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Kinderarmut in Deutschland: Wie wirkt sich Armut auf die Lebensbedingungen und Verwirklichungschancen von Kindern aus?

©2008 Bachelorarbeit 38 Seiten

Zusammenfassung

Kinderarmut galt in Deutschland lange Zeit als unbedeutendes Randphänomen. Im Zuge des Wandels von Arbeitsmarkt- und Familienstrukturen lässt sich jedoch seit Beginn der 90er Jahre ein Auseinanderdriften der Gesellschaft beobachten, in dessen Verlauf breite Teile der heranwachsenden Bevölkerung als Modernisierungsverlierer zurückbleiben. Auch immer mehr Kinder aus der traditionellen Mittelschicht wachsen in Armutslagen auf.
Diese Entwicklung hat den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs um Chancengerechtigkeit erneut entfacht. Innerhalb der letzten Jahre erschienene Studien liefern eine detaillierte Analyse der Auswirkungen von Armutslagen auf Lebensbedingungen und Verwirklichungschancen von Kindern. Wenig beachtet blieb jedoch bisher, in welchem Maße sich Armutsstrukturen über Generationen hinweg verfestigen.
Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage, inwieweit Kinderarmut in Deutschland als spezifische Reproduktionsform sozialer Lagen verstanden werden kann. Unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus Theorien von Habitus und Kapital werden individuelle und institutionelle Mechanismen aufgezeigt, die eine sogenannte Vererbung von Lebenschancen begünstigen.
In der Kindheit erfahrene Mangelzustände beeinflussen nicht nur die aktuelle Lebenslage von Kindern, sondern auch ihre Entwicklungs- und Lebenschancen. Als zentrale Einflussfaktoren auf die langfristige Verfestigung erlebter Benachteiligungen werden die familiäre Ausstattung mit Kapitalressourcen, die habituelle Disposition der Eltern sowie die Verfügbarkeit externer Unterstützung identifiziert.
Kinder, die in armen Familien aufwachsen, haben, so das Fazit, ein erhöhtes Risiko, später selbst in Armut zu leben. Eine Beschränkung der Ursachensuche von Armutskarrieren auf die individuelle Ebene greift jedoch zu kurz. Vielmehr führt erst die Interaktion mit gesellschaftlichen Institutionen, wie dem Bildungs- oder Sozialsystem, zur Entstehung von Bedingungen, welche eine Verfestigung multipler Deprivationen hervorrufen können. An dieser Stelle finden sich entscheidende Ansatzpunkte für eine armutsvermeidende Sozial- und Familienpolitik.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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II
Armut
Armut ist ein kontrovers diskutierter Begriff, für den bisher keine umfassende und allgemein
anerkannte Definition existiert (Hock 2000: 19). Konsens herrscht lediglich darüber, dass
Armut generell als Mangellage zu verstehen ist. Unterschieden werden kann hierbei zwischen
absoluter und relativer Armut. Erstere beschreibt einen, die physische Existenz bedrohenden,
Mangel an lebenswichtigen Gütern wie Essen, Kleidung, Wohnung und medizinischer Be-
treuung. Von relativer Armut ist dann die Rede, wenn die Betroffenen ein, am Lebensstandard
der jeweiligen Gesellschaft orientiertes, soziokulturelles Existenzminimum unterschreiten
(Axhausen 2002: 36). Da absolute Armut in westlichen Industrieländern nur noch in Einzel-
fällen auftritt, rückt die relative Armut in den Fokus der Aufmerksamkeit. Dies spiegelt sich
beispielsweise im Ratsbeschluss der EG zum Armutsbegriff vom 19. Dezember 1984 wider:
,,Als verarmt sind jene Einzelpersonen, Familien und Personengruppen anzuse-
hen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass
sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem
sie leben, als Minimum anwendbar ist." (Rat der Europäischen Union 1984: 25)
Armut ist ein "lebensweltliches, kontextabhängiges und stets interpretationsbedürftiges Phä-
nomen" (Beisenherz 2002: 294), das nur innerhalb seines Kontextes bewertet werden kann.
Dabei spielen sowohl sachliche Aspekte, wie z.B. die Lebenshaltungskosten, die Verfügbar-
keit wohlfahrtsstaatlicher Leistungen oder das lebensweltliche Umfeld, als auch deren zeitli-
che Entwicklung eine Rolle
2
. Gleiches gilt für die subjektive Bewertung von Armutslagen.
Wie stark Armut bewusst ist und als ungerecht empfunden wird, hängt nicht nur von der per-
sönlichen Lage der Betroffenen, sondern auch von der gesamtgesellschaftlichen Situation ab
3
.
Ebenso ist jede Armutsdefinition untrennbar mit den Werten und Zielen ihrer Urheber ver-
bunden. Dies gilt in besonderem Maße für die Festlegung von Armutsgrenzen, da diese weder
in absoluter noch in relativer Form ohne normative Vorgaben auskommt (Hock 2000: 20). So
streben Wissenschaftler beispielsweise nach einem Höchstmaß an Präzision in der Beschrei-
bung des Phänomens Armut, während Politiker eher praktische Implikationen in den Vorder-
grund rücken
4
. Hieraus ergibt sich eine Fülle verschiedener, auf spezielle Ziele und Hinter-
2
So können Veränderungen in der Einkommens- oder Kostenstruktur die offizielle Armutsquote beeinflussen,
ohne dass dies Auswirkungen auf die Lage der Armen selbst hätte (Beisenherz 2002: 317-318).
3
Untersuchungen in Großbritannien belegen, dass Armut von Kindern umso weniger als belastend wahrgenom-
men wird, je höher die nationale Kinderarmutsquote ist (Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008: 162). Diese
Erkenntnisse lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen jedoch nicht direkt auf andere
Länder übertragen und müssten daher für Deutschland gesondert nachgewiesen werden.
4
Brown und Corbett identifizieren hierbei fünf mögliche Anwendungsnutzen des Armutsbegriffs - descriptive
use, monitoring use, goal setting use, accountability use und evaluative use ­ welche je nach Verwendungszu-
sammenhang in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten (Beisenherz 2002: 344).

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gründe ausgerichteter Armutsdefinitionen. Die Komplexität des Armutsbegriffes und sein
normativer Charakter tragen somit maßgeblich dazu bei, dass eine universale Armutsdefiniti-
on zum heutigen Zeitpunkt noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Im Folgenden sollen daher
die gängigsten Armutskonzepte kurz erläutert werden, um dann auf die Besonderheiten der
Definition und Messung von Armut bei Kindern einzugehen.
II.I
Ressourcenansatz
Der Ressourcenansatz betrachtet die Einkommenslage als grundlegendes Kriterium der Ar-
mutsbestimmung. Einkommensarmut liegt dann vor, wenn eine bestimmte Einkommens-
schwelle unterschritten wird. Der Armutsbegriff wird hierbei bewusst auf eine Dimension
verkürzt, um eine einfache und vergleichbare Datenerhebung zu ermöglichen. Er findet daher
sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft häufig Anwendung. Die Einkommens-
schwelle kann dabei auf verschiedene Weise festgelegt werden. Wissenschaftler greifen oft
auf gesellschaftsspezifische Warenkörbe zurück, welche den Mindestbedarf einer Person oder
eines Haushaltes zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebens umfassen. Geläufig ist auch
die Orientierung am Durchschnittseinkommen der jeweiligen Gesellschaft. In Deutschland
gilt danach als arm, wer weniger als 50% des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens
zur Verfügung hat. Die politische Armutsgrenze orientiert sich am Sozialhilfesatz, einem auf
Basis von Warenkörben festgelegten und an den Rentenwert gekoppelten staatlichen Exis-
tenzminimum (Hock 2000: 22). Kritisch ist hierbei anzumerken, dass beide Vorgehensweisen
stark an die Wohlfahrtsentwicklung der Gesellschaft gekoppelt sind und nur ungenügend auf
die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Gruppen eingehen
5
. Auch ignoriert eine Verkürzung
des Armutsbegriffes auf die materielle Versorgung die Kontextrelativität von Armutslagen.
5
Kommt es z.B. durch den Ausbau des Niedriglohnsektors zu einer Abnahme des Durchschnittseinkommen, so
reduziert sich statistisch gesehen auch die Armut, ohne dass dies jedoch einen Einfluss auf die Lage der Perso-
nen hätte. Ebenso können spezifische Bedürfnisse von einzelnen Bevölkerungsgruppen, wie z.B. jungen Fami-
lien oder Behinderten, bei der Zusammenstellung von Warenkörben nicht ausreichend berücksichtigt werden
(Hock 2000: 22-23). Die Problematik der Armutsmessung ist ein zentrales Thema der Armutsforschung. Eine
umfassende Darstellung hierzu bietet u.a. das von Walter Krämer im Auftrag des Bundesministeriums für Ge-
sundheit erstellte Gutachten Statistische Probleme bei der Armutsmessung (Krämer 1997).

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II.II
Lebenslagenansatz
Lebenslagenkonzepte greifen die Schwäche des Ressourcenansatzes auf, indem sie das ver-
fügbare Einkommen in Relation zu weiteren Lebensbereichen setzen. Die Grundlagen dieses
Ansatzes wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von Otto Neurath entwickelt und später u.a.
durch Gerhard Weisser konkretisiert. Als Kerndimensionen gelten hierbei Arbeit, Bildung,
Wohnung, Gesundheit, soziale Teilhabe und subjektives Wohlbefinden
(Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008: 128). Die Versorgungslage in den einzelnen Dimen-
sionen, sowie deren Zusammenspiel bestimmen die spezifische Lebenslage einer Person. Die-
se beschreibt Weisser als den
,,Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der
Grundanliegen bieten, die er bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung
als bestimmend für den Sinn seines Lebens ansieht." (Leßmann 2006: 33)
Von Armut ist folglich dann die Rede, wenn dieser Spielraum aufgrund einer Unterversor-
gung in mehreren Kerndimensionen nicht mehr gegeben ist
6
. Armut erscheint dadurch erst-
mals als multidimensionales Phänomen. Gerade darin liegt jedoch auch die große Schwäche
des Ansatzes. Der Handlungsspielraum ist durch die Vielfalt an betrachteten Lebensbereichen
nicht offen erkennbar, sondern muss konstruiert werden. Auch erschwert die gesteigerte
Komplexität eine klare Festlegung von Armutsgrenzen (Leßmann 2006: 39).
II.III
Capability-Ansatz
Mit seinem capability-Ansatz erweitert Amartya Sen das Lebenslagenkonzept um den Faktor
der individuellen Nutzbarmachung von Ressourcen. Er betrachtet Armut als Mangel an fun-
damentalen Verwirklichungschancen, d.h. an jenen ,,substantiellen Freiheiten, die es ihm
[dem Menschen; Anm. RR] erlauben, ein mit Gründen erstrebtes Leben zu führen." (Sen
2000: 110) Als grundlegende Bestimmungsgrößen des individuellen Potentials an realisierba-
ren Lebensentwürfen (capability set) identifiziert er dabei einerseits die Ausstattung mit fi-
nanziellen (Einkommen und Vermögen) und nicht-finanziellen Ressourcen (z.B. Gesundheit
oder Bildung). Andererseits haben jedoch auch die gesellschaftlich bedingten instrumentellen
Freiheiten, welche sowohl an den politischen und sozialen Chancen, als auch am durch den
Staat gewährleisteten ökologischen und sozialen Schutz zu messen sind, einen entscheidenden
Einfluss (Arndt/Volkert 2006: 11). Einkommen bildet somit zwar die Grundressource indivi-
dueller Lebenschancen, diese können jedoch erst durch dessen Umsetzung in konkrete Tätig-
6
So definiert Butterwegge Armut in Anlehnung an Weissers Lebenslagenansatz als ,,kumulative Unterversor-
gung in mindestens zwei von vier zentralen Lebensbereichen," wobei er von den Kerndimensionen Arbeit, Bil-
dung, Wohnung und Gesundheit ausgeht (Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008: 136-137).

8
keiten und Kompetenzen (functionings) verwirklicht werden. Dieser Transformationsprozess
wird durch gesellschaftliche und persönliche Faktoren beeinflusst
7
. Das Wohlergehen einer
Person steigt mit der Anzahl und subjektiven Qualität tatsächlich erreichbarer Lebenssituatio-
nen (Sen 2000: 162-163). Für die Praxis ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass Armut
nur dann erfolgreich beseitigt werden kann, wenn neben der materiellen Versorgung auch die
Nutzbarmachung der Ressourcen abgesichert wird.
II.IV
Armut und Armutsmessung bei Kindern
Kinderarmut fand in der Armutsforschung lange Zeit kaum Beachtung. Erst durch die breite
öffentliche Diskussion über Kinderrechte und Kindeswohl in den 90er Jahren und den da-
durch ausgelösten Paradigmenwechsel in der Politik, in Folge dessen Kinder erstmals den
Status eines souveränen Rechtssubjektes erhielten, wurde sie auch von der Wissenschaft als
eigenständiges Problemfeld anerkannt (Hock 2000: 19). Trotzdem gibt es bis heute nur sehr
wenige Erhebungen, die Kinder gezielt als Subjekt von Armutslagen betrachten. Noch immer
greift man für die Bestimmung von Kinderarmutsquoten auf das Einkommen oder den Sozi-
alhilfebezug der Familie zurück. Dabei bleiben die tatsächliche Mittelverteilung und die da-
raus resultierende Versorgungslage der Kinder jedoch unbeachtet (Butterwegge/
Klundt/Belke-Zeng 2008: 127-128). Ebenso verschleiert die Verkürzung des Armutsbegriffes
auf eine Dimension die Tatsache, dass neben der materiellen Versorgung noch eine Vielzahl
anderer Einflussfaktoren die konkrete Lebenssituation von Kindern bestimmt. Dazu gehören
u.a. die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Lebenssituation der Fa-
milie, das private Umfeld, sowie das Angebot an professioneller Unterstützung (Hock 2000:
30).
Einen ersten eigenständigen Ansatz zur Bestimmung von Armut bei Kindern bieten die u.a.
von Beate Hock und Gerda Holz durchgeführten ISS-AWO-Studien zu Armut und Zukunfts-
chancen von Kindern in Deutschland. Diese unterscheiden unter Rückgriff auf den Lebensla-
genansatz fünf verschiedene potentielle Unterversorgungsbereiche, wobei die materielle Situ-
ation der Familie die Grunddimension darstellt. Neben ihr werden auch der Zugang des Kin-
des zu grundlegenden materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen, sowie dessen körper-
liches und seelisches Wohlbefinden betrachtet. Die jeweiligen Lebenslagen in den Einzeldi-
mensionen werden schließlich zu einem System von Lebenslagentypen zusammengefasst,
7
Zu den gesellschaftlichen Umwandlungsfaktoren zählen u.a. der Lebensstandard und die Lebenshaltungskos-
ten. Als persönliche Umwandlungsfaktoren sind besonders Alter und Geschlecht, Bildung und Gesundheit von
Bedeutung (Sen 2000: 111-112).

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welches zwischen Wohlergehen, der Unterversorgung in einer Dimension (Benachteiligung)
und der Unterversorgung in mehreren Dimensionen (multiple Deprivation) differenziert. Von
Kinderarmut wird jedoch erst dann gesprochen, wenn neben der Unterversorgung in mindes-
tens einer Lebensdimension auch eine Einkommensarmut der Familie vorliegt (Holz 2008:
484-485). Dieses Konzept trägt zwar der Multidimensionalität des Armutsphänomens Rech-
nung, beachtet jedoch noch nicht, inwieweit die vorhandenen Ressourcen von den Kindern
auch genutzt werden können.
Für die folgenden Ausführungen soll Kinderarmut deshalb in Anlehnung an Sens capability-
Ansatz als Mangel an Verwirklichungschancen definiert werden, welcher sowohl auf einer
Unterversorgung an materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen, als auch auf der fehlen-
den Möglichkeit ihrer Nutzbarmachung durch die Kinder beruhen kann.

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III
Die Reproduktion sozialer Lagen nach Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu vertritt mit seiner Theorie der sozialen Ungleichheit die These, dass sich so-
ziale Lagen in allen Gesellschaften über die Generationen hinweg reproduzieren. Ursachen
dafür sind die unterschiedliche Ausstattung der Menschen mit Ressourcen und ihr klassenspe-
zifischer Habitus, welche die Verwirklichung von Lebenschancen an die soziale Herkunft des
Einzelnen koppeln. Im Folgenden sollen daher die Kernkonzepte von Kapital, Habitus und
sozialem Raum, sowie deren Einfluss auf die Reproduktion sozialer Lagen dargestellt werden.
III.I
Kapital
Bourdieu führt die soziale Stellung eines Menschen vor allem auf seine verfügbaren Ressour-
cen zurück. Er unterscheidet dabei zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapi-
tal. Während das ökonomische Kapital am geldwerten Vermögen einer Person gemessen
wird, umfasst das kulturelle Kapital alle sozial vererbten Kulturgüter und Ressourcen. Diese
können in objektivierter Form (z.B. Bücher, Kunstwerke oder Artefakte) oder inkorporiert, als
selbst angeeignetes Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, auftreten (Bourdieu 2005: 55-59).
Die entscheidenden Verinnerlichungsprozesse kulturellen Kapitals finden während der Pri-
märsozialisation in der Familie statt, sodass Bildungskapital immer entsprechend der sozialen
Herkunft erworben wird (Bourdieu 1987: 180). Besonders das Erlernen der Aneignungsme-
chanismen selbst ist dabei von entscheidender Bedeutung für die Erschließung der kulturellen
Güter (Bourdieu 2005: 58). Da inkorporiertes kulturelles Kapital für Außenstehende nur
schlecht zu bewerten ist, kann es durch die Institutionalisierung in Bildungstiteln vergleichba-
rer gemacht werden. Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu all jene Chancen, die sich aus
den Beziehungsnetzwerken einer Person und ihrer sozialen Herkunft ergeben (Bourdieu 2005:
61-64). In der Gesellschaft herrscht ein ständiger Kampf um die Verteilung und Wertbemes-
sung der einzelnen Kapitalsorten. Diese sind prinzipiell ineinander konvertierbar, wobei das
genaue Tauschverhältnis jedoch kontextabhängig ist. Oberstes Ziel aller Beteiligten ist, so
Bourdieu, die Umwandlung ihrer Ressourcen in symbolisches Kapital, d.h. Ansehen, um den
sozialen Status langfristig zu sichern (Bourdieu 2005: 209-210).

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III.II
Habitus
Die gesellschaftliche Lage einer Person spiegelt sich nach Bourdieu nicht nur in ihrem ver-
fügbaren Kapital, sondern auch in ihr selbst wieder. So werden die äußeren Lebensbedingun-
gen im Laufe der Sozialisation zu einem inneren Dispositionssystem, einer Art inkorporierten
Sozialstruktur, umgewandelt (Bourdieu 1987b: 101-102). Dieser sogenannte Habitus besteht
einerseits aus klassenspezifischen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Denkschemata mit de-
ren Hilfe die Umwelt klassifiziert wird, bietet andererseits jedoch auch ein Repertoire an kon-
kreten Handlungsmustern (Bourdieu 1987: 280). Er setzt dadurch einen Rahmen des sozial
Möglichen und Logischen, innerhalb dessen sich Individuen frei bewegen können (Bourdieu
1987b: 103-104). Die Persönlichkeit bildet dabei eine Variante des klassenspezifischen Habi-
tus, welche durch individuelle Erfahrungen und Lebensverläufe gekennzeichnet ist (Bourdieu
1987b: 113). Im Rahmen der gesellschaftlichen Interaktion wirkt der Habitus als sozialer
Selbstverortungssinn (sens pratique), mit dessen Hilfe die Akteure quasi instinktiv erkennen,
welches Verhalten ihrer sozialen Position angemessen ist (Bourdieu 1987b: 108). Nach außen
zeigt sich der Habitus in der individuellen Hexis, d.h. in Sprache, Haltung oder Bewegung,
und wird damit wiederum zur Basis der Klassifikation durch Dritte (Bourdieu 1987b: 135-
136). So ist er nicht nur ein Produkt der sozialen Lage (opus operatum), sondern trägt durch
die Strukturierung der menschlichen Praxis (modus operandi) auch zu ihrer Reproduktion bei
(Bourdieu 1987: 281).
III.III
Habitus und Kapital im sozialen Raum
Jeder Einzelne nimmt durch seine objekti-
ven Lebensbedingungen und seinen Habitus
eine bestimmte soziale Position ein. Bour-
dieu verdeutlicht dies, indem er die einzel-
nen Akteure anhand des Umfangs und der
Art ihres Kapitals, sowie ihrer sozialen
Laufbahn in einem fiktiven sozialen Raum
positioniert (Bourdieu 1987: 195-197, 206).
Die soziale Laufbahn stellt dabei ein dyna-
misches Element dar, welches die Entwick-
lung des individuellen Kapitalvolumens im
Abb.1 Der soziale Raum (Schwingel 1995: 104)

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Laufe des Lebens berücksichtigt. Die Stellung des Einzelnen ergibt sich erst in Relation zu
den anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Den verschiedenen Positionen sind dabei spezifi-
sche Berufe und Lebensstile zugeordnet (Bourdieu 1987: 214).
Basierend auf der Stellung im sozialen Raum und dem damit verbundenen Habitus konstruiert
Bourdieu drei verschiedene Klassen (Bourdieu 1987: 175). Am oberen Ende der sozialen Ska-
la steht die herrschende Klasse der bürgerlichen und industriellen Elite, welche über ein gro-
ßes Kapitalvolumen und einen hohen sozialen Status verfügt. Sie grenzt sich durch Habitus
und Lebensstil von dem ihr untergeordneten Kleinbürgertum ab. Diese zweite große Klasse
zeichnet sich vor allem durch ihre Heterogenität und ihre hohe innere Mobilität aus. So ver-
fügt das obere Kleinbürgertum über einen enormen Aufstiegswillen und versucht den Lebens-
stil der herrschenden Klasse zu kopieren, während andere Teile der Klasse lediglich ihren
Statuserhalt anstreben. Am unteren Ende der sozialen Hierarchie befindet sich die Volksklas-
se der Bauern und einfachen Arbeiter. Sie verfügt kaum über Kapital und hat daher nur wenig
Chancen, ihren Status zu verbessern (Münch 2004: 423-424).
Insgesamt erscheint die Gesellschaft somit als relativ stabiles Reproduktionssystem sozialer
Lagen. Menschen gleicher sozialer Stellung stehen durch ähnliche Berufe und Lebensstile in
ständigem Kontakt zueinander und bilden dadurch geschlossene Lebenskreise, die für Außen-
stehende kaum zugänglich sind. So werden klassenspezifische Lebensbedingungen über Kapi-
tal und Habitus von Generation zu Generation weitergegeben. Andererseits zeigt Bourdieu
mit dem Modell eines dynamischen sozialen Raumes auch, dass der Lebensweg eines Men-
schen durch dessen Grundausstattung an Habitus und Kapital zwar geprägt, jedoch nicht voll-
kommen determiniert ist. So kann der Kreislauf der sozialen Reproduktion durch einschnei-
dende Veränderungen von Macht- und Kapitalkonstellationen innerhalb des sozialen Raumes
oder durch
individuelle Förderung unterbrochen werden (Bourdieu 1987: 188-191). Bourdieu
schätzt die sozialen Aufstiegschancen unterer Schichten dennoch als gering ein, da beide Si-
tuationen Ausnahmen darstellen und sich der Habitus durch seine Trägheit (Hysteresis-Effekt)
nur langsam auf neue Kapitallagen einstellen und diese nutzbar machen kann (Bourdieu 1987:
238).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2008
ISBN (PDF)
9783863417734
ISBN (Paperback)
9783863412739
Dateigröße
281 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Passau
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
Pierre Bourdieu Habitus Kapital soziale Lage Chancengerechtigkeit

Autor

Ricarda Röleke wurde 1896 in Helmstedt geboren. Nach Abschluss ihres Studiums der Europawissenschaften (BA) an der Universität Passau (2009) studierte sie Sozialpolitik an der London School of Economics (Abschluss MSc 2010). Während ihres Studiums setzte sich sie sich intensiv mit Fragen sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe auseinander. Schwerpunkte bildeten dabei Familien-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Integrationspolitik. Die damalige Debatte um die 'Generation Hartz IV' lieferte die Motivationsgrundlage für die vorliegende Arbeit. Ricarda Röleke ist zurzeit als Koordinatorin im regionalen Übergangsmanagement Schule-Beruf tätig und forscht zu Chancen der Sozialraumorientierung in der Übergangsgestaltung.
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