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Beratung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung: Qualitative Ansprüche an ein neues Betreuungsverständnis

©2012 Bachelorarbeit 49 Seiten

Zusammenfassung

Mit dem Anspruch einer Hilfe zur Selbsthilfe wird der eher neuartige pädagogische Optimismus einer ressourcen- und kompetenzorientierten Sichtweise auf Menschen mit geistiger Behinderung fokussiert und die etablierten Denk- und Handlungsmuster der in der Behindertenhilfe professionell Tätigen wieder zunehmend kritisch hinterfragt. Die Begriffe des ‘Förderns’ oder ‘Betreuens’ suggerieren im Kontext von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Teilhabe mittlerweile schnell ein Bild streng asymmetrischer Beziehungs- und Interaktionskonstellationen, den Gedanken des ‘Formens’ nach persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Normen und Werten sowie den Anspruch des Behütens und Bewahrens vor der Gesellschaft und eigenen Fehlleistungen.
Als Abgrenzung und Neuorientierung gegenüber den bisher gängigen Begriffsbezeichnungen bedient sich aktuellere Literatur in diesem Bewusstsein vermehrt der Begriffe ‘Begleiter’, ‘Assistent’ oder ‘Berater’. Ziel ist es dabei auch, Menschen mit geistiger Behinderung wieder als Subjekt von Interaktionen zu positionieren, anstatt sie durch eine Überhandnahme pädagogischer Konzepte zu objektivieren: Der Mensch mit Behinderung ist Experte in eigener Sache. Durch die seit 2009 auch für Deutschland verbindliche UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung wurde schließlich auch auf verfassungsrechtlicher Grundlage der Notwendigkeit Rechnung getragen, die Entscheidungsfreiheit für ihre persönliche Lebensgestaltung anzuerkennen und nachhaltig zu unterstützen. Es ergeben sich so für die Behindertenhilfe neue Aufgaben und Herausforderungen, die sich in den institutionellen Versorgungsstrukturen und etablierten Rollenverständnissen widerspiegeln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3
Sichtung von Literatur bestätigte darüber hinaus die Aktualität als wissenschaftliche und
gesellschaftliche Fragestellung.

4
2 Die Verortung professioneller Beratung als pädagogisches Leitbild
2.1 Beratung als sozialpädagogischer Handlungstyp
Rat zu suchen oder um Rat gebeten zu werden ist zunächst ein zeitloses Phänomen des
alltäglichen Lebens. Durch das Angebot emotionaler Zuwendung und praktischer Hilfe sowie
dem Glauben an Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers, nimmt die sogenann-
te ,,Laienberatung" (informelle Beratung
2
) unter sich kennenden Personen einer Lebenswelt
eine wichtige soziale Rolle für die Bewältigung situativer Probleme und Entscheidungsfragen
ein. Im Kontext ,,natürlicher Hilfe" und ,,sozialer Unterstützung" wird den informellen
sozialen Netzwerken der größte Anteil an der Bewältigung von Problemen, Fragen, Anliegen
und Krisen zugerechnet. Dass außerhalb definierter beruflicher Zuständigkeiten bereits die
meisten Probleme, ob beruflicher, gesundheitlicher, praktischer, psychischer oder anderer Art,
entschärft werden können, ist durch zahlreiche empirische Untersuchungen belegt (vgl.
Sickendiek et al., 2008, S.22). Nicht selten hat der Ratschlag des Anderen allerdings vor-
nehmlich belehrenden Charakter. Handlungswege werden bisweilen aufgedrängt, es wird
ermahnt und das Verhalten analysiert. Die Gefahr der Versuchung des Belehrens ist häufig
auch bei Lehrern, Erziehern oder anderen im Sozial- und Gesundheitsbereich Tätigen beob-
achtbar. Das ,,Lehren" und der ,,Wissensvorsprung" als berufliches Markenzeichen erschei-
nen hierbei mehr oder weniger bewusst als Legitimation (vgl. Bachmair et al., 2007, S.18).
Beratung als weitverbreitete und vielfältige Hilfeform wird als ,,eine der zentralen professio-
nellen Handlungsorientierungen und eine der wichtigsten Methoden sozialer, sozialpädagogi-
scher und psychosozialer Arbeit" betrachtet (Sickendiek et al., 2008, S.13). Beratung kann
einerseits als eigenständige Methode aufgefasst werden, die extern in Beratungsstellen und -
sprechstunden oder in Form eines aufsuchenden Angebots praktiziert wird, sowie andererseits
als ,,Querschnittsmethode" verstanden werden, die sich neben der Alltagsbegleitung und
praktischen Hilfe Beratung als wichtige Kommunikationsform zwischen Helfer und Klient
zum Anliegen macht.
2 Anm.: Davon abzugrenzen ist die halbformalisierte Beratung, die unter anderem bei der Beratung von
Eltern durch Lehrer, von Patienten durch Ärzte oder Ehepaaren durch Geistliche zum Tragen kommt, als
Übergang zur professionellen Beratung, die ein ,,methodisches, wissenschaftliches, explizit professionelles
Hilfsangebot von geschulten Beratern" vorsieht (Stahl, 2012, S.35; vgl. u.a. auch Sickendiek et al, 2008,
S.23).

5
Beratung im psychologisch- pädagogischen Sinn geht über die reine Vermittlung von Infor-
mationen hinaus (vgl. u.a. Nußbeck, 2006, S.19). Die (sozial-) pädagogische Bedeutung der
Beratung liegt nach Mollenhauer (1964) darin, ,,dass sie kritische Aufklärung sein kann. Das
Gespräch schafft Distanz, es ermöglicht, das Besprochene objektivierend zu betrachten, es
ermöglicht ein rationales Verhalten zu sich selbst und zu den Bedingungen der eigenen
Existenz" (zit. n. Sickendiek et al., 2008, S.18). Beratung meint somit eine offene Kommuni-
kation und ist von Erziehung abzugrenzen, sie duldet das ,,Nein des Ratsuchenden" zugunsten
eines Bildungsgewinns (ebd.) bewegt sich jedoch ,,zwischen den Polen einer gezielten
Beeinflussung und direkten Lenkung einerseits und einer Selbststeuerung und Hilfe zur
Selbsthilfe andererseits" (Mutzeck, 2008, S.14). Spiess (2000) betont die zweigeteilte Sicht-
weise von Beratung sowohl als zeitlich und räumlich getrennte Aktivität zur Koordination und
Ergänzung von Erziehung, Unterricht und Therapie als auch als zeitliche und räumliche
,,Verquickung" mit selbigen (ebd. S.12).
In Annäherung an dieses pädagogische Verständnis kann Beratung mit Schwarzer und Posse
(1986) auch definiert werden als ,,eine freiwillige, kurzfristige, oft nur situative, soziale
Interaktion zwischen Ratsuchenden und dem Berater mit dem Ziel, im Beratungsprozess eine
Entscheidungshilfe zur Bewältigung eines vom Klienten vorgegebenen aktuellen Problems
durch Vermittlung von Informationen und/oder Einüben von Fertigkeiten gemeinsam zu
erarbeiten" (zit. n. Nußbeck, 2006, S.20). Die ,,spontan" und ,,zwischendurch" in das pädago-
gische Handeln integrierten Beratungsanlässe können als Chance und wichtiger Bestandteil
eines Auftrags verstanden werden, dem sich der einzelne Berater durch das Weiterverweisen
an Beratungsinstitutionen nicht ohne weiteres vorschnell entziehen möchte (Sickendiek et al.,
2008, S.19).
Eine umfassende Definition von Beratung ist letztlich kaum zu formulieren (vgl. u.a. Schlee,
2008, S.18). Schwerpunkt und Perspektive ergeben sich vornehmlich disziplinspezifisch aus
Psychologie, Sozialarbeit, (Sozial-) Pädagogik und psychosozialer Arbeit. Jedoch können
grundlegende Übereinstimmungen gefunden werden, wenn oftmals die Förderung von Selbst-
und Situationserkenntnis sowie die Eröffnung und Aktivierung von Kompetenzen und Res-
sourcen seitens der Klienten betont wird. Auch die Freiwilligkeit der Teilnahme wird ein-
stimmig als notwendige Voraussetzung für Beratung hervorgehoben, was viele pädagogische
Interaktionsmuster und Handlungsstrategien in der Arbeit mit der Zielgruppe ,,Menschen mit
geistiger Behinderung" fragwürdig erscheinen lassen kann. ,,Beratung" wird mit gleicher

6
Zielrichtung auch als ,,Begleitung" verstanden (vgl. Spiess, 1998, S.12). Die Verwendung
dieser Begriffe sollte im Folgenden also in ähnlicher Absicht erfolgen können. Die Verwen-
dung des Begriffs ,,Begleiter"
3
ist zwar nicht unumstritten, muss aber, gerade in Bezug auf die
teilweise schwerwiegenden Behinderungsgrade der Zielgruppe und der damit zusammenhän-
genden Probleme für ein Beratungsverständnis, häufig als tatsachenorientierter angesehen
werden.
2.2 Grundüberlegungen des klientenzentrierten Ansatzes nach Rogers
Das klientenzentrierte Konzept geht auf den amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers
(1902 ­ 1987) zurück, der diesen Ansatz ab 1942 in den USA entwickelte. Unter anderem die
Schriften von Martin Buber zur Begegnung und Beziehung vom ,,Ich und Du" und Otto Rank,
der als einer der ersten den Beziehungsaspekt in der psychotherapeutischen Begegnung
hervorhob, beeinflussten Rogers maßgeblich. Die entscheidende Frage, welche Bedingungen
dazu führen, dass eine Person von sich aus über ihr Erleben spricht, sich dabei besser verste-
hen lernt und schließlich zu Einstellungs- und Verhaltensänderungen gelangt, stand für Rogers
im Zentrum der Überlegungen (vgl. Weinberger, 2006, S.20f).
Mit dem klientenzentrierten Ansatz (später auch personenzentrierter Ansatz) zählt Rogers zu
den Begründern der Humanistischen Psychologie. Als ,,Dritte Kraft" neben Psychoanalyse
und Behaviourismus wird von dem jedem Menschen innewohnenden Bedürfnis nach kon-
struktiver Veränderung und Selbstverwirklichung ausgegangen. Der Mensch wird in seiner
Einzigartigkeit betrachtet und besitzt die Fähigkeit des Wählens und Entscheidens. Im Gegen-
satz zu den klassisch ­ psychoanalytischen
4
Ansprüchen einer Entschlüsselung und Deutung
bewusstgewordener Inhalte von unbewussten Lebenserfahrungen, legt die klientenzentrierte
Psychotherapie Wert auf die Annahme, ,,dass dem Menschen sein Erleben grundsätzlich
zugänglich sei" (ebd.) und dass dem Bewusstwerden von Inhalten durch den Patienten
Vertrauen geschenkt werden müsse. Innerhalb der Beziehung zwischen Klient und Therapeut
wird der Aspekt der ,,Übertragung" als therapeutisches Kernstück von der klientenzentrierten
3 Anm.: Die Vorsilbe ,,be" wird u.a. von Niehoff als ,,besitzergreifend" in Frage gestellt. Allerdings spiegelt der
Begriff eine Beziehungsebene wider (im Gegensatz zu ,,Assistenz" vgl. Hähner et al., 2011, S.8).
4 Nach der Freud'schen Auffassung charakterisiert den Menschen ein Streben nach Spannungsausgleich im
Kontext des durch Mangel motivierten Lebens, was einen Widerspruch zum klientenzentrierten Ansatz
darstellt (vgl. Rogers, 1977, S.9f).

7
Psychotherapie abgelehnt. Sie sieht dadurch den menschlichen Aspekt im realen Zusammen-
treffen der therapeutischen Situation verleugnet. So steht nicht das Problem des Klienten im
Vordergrund der Therapie, sondern das Individuum, das durch das spezielle non ­ direktive
Beziehungsangebot Möglichkeiten zu Einstellungs- und Verhaltensänderungen entwickeln
kann. Rogers formulierte drei notwendige Bedingungen für die ,,psychologisch relevante
Veränderung des Selbstkonzepts einer Person"
5
.
Unbedingte Wertschätzung oder Akzeptanz:
Der Therapeut oder Berater muss gegenüber den Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen und Phantasien des
Klienten vorbehaltlos offen sein und diese annehmen. Durch das Äußern von Solidarität und der Ermutigung des
Ratsuchenden wird eine Anteilnahme an der Wahrnehmungswelt des Klienten verdeutlicht. Akzeptanz zu
verwirklichen setzt die Selbstakzeptanz voraus, die die Offenheit und das Annehmen eigener innerer Vorgänge
beinhaltet. Entscheidend für die Selbstakzeptanz wiederum ist das Gefühl, von anderen angenommen zu werden.
Empathie oder Einfühlendes Verstehen:
Das nicht urteilende Einfühlungsvermögen und Verstehen der Welt und der Probleme des Klienten setzt das
persönliche Erlebthaben von Empfindungen voraus. Von Bedeutung ist auch die Fähigkeit des ,,role taking". Das
präzise einfühlende Verstehen und die Wahrnehmung aus der Sicht eines anderen, ist ohne die Fähigkeit, einen
eigenen Standpunkt vorübergehend aufgeben zu können, nicht möglich. Davon abzugrenzen ist die Möglichkeit
einer Identifikation mit der Lebenswelt des Klienten, einer Aufgabe der ,,Als- ob" Position, die als zu vermei-
dende Gefahr bewusst gemacht werden muss, jedoch im professionellen Sinn nicht mit dem einfühlenden
Verstehen gemeint sein kann.
Echtheit/ Kongruenz:
Die gegenwärtig ablaufenden inneren Vorgänge sind für den Berater oder Therapeuten fassbar und zeugen von
Wahrhaftigkeit gegenüber dem Klienten. Die vorhandenen Gefühle und Einstellungen, das eigene Erleben, sind
verfügbar und können gegenüber dem Klienten ausgedrückt und benannt werden. Das Bekennen und Mitteilen
dieser Prozesse bewirkt Offenheit und Vertrautheit innerhalb der Beziehung, da der Therapeut oder Berater sich
als Person zu erkennen gibt und nicht lediglich als Fachperson. Echtheit bezieht sich außerdem auf die Konfron-
tation und die Klärung des Beziehungsgehalts mit dem Klienten sowie die Benennung von Rahmenbedingungen.
Es ergänzen heute auch verschiedene Interventionstechniken (Tausch) die klientenzentrierte
Therapie und Beratung zur methodischen Begleitung:
5 Zu den drei Grundhaltungen des Therapeuten vgl. Rogers, 1977, S.20ff; Mutzeck, 2008, S.97ff; Stahl, 2012,
S.73f; Weinberger, 2006).

8
Spiegeln bezeichnet im wesentlichen eine methodische Konkretisierung des einfühlenden
Verstehens.
Konfrontieren richtet die Aufmerksamkeit des Klienten auf Widersprüchlichkeiten in seinem
Verhalten und in seinen Äußerungen.
Zusammenfassen kann in Form von Akzentuieren, Gegenüberstellen und Den roten Faden
aufgreifen unterschiedliche Strategien verfolgen. Grundsätzlich kann das Gehörte rekapituliert
werden und dem Ratsuchenden verdeutlicht werden, was wie verstanden wurde.
Konkretisieren ermöglicht eine Konzentration auf bestimmte Situationen, Gefühle, Beispiele
mit dem Ziel einer differenzierten und aussagekräftigen Problembeschreibung. Es dient
außerdem der Formulierung und Planung spezifischer Beratungs- und Veränderungsziele und
deren Handlungsschritte.
Perspektivenwechsel ­ sofern vom Klienten erwünscht ­ ermöglichen dem Klienten das
Hineinversetzen in die Situation eines für die Fragestellung oder das Problem zentralen
Interaktionspartners, um zur eigenen Sicht in Distanz zu treten und neue, tiefergreifende
Lösungsgrundlagen zu erforschen
6
.
Eine zentrale Rolle in den Überlegungen Rogers kommt der Aktualisierungstendenz zu. Die
,,inhärente Tendenz zur Entfaltung aller Kräfte" kennzeichnet jeden lebenden Organismus und
,,dient der Erhaltung oder dem Wachstum" (Rogers, 1977, S.35). Ohne Behinderung bewirkt
sie beim Individuum verlässlich Wachstum, Reife und Bereicherung für das Leben. Auch für
die psychologische Entwicklung gilt, dass in einem ,,einigermaßen wachstumsfreundlichen
Klima" (ebd.) die Verwirklichung eines Individuums zuverlässig auch Hindernisse und
Schmerz überwindet. Unzählige Umweltfaktoren können jedoch die Aktualisierungstendenz
hemmen oder blockieren, sie verzerren, auf ,,anomale" Weise äußern oder zu sozial destrukti-
ven anstatt konstruktiven Wegen führen (vgl. auch Nußbeck, 2006, S.58).
Auch die Bedeutung des ,,Selbst" als Bezugspunkt für das Handeln des Individuums ist
Rogers bewusst. Ausgehend von der Unterscheidung eines Kleinkindes zwischen ,,Ich" und
,,Mich" gelangt das Selbstkonzept zu einer ,,strukturierten, konsistenten Vorstellungsgestalt"
die das ,,Ich" in ihren Beziehungen zur Umwelt wahrnimmt und dabei durch Wertehaltungen
geprägt wird. Sie ist, so Rogers, zwar ,,nicht unbedingt bewusst, aber dem Bewusstsein
zugänglich" (Rogers, 1977, S.36). Inkongruenz entsteht durch Erfahrungen, die nicht mit
dem Selbstbild übereinstimmen und somit aus einer Diskrepanz zwischen Aktualisierungsten-
denz und Selbstaktualisierungstendenz, was zu Spannungen führt
7
. Die Beziehung innerhalb
6 Vgl. Breitenbach in Diouani-StreekEllinger, 2007, S.39ff
7 Bspl.: Ein Kind, das in der Schule immer nur gute Noten schreibt, erhält eine negativ bewerte Arbeit zurück,
die es nicht in sein Selbstkonzept integrieren kann. Das Kind ist subjektiv der Überzeugung, der Lehrer habe

9
der Therapie muss vor diesem Hintergrund die Aufgabe erfüllen, das Selbstkonzept zu
flexibilisieren, sodass auch negative Gefühle als Teil des ,,Selbst" integriert werden können
(vgl. Weinberger, 2006, S.27f) und, dass vom Klienten irgendwann ausgesprochen werden
kann, was er im Alltag nicht wagt oder wessen er sich nicht bewusst war.
Im Kontext einer Ressourcenorientierung stellt der Ansatz von Rogers in Hinsicht auf die
notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur psychologischen Veränderung sowie die
Grundannahmen über die Natur des Menschen (,,Aktualisierungstendenz" und ,,Bedürfnis
nach bedingungsloser positiver Wertschätzung) wichtige theoretische Grundlagen für die
Beratung von Menschen mit geistiger Behinderung bereit. Allerdings bleibt schon an dieser
Stelle festzuhalten, dass die defizitorientierte Einstellung Rogers' zum Ratsuchenden als
,,rigide und eingeengt" nicht auf einen ressourcenorientierten Blick schließen lässt. Die
Leitvorstellung der ,,fully functioning person
8
" erscheint weiterhin für eine Zusammenarbeit
mit Menschen mit geistiger Behinderung nicht geeignet. In Bezug auf die Untersuchungen
eines Zusammenhangs zwischen Intelligenz und Behandlungserfolgen in der Therapie be-
merkte Rogers (1977), dass ,,geistig defekte Individuen [...] ungeeignete Kandidaten für die
Beratung [...] " seien (zit. n. Stahl, 2012, S.75). Die Aussagekraft dieser Untersuchungen ist,
so Stahl, nicht eindeutig. Deutlich ist jedoch die Konzentration Rogers' auf die Verbalisie-
rungsfähigkeit der Klienten. Das Humanistische Menschenbild bleibt für ihn jedoch Bezugs-
rahmen unter Betonung einer Gültigkeit für alle Menschen. Zwar bleibt das Gespräch als
Medium für die Beratung zentral, mittlerweile wird die Bedeutung nonverbaler Kommunika-
tion und nonverbaler Botschaften allerdings, wie zum Beispiel bei Mutzeck, vermehrt aufge-
griffen.
,,falsche Aufgaben" gestellt oder der Banknachbar wäre zu laut gewesen. Auch bei einem negativen
Selbstkonzept kann im subjektiven Eindruck eine gute Leistung als Glück oder Zufall eingestuft werden,
oder gute Leistungen völlig ignoriert werden (vgl. Weinberger, 2006, S.27 auch Rogers, 1977, S.37).
8 Die hypothetische ,,fully functioning person" ist vollständig kongruent, also ,,psychisch gesund".
Der Begriff ist gleichbedeutend mit optimaler psychischer Ausgeglichenheit, optimaler psychischer Reife,
völliger Kongruenz, völliger Offenheit gegenüber Erfahrungen (vgl.
http://www.psychotherapeutin.cc/index.php?article_id=13
).

10
2.2.3 Kooperative Beratung nach Mutzeck
Abb.:1: Schachteltheorie
9
A)
A)
zugrunde
gelegte
Menschenbildannahmen
B)
B) Handlungs- und Störungstheorie
C)
C)
Beratungskonzeption
im
engeren
Sinn
Im Bereich Sonderpädagogik kann mit der ,,Kooperativen Beratung" als systematische,
personenkonzentrierte und ressourcenorientierte Gesprächsführung und Problemlösungsme-
thode auf ein System zurückgegriffen werden, das an ,,Nicht-Psychotherapeuten" erfolgreich
vermittelt wurde, ohne den Anspruch auf Therapie zu erheben (vgl. Stahl, 2012, S.77). Auch
diese Beratungskonzeption orientiert sich vornehmlich am humanistischen Menschenbild. Sie
betrachtet den Menschen als ein ganzheitliches, reflexives und potenziell aktives Subjekt, das
zu sich selbst (Intraaktion) und zu seiner Umwelt, besonders zu seinen Mitmenschen, in
Beziehung treten kann (Interaktion). Dabei ist sein Handeln nicht durch gradlinige Ursache-
Wirkungs- Beziehungen erklärbar, sondern im Kontext systemischer
10
Bezüge eines zirkulä-
ren Rückkopplungsprozesses zu betrachten. Grundlage für die Beratung sind die (potenziel-
len) Fähigkeiten zu einem menschlichen Selbst(-verständnis):
Reflexivität: Selbstbewusstsein und -aufmerksamkeit; Fähigkeit des Nachdenkens und
Überlegens; Überprüfung von Annahmen und Erklärungen zur Handlungssteuerung; Interpre-
tation von Erfahrungen; Zukunftsorientierung; usw.
Rationalität, Intentionalität, Sinnorientierung, Erkenntnisfähigkeit: Handeln durch
Kosten-Nutzen Abwägung; Entscheidungs- und Begründungsleistung; Kompetenz der
Wissensaneignung und -beschaffung; psycho-logisches Handeln; Fähigkeit des (aktiven)
Erkennens; Bedürfnis nach (psychischer) Bedürfnisbefriedigung/ subjektivem Wohlbefinden.
Emotionalität: subjektive Erfahrungstatsachen bzw. Bewusstseinsinhalte; Erwartungen,
Überzeugungen, Wertungen, Beurteilungen etc. durch Selbstbetroffenheit; Erleben von Lust
und Unlust; Stimmungen, Erlebnisse (Freude, Ärger, Angst, etc.); Beeinflussung des Reiz-
Reaktions-Mechanismus; bildet eine Einheit.
9 Die schematische Darstellung ist dem Original in Mutzeck 2008, S.36 nachempfunden.
10 Zu der systemischen Sichtweise vgl. auch Palmowski in Balgo & Lindemann (Hrsg.), 2006, S.194ff).

11
Verbalisierungs- und Kommunikationskompetenz: Veräußerung von Gedanken, Gefühlen
und Willen durch Sprache und Lautketten (auch Unterstützte Kommunikation, Gebärden);
sprachliche Verständigung über Selbst- und Weltansicht; äußerer und innerer Bezug der
Sprachäußerung; transformativer Verstehensprozess.
Handlungskompetenz: potenzielle Möglichkeit eines aktiv gestaltenden, kontrollierten,
sinngeleiteten und selbstbestimmten Handelns; aktive Konstruktivität; Rekonstruierung/
Verbalisierung interner und externer Bedingungen einer Handlungsabsicht.
Autonomie: potenzielle Entscheidungsfreiheit hinsichtlich aktiver Konstruktivität (vgl.
Mutzeck, 2008, S.50ff).
Mutzeck unterscheidet die Begriffe der Handlung
11
und des Verhaltens. Handlung geht über
den Begriff des Verhaltens hinaus und berücksichtigt interne mentale Prozesse, die sie
hinsichtlich der Aktualität, Sozialität und Historizität in Verbindung zur Umwelt setzt. Das
Verhalten von Menschen basiert im Wesentlichen auf Zielorientierung, Planung, Entscheidung
und Sinnhaftigkeit und stellt somit Handlung dar (vgl. ebd., S.58; vgl. Mutzeck in Diouani-
Streek & Ellinger, 2007, S.74). Die Bewertung einer Handlung erfolgt durch Interpretation.
Ein Beobachter kann eine Handlung nur auf Grundlage seiner Beobachtung in Bezug auf
Sinnhaftigkeit und Zielorientiertheit bewerten. Der Handelnde selbst kann potenziell sein
Handeln in Verbindung zu seinen Zielen, Plänen und Entscheidungen setzen, interpretiert
dabei allerdings auch die Wirklichkeit über seine Wahrnehmung. Die Ansicht, ,,Objektivität
ist die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könnte, ohne sich selbst", ist damit
eine zentrale Annahme des Handlungsmodells (vgl. ebd., 2007, S.76).
Für die Beratungskonzeption betont die ,,Kooperative Beratung" eine horizontale, symmetri-
sche und wenig direktive Beziehung zwischen Ratsuchendem und Berater. Durch Impulse und
Hilfestellungen sollen hierbei auf vertrauensvoller Basis die Aktivität des Ratsuchenden,
sowie seine Kompetenzen und Ressourcen zu einem Mitlösen beziehungsweise weitgehenden
Selbstlösens eines Problems oder Anliegens mobilisiert werden. Die Einschätzung der Kom-
petenzen beider Gesprächspartner gilt als gleichwertig. Unter methodischer Leitung des
Beraters werden so gemeinsam Lösungs- und Umsetzungsmöglichkeiten beraten.
11 Mutzeck charakterisiert Handlung als bewusst, zielgerichtet, geplant bzw. planvoll, absichtlich (willentlich),
interaktiv, normen- und werteorientiert, subjektiv sinnvoll und bedeutungsvoll sowie verändert bzw.
erhaltend (vgl. Mutzeck, 2008, S.58f; Ellinger (Hrsg.), 2007, S.74).

12
Die Grundhaltung
12
des Beraters begründet sich in Bezugnahme auf Rogers auf der Bemü-
hung einer vertrauensvollen Kommunikation sowie dem Erleben und Ausdrücken von Akzep-
tanz, Empathie und Kongruenz (vgl. Rogers, 1977, S.20ff; u.a. Mutzeck, 2008, S.97f). Diese
Haltungen müssen sich in der methodischen Vorgehensweise innerhalb des Gesprächs wider-
spiegeln. Hierbei sind unter anderem direktes persönliches Ansprechen, Anteilnahme zeigen
durch aktives Zuhören, Dialogkonsens, Veranlassung zum Konkretisieren, Ansprechen von
Gedanken und Verbalisieren von Gefühlen als geeignete Mittel hervorgetreten. Die Problem-
lösestrategie beinhaltet die Überwindung einer Ist- Soll- Diskrepanz. Die dafür erforderlichen
Handlungen und Rahmenbedingungen bestimmen den angestrebten Lösungsweg.
Die folgenden Schritte kennzeichnen den Ablauf
13
einer ,,Kooperativen Beratung":
1.
Einführung in die kooperative Beratung.
2.
Beschreibung des Problems, Rekonstruktion der Innenansicht und Erkundung von
Ressourcen.
3.
Perspektivenwechsel.
4.
Analyse des Problems und Fokussierung des Schlüsselproblems.
5.
Ableiten und Entwickeln einer Zielsetzung.
6.
Erarbeitung von Handlungswegen.
7.
Handlungsbewertung und autonome Entscheidung für eine der Handlungsmöglichkei-
ten.
8.
Planung und Vorbereitung der Handlungsschritte, Umsetzungshilfen und Störungsent-
gegnungen.
9.
Begleitung und Nachbereitung der Beratung (vgl. ebd. S.104).
Mutzeck (2005) formuliert außerdem vier Anforderungen, ,,die vom reflexiven, handlungsfä-
higen Subjekt bei dem kognitiv- sprachlichen Rückbezug auf seine Selbst- und Weltansicht
gefordert werden" (zit. n. Stahl, 2012, S.78). Zum einen wird hierbei das Erleben mentaler
Prozesse in Bezug auf eine konkrete Situation vorausgesetzt sowie das Erinnern von Inhalten
der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse (beziehungsweise Zugriff im Kurzzeitge-
dächtnis). Weiterhin muss dann eine Möglichkeit der (differenzierten) Verbalisierung der
12 Anm.: Auch Mimik, Gestik und und Blickkontakt verdeutlichen die innere Haltung des Beraters. Nicht selten
kommt es zu Wiedersprüchen im Ausdruck von verbalen und non-verbalenAusdrucksformen. Dies
verdeutlicht u.a. die Bedeutung von Aus- und Fortbildungen sowie Supervision (vgl. Mutzeck in Ellinger,
2007, S.80).
13 Im Zusammenhang mit dem Beratungskonzept ,,So und So" für Erwachsene mit geistiger Behinderung wird
auf den Ablauf eines Beratungsprozesses nochmals genauer eingegangen. Das hier beschriebene Konzept der
Kooperativen Beratung ist dafür ein wichtiger Baustein der Grundkonzeption.

13
Inhalte erfolgen können, wobei als Grundvoraussetzung dafür die Bereitschaft und Absicht
des Subjekts gegeben sein muss, eine Auskunft über die eigene Welt- und Selbstsicht geben
zu wollen. Die Beratung gelingt, wenn sie einen aktiven Lernprozess beinhaltet, der es dem
Ratsuchenden ermöglicht, eine zufriedenstellende Auseinandersetzung mit seinem Problem zu
erreichen, seine Handlungsfähigkeit und sein Vertrauen in eigene Kompetenzen zu erweitern
sowie seine Verselbstständigung zu erzielen (vgl. ebd., S.112).
Auch hier ergeben sich durch die Anforderungen Schwierigkeiten für die Konzeption einer
Beratung für Menschen mit geistiger Behinderung (zum Beispiel durch die Methode des
Perspektivenwechsel). Neben deutlichen Parallelen zu dem Konzept Rogers', zum Beispiel
bezüglich der Beraterhaltung oder der Kommunikationstechnik der Rückversicherung
14
, ist
zudem die konkrete Handlungsbewertung, die Planung der konkreten Handlungsschritte
sowie die Begleitung und Nachbereitung der ,,Kooperativen Beratung" eine hilfreiche Ergän-
zung zu eher psychotherapeutisch orientierten Konzepten.
14 Das Erkenntnissubjekt (Empfänger) teilt dem Erkenntnisobjekt (Sender) mit, wie er die Mitteilung im
gemeinten Sinn verstanden hat (zit. n. Mutzeck, Stahl, 2012, S.78).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783863418083
ISBN (Paperback)
9783863413088
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Empowerment Selbstbestimmung Kundenorientierung Alltagsbegleitung Inklusion

Autor

Moritz Sturmberg wurde 1986 in Bergisch Gladbach geboren. Während des Studiums der Erziehungswissenschaft an der Universität zu Köln sammelte er praktische Erfahrungen in stationären Wohnhäusern der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung sowie im Bereich des Betreuten Wohnens.
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