflussung und Verbindung untereinander sind in der Theorie des Dreiecks zur Gewalt ebenfalls anzutreffen, das auf sechs unterschiedliche Weisen zusammengesetzt werden kann (s. Anhang 1.1 – 1.6).

Galtungs Theorie basiert auf drei Arten von Gewalt: direkter, struktureller und kultureller Gewalt. Direkte Gewalt drückt sich physisch und verbal gegenüber Gruppen, Einzelpersonen bzw. durch zerstörerische Aggressionen im Allgemeinen aus und ist für jeden erkennbar. Krieg, Kampf und Beleidigungen sind Formen direkter Gewalt, ausgelöst jedoch durch strukturelle oder kulturelle Aspekte. Strukturelle – auch indirekte Gewalt[7] genannt – und kulturelle Gewalt sind im Gegensatz zur direkten Gewalt abhängig vom jeweiligen Blickwinkel sowie den kulturellen und sozialen Standards, werden häufig indirekt ausgeübt oder anderen Bereichen als Gewalt zugeordnet. Beispiele für diese Formen sind: Unterdrückung, Ausgrenzung, Rassismus, soziale Ungleichheit, religiöse Verfechtungen (heiliger Krieg), Genderdenken oder separate Gesetzgebungen.

3.1 Kulturelle Gewalt

Johan Galtung definiert kulturelle Gewalt in seinem Aufsatz „Cultural Violence“ wie folgt:

„By 'cultural violence' we mean those aspects of culture, the symbolic sphere of our existence – exemplified by religion and ideology, language and art, empirical science and formal science (logic, mathematics) – that can be used to justify or legitimise direct or structural violence.“[8]

Die Definition zeigt die direkte Verbindung zu struktureller und kultureller Gewalt. Zudem weist sie darauf hin, dass kulturelle Gewalt abhängig vom jeweiligen Kulturraum ist und innerhalb dieses Kulturraums anders gedeutet sowie ausgeprägt sein kann. Es ist eine Sechsteilung der Definition von kultureller Gewalt in Ideologie, Religion, Kunst, Sprache, empirische Wissenschaft und formelle Wissenschaft von Bedeutung, um detaillierte Aussagen zu treffen und zu erkennen welche Folgen die einzelnen Gewaltausübungen bewirken. Denn bei Religion oder Ideologie unterteilen wir die Menschen auch in Gruppen, Klassen oder nach Hautfarbe, um so strukturelle Muster nachvollziehen und realisieren zu können. So gelten weiße Menschen intelligenter als dunkel-häutige oder Frauen gehören eher in den Haushalt als ins Berufsleben. Obwohl Venezuela und Kolumbien im gleichen Kulturraum anzusiedeln sind, beeinflussen die unterschiedlichen Regierungsformen die Ausübung kultureller Gewalt (z.B. Militärparaden) in großem Maße. Aus diesen Gründen muss beachtet werden, dass keine Stereotype aufgrund kultureller Gewalt entstehen, indem ein kultureller Gewaltakt oder eine kulturelle Differenzierung auf die gesamte Nation übertragen und diese im Gesamten als gewalttätig „abgestempelt“ wird.

Kulturelle Gewalt bestimmt ihre Akteure durch Geschichte, Ideologie, Religion oder Kunst, während Akteure direkter Gewalt keiner bestimmten Gruppe oder keinem Bereich angehörig sein müssen. Es können Individuen mit speziellen Charakterzügen sein, während bei kultureller Gewalt stets die Unterteilung in positiv und negativ, gut und böse, gottgewollt und nicht-gottgewollt erfolgt, um ermessen zu können, gegen welchen Akteur Gewalt ausgeübt wird.

3.2 Direkte Gewalt

Wie der Ausdruck bereits verdeutlicht, übt ein Akteur diese Art von Gewalt direkt aus. Direkte Gewalt ist „das direkte Resultat der Aktionen anderer, [die die Menschen] trifft.“[9] Es können Einzelpersonen oder Gruppen sein, die physische Gewalt aktiv ausüben und damit anderen Personen oder Gruppen lebenswichtige Bedürfnisse verweigern, entziehen oder sie einschränken. Die Gewaltausübung ist unabhängig von strukturellen Systemen, kann sich auf die Natur beziehen und ist in jeder Kultur, Gesellschaft oder Person unterschiedlich stark ausgeprägt. In der Analyse wird deswegen stets die Verbindung mit einer Vorgeschichte oder dem Umfeld der agierenden Person betrachtet und wechselseitige Verbindungen zu struktureller sowie kultureller Gewalt geschaffen, da direkte Gewalt ebenso wie strukturelle Gewalt durch Bedürfnisdefizite veranlasst wird, um sich aufrecht zu erhalten. Denn Angriffe auf unsere Wünsche, Träume und einfache Lebensbedingungen wie Wasser und Nahrung, schwächen und tyrannisieren stärker als der Verlust einer Gießkanne.

3.3 Strukturelle Gewalt

Strukturelle Gewalt umfasst die Erzeugung einer Machtdifferenz und ist in jedem System unterschiedlich ausgeprägt, ohne sich auf eine bestimmte Person, Gruppe oder ein Aktionsfeld zu konzentrieren. Aus diesem Grund sind Machtfaktoren, unterschiedliche Machtzuordnungen oder -strukturen in einem System[10] und nicht ein Akteur (direkte Gewalt) die entscheidenden Definitionskomponenten struktureller Gewalt. Johan Galtung erklärt den Unterschied zwischen direkter und struktureller Gewalt, indem er direkte Gewalt „am Modell eines Satzes darstellt, der Subjekt (einen Täter), Prädikat (eine Handlung) und Objekt (ein verletztes Opfer) besitzt.“ [11] Indirekte Gewalt hingegen besitzt kein Subjekt. Daher erfolgt eine Unterteilung in sechs Faktoren, die zur Aufrechterhaltung der Machtdifferenzen nötig sind.[12] Je detaillierter sie anzutreffen sind, desto effektiver kann die Machtdifferenz aufrechterhalten werden:

1. Lineare Rangordnung

In jeder Gesellschaft sind bestimmte Berufe höher angesiedelt und angesehener als andere. Dies ist eine Hierarchie, die als allgemeingültig in unserer Gesellschaftsform hingenommen, zwar hin und wieder hinterfragt, jedoch kaum geändert wird, da es zu Unmut in den Gesellschaftsschichten führen würde. Dies erzeugt sowohl direkte als auch kulturelle Gewalt.

2. Azyklische Interaktionsmuster

Die Schüler erhalten die Hausaufgaben vom Lehrer und nicht von ihren Mitschülern, den Eltern oder außenstehenden Personen. Dadurch ist nur eine „Anordnung“ zu befolgen, die von Außenstehenden unterstützt, aber nicht ausgeübt werden kann.

3. Korrelation zwischen Rang und Stellung

Der Präsident eines Landes besitzt mehr Einflussvermögen auf Gesetze, Rechte, Meinungs­bildung oder Verfassungsänderungen als ein einfacher Bürger.

4. Kongruenz der Systeme

Der Aufbau einer Tochterfirma entspricht dem der Mutterorganisation und die Regierungen in den einzelnen Bundesländern arbeiten nach demselben Schema wie die Landesregierungen im Großen.

5. Konkordanz der Ränge

Die USA sind als Land durch ihren Präsidenten sowie durch ihre Außenpolitik eine Hegemonialmacht. Gleichzeitig besitzen sie in der UNO, der OAS oder bei Beschlüssen der Genfer Konventionen eine hohe Rangstellung.

6. Hohe Rangverknüpfung der Ebenen

Ein Mineralölunternehmer besitzt gute Kontakte zu hochrangigen Bankiers, die seine Interessen im Fall von Kontenveränderungen, Steuereinführungen oder Kreditbedingungen vertreten, so dass sich beide Seiten gegenseitig durch Ausnutzung ihrer Machtposition helfen können.

Bei dieser Verknüpfung ist zu beachten, dass personelle (direkte) und strukturelle Gewalt eng miteinander verbunden sind, sich gegenseitig beeinflussen, jedoch gleichzeitig allein auftreten können. Hierzu ein Beispiel:

Muammar Al-Gadhafis Söldnertruppen, Söhne oder Soldaten kämpfen gegen die Rebellen in Libyen mit Waffengewalt, wodurch sie ihre Macht demonstrieren und die Bevölkerung einschüchtern wollen (direkte Gewalt). Gleichzeitig rechtfertigen sie dieses Vorgehen mit ihrer erhöhten Stellung im Sozialgefüge, ihrer Treue zu Gadhafi, ihrem Landbesitz, den die Rebellen nicht besitzen oder auf Grund der Tatsache, dass sie rechtmäßig „gewählt“ wurden. All diese Faktoren sind Aspekte struktureller Gewalt, die dazu führen, dass direkte Gewalt angewendet werden muss, um Rechte, Gesetze, geistiges und materielles Eigentum oder Einflüsse weiterhin zu gewährleisten.

Andererseits erzeugen die Kampfhandlungen beider Seiten strukturelle Gewalt in den einzelnen Lagern und unter ihnen. Denn unter den Rebellen entstehen neue Machtstrukturen, die vorher nicht existierten, nun jedoch durch Befehle, Machtverteilung oder Mitsprachrechte in den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen notwendig sind. Auf Seiten Muammar Al-Gadhafis erhalten Soldaten, Söldner oder Bürger ebenfalls neue Positionen, so dass die soziale Gesellschaftsstruktur verändert wird. Gleichzeitig bewirken die Kampfhandlungen beider Seiten strukturelle Gewalt in den Lagern des jeweils anderen. Durch die massiven Angriffe der Truppen Gadhafis sind die Rebellen gezwungen, Hilfe bei den Vereinten Nationen zu erbitten, was die Gesellschaftsstruktur neu unterteilt oder zu westlicher Denkweise umwandelt, wodurch strukturelle Gewalt erzeugt wird.

Diese sowohl notwendigen als auch unvermeidbaren Bezüge der einzelnen Gewalten ermöglichen, das von Johan Galtung entworfene Dreieck der Gewalt unterschiedlich anzuordnen. Zum einen können zwei Gewalttypen als Grundseite des Dreiecks genutzt werden und zum anderen kann das Dreieck auf einem Gewalttyp als Spitze basieren. Daraus resultieren Dreiecke, struktureller, kultureller und direkter Gewalt, die sich in der genannten Reihenfolge gegenseitig beeinflussen. Dies ermöglicht eine Darstellung unterschiedlicher Gewaltniveaus. Das hierfür bekannteste Dreieck besitzt kulturelle und strukturelle Gewalt als Grundseite und direkte Gewalt als Spitze.

Abb. 1: Strukturelle und kulturelle Gewalt als Grundseite und somit Basis der Gewaltausübung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Folgendes Beispiel zeigt auf, wie sich die unterschiedlichen Gewaltarten beeinflussen:

Rassismus gegenüber einem Glauben wie dem Islam (kulturelle Gewalt) und die starke Unterdrückung der Frauen durch muslimische Männer (strukturelle Gewalt) führen zu Auseinandersetzungen (direkte Gewalt) im Kulturbereich selbst sowie zwischen den unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Diese Auseinandersetzungen führen zu Diskussionen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft im Allgemeinen (strukturelle Gewalt) und der Möglichkeit diese Konflikte zu lösen.

3.4 Schlussfolgerung zu Johan Galtungs Dreieck der Gewalt

Diese kurze Einführung in den Bereich Gewalt – was Gewalt ist, wie detailliert sie definiert ist, wer sie mit beeinflusst sowie die einzelnen Beispiele – lassen schlussfolgern, dass Gewalt eine Spirale nach oben wie nach unten sein kann. In den jeweiligen Komponenten ist diese Spirale stärker oder schwächer zu erkennen. Die Entwicklung eines Dreiecks für ein konkretes Beispiel ermöglicht anschließend den Konflikt detailliert zu analysieren und mögliche Lösungsansätze zu diskutieren. Gleichzeitig ist zu beachten, dass kulturelle, soziale, gesellschaftliche und traditionelle Faktoren allgemeine und einheitliche Definitionen kaum zulassen. Stets müssen unterschiedliche Sicht-weisen, historische Entwicklungen, gegenseitige Einflussfaktoren und die Wahrnehmung von Gewalt beachtet werden, wodurch Gewalt als etwas Funktionales[13] – wenn sie Probleme und Konflikte beenden kann – oder als etwas Nicht-Funktionales – wenn sie Strukturen verhärtet oder Konflikte ausweitet bzw. die Ökonomisierung der Gewalt in Bürgerkriegen für den Übergang von traditionellen zu kapitalistisch geprägten Gesellschaften führt – anzusehen ist.

Ob Gewalt folglich als konstruktiv oder eher destruktiv zu betrachten ist, bleibt unklar. Für diese Arbeit ist deshalb herauszustellen, dass gerade unterschiedliche Kulturräume, wie z.B. Latein-amerika, Gewalt anders einsetzen und definieren, als es in vielen westlichen Denkmustern verankert ist. Im zweiten Teil dieser Arbeit zeige ich auf, inwieweit die kolumbianische Regierung unter Álvaro Uribe Vélez und die kolumbianische Guerilla unter Manuel Marulanda (FARC) in ihren Handlungen die jeweilige der drei zuvor erläuterten Gewalttypen angewendet haben.

4. Kolumbien – ein von Gewalt geprägtes und zerrissenes Land

Im Jahr 1948 war Kolumbien ein von Unruhen, Demonstrationen, politischen Fehden und Aufständen aufgewühltes Land. Konservative und Liberale versuchten Bauernaufstände, Demonstrationen von Landvertriebenen oder Arbeitslosen entweder niederzuschlagen oder für eigene Zwecke zu nutzen. Erst Jorge Eliécer Gaitán erkannte als liberaler Präsidentschaftskandidat die Forderungen der armen, arbeitenden Bevölkerungsschicht an und ernannte sich bei Demonstrationsmärschen und im politischen Bereich zu ihrem Wortführer. Es gelang ihm nur geringfügig die aufgestaute Wut und Empörung der unteren Bevölkerungsschichten zu kontro-lieren. Durch seine Ermordung am 9. April 1948 lief das Fass endgültig über und die aufgestaute Empörung der Bevölkerung entfaltete sich im sogenannten Bogotazo.[14] Die Unruhen wurden gewaltsam niedergeschlagen und die Politiker sahen die einzige Lösung in einem Vertrag zwischen Liberalen und Konservativen, der Frente National. Hierbei teilten sich Liberale und Konservative Regierungs- und Oppositionsbank in regelmäßigem Wechsel. Die Aufständischen und die einfache Bevölkerung mussten eigene Lösungen für ihre katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage finden.

Die Gruppen bäuerlicher, ländlicher und studentischer Aufständischer zerfielen nicht, sondern wurden strategisch besser organisiert und ausgebildet. Sie suchten und fanden passende Ideologien, um ihr Ziel – einen gerechten Staat ohne gesellschaftliche Schranken – zu erreichen. Mit der Zeit entstanden aus den unterschiedlichen Bauern- und Studentengruppen Guerillaorganisationen mit verschiedenen ideologischen Grundpfeilern. Die FARC wurden neben dem ELN (Ejército de Liberación Nacional) und dem EPL (Ejército Popular de Liberación) die stärkste Gruppierung, die mit der Zeit versuchten, ihre Ziele auf politische, wirtschaftliche und militärische Weise durchzusetzen.[15]

Da sich viele Großgrundbesitzer durch die Ausbreitung der Guerillaorganisationen sowie die Verluste ihrer Ländereien bedroht fühlten, stellten sie die pájaros in ihre Dienste, um Schutz zu erhalten. Diese strukturelle Basis beeinflusste die spätere Entstehung paramilitärischer Organisationen, die die Lücken der staatlichen Ordnungsmacht im Kampf gegen Guerilleros ausfüllten und ausfüllen, um der höher gestellten Bevölkerung Sicherheit und Schutz zu bieten.[16]

Die daraus resultierenden gesellschaftlichen Strukturen erzeugten Konflikte, wirtschaftliche und politische Probleme, eine tiefere Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich sowie den Wunsch all dies endlich hinter sich zu lassen, um einen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich starken Staat aufzubauen. Ein bis heute noch nicht erreichtes Ziel, das durch die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Guerilla, die Einsetzung von Paramilitär zur Bekämpfung der Guerilla sowie seit Jahrhunderten andauernden gesellschaftlichen Probleme Kolumbiens in weite Ferne gerückt zu sein scheint und die Konflikte nicht unbedingt gemindert hat.

Innerhalb des Konfliktes ist festzustellen, welche Art von Gewalt in Kolumbien vorherrscht, wer sie ausübt, wie sie ausgeübt wird, ob die Akteure sich gegenseitig beeinflussen und warum sie diese Gewalt ausüben. Daher ist zu beachten, dass die Art des Konflikts in Kolumbien aufgrund der kulturellen Prägung der Gesellschaft und des bereits seit Jahrzehnten andauernden Konflikts anders gedeutet und betrachtet wird als im europäischen Raum. Eine Verallgemeinerung der nun folgenden Gewaltanalyse zweier kolumbianischer Akteure – Álvaro Uribe, als Vertreter der Regierung, und Manuel Marulanda bzw. Raúl Reyes, als Vertreter der FARC – ist deshalb kaum ratsam. Vielmehr soll das Ziel sein, welche Art von Gewalt ausgeübt wird, ob diese Gewalt bestimmten Mustern, Modellen oder Theorien zuzuordnen ist. Zudem soll hervorgehoben werden, dass Kolumbien kein Einzelfall ist, sondern zumindest von der Ausübung der Gewaltart mit anderen Ländern vergleichbar ist, selbst wenn die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen sich von anderen Ländern unterscheiden.

4.1 Álvaro Uribe Vélez – eine Präsidentschaft gegen Gewalt oder unter Nutzung von Gewalt?

Álvaro Uribe Vélez, geboren am 4. Juli 1952 in Medellín, Sohn eines Großgrundbesitzers, studiert Politik- und Rechtswissenschaft in Antioquia und gewinnt am 26. Mai 2002 die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen sowie die Wiederwahl am 28. Mai 2006.[17] In seinem Regierungsprogramm stehen eine harte Politik gegenüber den Guerillaorganisationen sowie die Verstärkung militärischer Verbände im Vordergrund, um die Seguridad Democrática und nicht nur die nationale Sicherheit in Kolumbien zu stärken.[18] Verhandlungen mit den FARC treten für ihn vorerst in den Hintergrund, um Abstand zu der Verhandlungspolitik des Vorgängers Andrés Pastrana zu schaffen und seine eigenen Wahlversprechen – wie ein friedliches und wirtschaftlich aufstrebendes Kolumbien – umzusetzen. Die kolumbianische Bevölkerung ist von den misslungenen Verhandlungen mit den FARC enttäuscht und setzt nun auf ein härteres Durchgreifen.

Durch die Wahl Uribes zum kolumbianischen Präsidenten kam es in Kolumbien im Vergleich zu seinem Vorgänger Andrés Pastrana zu einem Wandel im Umgang mit den Guerillagruppen und im politischen Denken. Setzte Pastrana auf friedliche Verhandlungen mit den Guerillaorganisationen, verkündete Uribe schon in seinem Wahl- und Regierungsprogramm, dass er ein Freund des Dialoges mit den Gewalttätigen sei,[19] aber nicht damit sie sich weiter ausbreiten, sondern um Frieden zu erlangen.[20] Bereits mit dieser frühen Aussage verdeutlicht der Präsident, dass er nicht bereit ist, sich auf langjährige Verhandlungen einzulassen, sondern die Probleme Kolumbiens schnell und wenn möglich auf friedliche Art zu lösen. Dabei ist er auch gewillt härtere Mittel einzusetzen, um dieses Ziel zu erreichen.

4.1.1 Erhöhung staatlicher Ausgaben für den Militäreinsatz

Nach Uribes Amtsantritt erhöhten sich die Staatsausgaben im militärischen Bereich enorm (s. Anhang 2.). Zudem erhielten die rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppierungen, unter anderem die AUC , personellen Zulauf und übernahmen viele Landgebiete, von denen FARC oder ELN Gruppierungen zuvor von den Paramilitärs vertrieben worden waren.[21] Die Folgen durch die Aufstockung des Militärs sowie das freie Handeln der AUC, unter anderem mit Unterstützung militärischer Verbände,[22] waren Gewaltausschreitungen, Vertreibungen bestimmter Bevölkerungs-schichten von ihren Ländereien, weil sie unter Verdacht standen mit den FARC zu kollaborieren, eine Schwächung der FARC im personellen Bereich[23] oder Ermordungen hochrangiger FARC-Mitglieder wie zum Beispiel die Ermordung Raúl Reyes am 1. März 2008 auf ecuadorianischem Staatsgebiet. Uribe übte diese Gewalt nie persönlich aus, jedoch erfolgte sie auf sein Geheiß. Er diskutierte Gesetzesentwürfe mit, unterzeichnete sie und es bestand eine enge Zusammenarbeit zwischen Präsident und Verteidigungsminister.

Indem Menschen vertrieben und angrenzendes Staatsgebiet ohne Ankündigung oder Erlaubnis von kolumbianischen Truppen betreten wurde, übt die Regierung direkte Gewalt aus.[24] Er setzte sich damit über internationales Recht hinweg, schwächte das in ihn gesetzte Vertrauen durch die ecuadorianische Regierung, zerstörte Landstriche und beraubte Menschen ihrer Heimat und Wurzeln.

Daran ist zu erkennen, wie Gewaltakte aus verschiedenen Bereichen ineinandergreifen und ein Gesamtbild ergeben: Vertreibung als direkte und strukturelle Gewalt oder der Eingriff auf ecuadorianischem Staatsgebiet, der gegen internationale Konventionen (strukturell) verstößt und die kulturellen Belange Ecuadors bzw. der FARC missachtet. Jedoch sieht Uribe seine Ausübungen gerechtfertigt, was folgendes Zitat unterstreicht:

„ Así como siento el deber, como Primer Mandatario de los colombianos, de aplicar todas las medidas de autoridad para derrotar la violencia, también siento el deber de buscar por todos los medios salidas humanitarias, porque soy solidario y me golpea como a ustedes la tragedia de estos compatriotas secuestrados.” [25] "

Diese frühe Aussage nach Amtsantritt des Präsidenten zeigt, dass er auch zu äußersten Mitteln greifen wird, um die Situation Kolumbiens zu verbessern und sich selbst als Opfer mit einbezieht, um den Rückhalt in der Bevölkerung für seine Handlungen nicht zu verlieren. Bereits 2004 ist zu erkennen, dass die Bevölkerung Uribes Entscheidungen unterstützt, da der Großteil der Bevölkerung eine Wiederwahl befürwortet.[26]

4.1.2 La Ley de Justicia y Paz

Uribe erkannte jedoch, dass reine Gewaltausübung nicht zum erhofften Ziel eines friedlichen und wirtschaftlich konkurrenzfähigen Kolumbiens führen wird. Bereits 2002 begannen die Vorbereitungen und Formulierungen zu einem Gesetzesentwurf, um paramilitärischen Truppen und Guerilleros eine gefahrenfreie Demobilisierung zu ermöglichen und den Opfern von Massakern, Terrorakten, Vertreibungen oder Familienverlusten Entschädigungen zu gewährleisten.[27] Am 22. Juni 2005 trat das Gesetz 975, unter der Bezeichnung „Ley de Justicia y Paz“ (Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden), in Kraft.[28]

Dieses neue Gesetz ermöglicht es besonders den Paramilitärs sich individuell oder als Gruppe zu demobilisieren, eine Höchststrafe von acht Jahren zu erhalten und im Gegenzug einige Informationen über Organisation, Struktur oder Taten ihrer Gruppierungen preiszugeben, wobei den Ermittlern nur 60 Tage blieben,[29] um diese Aussagen zu überprüfen.[30] Durch die kurze Ermittlungsdauer können die Aussagen nicht detailliert kontrolliert werden, die Opfer erhalten keine gerechte Entschädigung, während die Paramilitärs demobilisiert werden und durch den Staat soziale und monetäre Unterstützung erhalten, obwohl andere Gesellschaftsteile die Gelder dringender benötigen. Dies ist eine Form struktureller Gewalt, da die Justiz keine gerechten Entschädigungen und Ermittlungen durchführt, paramilitärische Organisationen bevorteilt und erneut ein Perdón y Olvido [31] erzeugt, also kulturelle Gewalt an den Opfern und deren Familien begeht.

Bei detaillierter Analyse des ersten Gesetzentwurfs ist ersichtlich, dass das Gesetz schnellstmöglich verabschiedet werden sollte, da es vielen Paramilitärmitgliedern eine Auslieferung an die USA ersparte. Denn sie verbüßen ihre Strafe bereits in Kolumbien und können für ihre Kontakte zum Drogenhandel nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Tatsache unterstreicht die Sichtweise Uribes gegenüber den Paramilitärs. Ist er auch nicht bereit mit den FARC zu verhandeln, solange sie seine Bedingungen nicht erfüllen, so begann er jedoch mit den AUC bereits 2002 Verhandlungen. Diese werden schnell abgeschlossen und sollen durch eine Demobilisierung von 30.000 Paramilitärs bis 2005 den Frieden in Kolumbien stärken. In Anbetracht der langjährigen Verhandlungen zwischen Regierungen und den FARC verliefen die Verhandlungen mit Abschluss des Vertrages von Santa Fe de Ralito[32] rasch und für beide Seiten vorteilhaft, wobei zu hinterfragen ist, wie dies möglich sein konnte.

Im Nachhinein sind viele Gründe für die rasche Übereinkunft erkennbar:

1. Mitglieder der AUC befürchteten und befürchten eine härtere Strafe in den USA wegen Drogenherstellung und des Drogenhandels als die Bestrafung für ihre Taten in Kolumbien,[33] weshalb Verhandlungen und verhältnismäßig kurze Haftstrafen in Kolumbien „attraktiver“ erscheinen.

2. Viele Politiker, Industrielle und Großgrundbesitzer pflegten und pflegen enge Beziehungen zu führenden AUC-Mitgliedern, was verborgen bleiben sollte,[34] indem jene Führungspersonen milder verurteilt wurden. Dies verhindert eine „gerechte“ Untersuchung der Vergehen, wodurch die Opfer und ihre Familien einen genauen Tathergang sowie Gerechtigkeit nie erfahren (strukturelle Gewalt).

3. Viele für die Realisierung des Gesetzes verantwortliche Mitglieder und Richter werden vom Präsidenten ernannt und vertreten seine Interessen. So sind sie befugt, Verhandlungen und Gespräche mit paramilitärischen Organisationen und den FARC aufzunehmen, um den Friedensprozess zu fördern.[35] Es besteht die ständige Möglichkeit zu Verhandlungen zwischen Regierung und Paramilitär oder Guerillaorganisationen. Gleichzeitig rücken die Interessen anderer Gruppierungen schneller in den Hintergrund, da sie ihre Waffen zu anderen Konditionen als die Paramilitärs abgeben müssen. Dies entspricht kultureller Gewalt, da mit den Guerillaorganisationen - besonders mit den FARC - nur unter bestimmten Bedingungen verhandelt wird, weil ihnen aufgrund ihrer Ideologie und ihrer Vergehen weniger vertraut wird.

Es existieren viele Gründe und Zahlen, die unterstreichen, dass zwar die erhoffte Zahl von 30.000 demobilisierten Paramilitärs erreicht wurde, viele Opfer jedoch noch nicht oder unzureichend entschädigt wurden. Zudem steht die Frage im Raum, wie viele der Paramilitärs wirklich demobilisiert wurden bzw. tatsächlich Paramilitärmitglieder waren und nicht nur vortäuschten Mitglied zu sein, da offizielle Listen mit eingetragenen Mitgliedern der Organisationen häufig nicht existieren bzw. nicht vollständig sind.[36]

Abb. 2: Demobilisierte Paramilitärs und die Anzahl von ihnen abgegebener Waffen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Caramés, Alber; Fisas, Vicenc: Colombia (AUC), Agencia Española de Cooperación Internacional, 2007.[37]

Diese Tabelle stellt die Demobilisierung von 31.671 Paramilitärs sowie deren Anzahl abgegebener Waffen dar.[38] Das gleiche Dokument verweist jedoch darauf, dass viele der Demobilisierten sich neuen oder noch bestehenden Verbänden wieder angeschlossen haben.[39] Gründe für dieses Handeln sind zahlreich, z.B. eine zu geringe Entschädigung durch den Staat im Rahmen der Demobilisierung oder eine misslungene Eingliederung in die Gesellschaft. Da große Teile der Bevölkerung ihnen nicht vertrauen und sie aus der Gemeinschaft ausschließen. Hierdurch übt die Bevölkerung kulturelle Gewalt aus. Ausgrenzung aufgrund von Ideologie und Angst erfolgt. Die zurück-kehrenden Demobilisierten üben erneut Gewaltakte aus – Morde, Attentate, Massaker entsprechen direkter Gewalt – und der Staat verhandelt weiterhin mit der AUC, „vernachlässigt“ die FARC und missachtet, dass viele Demobilisierte keine echten AUC-Mitglieder sind, sondern die Mitgliedschaft nur vortäuschen,[40] um die Zahl von 30.000 Demobilisierten zu erreichen. Es wird strukturelle Gewalt gegenüber den FARC ausgeübt, da ihnen andere Verhandlungsbedingungen gestellt werden als den AUC (s. Anhang 3).

Diese Handlungen sind Gewaltakte, die weitere Gewaltakte auslösen. Die Folgen des Gesetzes sind entsprechend vielseitig:

1. Mitglieder der AUC sowie hochrangige Führungspersonen müssen keine harte Bestrafung befürchten. Zudem müssen sie stets nur so viel Wissen preisgeben, dass es als Kollaborieren ausreicht, bedeutende Informationen jedoch auf Jahre verschwiegen werden. Das Gesetz beinhaltet keine Einschüchterung, sondern ist eine Motivation für die Paramilitärs. Eine Art Freifahrtschein, der direkte Gewalt fördert, da die Strafe oft eine Dauer von acht Jahren nicht übersteigt.

2. Die Beziehung zwischen Regierung und AUC vertieft sich. Beide Seiten wissen, dass sie vom jeweils anderen profitieren können. Die Zielsetzungen sind zwar verschieden, jedoch kann durch die Beziehung ein friedlicheres Kolumbien erreicht werden, da ein Akteur im Konflikt entfällt. Die sogenannte Parapolitik[41] wird durch die enge Beziehung zwischen AUC und Regierung verstärkt und erzeugt strukturelle Gewalt, um Regeln und Gesetze zum eigenen Vorteil festzulegen.

3. Guerilleros – besonders die FARC-Mitglieder – erhalten höhere Bestrafungen und müssen aufgrund individueller Demobilisierung häufig mit Mordanschlägen rechnen.[42] Dies ist direkte und kulturelle Gewalt, da sie sich neu in die Gesellschaft eingliedern müssen. Die Gesellschaft grenzt sie häufig aufgrund ihrer Vergangenheit und aus Befürchtung, ehemalige Guerilleros könnten in ihr aggressives Verhalten zurückfallen, aus.

4. Viele der demobilisierten Paramilitärs werden bewaffnet oder unbewaffnet der öffentlichen Polizei zur Seite gestellt,[43] da eine andere berufliche Eingliederung aufgrund fehlender Bildung selten möglich ist. Dadurch wird die Zahl sowie die Präsenz der Polizei erhöht, die Schwerpunkte des Problems werden verlagert und die Ausgaben im militärischen Bereich steigen. Direkte und strukturelle Gewalt werden durch ständige Waffenpräsenz sowie die misslingende, vollständige Integration der Demobilisierten gefördert. Letzteren wird keine neue Zukunft gewiesen, sondern sie müssen sich im ursprünglichen Bereich nur neuen „Kommandanten“ unterordnen und die Gesellschaft grenzt sie häufig aus Angst vor gewaltsamen Ausbrüchen aus.

5. Der Präsident nimmt nicht an allen Besprechungen und Umsetzungen in Bezug auf das Gesetz teil, bestimmt jedoch Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen, die ihn informieren und seine Meinung vertreten sollen, womit er indirekt stets präsent ist und für die Entscheidungen und ihre Folgen verantwortlich zeichnet.[44] Es handelt sich um strukturelle Gewalt, wenn Gesetze oder Änderungen am Gesetz durchgeführt werden, die einen bestimmten Akteur bevorzugen und die Arbeit der Regierung in besseres Licht rückt, wenn die Änderung positive Effekte erzeugt bzw. die Regierung demobilisierte Truppen entlässt, um den aktiven Prozess der Demobilisierung nach Abschluss der juristischen Verfahren einzuleiten.

6. Die Kürze der Untersuchungen der Aussagen verhindert, dass Fälle detailliert analysiert werden können, Familienangehörige keine oder kaum Information über den genauen Tathergang erhalten und viele Verbrechen schnell vergessen oder gar nicht angesprochen werden.[45] Ein erneutes Perdón y Olvido wie in den 1980ern entsteht, denn mehr kann den Opfern nicht gegeben werden, wenn nicht Organisationen wie CNRR versuchen auf Massaker, Attentate oder Gewaltakte hinzuweisen und gerechte Strafen zu fordern. Dies stellt kulturelle Gewalt dar, da keine akzeptable Behandlung der Opfer und ihrer Forderungen stattfindet, was eigentlich durch das Gesetz erreicht werden sollte.

Dies sind nur einige Folgen der Aufstockung der militärischen und polizeilichen Kräfte oder der Unterstützung der Paramilitärs durch das Militär und weitere Akteure. Zudem zeichnen die Paramilitärs für mehr Gewaltakte Verantwortung als die FARC (s. Anhang 4). Doch bereits anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass all dies stets zu unterschiedlichen Arten von Gewalt führt, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen und Quelle für neue Gewaltakte sind.

Eine weitere Handlung Uribes und seiner Regierung, die zur Verstärkung der Gewalt in Kolumbien führt – wenn auch das Gegenteil beabsichtigt ist – ist der Plan Colombia.

[...]


[1] Vgl. Galtung, Johan, 2008, S. 52.

[2] Vgl. Bernsdorf, Wilhelm; Knospe, Horst (Hrsg.): Internationales Soziologenlexikon Band 2, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1984 (2), S. 269f.

[3] Vgl. Galtung, Johan: Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Dieter Senghaas (Hrsg.): Kritische Friedensforschung, Frankfurt aM 1971, S. 56.

[4] Zitiert nach: Coady, C.A.J: The idea of violence. In: Violence and its alternatives, 2008, S. 25.

[5] Dieser Gedanke wird nicht nur von Johan Galtung, sondern auch von Robert Paul Wolff angesprochen, wenn er davon spricht, dass Gewalt nicht allein auf physische Kraftauswirkungen bezogen werden darf, sondern breiter gefächert werden muss. Wolff, Robert Raul: On Violence. In: Steger, Manfred (Hrsg.): Violence and its alternatives, S. 15.

[6] Vgl. Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt – Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Rowohlt Verlag, Hamburg 1975, S. 112.

[7] Vgl. Ferdowsi, Mir A.: Der positive Frieden – Johan Galtungs Ansätze und Theorien des Friedens, Minerva Fachserie, München 1981, S. 113.

[8] Zitiert nach: Galtung, Johan, 2008, S. 39.

[9] Zitiert nach: Galtung, Johan, 1975, S. 23.

[10] Vgl. Galtung, Johan, 1975, S. 12.

[11] Zitiert nach: Galtung, Johan: Konflikt, Krieg und Frieden. In: Galtung, Johan; Jacobsen, Carl; Frithjof Brand-Jacobsen, Kai (Hrsg.): Neue Wege zum Frieden, Bund für Soziale Verteidigung, München 2003, S. 24.

[12] Vgl. Ferdowsi, Mir A., 1981, S. 119ff.

[13] Wenn die Ausübung von Gewalt zur Schlichtung des Konflikts führt, indem beide Seiten nicht mehr Verluste hinnehmen wollen, Kompromisse bereit sind einzugehen oder Verträge aufsetzen, die Gewaltausübung in Zukunft vermeidet und auf Verhandlungen setzt, so kann Gewalt als etwas Funktionales gesehen werden. Eine Alternative aus dem römischen Reich wäre, dass ein Soldat des einen Lagers gegen einen Soldaten des feindlichen Lagers kämpft, um somit das Blutvergießen tausender zu vermeiden. Denn das Lager, dessen Soldat gewinnt, hat somit die Schlacht für alle gewonnen.

[14] Als Bogotazo wird der 9. April 1948 in Kolumbien bezeichnet. Die angestaute Wut, Ängste und Verzweiflung der Bevölkerung, dass die Politik nicht auf ihre Belange und Forderungen einging, entluden sich in einer großen Gewaltwelle, die aufgrund des Mordes am liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán von Bogotá ausging. Vgl. König, Hans-Joachim: Kleine Geschichte Kolumbiens, BeckscheReihe, München 2008, S. 138.

[15] In wissenschaftlichen Bereichen spricht man hierbei von der These der “combinación de formas de lucha“. Es werden verschiedene Formen des „Kampfes“ genutzt, um das gewünschte Ziel zu erreichen, wie z.B. Wahlen, politische Präsenz oder wirtschaftlicher Einfluss (Vgl. Harnecker, Marta: Colombia: Combinación de todas las formas de lucha, Biblioteca Popular, Oktober 1988).

[16] Vgl. Fischer, Thomas; Cubides, Fernando: Paramilitarismus in Kolumbien. In: Fischer, Thomas; Krennerich, Michael: Politische Gewalt in Lateinamerika, Vervurt Verlag, Frankfurt aM 2000, S. 113.

[17] Vgl. MacKenzie, Eduardo: Les FARC ou L'échec d'un Communisme de Combat, Publibook, Paris 2005, S. 525.

[18] Vgl. Manifesto Democrático – 100 Puntos Álvaro Uribe Vélez, 2002.

[19] Uribe gab den FARC nicht so viel Spielraum wie Pastrana. Es ist vergleichbar mit einem Esel, dem eine Möhre an einer Stange vorgehalten wird und nicht ein ganzer Haufen Möhren hingelegt wird. Denn eine Möhre an einer Stange befestigt, zwingt den Esel, sich zu bewegen und nicht nur das großzügige Geschenk anzunehmen, dafür jedoch keine Gegenleistung zu erbringen. Bezogen auf die FARC handelt es sich um das freie Staatsgebiet, das sie ohne gestellte Bedrohungen erhalten, es soll nur zu Friedensverhandlungen kommen. Bei Uribe kommt eher der militärische Arm zum Einsatz, als der Haufen Möhren.

[20] Vgl . Manifesto Democrático – 100 Puntos de Álvaro Uribe Vélez, 2002, S. 5.

[21] Im Jahre 2005 verfügten die AUC über 16.500 Kämpfer, die in 35% des staatlichen Territoriums angesiedelt waren und agierten (Vgl. Grabendorff, Wolf: Uribe bis 2010? Kolumbien zwischen Wiedereingliederung und Wiederwahl, Kurzberichte aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, FES, 19.01.2005, S. 2).

[22] Vgl. Human Rights Watch Report (Hrsg.): Breaking the Grip? Obstacles to Justice for Paramilitary Mafias in Colombia, New York, Oktober 2008, S. 7.

[23] Vgl. Grabendorff, Wolf: Uribe bis 2010?, 2005, S. 2.

[24] Vgl. La muerte de 'Raúl Reyes' desencadena una crisis diplomática entre Colombia, Venezuela y Ecuador, El País, Caracas 02.03.2008.

[25] Zitiert nach: Alto Comisionado para la Paz: Diálogos y Negociaciones – FARC Informe Ejecutivo, 2002.

[26] Vgl. Grabendorff, Wolf: Uribe bis 2010?, 2005, S. 1.

[27] Vgl. Unidad Nacional de Fiscalias para la Justicia y la Paz (Hrsg.): Esquema Ley 975, 2005, S. 19ff.

[28] Vgl. ebd. , S. 6.

[29] Vgl. ebd., S. 54-64.

[30] Nach in Kraft treten des Gesetzes merkten verschiedene nationale und internationale Organisationen und Institutionen an, dass dieser Zeitraum zu gering sei, um die Opfer zu finden, Aussagen effektiv zu überprüfen und ein gerechtes Urteil zu sprechen, weshalb dieser Aspekt überarbeitet wird.

[31] Das „Motto“ Perdón y Olvido (Vergeben und Vergessen) entstand zur Zeit des Frente Nacional. Die Politiker baten um „Vergebung“ für die begangenen Verbrechen, um anschließend die Vergangenheit zu verdrängen und neu zu beginnen.

[32] Vgl. Oficina del Alto Comisionado para la Paz: Diálogos y Negociaciones – Autodefensas Acuerdo 2003.

[33] Vgl. Human Rights Watch Report, 2008, S. 66/67.

[34] Vgl. ebd., S. 9.

[35] Vgl. Unidad Nacional de Fiscalias, 2005, S. 100.

[36] Vgl. Human Rights Watch Report, 2008, S. 69.

[37] Die Zahlen stimmen mit einem Bericht der UNHCR überein, Genf 12.06-30.06.2010, S. 2.

[38] Die Tatsache, dass nicht alle Paramilitär-Mitglieder Mitglieder der AUC sind, erschwert eine genaue Feststellung wie viele Mitglieder nur von den AUC demobilisiert wurden.

[39] Vgl. ebd., S. 8.

[40] Vgl. Dudas sobre desmovilización del BCN, Agencia de Prensa IPC, 08.03.2011. Der Artikel zeigt zudem, dass eine genaue Zahl der Mitglieder nie zu bestimmen ist, da die Bloques (Einheiten) oft neu zusammengesetzt werden bzw. neue Mitglieder hinzukommen und ältere desertieren. Die Regierung muss somit auf die Aussagen der AUC sowie der Führer der einzelnen Bloques in Bezug auf die Mitgliederzahl vertrauen, was eine effektive Demobilisierung erschwert.

[41] Als Parapolitik (im Englischen: parapolitics) sind die Verbindungen zwischen Paramilitärmitgliedern und Staatsbeamten, Korruption, Verhandlungen, Gewaltakten und anderen Arten von Verbrechen zu verstehen, die Vorteile für beide Seiten erzeugen sollen. Dies erfolgt jedoch ohne das direkte Wissen der Bevölkerung und im Geheimen. Aus diesem Grund ist es besonders prekär gewesen, als 2005 der sog. Parapolitics-Skandal publik wurde, an dem mehrere Justizbeamte, die für die Umsetzung des Gesetzes Justicia y Paz verantwortlich waren, beteiligt waren (Vgl. Human Rights Watch, 2007, S. 87/88).

[42] Vgl. Unidad Nacional de Fiscalias, 2005, S. 40ff.

[43] Vgl. Grabendorff, Wolf: Uribe bis 2010?, 2005, S. 2/3.

[44] Vgl. Unidad Nacional de Fiscalias, 2005, S. 45.

[45] Vgl. ebd., S. 30ff.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2011
ISBN (PDF)
9783863417451
ISBN (Paperback)
9783863412456
Dateigröße
4.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
Ley de Justicia y Paz Bogotá Gewalt Uribe FARC Johan Galtung

Autor

Lisa Picott, B.A., wurde 1989 in Düren geboren. Während des Studiums der Lateinamerikastudien an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt absolvierte sie ein Auslandssemester an der Pontificia Universidad Javeriana in Kolumbien, dessen Erlebnisse und Kenntnisse sie zum Verfassen ihrer Bachelorarbeit nutzte. Neben ihrem Aufenthalt in Kolumbien erweiterten ihr Studium, ihre Tätigkeit als Tutorin für lateinamerikanische Austauschstudenten sowie ihre Aufenthalte in Ecuador, Mexiko, Costa Rica und Peru ihr interkulturelles Wissen. Sie erhielt auf diese Weise die Möglichkeit, persönliche und fachspezifische Kenntnisse in ihre Abschlussarbeit mit einfließen zu lassen, und wurde zur Weiterführung ihres Studiums im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung (Master) motiviert.
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Titel: Nach „La violencia“ in Kolumbien: Drogen, Vertreibung, Paramilitär, Guerilla und Politik
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