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Ist Offener Unterricht zeitgemäß? Das Lernen an Stationen als eine Form des offenen Unterrichts: theoretische Grundlagen, Praxisbeispiele, Möglichkeiten und Grenzen

©2008 Examensarbeit 61 Seiten

Zusammenfassung

Wie sollte ein Unterricht aussehen, der Kindern und Jugendlichen - ob nun mit oder ohne Beeinträchtigung - hilft, sich in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsphase und in ihrem späteren Dasein in einer sich permanent verändernden Welt weitgehend selbstständig und selbstverantwortlich zurechtzufinden?
In jener ‘alten Frage’, die wohl nie obsolet sein wird und noch immer nach aktueller Beantwortung drängt, klingen pädagogische Schlüsselbegriffe an, die zum Leitanspruch von Schule avancierten: die Förderung selbstbestimmten und selbstgesteuerten Lernens. Vor allem Formen des Offenen Unterrichts gelten als prädestiniert, aktive, selbstbestimmte und weitgehend selbstständige Lernarrangements zu fördern.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit einer speziellen Form des Offenen Unterrichts: dem Lernen an Stationen. Das Lernen an Stationen ist eine Methode, die es ermöglicht, Schüler sukzessive an die Öffnung von Unterricht und Schule sowie an selbstgesteuertes Lernen heranzuführen. Es ermöglicht zudem einen konklusiven Übergang vom entwicklungsbezogenen zum handlungsbezogen Unterricht, der insbesondere von Fachleuten heutzutage evident eingefordert wird. Allerdings zeigt sich in der alltäglichen Unterrichtspraxis, dass den Schülern aufgrund ihrer spezifischen Voraussetzungen recht wenige Entscheidungsfreiheiten zugestanden werden und dass selbstgesteuerte Lernprozesse, die ein selbstständiges Handeln der Schüler einfordern, eher in geringem Maße im Unterricht stattfinden.
Nach einer fundierten theoretischen Einführung zum Offenen Unterricht im Allgemeinen und zum ‚Lernen an Stationen` im Besonderen, wird in dieser Arbeit anhand von Praxisbeispielen aus dem Lernbereich Mathematik eine Lerngruppe von Schülern mit dem Förderschwerpunkt ‘Geistige Entwicklung’ untersucht.
Die Arbeit soll zeigen inwieweit die offene Unterrichtsmethode ‚Lernen an Stationen` die Spannung zwischen Anspruch und Praxis aufzuheben vermag und wie ein möglichst effektives, aktives und selbstgesteuertes Lernen an der Schule aussehen kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.2 Historischer Ursprung und Entwicklung der Methode Lernen an Stationen

Der ideen- und somit auch entstehungsgeschichtliche Ursprung des Stationenlernens wird in die Zeit der Reformpädagogik (1900-1933) verortet. Vor allem Grundüberzeugungen von Maria Montessori, Peter Petersen, Hugo Gaudig und Célestin Freinet fanden ihren konzeptionellen Niederschlag in der Methode. Es bestehen differenzierte Verknüpfungen bezüglich der Materialgestaltung, der Lernumgebung sowie des Lehrer- und Schülerselbstbildnisses, wobei anzumerken bleibt, dass das Lernen an Stationen nicht direkt auf einen bestimmten Zweig der Reformpädagogik zurückzuführen ist.

Hier entwickelten sich Vorformen des Stationenlernens. So richtete Freinet (1896-1966) so genannte Arbeitsateliers als ortsfeste Stationen mit Material und Arbeitsanleitung ein, welche die Schüler zum selbständigen, freien Arbeiten zu verschiedenen Zeiten mit wechselnden Partnern aufsuchen konnten. Im Gegensatz zu heute gab es keine durchgängige Bindung an ein allgemeines Thema (vgl. Hegele 1997, 7).

Das Lernen an Stationen knüpft an eine Arbeitsform an, die Helen Parkhurst (1887-1959), eine Schülerin Maria Montessoris, 1920 in ihrem Dalton-Plan entwickelte, um die Probleme des Unterrichts mit Schülern unterschiedlichen Alters durch Binnendifferenzierung zu verringern. – Eine Intention, die heute noch Gültigkeit hat, denn bietet – so Krebs – dieses „unterrichtliche Prinzip vor allem Klassen mit extremen Leistungsdifferenzen eine größere Arbeitseffizienz und dem Lehrer im Umgang mit schwierigen Schülern eine Erleichterung“ (1993, 44). Helen Parkhurst begann ihre Arbeit in Dalton damit, dass sie eigens dafür ausgestattete Räume – so genannte „subject corners“, den „Gegenstandswinkel“ – mit aufbereiteten Materialien einrichtete, mit denen die Kinder weitgehend selbständig und individuell an fach- und themenbezogenen Aufgaben arbeiten konnten. So fand damals das Prinzip der inneren Differenzierung mit dem Ziel selbstgesteuerten Lernens Anwendung, ohne dass bereits eine begriffliche Fixierung erfolgte (vgl. Hegele 2002, 59).

Die methodische Grundform dieser Unterrichtsmethode, die Idee des Zirkels, wurde vor etwa 50 Jahren mit dem Begriff des Zirkeltrainings (Circuittraining) von den Engländern Morgan und Adamson für den Sportunterricht entwickelt. Den Kindern wurden unterschiedliche Übungs­stationen angeboten, an denen sie der Reihe nach oder in freier Auswahl Übungen zur Ausbildung der Muskelkraft, zur Verbesserung der Atmung und des Kreislaufes ausführen sollten. Integrativer Bestandteil waren bereits Pausenstationen, um Entspannungsphasen zu gewährleisten (vgl. ebd.).

Während im Sportunterricht das traditionelle System des Zirkeltrainings mit weitgehend festgelegten Inhalten an jeder Station, gleichen Wechselzeiten und einem verpflichtenden Gesamtablauf für alle beibehalten wurde, fand das Stationenlernen in der Grundschule Anfang der 90er Jahre seine charakteristische Ausprägung durch die zuvor theoretische didaktisch-methodische Konzeptionalisierung und der praktischen Erprobung im Sindelfinger Seminar unter Federführung von Uta Wallaschek und Gabriele Faust-Siehl, die den Begriff „Lernen an Stationen“ prägten. Wallaschek und Faust-Siehl stellten die Bedeutung und die Grundidee der Arbeitsform „Lernen an Stationen“ in verschiedenen Aufsätzen in der Zeitschrift „Grund­schule“ (Heft 2 und 3/1989) dar: Die Schüler bearbeiten selbstständig und ihren individuellen Interessen und Voraussetzungen entsprechend in Form von Stationen ein vom Lehrer „zu einem Thema oder zu einer Unterrichtseinheit zusammengestelltes und didaktisch sorgfältig arrangiertes Materialangebot“ (Haug 1994, 40).

1.3 Die konzeptionelle Ausgestaltung der Methode (Beschreibung der Methode)

Da der Ablauf des Stationenlernens und die Ausgestaltung der Stationen – abhängig von der Schülerschaft, vom thematischen Schwerpunkt etc. – sehr vielseitig, vielschichtig und differenziert ist, gilt für die theoretische Darstellung der Grundsatz, den Schwerpunkt auf die charakteristischen Merkmale zu legen, so dass dieses Kapitel allgemein und komprimiert gehalten ist; die konkrete Ausgestaltung der Stationen und des Stationenlaufs wird in der Darstellung des Unterrichtsvorhabens exemplarisch erfolgen.

Wie bereits erwähnt, ist das Lernen an Stationen durch einen Wechsel gemeinsamer und individueller Phasen gekennzeichnet, wobei die individuellen Phasen durchaus unterschiedliche Sozialformen (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit) einschließen. Aus lerntheoretischer Sicht sollte eine Zusammenarbeit der Schüler prinzipiell immer ermöglicht werden.

Lernen an Stationen kann in verschiedener Weise ausgestaltet und variiert werden. Allen Varianten gemeinsam ist die Aufsplitterung des zu behandelnden Themas in verschiedene Teilaspekte, die an den jeweiligen Stationen in verschiedenen Sozial- und Arbeitsformen mit unterschiedlichen Arbeitsaufträgen und Materialien bearbeitet werden können. Dass das Lernen an Stationen heute so beliebt als offene Unterrichtsform ist, dürfte an der einfachen Struktur, an ihrer Vielseitigkeit und der großen Breite der Einsatzmöglichkeit liegen (vgl. Hegele 2002, 58 ff.). Der Einsatz kann auf fast alle didaktischen Unterrichtsintentionen und -elemente ausgeweitet werden: auf intensive Übungs-, Anwendungs- bzw. Wiederholungsphasen der zuvor im gemeinsamen Unterricht erarbeiteten Lerninhalte, auf einen „entdeckenlassenden“ Zugang zu einem bestimmten Thema einer Unterrichtseinheit, auf selbstständiges Erarbeiten eines Themenbereiches oder auf vertiefendes Bearbeiten einer bereits eingeführten bzw. herangeführten Thematik (vgl. Bauer 1997, 82 ff.). Daneben kann die Methode auch fächer- bzw. klassenübergreifend zum Einsatz kommen.

Es eröffnen sich innerhalb der Methode „Lernen an Stationen“ – wie auch schon bereits andeutungsweise aufgezeigt – vielfältige Möglichkeiten; im Allgemeinen haben sich heute folgende Prinzipien etabliert:

- nicht alle Stationen sind verpflichtend und müssen bearbeitet werden; es können Wahl- und Pflichtstationen, als auch „Pausen-“ und „Spielstationen“ angeboten werden;
- Neigungs-, Interessen- und Leistungsunterschiede der Schüler werden durch Differenzierungs- und Individualisierungsmaßnahmen berücksichtigt;
- die Reihenfolge der Bearbeitung der Stationen bestimmen die Schüler möglichst eigenverantwortlich;
- unterschiedliche Sozialformen (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit) können zum Einsatz kommen;
- die Schüler bestimmen entsprechend ihrem Arbeitstempo die benötigte Arbeitszeit an den jeweiligen Stationen selbst (vgl. Fischer 1997, 4).

Im Allgemeinen gliedert sich die Methode in drei Phasen: der Vorbereitungs-, der Durchführungs- und einer Nachbereitungsphase. Da die Vorbereitungsphase hauptsächlich durch organisatorische Elemente wesentlicher – dem Lernprozess determinierenden – Faktoren gekennzeichnet ist, werden diese Strukturelemente wie Zeit, Raum, Material, Hilfsmittel (Laufzettel) in dieser Phase kurz beschrieben. Die Durchführungsphase entspricht dem eigentlichen Ablauf im Unterricht, die hier dann in den jeweiligen Phasen vorgestellt wird. Die Nachbereitungsphase dient der Evaluation und Reflexion für den Lehrer.

a) Vorbereitung

Die Vorbereitung eines „Stationenzirkels“ liegt vor allem in der Hand der Lehrperson; sie muss sowohl die inhaltliche und didaktisch-methodische Aufarbeitung des Themas als auch die räumliche und zeitliche Organisation leisten. Zunächst wird ein schüler- und lernplanrelevantes Thema ausgewählt und in sinnvolle einzelne Teilaspekte gegliedert, die so aufeinander abgestimmt sind, dass das übergreifende Lernziel der Unterrichtsstunde bzw. der Unterrichts-einheit erreicht werden kann. Vom Prinzip her entsprechen die für die verschiedenen Stationen vorgesehenen Lernziele den Teilzielen im herkömmlichen Unterricht. Dann werden von der Lehrperson entsprechend der Lernausgangslage der Schüler, die sich als durchaus komplex erweisen kann, die Stationen mit unterschiedlichen Materialien und differenzierten Arbeitsauf-trägen vorbereitet und eingerichtet. Dabei sollte vor allem bedacht werden, dass alle Schüler die Aufgabenstellungen mithilfe der bereitgestellten Materialien weitgehend selbstständig bearbeiten können. Sie sollten ansprechend gestaltet, entwicklungsgemäß, klar strukturiert, lösbar und aus sich heraus verständlich sein, um eine eigenständige Bearbeitung durch die Schüler zu ermöglichen. Das Material und die Aufgaben sollten so arrangiert sein, dass alle Schüler entsprechend ihrem Lernniveau effektiv Lernfortschritte machen und über die gesamte vorgegebene Zeit an den Stationen arbeiten: „Es ist nicht beliebig, mit welchem Gegenstand ein Schüler arbeitet, sondern es muss sich um ein Material handeln, das gezielte, auf den Einzelnen abgestimmte Lernprozesse ermöglicht. Das entwicklungsgemäße Material fördert die Selbsterziehung und befähigt den Schüler zu einem vom Erwachsenen unabhängigen Lernen“ (Köhnen 1997, 10). Aus dem bisher Beschriebenen ergeben sich verschiedene Kriterien – wie: Entwicklungsgemäßheit, Strukturiertheit, Einmaligkeit, Stabilität, Ästhetik etc. (vgl. Köhnen; Roos 1999, 27 ff.) denen das verwendete Material genügen sollte; sie intendieren auf ein selbstständiges, selbsttätiges und differenziertes Arbeiten auf unterschiedlichen Niveauebenen.

Die Anzahl der Stationen, die entsprechende Sozialform und die verschiedenen Arten (Pflicht-, Wahl-, Spielstation etc.) sind von den jeweiligen Bedingungen (Komplexität des Themas, Lern-voraussetzungen der Schüler, Größe der Lerngruppe, räumliche Gegebenheiten, zeitlicher Rahmen, angestrebte Lernziele) abhängig und müssen im Vorfeld bedacht werden; sie werden hinsichtlich der Art, der Sozialform, des differenzierten Arbeitsauftrages unterschiedlich durch Ziffern, Buchstaben, Symbole und Farben gekennzeichnet und auf einem Laufzettel, der dem-entsprechend sehr individuell gestaltet sein kann, verzeichnet. Er dient sowohl dem Schüler als auch dem Lehrer als Orientierungs- und Strukturierungshilfe: der Schüler kann anhand des Laufzettels Handlungsschritte planen und seinen jeweils aktuellen Stand seiner Arbeit doku-mentieren; er kann zudem als Motivation dienen, da die Kennzeichnung der bereits bearbeiteten Stationen ein gewisses Erfolgserlebnis verschafft. Dem Lehrer ermöglicht er Einblicke in das Lern- und Arbeitsverhalten eines Schülers (vgl. Hegele 2002, 62 f.).

Im Hinblick auf die zeitliche Planung kann ein Lernzirkel eine oder mehrere Stunden umfassen; als tägliche Bearbeitungszeit werden eine bis höchstens zwei Stunden vorgeschlagen (vgl. Bauer 1998, 2). Ferner wird die Zeit natürlich auch durch das Lern- und Arbeitstempo der Schüler bestimmt.

Um den Anspruch offener Unterrichtsformen zu genügen, spielen auch die räumlichen Gege-benheiten eine große Rolle. Sie sollten so geschaffen sein, dass hinreichend Platz für Spiel-, Ruhe-, Arbeits- und Präsentationszonen vorhanden ist und aus der räumlichen Anordnung der Stationen sich der Aufbau und die Struktur den Schülern erschließt. Daneben sollte ein Arbeiten in unterschiedlichen Sozialformen Rechnung getragen werden, so dass jeder Schüler allein oder mit mehreren ungestört an einer Station arbeiten kann. Um dieses zu gewährleisten, kann es sogar notwendig sein, die Stationsarbeit auf mehrere Räume zu verteilen (vgl. Hegele 2002, 64; vgl. ausführlich dazu: Neef 1990).

b) Durchführung

In einem Anfangsgespräch werden alle Schüler der Lerngruppe in das Thema und die Methode eingeführt; die inhaltlichen und methodischen Grundlagen werden geschaffen. Diese Phase wird in der Literatur auch als Initiations- bzw. Strukturierungsphase bezeichnet; sie entspricht der Einführungs-, Hinführungs- und Motivationsphase im klassischen Artikulationsschema (vgl. Hegele 2002, 66 ff.). Die Schüler erhalten einen Arbeitsplan – ihren Laufzettel –, auf dem die einzelnen Stationen tabellarisch mit Nummer, Thema der Station, vorgesehener Sozialform und dem Vermerk Pflicht- bzw. Wahlstation versehen sind. Es werden gemeinsam Regeln für das Arbeits- und Sozialverhalten vereinbart bzw. daran erinnert, sie einzuhalten. Diese Phase geht nahtlos in die Vorstellung der Stationen (Explorationsphase) über: Damit die Schüler eine Wahl treffen können, muss ihnen zunächst ein Überblick über die Auswahl ermöglicht werden. Falls die Stationen im Klassenzimmer aufgebaut sind, kann ein kleiner Rundgang durchgeführt werden. Die Schüler sollten möglichst selbst die Stationen aus den angebotenen Materialien und aus der Aufgabenstellung heraus erklären. Diese Beteiligung der Schüler an der Erklärung der Stationen hat sich bewährt, da sie angeregt werden, Hypothesen über die Aufgabenstellung und der Materialbereitstellung der jeweiligen Station zu bilden und sich somit bereits aktiv mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen. Bereits bekannte Aufgaben können unerklärt bleiben, damit die Motivation erhalten bleibt und nicht zu viel Zeit in dieser Phase verloren geht.

Die Schüler arbeiten dann (Arbeits- bzw. Produktionsphase) möglichst selbstständig an den einzelnen Stationen. Diese Phase ist durch eine produktive Unruhe gekennzeichnet. Entstan-dene Arbeitsprodukte werden an einem Ablageort (Karteimappe, Ordner, Ablagekorb) gesam-melt. Der Lehrer steht für Fragen oder als Helfer bei Problemen an einzelnen Stationen zur Verfügung; er ist „Lernberater“.

Nach dieser individuellen Arbeitszeit findet ein gemeinsames, rückblickendes Unterrichtsge-spräch mit der Lerngruppe statt. In dieser Evaluations- und Präsentationsphase tauschen die Schüler sich nun über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen aus; es wird über Gelungenes, aber auch über Probleme und Schwierigkeiten während des Arbeitens an den Stationen gesprochen und einige bzw. alle Ergebnisse präsentiert. Sinnvoll erscheint eine Konzentration auf ausgewählte Präsentationen oder wenige Leitfragen (z.B. An welcher Station konntest du am besten lernen/üben? – Warum?) Dieser vorläufige Abschluss nach jeder Sequenz ist von immenser Bedeutung: Hier werden eigene Arbeitsergebnisse vorgestellt und von anderen gewürdigt, individuelle Vorlieben und/oder Schwierigkeiten mit einzelnen Lernangeboten ausgedrückt. Im Vordergrund steht die Förderung kommunikativer Fähigkeiten, das Erlernen von Gesprächsregeln und der Reflexion des eigenen Lernprozesses.

Das Lernen an Stationen weist vier typische Unterrichtsphasen auf (vgl. Vögler 1997, 14):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Phasen des Stationenlernens

c) Nachbereitungsphase

Der Lehrer verschafft sich einen Überblick über den Verlauf des Lernprozesses, über die Qualität der Arbeitsaufträge und -materialien und über die Ergebnisse, indem er von den Schülern die Arbeitsunterlagen und den Laufzettel sichtet und evaluiert. Außerdem sollten die Rückmeldungen der Schüler aus dem Abschlusskreis und die eigenen Beobachtungen der Lehrperson im Verlauf des Lernzirkels mit in die Evaluation einfließen, um schließlich die Ergebnisse dieser Reflexion für Veränderungen der zukünftigen Stationsarbeit zu nutzen.

1.4 Merkmale der Methode des Lernens an Stationen

In diesem Abschnitt wird die Methode des Stationenlernens anhand seiner Merkmale charak-terisiert; sie stellen zugleich die wesentlichen Vorzüge der Methode dar. Der Fokus soll insbe-sondere vor dem Hintergrund einer erfolgreichen Lernprozesssteuerung gerichtet sein – Unter-richt hat sich nicht nur am Lernstand (kognitive Passung), sondern auch am Interesse und an den Motivationen (emotionale und motivationale Passung) zu orientieren, um einer individuellen Förderung im Lernen gerecht zu werden. Denn: Lernen hat viel mit emotionaler Einstellung zu tun; Schüler lernen das am besten, was sie motiviert und interessiert. In diesem Zusammenhang spielen zentrale Begriffe wie Differenzierung, selbstständiges Lernen, selbsttätiges Arbeiten und soziales Lernen eine gewichtige Rolle.

Das Lernen an Stationen partizipiert zwangsläufig an den Begründungszusammenhängen und Eigenschaften des Offenen Unterrichts; neben den allgemeinen Vorteilen des Offenen Unter-richts bietet die Methode an sich spezielle Vorteile, die bereits in der bisherigen Darstellung erwähnt wurden. Einerseits bietet das Lernen an Stationen den bereits mehrfach ange-sprochenen Einstieg in den offenen Unterricht für alle Beteiligten. Den Lehrern ermöglicht der Wechsel zwischen stärker geschlossenen und eher offenen Unterrichtspraktiken innerhalb die-ser Methode eine verhältnismäßig enge Bindung an Lerninhalte und Lernziele, die ihnen das Gefühl von Sicherheit geben, was ihnen andere Formen des offenen Unterrichts – wie Freiarbeit – nicht geben. Die wohl wesentlichste Zielsetzung dieser Ebene für die Schüler ist das Lernen, weitgehend selbstständig und selbstgesteuert zu arbeiten. Dem Schüler wird mehr Eigenverantwortung übertragen, sich für bestimmte Aufgaben (Stationen), Hilfsmittel etc. zu entscheiden. Er kann somit den Grad der Selbstständigkeit mit beeinflussen und bestimmen. Dieses trägt erfahrungsgemäß auch zu einer hohen Eigenmotivation bei. Die Schüler erwerben so in zunehmendem Maße auch personale Kompetenz durch das Wahrnehmen von Eigenverantwortung in Form von Auswählen und Sich-Entscheiden.

Dass die Schüler lernen, sich zwischen mehreren verschiedenen Angeboten auf unter-schiedlichen Niveaustufen und mit unterschiedlichen Zugangswegen und Materialien zu einer Thematik zu entscheiden, verfolgt im Sinne des „Angebotslernens“ Wahldifferenzierung zu realisieren. Wahldifferenzierung oder auch „Differenzierung von unten“ meint, dass nicht der Lehrer, sozusagen „von oben“, sondern die Schüler selbst differenzieren, indem sie ihre Lernwege selbst bestimmen – gleichwohl sie dabei der Hilfe durch den Lehrer bedürfen und als notwendige Voraussetzung für die so genannte Wahldifferenzierung überhaupt eine Wahl aus verschiedenen Angeboten haben müssen.

Jene „Auswahl“ liegt aus lernpsychologischer Perspektive vor allem im didaktisch-methodischen Bereich: So berücksichtigt das Lernen an Stationen durch die geschaffenen Lernarrangements die individuellen Lernvoraussetzungen und -gegebenheiten: (1) Entsprechend der Ausgangslage und der individuellen Ansprache können die Lernwege und Lernschritte unterschiedlich gestaltet werden: So kann der Lernvorgang systematisch nach einem aufeinander aufbauenden Stufenprinzip erfolgen als auch in einem ganzheitlichen Erfassen von Sachverhalten und Beziehungen. (2) Die Schüler können die für sie optimalen Lernstrategien und Lernweisen entsprechend ihrer individuellen Aneignungs- und Bearbeitungsmethoden auswählen. Jeder Mensch nimmt seine Umwelt auf unterschiedliche Art und Weise wahr; jeder Mensch lernt anders. Es gibt verschiedene Theorien, die das Lernen zu erklären versuchen und sicher ihre Berechtigung haben. Aber, wie Lernen in jedem Individuum geschieht, bleibt unklar, ist komplex und nicht generalisierbar. Lernen scheint etwas Individuelles zu sein. Bei der Konzeption des „Stationenlaufs“ sollten die unterschiedlichen Lerntypen und Begabungen – Vester (1978) unterscheidet unterschiedliche Lernzugänge mittels verschiedener Eingangs- und Lernkanäle, die er in vier Lerntypen (visuell, akustisch, haptisch, intellektuell) einteilt – angesprochen und berücksichtigt werden, indem mehrere Zugänge angeboten werden, die sich bezüglich der Eingangskanäle und des Schwierigkeitsgrades unterscheiden (vgl. Bauer 1997, 33 ff., 77). Gemeinhin treten die Lerntypen allerdings selten in Reinform auf. Deshalb sollten nach Brunner (1974) zudem die drei Repräsentationsebenen (enaktiv, ikonisch und symbolisch) angeboten und durchlaufen werden, die eine Bearbeitung auf der Handlungsebene, der bildlichen Darstellungsebene und der Beschreibungsebene in symbolhafter Form ermöglichen und helfen, Lernprozesse zu optimieren. (3) Zudem weisen die Schüler nicht nur in ihren spezifischen Lernzugangsweisen und -wegen Unterschiede auf, sondern auch in ihren kognitiven, sozial-emotionalen und motorisch-praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Schüler sollten durch das unterschiedliche Material- und Aufgabenangebot angeregt werden, einen Weg zu beschreiten, der ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht.

Sind die Lernarrangements so eingerichtet, dann berücksichtigen sie die Individualität und Komplexität, mit der Kinder und Jugendliche lernen. Das Lernen an Stationen bietet somit die Möglichkeit, den vertrauten Leitspruch aus der Reformpädagogik „mit Kopf, Herz und Hand“ zu lernen, einzulösen.

Zum anderen fördert die Methode – wie jede andere Form des Offenen Unterrichts auch – As-pekte des gemeinsamen Lernens. So stellt die Methode in graduierter Form unterschiedliche Anforderungen an die Sozialkompetenz der Schüler; teilweise lernen sie individualisiert in Einzelarbeit oder auch kooperativ in Partner- bzw. Gruppenarbeit zu arbeiten. Es bedarf der Herausbildung verschiedener Kompetenzen bei den Schülern: von der Kontaktaufnahme bis zur Teamfähigkeit, von der gegenseitigen Zusammenarbeit und Hilfe bis zur gegenseitigen Kontrolle und helfender Sachkritik. Sukzessive erweitern die Schüler so in zunehmenden Maße ihre Sozialkompetenz als auch ihre personale Kompetenz.

Zudem eröffnet die Methode den Lehrern, eine andere Rolle einzunehmen, da die Methode des Stationenlernens als eine offene Unterrichtsform grundsätzlich auf einen Kompetenzzuwachs im Bereich der Förderung selbstständigen Arbeitens intendiert. Diese Ausrichtung zieht eine veränderte Lehrerrolle nach sich: Der Lehrer ist nicht mehr Mittelpunkt und Hauptakteur des Unterrichts, sondern Lernbegleiter und -berater. Das Anforderungsprofil an den Lehrer lässt sich als Pendant vereinfacht wie folgt gegenüberstellen: Anregen statt Vorgeben, Beraten statt Bestimmen und Begründen statt Anweisen. Es ermöglicht dem Lehrer so, individuelle Förderung und Binnendifferenzierung konkreter zu planen, durchzuführen und anschließend zu evaluieren. Die Lehrperson kann sich gezielt einzelnen Schüler zuwenden, ohne dass ein „Leerlauf“ für die anderen Schüler entsteht (vgl. Bauer 1997, 132 ff.). – Natürlich verbirgt sich hinter den augenscheinlichen Vorzügen, die diese Methode für den Lehrer als auch für den Schüler offeriert, auch ein hohes Anforderungsprofil an den Lehrer, da die Bandbreite der Lehreraktivitäten insgesamt betrachtet größer ist: sie wechseln schneller und sind seltener steuernd, dafür müssen sie öfters viel flexibler und spontaner adäquat reagieren. Heckhausen formuliert bereits Anfang der 70er Jahre die zeitintensiven und aufwendigen Anforderungen des Lehrers, Lehrziele und Methoden ständig an die Lernvoraussetzungen jedes einzelnen Schülers anzupassen, die Lernvoraussetzungen durch objektivierte Verfahren zunächst zu ermitteln, Lern-fortschritte ständig zu dokumentieren und dann mit geeigneten Maßnahmen zu reagieren, so dass man durchaus eine Positionierung für das Stationenlernen zu erkennen vermag: „Momentaner Fähigkeitsstand und Aufgabenanforderung müssen fortlaufend aufeinander passen, zwi-schen beiden muss ‚Passung‛ sein […] das ist am besten gewährleistet, wenn das Aufgabenmaterial eine Schwierigkeitsgraduierung zuläßt, die das Kind selbst manipulieren kann; oder wenn das Kind Material mit dem jeweils passenden Schwierigkeitsgrad selbst auswählen kann. Dies setzt eine individuelle Selbstbeschäftigung jedes einzelnen Kindes voraus“ (Heckhausen 1971, 209).

Generell berücksichtigt die Methode durch breite Differenzierungsmöglichkeiten bezüglich der Wahl der Sozialformen, der Gestaltungsvielfalt im didaktisch-methodischen Bereich sowie der Medien und der konzeptionellen Gestaltung des „Stationenlaufs“ die unterschiedlichen Interes-sen und Fähigkeiten der Schüler als auch die individuellen lernbiologischen Voraussetzungen. Die Stationen müssen hinsichtlich der Aufgabenstellung und des Materialangebots so gestaltet sein, dass sie differenziertes Arbeiten ermöglichen und die Schüler je nach Interessenslage und Motivation, Priorität und Komplexitätsgrad der jeweiligen Aufgabe den Bearbeitungstonus und die Bearbeitungszeit selbst festlegen.

Zudem ermöglicht die Methode ein ganzheitliches und nachhaltiges Verständnis von Lernen – ganz im Sinne eines zeitgemäßen „Lernen lernen“: Lernen intendiert auf Ganzheitlichkeit; nicht nur Sach-, sondern auch Methoden- und Sozialkompetenzen des einzelnen Schülers werden durch die Methode gefordert und gefördert.

Zusammenfassend soll folgende Tabelle die wesentlichen Merkmale des Lernens an Stationen, in denen die Vorzüge der Methode zum Ausdruck kommen, aufzeigen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Merkmale des Stationenlernens (vgl. Bauer 1998, 26).

2 Schüler mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ in Bezug zur Lernmethode

In diesem Kapitel stehen die Adressaten des Unterrichts an der Schule mit dem Förder-schwerpunkt „Geistige Entwicklung“, die Schüler mit einer so genannten „geistigen Behinderung“, im Mittelpunkt. Da die Spannbreite der Begriffsdiskussion in der Fachliteratur bereits beim Behinderungsbegriff sehr facettenreich, vielschichtig und durchaus ambivalent ist, gestaltet sie sich dann erst beim Begriffskompositum der „geistigen Behinderung“ als noch undurchsichtiger und ambivalenter. Die Begriffsbestimmung soll hier zweckbestimmt und somit teleologisch erfolgen; sie wird aus einer pädagogischen Perspektive vorgenommen. Darauf aufbauend werden die Ziel- und Aufgabenvorstellungen des Unterrichts bei Schülern mit geistiger Behinderung in Verbindung mit seinen didaktisch-methodischen Anforderungen näher betrachtet und in Beziehung zum Lernen an Stationen gesetzt.

2.1 Versuch einer Begriffsbestimmung unter pädagogischem Aspekt

Behinderung[1] ist zunächst kein pädagogischer Begriff oder erziehungswissenschaftlicher Sachverhalt. In der Pädagogik fanden zunächst – ausgehend von einer anfänglichen Veran-kerung der Sonderpädagogik in der Medizin und Psychiatrie – Definitionsansätze, wonach individuale Beeinträchtigungen, also Merkmale und Eigenschaften von Personen, Behinderung definierten, Einzug. Dieses verhinderte allerdings den Blick auf den komplexen Prozess der Entstehung von Behinderung. Erst die zunehmende Kritik an jener Sichtweise, die Besinnung auf gesellschaftliche bzw. herrschende Normen, die gleichzeitig Definitionsinstanzen sind, und der so genannte Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik eröffneten über eine relative und relationale Sicht auf Behinderung eine Neubestimmung des Begriffsverständnisses. Zu konstatieren bleibt, dass es weder eine einheitliche noch trennscharfe Definition für dieses „Phänomen“ gibt; deshalb kommt dem Behinderungsbegriff in der Praxis auch eine geringe Brauchbarkeit zu. Er wird aus unterschiedlicher Perspektive unter unterschiedlichen Gesichts-punkten jeweils anders betrachtet[2]. Entscheidend für die Definition sind letztendlich die Ziel-setzungen, die mit einer Definition verbunden sind. Deshalb stehen in dieser Arbeit vor allem lernrelevante Verhaltensmerkmale im Mittelpunkt.

Obwohl das Konstrukt „Geistige Behinderung“ heute vielmehr im Kontext mit der Alltags- und Umweltsituation (Person-Umwelt-Transaktion) beschrieben wird, unterliegen zwangsläufig viele Definitionsansätze und Beschreibungsversuche dieses Personenkreises der „Unzulänglichkeit“, dass sie einer ganzheitlichen Sichtweise, die vom Individuum ausgeht, nicht gerecht werden[3]. Dass der Begriff der geistigen Behinderung nicht per Definition fassbar ist, mag durchaus in der Natur der Sache liegen: Zum einen gibt es nicht den Menschen mit geistiger Behinderung. Jeder Mensch muss als Individuum mit unterschiedlichen Fähigkeiten angesehen werden; angeborene oder erworbene Beeinträchtigungen können Auswirkungen auf die kognitiven, motorischen, sensorischen und sozial-emotionalen Leistungen haben. Zum anderen wird der geistig Behinderte zum Objekt des Beobachters, zum Objekt der Definition, denn die jeweiligen Normen und Werte und ihre Träger in der Gesellschaft bilden die Definitionsinstanz. Von ihnen aus erhält der Zu-Definierende einen Stellenwert zugeschrieben.

Eine Begriffsbestimmung der geistigen Behinderung aus pädagogischer Perspektive sollte nach Speck (1999, 61 ff.) weniger definitiv im Sinne von „begrenzt“ sein, aber ein Verständnis im Sinne von Konsenshaltungen und -meinungen abbilden, um den verschiedenen Parametern im Erziehungsprozess begründet gerecht zu werden. Ebenso wie viele Vertreter der so genannten „Entwicklungstheorie“ geht Speck von einer Ähnlichkeit der Entwicklung von Menschen mit und ohne geistige Behinderung aus: „Die Lebensentfaltung des Menschen mit einer geistigen Behinderung ist bei aller Abweichung von der ’Normalentwicklung’ eine spezifisch menschliche. Sie verläuft zwar im Vergleich mit der Entwicklung der überwiegenden Mehrzahl der Menschen langsamer und unregelhaft und weist eingeschränktere Möglichkeiten auf; sie lässt aber auch zentrale Gemeinsamkeiten erkennen“ (ebd., 101). Demnach entwickeln sich Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung langsamer als nichtbehinderte, erreichen ein niedrigeres Abschlussniveau, „durchlaufen aber bis zu diesem Niveau dieselben Stufen wie nichtbehinderte Kinder und Jugendliche“ (Wendler 1993, 54; vgl. auch Mühl 1997, 86 ff)[4].

Das folgende Modell zur Veranschaulichung der ganzheitlichen Entwicklung betont den Aspekt der gegenseitigen Abhängigkeit aller Entwicklungs- und Persönlichkeitsbereiche. Das bedeutet, dass sich jeder Bereich im Laufe der Entwicklung auf jeden anderen auswirkt und so in einem ständig gegenseitig veränderbaren Austausch steht. Bei Schülern mit geistiger Behinderung verläuft der Entwicklungsverlauf oftmals durch ein für den Einzelfall spezifisches Faktorenbündel verlangsamt und beeinträchtigt[5].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Ganzheitliches Entwicklungsmodell nach Fröhlich

Im Folgenden werden einige Besonderheiten des Lernverhaltens bei Schülern mit geistiger Behinderung kurz aufgeführt; es soll allerdings nochmals darauf hingewiesen werden, dass verallgemeinernde Aussagen zum Lernverhalten mit der notwendigen Vorsicht, da es sich immer nur um hypothetische Ausführungen handelt, und dem Wissen, dass der Personenkreis der geistig Behinderten äußerst heterogen und das Erscheinungsbild einer geistigen Behinderung nicht statisch ist, zur Kenntnis zu nehmen sind. An dieser Stelle soll die Beschreibung des Lernverhaltens von Schülern mit geistiger Behinderung von Grampp (1982, 9) herangezogen werden, da er sich intensiv mit offenen Unterrichtsformen an der Schule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ befasste und sich an den KMK-Empfehlungen für den Unterricht in der Schule für Geistigbehinderte aus dem Jahre 1980 orientierte. Es heißt: Die Schüler weisen unter anderem „beträchtliche Intelligenzminderleistungen, […] eine langsamere und unregelmäßigere Entwicklung […], ein reduzierte Weltoffenheit, ein Weniger an Entwicklungs-, Entfaltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, einen seelisch-geistigen Rückstand um mehr als ein Drittel, Eingeengtheit des Lernfeldes auf Lebenspraktisches; Festgelegtheit auf anschaulich-vollziehendes Lernen, extreme Verlangsamung und zeitliche Begrenztheit der Lernprozesse […] auf“ (ebd.). Weiterhin sei noch erwähnt, dass das Lernen durch eine hohe Ablenkbarkeit und geringe Ausdauer, mangelnde Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, eine eingeengte und situationsverhaftete Aufnahmefähigkeit, geringe Transferleistung sowie geringe motivationale und sprachliche Steuerung beeinträchtigt sein kann. Aufgrund des konkret-anschaulich strukturierten Lernverhaltens von Schülern mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ sind insbesondere komplexe Vorgänge wie das Analysieren von Situationen, Kombinieren von Regeln, Herstellen von Analogien und Transfers, Erfassen von Beziehungen und Zusammenhängen, Verinnerlichen von Handlungsabläufen schwer realisierbar (vgl. Dittmann 1997, 213). Vor allem eingeschränkte Wahrneh-mungsleistungen – insbesondere in der Fähigkeit zur analytischen Gestaltgliederung im akus-tischen, optischen und haptischen Bereich – wirken sich dementsprechend auf den Lernprozess aus. Zudem fällt eine physische und oftmals auch psychische Kompensation durch die kognitive Beeinträchtigung schwer (vgl. Mühl 1997, 86 ff.; Speck 1999, 139).

[...]


[1] Im Allgemeinen bezeichnet Behinderung jegliche Art von Einschränkung oder Hemmnis; ursprünglich in der physischen Gegenstandswelt Prozesse oder Bewegungen, die gehemmt werden. Eine etymologische Herleitung des Begriffs Behinderung gestaltet sich als recht verwirrend und bedarf einer ausführlicheren Betrachtung, die hier in der gebührenden Form nicht geleistet werden kann. Es kristallisiert sich in der sprachwissenschaftlichen Bedeutungsdiskussion der Begriffe Behinderung, Beeinträchtigung und Störung eine Verbindung im historisch betrachteten Sprachgebrauch mit Forderung und Förderung heraus. Verwiesen werden soll auf die Analyse von Christian Lindmeier (1993, 103-131), der in seinem Buch „Behinderung – Phänomen oder Faktum“ eine allumfassende und für die wissenschaftliche Diskussion zusammenführende Begriffsbestimmung vornimmt.

[2] Dieses mag an der historisch bedingten Veränderlichkeit von wissenschaftlichen Grundannahmen sowie am Wandel von Wert-, Haltungs- und Normvorstellungen des gesellschaftlichen Lebens liegen. Festzuhalten bleibt, dass das Phänomen Behinderung verschiedensten theoretischen Ansätzen und Beschreibungsversuchen unterliegt (vgl. Fischer 2003, 11).

[3] Gegenwärtig ist der Begriff zu einem wissenschaftlichen geworden, der zweckgebunden aus den verschiedenen Disziplinen heraus formuliert wird und vom Einzelfall zweckdienlich für den wissenschaftstheoretischen Diskurs abstrahiert.

[4] Diese Theorie enthält drei wichtige Aspekte: (1) Geistig behinderte Kinder durchlaufen dieselben kognitiven Stufen wie nichtbehinderte Kinder (Hypothese der gleichen Sequenz); (2) Auf jedem Entwicklungsniveau haben sie dieselbe Intelligenzstruktur wie nichtbehinderte Kinder (Hypothese der gleichen Struktur); (3) Geistig behinderte Kinder reagieren auf Umweltfaktoren in derselben Weise wie alle anderen Kinder (vgl. Wendler 1993, 55).

[5] So gehen beispielsweise extreme Kommunikationsstörungen häufig einher mit Schädigungen in den ver-schiedenen Bereichen – insbesondere im kognitiven Bereich, im sensomotorischen Bereich (Taubheit, Blindheit, Taubblindheit), im neurologischen Bereich (Aphasie, Apraxie) sowie im emotionalen Bereich (Mutismus).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2008
ISBN (PDF)
9783863417901
ISBN (Paperback)
9783863412906
Dateigröße
700 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Schulpraktische Seminare Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Stationenlernen Sonderpädagogik Zahlbegriffsentwicklung selbstbestimmtes Lernen entwicklungsbezogener Unterricht Individualisierung Differenzierung

Autor

Sven Heinrich, geboren 1974, studierte Sonderpädagogik an der HU zu Berlin und Germanistik und Geschichte an der Universität Potsdam und an der FU Berlin. Er ist beruflich tätig als Sonderpädagoge und systemischer Familientherapeut.
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