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Das Weblog als modernes Tagebuch? Der Wandel der diaristischen Kulturpraxis vom 18. Jahrhundert bis heute

©2011 Bachelorarbeit 71 Seiten

Zusammenfassung

Das Tagebuch als Ort der Selbstreflexion und Herzensergüsse hatte seine erste Blütezeit im 18. Jahrhundert und ging Hand in Hand mit der Herausbildung eines bürgerlichen Individualgefühls. Rund 200 Jahre später schießen im Word Wide Web sogenannte Weblogs wie Pilze aus dem Boden. Während ein Tagebuch in der Regel im Geheimen geschrieben und gut versteckt wird, scheinen Blogger ihr Innerstes vor einer mehr oder weniger großen Leserschaft zu entblößen.
Dieses Buch beschäftigt sich mit der Genese und dem Wandel der diaristischen Kulturpraxis, die sich sowohl im papierenen Tagebuch als auch im digitalen Weblog manifestiert.
Folgende Fragen rücken dabei in den Fokus: Was sind die formalen Eigenschaften des Tagebuchs? Worin liegt der Sinn des diaristischen Schreibens und ist es nicht eigentlich ein Dialog mit sich selbst? Selbstdarstellung und Selbststilisierung scheinen im Weblog alltäglich zu sein, doch lassen sich diese Phänomene auch für das Tagebuch nachweisen?
Viele Schriftsteller haben neben ihrer eigentlichen literarischen Tätigkeit Tagebücher geschrieben, welche eine ganz eigene Qualität erreichten und sich dadurch vom gemeinen Diarium unterschieden. Anhand der Tagebücher von Johann Casper Lavater (1741 – 1801), Friedrich Hebbel (1813 – 1863) und Franz Kafka wird die Genese des Tagebuchs vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachvollzogen. Jedes der drei Tagebücher dient als Beispiel einer spezifischen Art der Tagebuchführung.
Von der Analyse des (Papier-) Tagebuchs wird der Bogen zum digitalen Weblog geschlagen: Was ist überhaupt ein Weblog und wie ist die Blogosphäre entstanden? Wer sind die Blogger und welche Kategorien von Weblogs gibt es? Was treibt Menschen dazu private Gedanken und Erlebnisse mit Fremden im Internet zu teilen? Wo verschwimmt die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit? Wie groß ist die literarische Qualität des Weblogs? Beispiel-Blogs aus dem Word Wide Web illustieren die Vielfältigkeit der Blogosphäre.
Das Buch analysiert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Tagebuch und Weblog, deren Mittelpunkt stets derselbe ist: das Ich und dessen sich auf sich selbst und die Welt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der erste Teil der Arbeit widmet sich dem klassischen, papierenen Tagebuch, das zunächst in
Punkt 1.1. in seinen formalen Eigenschaften definiert werden soll. Danach stehen inhaltliche
Aspekte des Tagebuchs im Mittelpunkt.
Kapitel 1.2. diskutiert, warum Menschen überhaupt Tagebuch führen.
Selbst wenn ein Tagebuch nur für den Verfasser selbst geschrieben wird, kommuniziert dieser
mit sich selbst; es entsteht ein Dialog, wie im Kapitel 1.3. zu zeigen sein wird.
Punkt 1.4. legt dar, dass Selbstdarstellung, Selbststilisierung und Selbstbehauptung sind nicht
erst seit der Entstehung des öffentlichen Online-Tagebuchs aktuell sind, sondern auch im
klassischen Tagebuch zu finden sind.
Punkt 1.5. widmet sich den Unterschieden zwischen privaten und literarischen Tagebüchern, die
von Schriftstellern geschrieben und einen Anspruch von Artifizialität erfüllen.
Kapitel 2 der Arbeit gibt einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung des
Tagebuchs vom 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert. Die Genese des Diarium, dies wird sich
zeigen, ist dabei gleichzeitig auch das Abbild der geistig-seelischen Entwicklung der Menschheit
innerhalb von drei Jahrhunderten.
Die inhaltlichen und epochalen Eigenschaften sollen dabei an einem exemplarischen Tagebuch
des jeweiligen Jahrhunderts gezeigt werden.
Johann Caspar Lavaters Geheimes Tagebuch fungiert als Beispieldiarium des 18. Jahrhunderts,
Friedrich Hebbels Tagebuch als Exempel für das 19. Jahrhundert, Franz Kafkas Diarium vertritt
das 20. Jahrhundert.
In den jeweiligen Kapiteln über die Tagebuchautoren soll deren Beziehung und Beweggründe
zum diaristischen Schreiben im Mittelpunkt stehen.
Der zweite Teil dieser Arbeit widmet sich der diaristischen Kulturpraxis im Weblog.
Dafür sollen zunächst das Weblog in seinen Eigenschaften definiert und die Entstehung der
Blogosphäre skizziert werden.
Kapitel 1.3. und 1.4. widmen sich den Kategorien des Weblogs bzw. dem Alter und Geschlecht
der Blogger.
Punkt 1.5. geht den Motiven des Bloggens auf den Grund.
Kapitel 1.6. diskutiert das Verschwimmen der Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit
im Weblog und zeigt, welchen Einfluss die öffentliche Sphäre des Internet auf die Form und Art
des digitalen Tagebuchs hat.
Eng verknüpft mit dieser Öffentlichkeit sind die vielfältigen Potentiale des Weblogs, die im
Kapitel 1.7. erläutert werden sollen.
4

I
1. Das Tagebuch
1.1. Formale Eigenschaften
Das Tagebuch in seinen formalen Eigenschaften zu definieren, erscheint auf den ersten Blick
einfach: es ist ein Buch oder manchmal nur ein Heft
5
, in dem der Schreibende täglich oder mit
längeren Unterbrechungen persönliche, private bis hin zu intimen Gedanken, Gefühlen,
Beobachtungen und Ereignissen aus seinem alltäglichen Leben notiert.
6
Die landläufige Vorstellung ist, dass der Großteil der Diaristen ihre Tagebücher für sich allein
schreibt und sie vor Mitlesern ein Leben lang sorgfältig verborgen hält. Dass es jedoch auch
Tagebücher gibt, die veröffentlicht oder auf eine Veröffentlichung hin geschrieben wurden, wird
diese Arbeit noch zeigen.
Systematisch wird zwischen temporären Diarien und Tagebüchern, die für ein Leben lang
konzipiert sind, unterschieden:
In Lebenswerken wird das Schreiben um des Schreibens willen als fester Bestandteil des Tages
kultiviert und ist thematisch durchlässig für alles Alltägliche und die Werkstatt, für den Kalender
und die Chronik. Temporäre Tagebücher haben in der Regel einen konkreten Anlass und sind auf
eine zentrale Lebensfrage gerichtet.
7
Zu den temporären Diarien zählen Zeitzeugentagebücher, ,,die durch ein umwälzendes äußeres
Ereignis initiiert sind und die solange Zeugnis ablegen wollen, bis sich die Umstände wieder
normalisieren"
8
, und Reisetagebücher.
Die einzelnen Aufzeichnungen sind formal durch Lücken und vor allem durch eine fortlaufende
Notiz des jeweiligen Kalenderdatums voneinander abgetrennt:
In jedem Fall bleibt das Tagebuch durch sein schubweises Wachsen ständig zur nächstfolgenden
Eintragung hin geöffnet. Soweit es nicht von vornherein auf eine bestimmte Zeitspann, etwa eine
Reise, begrenzt wurde, ist es aus der Sicht des Verfassers eigentlich niemals abgeschlossen.
9
5
Es gibt jedoch auch sehr ungewöhnliche Tage"bücher", so beschriftete der Hannoveraner Hans Gröner in den
Jahren 1988 und 1989 Holzklötze im Brennholzvorrat mit Tageseinträgen (vgl. Nowak, In: Gold[u.a.]: Absolut
privat!?, 2008, S. 130ff.), und Fritz Solmitz, Redakteur der sozialdemokratischen Parteizeitung Lübecker Volksbote,
schrieb im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel kurz vor seinem angeblichen Selbstmord auf winziges Zigarettenpapier (s.
Möller, In: Gold[u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 83)
6
vgl. Wuthenow: Europäische Tagebücher, 1990, S. 1
7
Holm, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 40
8
ebd. S. 40
9
Boerner: Tagebuch, 1969, S 11
5

Günter Oesterle konstatiert, dass das Tagebuch geprägt ist von Intervallen, d.h. durch die
Unterbrechung und die Wiederaufnahme des Schreibens
10
: ,,Das Tagebuch lebt von einer
eigentümlichen Spannung der Sprunghaftigkeit und Regelmäßigkeit. Das Tagebuchschreiben hat
etwas Serielles an sich; der Tagebuchschreiber scheut sich nicht, Alltägliches zu notieren und
das zum wiederholten Male."
11
Zwischen den vielen alltäglichen Einträgen treten dadurch umso
auffallender die Notate außergewöhnlicher Ereignisse hervor.
12
Auch Claus Vogelgesang
13
zählt erstens eine ,,gewisse[...] Aktualität" und ein ,,empirische[s]
Zeitkontinuum" zu den Eigenschaften, die mit dem Begriff ,Tagebuch' evoziert werden. Damit
verbunden ist als zweite Eigenschaft die Vorstellung, dass das Geschriebene mit verifizierbaren
und real existenten Sachverhalten übereinstimmt.
14
Dritte Eigenschaft des Diariums ist nach
Vogelgesang die Vorstellung, dass es private, gar intime Mitteilungen über den Schreiber
enthält.
15
Und schließlich viertens, ,,daß das Tagebuch eine sehr lockere und daher leicht
rezipierbare Aussageform darstelle ­ eben weil ihm, da es Aufzeichnungen des Hier und Heute
beinhalte, eine anspruchsvolle Formung fehle."
16
Letzteres trifft auf einen Großteil der
Tagebücher ,,normaler" Menschen zu, insbesondere auf jene (zumeist weiblicher) Jugendliche,
die schreibend ihren Alltagsimpressionen im Tagebuch spontanen Ausdruck verleihen, ohne auf
Stil oder Stringenz großen Wert zu legen. Dass diese ,,unbedarfte" Art der Tagebuchführung
auch in Weblogs anzutreffen ist, soll im Laufe dieser Arbeit noch gezeigt werden. Jedoch soll an
den Beispielen von Friedrich Hebbels und Franz Kafkas Tagebüchern dargestellt werden, dass es
auch Diarien gibt, die als literarisch gelten können.
Die Literaturwissenschaft interessiert sich erst seit einem reichlichen halben Jahrhundert
17
für
das Tagebuch als eine literarische Form, weil das Tagebuch mit einem engen Literaturbegriff
nicht zu fassen ist, ,,[z]u weit ist seine Auffächerung, zu nuancenreich die Skala seiner
Erscheinungsformen. Und die Fülle des Materials selbst ist schier unendlich."
18
Dadurch wurde
es entweder ,,als Möglichkeit des Literarischen gar nicht erwähnt oder schlicht als
autobiographische Gebrauchsform angesehen und als vor- oder außerliterarisch abgetan"
19
. Das
literarische Tagebuch im Vergleich zum privaten Tagebuch soll Kapitel 1.5 zum Thema haben.
Nach Peter Boerner muss das Tagebuch auch von anderen autobiographischen Gattungen wie
dem Brief und der Autobiographie abgegrenzt werden: ,,Ein Tagebuch ist primär für den
10
vgl. Oesterle, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 100
11
ebd. S. 100
12
vgl. ebd. S. 100
13
vgl. Vogelgesang: Studien, 1971, S. 6
14
vgl. ebd. S. 6
15
vgl. ebd. S. 6
16
ebd. S. 6
17
vgl. Holm, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 10
18
Vogelgesang: Studien, 1971, S. 5
19
ebd. S. 6
6

Schreiber selbst bestimmt, der Brief dagegen von vornherein an ein Du gerichtet."
20
Dennoch
überschneiden sich bestimmte Eigenschaften der beiden Gattungen.
21
Die Autobiographie weist die deutlichsten Parallelen zum Tagebuch auf, was vor allem auf das
hohe Maß an Subjektivität zurückzuführen ist, mit dem beide Gattungen verfasst werden
22
:
Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, daß der Tagebuchschreiber stets unter dem
unmittelbaren Eindruck dessen steht, was er erfahren, gesehen und gedacht hat, der Autobiograph
dagegen die Fakten seines Lebens schon in ihrer zeitlichen Entwicklung überschaut. [...] Das
Tagebuch sieht die Dinge lediglich aus dem erlebnisnahen Moment der Niederschrift und bietet
damit weithin ungeformte Gegenwart, die Autobiographie beruht auf der inzwischen
gewonnenen Distanz und kann deshalb das Vergangene bereits gestalten.
23
Weitere Unterschiede zur Autobiographie liegen in der an früherer Stelle bereits erwähnten
uneinheitlichen Komposition und notizenhaften Natur des Tagebuchs.
24
1.2 Vom Sinn des Tagebuchführens
Dem Schreiben, auch dem diaristischen, werden sinnstiftende Eigenschaften zugeschrieben, die
sogar ein ganzes Leben erfüllen können, so wie bei Franz Kafka. Am 15. August 1914 frohlockt
er in seinem Tagebuch, dass durch das Schreiben
habe ich doch einen Sinn bekommen, mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges
Leben hat eine Rechtfertigung. Ich kann wieder ein Zwiegespräch mit mir führen und starre nicht
so in vollständige Leere. Nur auf diesem Weg gibt es für mich eine Besserung.
25
Auch Friedrich Hebbel braucht das Tagebuchführen als eine Art Lebenskompass:
Das ganze Leben ist ein verunglückter Versuch des Individuums, Form zu erlangen; man springt
beständig von der einen in die andere hinein und findet jede zu eng oder zu weit, bis man des
Experimentierens müde wird und sich von der letzen ersticken oder auseinanderreißen lässt. Ein
Tagebuch zeichnet den Weg. Also fortfahren!
26
Schreiben wird hier zu einer ,,Expedition", einem ,,Unternehmen ins Ungewisse", ,,[e]s zeichnet
den Weg des verunglückten Versuchs des Individuums, Form zu erlangen. Es ist auf Erkenntnis
allgemein, aber auch auf Selbsterkenntnis aus, deshalb sachlicher und biographischer Natur
zugleich."
27
20
Boerner: Tagebuch, 1969, S. 13
21
,, [...], etwa wenn zwei Partner ihre Briefe so regelmäßig wechseln, als ob sie füreinander Tagebuch führen, oder
wenn ein Korrespondent sein Tagebuch ganz oder teilweise statt eines Briefes übermittelt.", s. Boerner (1969), S. 13
22
ebd. S. 13
23
ebd. S. 13
24
vgl. Grenzmann, In: Arends [u.a.]: Wirkendes Wort, 1959, S. 85
25
Kafka: Tagebücher, 1954, S. 422
26
Hebbel: Werke, V. Band, 1967, S. 557
27
Vogelgesang: Studien, 1971, S. 31
7

Das Tagebuch wird zum Ort der Bestandsaufnahme, in dem der Orientierungsversuch des
Individuums stattfindet.
28
Nicht zufällig drängt sich hier die Metapher des Seefahrers auf dem
Meer auf, denn nach Vogelgesang ähnelt die ,,Situation des modernen Autors, des modernen
Menschen [...] der Lage von Schiffbrüchigen."
29
Einsamkeit im endlosen Meer ist das Los von
Schiffbrüchigen und parallel zur diaristischen Odyssee ist die Einsamkeit auch ein bestimmendes
Motiv im Tagebuch.
30
Neben dem Schmerz und dem Gefühl des Ausgesetztseins tritt auch eine sorgfältige
Beobachtung; Eindrücke und Beobachtungen werden fast wissenschaftlich genau beschrieben
31
:
,,Schreiben als Expedition bedeutet [...] ein gesteigertes Interesse an der Außenwelt."
32
Nach
Vogelgesang erfindet der moderne Autor, besonders der des 19. und 20. Jahrhunderts, nicht
mehr, er findet vor, das heißt er wird zum Rechercheur, zum Registrator von Bruchstücken der
Realität, deren Stoff in der Moderne unüberschaubar geworden ist, und dadurch jede Aussage
fragwürdig und begrenzt gültig bleibt.
33
In seiner formal losen Form erscheint das Tagebuch
angesichts der ,,Fülle und Geschwindigkeit der Wahrnehmung [...] als eine der bestmöglichen
Formen von Bestandsaufnahme."
34
Doch was bewegt Menschen dazu, in regelmäßigen Abständen ihre privaten Gedanken,
Erlebnisse und Gefühle niederzuschreiben; eine Mühe, zu der sie keine äußeren Umstände
zwingen? Oder wie Rüdiger Görner schreibt: ,,Für wie wichtig muß man sich und seine
Alltagserlebnisse eigentlich halten, um sich solcher Disziplin freiwillig zu unterwerfen?"
35
Seine Antwort lautet: ,,Wer Tagebuch schreibt, möchte dem Flugsand der Zeit etwas Greifbares
abgewinnen. Und mehr noch: ein Tagebuch führt, wer sich dereinst erinnern will. Eintragungen
ins Tagebuch schaffen Anhaltspunkte für ein künftiges Sich-Erinnern."
36
Zudem sieht Boerner
den Effekt der Gedächtnisentlastung und das damit verbundene Festhalten von Erinnerungen auf
Papier als zentralen Anreiz des Tagebuchschreibens: ,,Er will festhalten, was heute und hier
geschah, will Eindrücke und Regungen fixieren, solange sie noch lebendig sind und dadurch ein
Momento schaffen, an Hand dessen er das Gewesene später in seine Vorstellung zurückrufen
kann."
37
28
vgl. Vogelgesang: Studien, 1971, S. 32
29
ebd. S. 34
30
vgl. ebd. 34f.
31
vgl. ebd. S. 36f.
32
ebd. S. 37
33
vgl. ebd. S. 40
34
ebd. S. 41
35
Görner: Das Tagebuch, 1986, S. 11
36
ebd. S. 12
37
Börner: Tagebuch, 1969, S. 16
8

Für Ralph-Rainer Wuthenow ist das Tagebuch weniger ein ,,Werk des Erinnerns, sondern eines
der Beobachtung, der Reaktion und der Kontrolle", aber er räumt ein: ,,[V]ielleicht dient es auch
einmal als Magazin für künftiges Erinnern."
38
Für Arno Dusini geht es beim Tagebuchschreiben um das schlichte Bedürfnis, ,,das eigene Leben
mit der Hand aufzuschreiben, es durch die eigene Erfahrungswelt zu brechen und als eine
Stimme der universalen Partitur der Lebensgeschichten einzuschreiben."
39
Nach Vogelgesang muss das Tagebuch als eine ,,grundsätzliche Weise menschlicher
Selbstäußerung verstanden werden. Es ist ­ noch viel mehr ­ das Sichfinden des Individuums."
40
Der Aspekt der Identitätsbildung spielt in allen Tagebüchern eine große Rolle, insbesondere im
Jugendtagebuch.
41
Sibylle Schönborn formuliert, dass ,,[e]rst wer schreibt, [...] sich selbst als differenzierte, sich
entwickelnde Person konstituieren, ein Bewußtsein von der eigenen Geschichte herstellen
[kann]."
42
Auch Boerner betont den Effekt der ,,bewußten Persönlichkeitsbildung" durch das
schriftliche Bemühen ,,eigene Wandlungen zu begreifen [...], eigene Schwächen zu überwinden
und sich durch die tägliche Zwiesprache mit sich selbst zu vervollkommnen"
43
.
Wilhelm Grenzmann bemerkt, dass Tagebücher größtenteils inmitten von persönlichen
Krisenzeiten stünden
44
: ,,Die Hinwendung zum eigenen Ich und die Niederschrift der Erlebnisse
in ein Tagebuch sind immer ein Zeichen für das Bedürfnis, bei sich selbst Einkehr zu halten und
Tun und Lassen vor dem heimlichsten Richter, dem eigenen Gewissen, zu rechtfertigen und zu
verantworten."
45
Grenzmann sieht im Tagebuch außerdem ein Medium der geistigen Autonomie
des Individuums, denn
Tagebücher sind oft ein Ausbruch aus den gewohnten Bahnen des Denkens und der Ausdruck
des Willens, sich selbst unabhängig von anderen zu finden. Das kann zur Absonderung und zur
Vereinzelung führen, oft zum vollendeten Widerspruch gegen die allgemeinen
Denkgewohnheiten, sei es zur Gesellschaft, zum Staate oder zur Kirche.
46
Im Hinblick darauf ist es nicht verwunderlich, dass das Tagebuch als Ausdrucksmittel des
Individuums im Zuge der Aufklärung und dem damit verbundenen wachsenden
Selbstbewusstsein der Menschen im 18. Jahrhundert entstand und sich ausbreitete, wie im
Kapitel 2.2. noch zu zeigen sein wird.
38
Wuthenow, ebd. S. 16
39
Dusini: Tagebuch, 2005, S. 55f.
40
Vogelgesang: Studien, 1971, S. 26
41
vgl. Spitznagel, In: Gold [u.a]: Absolut privat!?, 2008, S. 104
42
Schönborn: Das Buch der Seele, 1999, S. 2
43
Boerner: Tagebuch, 1969, S. 22
44
vgl. Grenzmann, In: Wirkendes Wort, 1959, S. 85
45
ebd. S. 85
46
ebd. S. 85
9

Meines Erachtens liegt ein weiterer, von allen zitierten Autoren unerwähnter Sinn im Führen
eines Tagebuchs darin, starke Emotionen aufzuschreiben, damit zu relativieren und abzustreifen.
Mit der Verschriftlichung eines Problems kann m.E. bisweilen ein völlig neuer Blickwinkel auf
dieses gewonnen werden.
Eine kreative Funktion erfüllt das Tagebuch außerdem als literarische Werkstatt, in der
Schriftsteller Ideen, Skizzen zu künftigen Werken oder ganze Erzählungen niederschreiben.
47
Im zu Beginn dieses Kapitels erwähnten Zitat, spricht Kafka von einem ,,Zwiegespräch"
48
, das er
während des Schreibens mit sich selber führe. Dies widerspricht der landläufigen Auffassung,
dass Tagebuchschreiben ein Monolog sei.
Jedoch gibt es im Diarium auch Dialogstrukturen, wie das nächste Kapitel zeigen soll.
1.3. Die Dialogstruktur im Tagebuch
Schreiben bedeutet mit sich selbst in den Dialog zu treten:
Dass die Überführung des Eigensten in die symbolische Ordnung der Schrift bereits die
Perspektive verdoppelt, führt viele Diaristinnen und Diaristen zu der Einsicht, dass sie
schreibend schon nicht mehr allein mit sich sind, auch wenn sie ­ anders als die Blogs ­ gar nicht
davon ausgehen (möchten), dass ihr Tagebuch jemals von jemand anderem als von ihnen selbst
gelesen wird.
49
Christiane Holm sieht eine ,,unhintergehbare[...] Bühnenhaftigkeit des ,Sich-Selber-Lesens' im
direkten Vollzug des Schreibens" und eine ,,mitlaufende Vorstellung des zukünftigen
Wiederlesens" als Gründe für die dialogische Struktur des Tagebuchs.
50
So bezögen sich auch
geheime Tagebücher im negativen Sinne auf eine unbefugte Leserschaft, die sie beständig
mitdenken.
51
Adressaten, die in manchen Tagebüchern angesprochen werden, können vielerlei Gestalt haben:
,,[D]ie einer göttlich allwissenden Instanz, eines zukünftigen Lese-Ichs, eines fiktiven Gefährten,
eines gesichtslosen Publikums, oder [das] Buch [...] selbst [tritt] als Gegenüber auf."
52
Der römische Politiker und philosophische Schriftsteller Seneca (ca. 1 ­ 65 n. Chr.) konstatierte,
man schreibe, um das Geschriebene während des Schreibens selbst zu lesen; dabei erfülle sich
ein moralischer Zweck
53
: ,,Es dient der Ausbildung eines sittlichen Habitus und damit letztlich
der Selbst-Bildung."
54
In einem Tagebuch trete der Schreibende in Interaktion mit sich selbst, so
47
vgl. Boerner: Tagebuch, 1969, S. 23
48
Kafka: Tagebücher, 1954, S. 422
49
Holm, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 30
50
vgl. ebd. S. 31
51
vgl. ebd. S. 31
52
ebd. S. 31
53
vgl. Butzer, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 94
54
ebd. S. 94
10

Günter Butzer, und definiere sich dadurch immer wieder neu.
55
Doch wenn sich der
Tagebuchschreiber mit sich selbst unterhält ­ wer spricht da mit wem?
Marc Aurels [römischer Kaiser, 121 -180 n. Chr.] Antwort lautet: Es spricht das Ich als ein
Anderer, als eine Stimme, die sich zugleich innerhalb und außerhalb des Schreibenden befindet
und von diesem ,Nicht-Ort' aus die Rede determiniert. Denn der Tagebuch-Schreiber unterliegt
vor aller kommunikativen Differenzierung eines schreibenden und eines adressierten Ich einer
grundlegenden Spaltung, die das zweipolige Selbstgespräch in einen discours á trois, eine Rede
zu dritt, überführt.
56
Parallel zu Marc Aurels Auffassung, für den die Weltvernunft (lógos) jener dritte Anderer war,
kann nach Butzer jede Schreibpaxis im Tagebuch aufgefasst werden: Es gibt ein
gespaltenes Selbst, das im Schreiben zur Sprache kommt und sich verändert, um sich neu zu
bilden. Der Autor spricht mit einer fremden Stimme, die er sich während des Schreibens erst
aneignen muss. Solange dieser Prozess nicht vollendet, solange die fremde Rede nicht zur
eigenen geworden ist, wird das Selbstgespräch in Gang gehalten.
57
Butzer zufolge schreibe man Tagebuch also nicht allein, egal, ob man nun an Aurels
Weltvernunft oder an einen Gott glaubt
58
, denn:
In dem historischen Moment nun, in dem die Instanz des Dritten vollständig in den
Schreibenden (als Leiblichkeit, Sexus und Unbewusstes schlechthin) hinein genommen wird, -
und dieser Moment fällt, wie zu sehen war, mit der Entstehung des neuzeitlichen Tagebuchs in
eins -, in diesem Moment entäußert sich der Blick eines interpretierenden Beobachters, der
teilweise vom Schreibenden selbst okkupiert wird, prinzipiell aber [...] die Instanz der Anderen
ist.
59
Mit dem Aufkommen des Weblogs sind die dritte Instanz reale Personen, die als
Internetbenutzer das Online-Tagebuch eines Schreibenden lesen und gegebenenfalls
kommentieren können. Welche Auswirkungen diese Öffentlichkeit auf das digitale Tagebuch
hat, ist Thema von Kapitel 1.5 im zweiten Teil dieser Arbeit.
1.4. Selbstdarstellung, Selbststilisierung und Selbstbehauptung
Vogelgesang konstatiert die Selbstdarstellung und die Selbststilisierung als die
Gestaltungsprinzipien im Tagebuch, die einhergehen mit der Selbstbehauptung des Schreibers.
60
So schreibt Vogelgesang, dass es einem Diarist nicht nur um das nüchterne Notieren von
faktischen Dingen gehe, sondern um die eigene Orientierung und das ,,Bewahren oder Finden
55
vgl. Butzer, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 95
56
ebd. S. 95
57
ebd. S. 95
58
vgl. ebd. S. 96
59
ebd. S. 96
60
vgl. Vogelgesang : Studien, 1971, S. 43, 70 u. 79
11

des Selbst."
61
Die Relation von Realität und Selbst soll dabei so genau wie möglich ausgearbeitet
werden.
62
Dabei hilft die Selbstdarstellung als ein Gestaltungsprinzip, das ,,wesentlich auf das Ich des
Schreibers zielt, während das autobiographische Vorgehen in [...] Memoiren und
Lebenserinnerungen [...] auf den wechselseitigen Bezug zwischen Ich und Umwelt"
63
ausgerichtet ist.
Damit ist auch die Vorstellung verknüpft, dass eine intensive schriftliche Selbstbeobachtung zur
Wahrheit führe; das galt insbesondere für die Tagebuchschreiber des 18. Jahrhunderts.
64
Zweifel an der menschlichen Fähigkeit das eigene Ich zu erkennen, setzten erst nach Jacques
Rousseau ein; sie durchziehen die Tagebücher des 19. und 20. Jahrhunderts.
65
Die Selbstdarstellung und die Selbststilisierung gehen nach Vogelgesang einher mit der
Fiktionalisierung des Ichs, d.h. das ,,sprachlich fixierte autobiographische Ich des Tagebuchs ist
nie völlig das wahre Ich"
66
und nicht identisch mit der historischen Person.
67
Meike Heinrich-Korpys konstatiert dagegen, dass im autobiographischen Tagebuch realer Autor
und Tagebuch-Schreibender eins seien
68
:
Da im Tagebuch der Tagebuchschreiber seine eigenen Erlebnisse, Gedanken und Gefühle
niederschreibt, lässt sich das Bewußtsein des Tagebuchs ungebrochen zurückführen auf den
realen Autor. Das Tagebuch-Ich ist keine Erfindung, sondern Spiegelbild des realen,
identifizierbaren Autors.
69
Nicole Seifert indessen betont eine ,,Diskrepanz zwischen gelebtem und im Tagebuch
beschriebenen Leben, die die Diaristen und Diaristinnen selbst im Wiederlesen ihrer Tagebücher
feststellen"
70
, die trotz eines Willens zur Aufrichtigkeit entsteht. Ein Tagebuch wirke stets
lebenah und authentisch, da die Ich-Perspektive und die eindeutigen Datierungen dies
evozieren.
71
Börner vermutet in Tagebüchern gar manche Unwahrheit, eben wegen der mehr oder weniger
bewussten Selbststilisierung, die begünstigt ,,sich eher so zu sehen, wie sie sein möchten als wie
sie sind. Ungewollt verfälschen sie dadurch die Darstellung der seelischen Wirklichkeiten.".
72
61
Vogelgesang : Studien, 1971, S. 43
62
vgl. ebd. S. 43
63
ebd. S. 44
64
vgl. ebd. S. 45f.
65
vgl. ebd. S. 46
66
ebd. S. 70
67
vgl. ebd. S. 70
68
vgl. Heinrich-Korpys, 2003, S. 83
69
ebd. S. 83
70
Seifert, In: Hof [u.a.]: Inszenierte Erfahrung, 2008 S. 41
71
vgl. ebd. S 40
72
Boerner: Tagebuch, 1969, S. 31f
12

Die fiktionale Selbstverfremdung ist nach Manfred Jurgensen nicht jedem Tagebuchschreiber
bewusst
73
:
Bestürzt und verwundert muß er zur Kenntnis nehmen, daß es im Wesen der Sprache überhaupt
liegt, nicht bloß Spiegel zu sein. Dokumentarisch-biographische Ich-Beschreibungen verwandeln
sich in einen fiktionalen Ich-Charakter, in eine literarische Gestalt, die sprachlich und formal
über ein Eigenwesen verfügt
.
74
Zur Selbststilisierung hinzu kommt die Eitelkeit; beide beeinflussen sich gegenseitig.
75
Eitelkeit
zeigt sich als Persönlichkeitsteil des Autors vor allem in einer nachträglichen Bearbeitung des
zur Veröffentlichung vorgesehenen Tagebuchs.
76
Johann Caspar Lavaters und Friedrich Hebbels
Tagebücher wurden publiziert, demzufolge sich auch in ihnen Eitelkeit findet, wie Kapitel 2.2.
und 2.3. zeigen werden.
Die Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip sieht Vogelgesang eng verknüpft mit dem Bemühen
des modernen Autors um Selbstbehauptung seiner Person im Tagebuch.
77
In ihm ,,kämpft der
Schreiber um die Bewahrung seiner Person und fragt zugleich nach der Rechtfertigung seines
Daseins und seines Tuns."
78
Insbesondere Franz Kafkas Diarien spiegeln diesen Kampf wider;
im Kapitel 2.4. soll dies näher erläutert werden.
Tagebücher, die in Exilen, Gefängnissen und Lagern entstanden, sind Orte der Selbstbehauptung,
bei der es nicht nur um die Bewahrung der Individualität geht, sondern auch um das nackte
Überleben.
79
Damit wird das Tagebuch auch ein ,,Zufluchtsort für eine unverhüllte und ehrliche
Bestandsaufnahme der politischen Situationen und Gegebenheiten [...]"
80
. Hier zeigt sich ein
Potential der sozialen, sogar politischen Einmischung des Diariums, welches mit dem
öffentlichen Weblog sehr viel stärker in den Vordergrund rückt; siehe dazu auch Kapitel 1.6.
Das Tagebuch impliziert damit nach Vogelgesang auch einen erzieherischen Charakter:
[Ü]ber die individuelle Bedeutung des Diariums für den Autor wird Allgemeingültigkeit
angestrebt, denn das Aufzeigen des eigenen Weges erfolgt im Bewußtsein dessen, daß das eigene
Erleben exemplarisch ist. [...] Im Tagebuch findet so die Beobachtung der eigenen Entwicklung
statt ­ ein unverkennbar autodidaktisches Moment, neben das, weil der Diarist sich als
exemplarischen Menschen betrachtet, ein pädagogisches Moment tritt: der Tagebuchschreiber
will erzieherisch wirken, durch das Beispiel, das er selber gibt. Eine gewisse Form von
Selbstbewusstsein, von Eitelkeit, wenn man so will, ist damit verbunden.
81
73
vgl. Boerner: Tagebuch, 1969, S. 7
74
Jurgensen ebd. S. 7
75
vgl. Vogelgesang: Studien, 1971, S. 70
76
vgl. ebd., S. 71
77
vgl. ebd. S. 79
78
ebd. S. 79
79
vgl. ebd. S. 89
80
ebd. S. 90
81
Vogelgesang: Studien, 1971, S. 81
13

Insbesondere die Tagebücher im 18. Jahrhundert beanspruchten für sich einen erzieherischen
Wert, und auch Lavater verfolgt in seinem Tagebuch eine derartige pädagogische Absicht, siehe
Kapitel 2.1.
.
1.5. Das private und das literarische Tagebuch
Nach Boerner
82
wird ein Tagebuch literarisch, wenn es das ,,Stadium einer nicht mehr zufälligen
oder beiläufigen, sondern einer beabsichtigten literarischen Produktion" erreiche und damit die
Grenze zwischen Privatem zum Öffentlichen überschreite.
Grenzmann zufolge ändere sich dabei auch die Ausdrucksform, denn
es ist etwas anderes, ob man ein Tagebuch nur Aug' in Auge mit sich selbst oder dem heimlichen
Partner des eigenen Inneren führt oder den Blick auf den künftigen Leser gerichtet hält, dessen
Urteil bei der Wahl des Wortes, dem Bau der Sätze, bei der Darstellung der Sache mit
bestimmend ist und die Einsamkeit des Schreibers aufhebt.
83
Auch Meike Heinrich-Korpys
84
sieht mit der ,,Entscheidung zur Veröffentlichung [...] die
Selbstrezeptivität des privaten Tagebuchs durchbrochen", der Charakter des Selbstgesprächs und
die Identität von Erzähler und Leser gehen verloren.
Boerner empfindet es jedoch als schwierig, konkrete Unterschiede zwischen einem privaten und
literarischen Tagebuch festzumachen, hinsichtlich des Inhalts Tagebücher sogar als unmöglich.
85
Bezüglich der formalen Gesichtspunkte, stimmt er mit Grenzmann, der als Kriterien des
literarischen Tagebuchs den ,,'Zwang zu begrifflicher und sprachlicher Fixierung',
beziehungsweise der ,energische Wille zur kunstvollen Ausgestaltung des
Niedergeschriebenen'"
86
sieht.
Trotzdem bleiben die Frage, wann ein Tagebuch genau aus der privaten in die literarische Sphäre
trete, und die nachträgliche Redigierung eines Originaltagebuchs hinsichtlich Inhalts und Stil als
Problemfelder bestehen.
87
Jurgensen konstatiert zusätzlich, dass im literarischen Tagebuch die außerliterarische Identität
des Schreibers nicht mehr zu erkennen ist, da das Ich zu stark fiktionalisiert wird: ,,Das Ich
gewinnt die Identität eines fiktionalen Charakters, vergleichbar mit Romangestalten oder
Rollenfiguren eines Dramas."
88
82
Boerner: Tagebuch, 1969, S. 26
83
Grenzmann, In: Wirkendes Wort ,1959, S. 86
84
Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, 2003, S. 95
85
vgl. ebd. S. 26
86
Börner: Tagebuch, 1969, S. 27
87
vgl. ebd. S.27
88
Jurgensen: Das fiktionale Ich, 1979, S. 32
14

Fiktionalität steht als Merkmal des literarischen Tagebuchs also in Opposition zum
autobiographischen Wahrheitsanspruch des ursprünglichen Tagebuchs.
89
Dass im Tagebuch die Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktizität verschwimmen, erkennt
auch Oesterle:
Das Tagebuch lebt an, von und auf der Grenze von Leben und Schreiben, von Faktum und
Fiktion. [...] es hat Anteil an der Lebenswelt und an einer fiktiven Sonder- und partialen
Gegenwelt. Daher hat das Tagebuch häufig diese Doppelsichtigkeit von Alltäglichkeit und
Artifizialität. Es lebt von einem eigensinnigen Wechsel von Leben und Schreiben."
90
Im Folgenden sollen Friedrich Hebbels und Franz Kafkas Diarien als Beispiele literarischer
Tagebücher herangezogen werden.
Dies sind sie auch deshalb, weil sie ihre Tagebücher als Schreibwerkstatt benutzten, d.h. sie
entwarfen in ihnen literarische Skizzen späterer Werke.
Vogelgesang
91
konstatiert, dass in der Tat die ,,Zahl der Nur-Tagebuchschreiber [unter den
Schriftstellern, Anm. d. Verfassers] gering" sei und das moderne Tagebuch bewusst vom Autor
ins Gesamtwerk integriert werde:
Der passagenweise Werkstattcharakter des Diariums scheint geradezu ein typisches Merkmal zu
sein. Damit ist natürlich nicht das rein Merkheft gemeint, das bloße Arbeitsnotizbuch, sondern
sehr wohl jenes Diarium, das man zurecht als literarisches Tagebuch bezeichnen kann, das aber
zugleich den fließenden Übergang zum eigentlichen Merkbuch als besonderes Charakteristikum
des modernen Diariums nachweist.
92
Nach Boerner fungiere ein solches Werkstatt-Tagebuch als Speicher von Einfällen, Reflexionen
und Stimmungsbildern, es diene zur Vorbereitung und Ausarbeitung künftiger Werke.
93
Inwiefern dies bei Hebbel und Kafka der Fall ist, soll in den entsprechenden Kapiteln über die
Tagebücher der zwei Autoren erläutert werden.
2. Die Genese des Tagebuchs
2.1. Frühe Formen des Tagebuchs
Vorläufer des modernen Tagebuchs finden sich bereits in der Spätantike, beispielsweise die
Aufzeichnungen des römischen Kaisers Marc Aurel (121 ­ 180 n. Chr.) oder die Bekenntnisse
(Confessiones) des römischen Philosophen Augustinus (354 - 430 n. Chr.).
94
89
vgl. Heinrich-Korpys: Tagebuch und Fiktionalität, 2003, S. 97
90
Oesterle, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, S.
91
Vogelgesang: Studien, 1971, S. 102
92
ebd. S. 102
93
vgl. Börner: Tagebuch, 1969, S. 23
94
vgl. Butzer, In: Gold 2008, S. 94
15

Ein starker Anstieg der Tagebuchschreibung ist jedoch erst mit dem Beginn der Neuzeit
95
zu
verzeichnen.
96
Als Träger von Erinnerung hat das Tagebuch eben diese Funktion mit den Chroniken
gemeinsam, die seit der Antike ein wichtiges Arbeitsmittel der Historiographie sind und die seit
der Renaissance von Schriftkundigen genutzt wurden, um wichtige persönliche Ereignisse aus
dem Familienleben (Geburten, Todesfälle, Feste, Einkäufe, Ernten etc.) festzuhalten.
97
Seit Mitte
des 16. Jahrhunderts kam eine nach Tagesportionen gegliederte Chronikform auf, das
Calendarium Historicum, in dem die meist konfessionell geprägten Ereignisse nicht nach einer
historischen Reihenfolge, sondern nach den 365 Tagen eines Jahres geordnet sind.
98
Das Calendarium Historicum dürfte nach Ansicht von Christiane Holm
99
seine Entstehung dem
wenige Jahre zuvor entwickelten Kalender-Buch verdanken, einem Buch mit ,,erbaulichen und
historiographischen Texten" dessen entscheidendes Merkmal die Leerseiten sind, die Platz für
eigene Eintragungen boten. Jedoch sind die Schreibkalender kaum als Tagebücher gelesen
worden, da die Einträge meist ,,ernüchtern und unpersönlich" sind und von ihrer Gestaltung eher
an heutige Terminkalender erinnern.
100
Neben dem Kalender ist auch das Rechenbuch ein Vorgänger des modernen Tagebuchs: ,,Bereits
1559 bezeichnete ein Kaufmann sein Rechenbuch, in dem alle Ein- und Ausgaben verzeichnet
werden als ,Tagbuch'."
101
Der Tag greift jedoch nicht nur als Maßeinheit für die Bilanzierung, sondern auch in der
Verortung in unbekannten Orten
102
:
So nannte Johannes Kepler 1613 sein folgenreiches Beobachtungsbuch der Gestirne ein
,Tagebuch', da die Messungen der Gestirnslaufbahnen im Tagestakt erfolgten. Als
Orientierungsparameter auf See findet der Tag im Logbuch bis heute seine topographische
Anwendung [...].
103
Boerner betont, dass es für die im 15. bis 17. Jahrhundert entstandenen Tagebücher besonders
bezeichnend gewesen sei, dass sie auf einen relativ kleinen Kreis von Schreibkundigen beschränkt
blieben:
Eine [...] erstellte Berufs-Statistik zeigt für die Epoche vornehmlich Astrologen, Mathematiker,
Abgeordnete des Parlaments, Schreiber, Kaufleute und Geistliche. Entsprechend diesen
95
definiert nach Helferich als der Zeitraum von Descartes (geboren 1596) bis Hegel (gest. 1831), vgl. Helferich:
Geschichte der Philosophie, 2005, S. 158
96
vgl. Boerner: Tagebuch, 1969, S. 40
97
vgl. Holm, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 12
98
ebd. S. 12
99
ebd. S. 13
100
vgl. ebd. S.13
101
ebd. S. 15
102
vgl. ebd. S. 18
103
Holm, In: Gold [u.a.]: Absolut privat!?, 2008, S. 18
16

Berufsgruppen überwiegen als Formen des Tagebuchs die Chroniken, Memorialbücher,
Beobachtungs-Journale und Reiseberichte.
104
Calendarium Historicum, Rechenbuch und Logbuch waren die Vorläufer des modernen
Tagebuchs, das schließlich im 18. Jahrhundert entstand; just in jener Zeit, als das Individual- und
Selbstbewusstsein des Menschen im Zuge der Aufklärung begann zu erstarken.
2.2. Zwischen Religion und erstarkenden Selbstbewusstsein - Lavater's Geheimes Tagebuch
Vogelgesang konstatiert die ,,'Entdeckung' des Individuums, die Herausbildung eines
Individualgefühls"
105
als die Grundvoraussetzung für die Entstehung der Tagebuchsliteratur:
,,Zug für Zug, über Jahrhunderte hinweg, lässt sich ein immer deutlicher zutage tretendes
Bewußtsein der Selbstständigkeit des Individuums feststellen."
106
In der Tat kam es im 18. Jahrhundert zu einem signifikanten Aufschwung des
Tagebuchschreibens. Die Gründe hierfür liegen zum ersten in einem umfassenden
Alphabetisierungsprogramm, dass eine weit verbreitete Verschriftlichung der Kommunikation
ermöglichte
107
, und zum zweiten in den bedeutenden Wandlungen des geistigen Klimas
108
:
,,Insbesondere gewann die Tendenz zum Subjektivismus, die sich ebenso in den zur
Verinnerlichung neigenden religiösen Strömungen wie in der frühen Aufklärung ausdrückte,
entscheidenden Einfluß auf das allgemeine Interesse am Tagebuch."
109
Oder wie es Claus
Vogelgesang ausdrückt: ,,Erst die Strömungen des Pietismus und der Aufklärung formen die
Selbstaussagen auf eine neue Weise."
110
Auch Boerner sieht die Anfänge der Tagebuchschreibung ­ neben den neuen moralischen
Bestrebungen der Aufklärung
111
- im Pietismus verwurzelt; das Ziel der Brüdergemeinden war es
,,Klarheit über sein Wachstum im Glauben"
112
und den damit zusammenhängenden ,,Stand der
Gnade"
113
zu erlangen: ,,Als ideales Werkzeug für solche Gewissensprüfungen bot sich ein
kontinuierlich geführtes Tagebuch. [...] Das Vorlesen dieser schriftlichen Beichten bildete
vielfach einen Teil der gemeinsamen Andachtsübungen."
114
Der Pietismus steigerte damit das
Interesse des Einzelnen an sich selber.
115
104
Börner: Tagebuch, 1969, S. 41
105
Vogelgesang: Studien, 1972, S. 123
106
ebd. S. 123
107
vgl. Koschorke, In: Schings: Der ganze Mensch, 1994, S. 605
108
vgl. Boerner: Tagebuch, 1969, S. 42
109
ebd. S. 42
110
Vogelgesang: Studien, 1971, S. 132
111
vgl. Boerner: Tagebuch, 1969, S. 43
112
ebd. S. 42
113
Boerner: Tagebuch, 1969, S. 42
114
ebd. S. 42
115
vgl. Vogelgesang: Studien, 1971, S. 141
17

Im Mittelpunkt des pietistischen Tagebuchs stand jedoch nicht ausschließlich der Mensch allein,
sondern dessen Verhältnis zu Gott
116
: ,,Und doch ist der Pietismus eine entscheidende Station
innerhalb des Prozesses der Selbstbewußtwerdung des Einzelnen; immer deutlicher ergibt sich
das Bild einer sich mehr und mehr selbst begreifenden und sich selbst fassenden
Persönlichkeit."
117
Sibylle Schönborn widerspricht der Auffassung die Tagebuchschreibung wurzele im individuellen
religiösen Erleben des Pietismus:
Im Kreis der Pietisten finden sich keine Tagebücher, deren Führung dem vorrangigen Motiv
der Selbstbeschreibung folgt. Vielmehr entstehen sie zumeist als reine Rechenschafts- oder
Arbeitsberichte des äußeren Lebens (Typus Missionsberichte im Halleschen Pietismus) bzw.
des Lebens und Wirkens in der Gemeinde (Herrnhut, Schwaben, Westfalen).
118
Erst wo literarisch geschulte Schreiber ,,individuelle Selbstbeschreibungen auf dem Hintergrund
religiöser Selbsterfahrungsmodelle entwerfen"
119
, entstünden Tagebücher als
Selbstbeschreibungen.
Dies ist der Fall in den Tagebüchern des reformierten Pfarrers, Schriftstellers und Philosophen
Johann Caspar Lavater (1741 -1801).
Seine Diarien spiegeln den Übergang von religiöser zur anthropologischen Schreibmotivation.
Schönborn
120
nennt ihn einen ,,Tagebuchschreiber par exellence", der nicht nur seit seinem
zwanzigsten Lebensjahr Tagebuch führte, sondern es auch als Erster publizierte und damit als
,,eigenständige literarische Gattung" etablierte, ,,die er der bedeutendsten Prosagattung, dem
Roman, an die Seite stellt." Die Veröffentlichung seines Tagebuchs machte die diaristische
Textgattung zum ,,Gegenstand des literarischen Diskurses."
121
Dies gelte nach Schönborn besonders für Lavater Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter
seiner Selbst aus dem Jahr 1769.
122
Seine Publikation fand ein breites Publikumsinteresse und
wurde zum ,,Vorbild und Grundmodell der Tagebuchführung"
123
.
Ziel des Geheimen Tagebuchs ist die Selbstprüfung und die Selbstkontrolle nach den göttlichen
Geboten.
124
So schreibt Lavater in seinem Tagebuch: ,,Wer nicht sein eigener Vertrauter ist, der
kann nie ein Freund Gottes und der Tugend werden."
125
, und stellt zwölf tägliche Grundsätze auf,
die zum größten Teil die christlichen Rituale wie zum Beispiel Beten betreffen; ferner will er
116
vgl. Vogelgesang: Studien, 1971, S. 141
117
ebd. S. 141
118
Schönborn: Das Buch der Seele, 1999, S. 285
119
ebd. S. 285
120
vgl. ebd. S. 88
121
Schönborn: Das Buch der Seele, 1999, S. 88
122
vgl. ebd. S. 92
123
Schönborn: Das Buch der Seele, 1999, S. 92
124
vgl. ebd. S. 97
125
Lavater: Geheimes Tagebuch, 1771, S. 12
18

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863418281
ISBN (Paperback)
9783863413286
Dateigröße
330 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Dresden
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Autobiografie Chronologie Subjektivität Tagebuchliteratur Internetpublikation

Autor

Jana Richter, B.A., wurde 1988 in Görlitz geboren. Ihr Studium der Literatur- und Kulturwissenschaft und Philosophie an der Technischen Universität Dresden schloss die Autorin im Jahre 2011 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit entstand vor dem Hintergrund dieser Studienfächer. Zurzeit studiert die Autorin 'Religion und Kultur' (M.A.) an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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