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Tausche Sex gegen Nahrung?: Eine Untersuchung über das gleichgeschlechtliche soziosexuelle Verhalten weiblicher Bonobos (Pan paniscus) bei der Nahrungsaufnahme

©2011 Examensarbeit 58 Seiten

Zusammenfassung

Das Teilen von Nahrung ist kein seltenes Phänomen unter Primaten. Es wurde unter anderem bei Kleideraffen, Gibbons, Schimpansen und auch bei den in dieser Studie behandelten Bonobos beobachtet. In den zuerst genannten Fällen kann dieses Verhalten meist auf Basis der Verwandtschaftsselektion erklärt werden. Betrachtet man jedoch das Teilen von Nahrung bei Bonobos, treten zwei Besonderheiten in den Vordergrund.
Erstens teilen am häufigsten die aufgrund der patrilinearen Gruppenstruktur nicht oder nur entfernt verwandten Weibchen die Nahrung miteinander. Dies lässt die Frage aufkommen, welche Faktoren dieses Verhalten zwischen nicht-verwandten Tieren begünstigen.
Zweitens tritt das Teilen von Nahrung oft zeitnah zu sexueller Interaktion auf. Hierzu beschreibt z.B. Frans de Waal (1998), einer der renommiertesten Forscher im Bereich Verhaltensforschung bei Primaten, Situationen, in denen die Bereitschaft eines Männchens zum Teilen von Nahrung mit einem Weibchen durch eine vorangegangene Kopulation positiv beeinflusst zu sein schien. Sowohl Weibchen als auch Männchen forderten dabei zur Kopulation auf, wobei Weibchen anschließend stets von der Nahrung des Männchens fressen konnten. Seine Beobachtungen interpretierte de Waal (1998) dahin gehend, dass Männchen Nahrung gezielt dazu einsetzen, um mit Weibchen zu kopulieren und Weibchen ihrerseits die sexuelle Attraktion der Männchen nutzen, um Zugang zu einer begehrten Nahrung zu erlangen. Nun kann dieses Verhalten in heterosexuellen Paarkonstellation leicht durch die Begrenzungsfaktoren des reproduktiven Erfolges beider Geschlechter erklärt werden, welche für Weibchen durch den Zugang zu hochwertiger Nahrung und für Männchen durch den Zugang zu fruchtbaren Weibchen bestimmt sind. Amy Randall Parish (1994) beobachtete jedoch ein ähnliches Verhalten zwischen Weibchen untereinander. Wenn Weibchen die Nahrung miteinander teilten, kam es dabei ebenfalls häufig zur sexuellen Interaktion in Form des für Bonobo-Weibchen typischen Genito-Genital-Reibens (GG-rubbing). Auch Parish vermutete einen engen Zusammenhang zwischen dem Teilen von Nahrung und dem Auftreten von Genital-Kontakt entsprechend eines Austausches von sexueller Interaktion und Nahrung zwischen den beteiligten Tieren ("Sex-for-Food-Exchange"). Sie konnte in einer experimentellen Studie an in Gefangenschaft lebenden Bonobos zeigen, dass dieser "Sex-for-Food-Exchange" regelmäßig unter Weibchen vorkommt. Bisher wurden jedoch keine Daten über den zeitlich […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2 Biologie und Lebensweise von Pan paniscus

2.1 Systematik

Die heutige Ordnung der Primaten umfasst rund 350 rezente Arten. Diese lassen sich in die Unterordnung der Strepsirrhini (Feuchtnasenprimaten) und der Haplorrhini (Trockennasenprimaten) einordnen. Die Vertreter dieser Gruppen unterscheiden sich durch das Vorhandensein des Rhinariums (Schnauze) bei den Strepsirrhini und dessen Rückbildung bei den Haplorrhini. Rezente Infra­ordnungen der Haplorrhini sind die Tarsiiformes (Koboldmakis) und die Anthropoidea (eigentliche Affen). Tarsiformes sind durch vergrößerte Augen­höhlen und die Verlängerung des Ectotympanicums zu einem äußeren Gehörgang charakterisiert. Die Anthropoidea weisen hingegen kleinere Augenhöhlen auf, die durch eine Knochenwand nach hinten verschlossen sind. Die Infraordnung der Anthropoidea schließt alle höheren Affen ein und teilt sich in die zwei Großgruppen Platyrrhini (Neuweltaffen oder Breitnasenaffen) und Catarrhini (Altweltaffen oder Schmalnasenaffen). Diese Gruppierung gründet sich zum einen auf die geografische Verbreitung der zugehörigen Arten in Zentral-und Südamerika (Neuweltaffen) und Asien, Afrika und Europa (Altweltaffen), zum anderen auf die Anordnung der Nasenöffnungen. Während diese bei den Platyrrhini deutlich voneinander getrennt ist, findet man bei den Catarrhini nur eine dünne Scheidewand. Die Gruppe der Catarrhini unterteilt sich weiter in zwei Überfamilien: Cercopithecoidea (Hundsaffen) und Hominoidea (Menschenaffen und Mensch). Die Hominoidea werden in die Familien Hylobatidae (Gibbons) und Hominidae (Große Menschenaffen und Mensch) gegliedert. In die Familie der großen Menschenaffen gehören die Unterfamilien Ponginae, mit dem einzigen rezenten Vertreter Pongo pygmaeus (Orang-Utan), und Homininae, in die sich die Gattungen Gorilla (Gorilla) und Pan (Schimpansen) einordnen. Zur Gattung Pan gehören Pan troglodytes (Schimpanse[1] ) mit den zugehörigen Unterarten und der in dieser Arbeit behandelte Pan paniscus (Bonobo), der bis Anfang des 20.Jh. noch als Zwergschimpanse bezeichnet und damit als eine Unterart des gemeinen Schimpansen gehandelt wurde (Geissmann, 2003).

2.2 Geografische Verbreitung und Lebensraum

Der Bonobo ist ausschließlich in den tiefliegenden primären Regenwäldern des zentralen Kongo-Beckens, der Cuvette Centrale (Abbildung 1), in der Demokratischen Republik Kongo in Afrika heimisch (Ziegler, 2004). Sein Lebensraum ist im Osten, Norden und Westen vom südlichen Ufer des Kongo-Flusses eingegrenzt. Im Süden schließt das Gebiet durch das Kasai/ Sankuru- Flusssystem ab. Da Bonobos nicht schwimmen können, stellt diese Gebiets­begrenzung durch Flüsse für die Population eine natürliche Barriere dar (Ziegler, 2004). Das Verbreitungsgebiet von Pan paniscus liegt auf einer Höhe von 300-750 Metern und besteht größtenteils aus Regen- und Sumpfwald, weist jedoch vereinzelt Stellen mit Grasland und tropischem Trockenwald auf (Caldecott & Miles, 2005). Der überwiegende Teil der Population findet sich in einem 3000 km2 großen Gebiet zwischen den Flüssen Yekokora und Lamako (Storch et al., 2007). Während man lange davon ausging, Bonobos würden ausschließlich den dichten tropischen Regenwald bewohnen, zeigen neueste Untersuchungen, dass sie sich auch in Galeriewäldern im südlichen Teil der Cuvette Centrale aufhalten (Myers Thompson, 2002). Beobachtungen aus den Forschungsstationen Lamako (White, 1996) und Wamba (Kano & Mulavwa, 1984; zit. nach White, 1992) belegen, dass sie sich auch zeitweise in Sumpf-Gebieten aufhalten.

Schätzungen über die Populationsgröße gehen weit auseinander und reichen von 5.000 (Kano 1984, zit. nach Dupain & van Elsacker, 2001) bis zu über 100.000 Tieren (Thompson, Malenky & Reinartz 1994, zit. nach Dupain & van Elsacker, 2001). Jüngste Studien gehen von einer Bestandsgröße zwischen 10.000 und 20.000 Individuen mit Tendenz zur Abnahme aus (Dupain & van Elsacker, 2001).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 . Geografische Verbreitung von Pan paniscus (schwarz) in der Cuvette Centrale der Demokratischen Republik Kongo (Caldecott & Miles, 2005).

2.3 Gefährdung und Artenschutz

Auf der aktuellen Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN von 2010 wird der Bonobo als gefährdet eingestuft (International Union for Conservation of Nature, 2010). Ein wesentlicher Faktor hierfür ist die fortschreitende Zerstörung seines Lebensraums durch kommerzielle Abholzung und Brandrodung (Ziegler, 2004). Daneben bedeuten die zunehmende Erschließung von Waldgebieten durch den Menschen und Niederlassungen an den Flussufern der zahlreichen Flüsse in der Cuvette Centrale eine erhebliche Störung für die Tiere. Infolgedessen wandern sie in vom Menschen unbewohnte Gebiete ab, was jedoch nach und nach eine erhebliche Verkleinerung ihres Lebensraums bedeutet. Die Jagd auf Bonobos zur Beschaffung von sogenanntem Buschfleisch ist ein weiterer die Art bedrohender Faktor. Durch die schlechten Arbeits- und Nahrungsverhältnisse im Land gibt es eine steigende Tendenz zur Kommerzialisierung des Affenfleisches, welches in umliegende größere Städte exportiert wird (Dupain & van Elsacker, 2001).

Der Salonga National Park im Süden der Cuvette Centrale ist das einzige geschützte Gebiet, in dem Bonobos leben. Jedoch sind sie auch dort kaum vor gut organisierten Wildererbanden geschützt (Ziegler, 2004). Wenige Bonobo-Auffangstationen, wie z. B. Lola ya Bonobo im Westen der Cuvette Centrale, die eng mit PASA (Primates African Sanctuary Alliance) zusammenarbeitet, versuchen verwaiste Jungtiere und verletzte adulte Tiere aufzunehmen, zu pflegen und später wieder auszuwildern. In Europa wird in Zusammenarbeit mit Zoolo­gischen Gärten durch das Europäische Erhaltungszuchtprogramm (EEP) versucht die genetische Diversität der in Gefangenschaft lebenden Bonobos zu erhalten, indem Tiere zwischen Zoos zu Zuchtzwecken getauscht und ausgeliehen werden.

2.4 Merkmale

Bonobos haben eine Lebenserwartung von 50 bis 55 Jahren (de Waal, 1998). Von der Geburt bis zum Alter von fünf bis sieben Jahren besteht eine enge Bindung zwischen Jungtier und Mutter. Im Alter von sieben Jahren beginnt die Pubertät, die bei den Weibchen durch das Anschwellen der Anogenitalregion signalisiert wird (Furuichi, 1989). Die Dauer des Menstruationszyklus liegt zwischen 36 und 46 Tagen. Zwischen dem elften und 15. Lebensjahr bekommen Weibchen normalerweise ihren ersten Nachwuchs (Furuichi, 1989; de Waal, 1998). Die Trag­zeit liegt zwischen 227 und 277 Tagen (Puschmann & Blaszkiewitz, 2007). Weibchen gebären im Schnitt alle vier bis sechs Jahre nur ein Jungtier. Mit 14-16 Jahren sind beide Geschlechter in der Regel voll ausgewachsen (Caldecott & Miles, 2005). Altersangaben über den Eintritt der Weibchen in die Menopause sind nicht ausreichend vorhanden, Schätzungen gehen von einem Alter von 40 Jahren aus (de Waal, 1998). Jurke et al.(2001) beschreiben allerdings ein Bonobo-Weibchen des Frankfurter Zoos, das mit 48 Jahren noch unregelmäßige Menstruations­blutungen hatte.

Bonobos sind mit einer durchschnittlichen Gesamtkörpergröße von 115 cm nicht wesentlich kleiner als Schimpansen (durchschnittlich 120 cm), weshalb die weitläufige Bezeichnung Zwergschimpanse irreführend ist (Coolidge, 1982). Anatomiestudien zeigten sogar eine wesentliche Größenüberschneidung beider Arten (Coolidge, 1982). Männliche Bonobos wiegen im Mittel 43 kg, Weibchen erreichen mit durchschnittlich 36 kg nur 83% des Gewichts von Männchen (Parish, 1995). Im Vergleich zum Schimpansen wirkt der Bonobo graziler und feingliedriger. Er hat längere Beine, Finger und Zehen, jedoch kürzere Arme (Zihlmann, 1996). Der Kopf hat eine vergleichsweise runde Form mit weniger ausgeprägter Augenbrauenwulst und flacherer Schnauze mit dickwandigen Gorilla-ähnlichen Nüstern (de Waal, 1998). Die Ohren sind wesentlich kleiner und weniger seitlich abstehend als beim Schimpansen. Typische Merkmale des Bonobo sind das von Geburt an tiefschwarze Gesicht mit hellen rosafarbenen Lippen und ein ausgeprägter Mittelscheitel mit weit nach außen abstehenden Seitenhaaren an den Wangen. Das schwarze Fell bedeckt den ganzen Körper mit Ausnahme der Hand- und Fußflächen, der Genitalien und des Gesichts, die Brust ist etwas dünner behaart. Bei Jungtieren findet sich am Steiß ein weißes Haarbüschel, das auch teilweise bei adulten Tieren noch vorhanden ist (White, 1996). Verglichen mit Orang-Utan und Gorilla findet sich beim Bonobo nur ein moderater Geschlechtsdimorphismus.

Die für die Gattung Pan typische Genitalschwellung der Weibchen ist bei Bonobos sehr stark ausgeprägt. Schwellung und Scheide liegen weiter vorn zwischen den Beinen als bei Schimpansen. Durch das starke Anschwellen der inneren Labien treten die äußeren Labien stark nach lateral und sind kaum noch als solche zu erkennen (Dahl, 1985). Die ebenfalls stark vergrößerte Klitoris steht vor, ist erektil und frontal orientiert (de Waal, 1998). Furuichi (1987) stellte fest, dass die Größe der maximalen Genitalschwellung individuell unterschiedlich ist und die zyklusbedingte Veränderung besser durch Beschaffenheit und Festigkeit des Genitalgewebes beschrieben werden kann. Jedoch findet auch nach diesen Kriterien in 30 % der Fälle die Ovulation nicht während der maximalen Schwel-lung statt (Reichert et al., 2002). Die Männchen haben aufgrund der promiskui­tiven Paarungsstruktur von Bonobos große Hoden. Auch der Penis ist im Vergleich mit anderen Hominiden zu den größeren Exemplaren zu zählen. Im unerigierten Zustand kann dieser vollständig innerhalb des Körpers verborgen sein (de Waal, 1991). Erigiert setzt er sich durch die rosa Färbung der Penishaut stark vom schwarzen Fell und dem grauen Skrotum ab (Sommer & Ammann, 1998).

2.5 Ernährung

Bonobos sind omnivor mit einer Präferenz für pflanzliche Nahrung, die hauptsächlich aus Früchten (bis zu 78 % des gesamten Nahrungsumsatzes) und Blättern (ca. 19% des gesamten Nahrungsumsatzes) besteht (White, 1992). Beliebte Futterpflanzen sind z. B. der Brotfruchtbaum (Treculia africana) und die afrikanische Mango (Irvingia gabonensis) (Hohmann & Fruth, 2000). Des Weiteren vervollständigen Pflanzensamen, Blüten, Wurzeln, Gräser und Wasser­pflanzen (Hydrocharis chevalieri) die pflanzliche Diät von Bonobos (Caldecott & Miles, 2005). Tierische Eiweiße werden meistens in Form von Arthropoden und Anneliden aufgenommen, darunter Ameisen (Tetraponera aethiops), Termiten (Nasutitermes sp., Microcerotermes foscotibialis), Käfer und ihre Larven, Schmetterlinge, Regenwürmer und Hundertfüßer. Nur gelegentlich werden kleinere Wirbeltiere, wie Flughörnchen (Anomalurus sp.), Fledermäuse (Eidolon sp.) und junge Schopfducker (Cephalophus) gefressen (Bermejo, Illera & Sabater Pí, 1994; Sommer & Ammann, 1998). Aktives Jagdverhalten war lange Zeit nur von Schimpansen bekannt, bis 2008 die Jagd auf kleinere Affen und das anschließende Teilen des Fleisches im Salonga National Park beobachtet werden konnte (Surbeck & Hohmann, 2008). Jüngste Freilandbeobachtungen aus Lui Kotale von berichten von einem Fall von Kannibalismus. Dabei wurde ein aus unbekannten Gründen verendetes Jungtier von mehreren Mitgliedern einer Bonobo-Gruppe inklusive der Mutter und einem älteren Geschwister gefressen. Es wird vermutet, dass es sich hierbei nicht um eine Verhaltensanomalie einzelner Tiere handelte, sondern das Verhalten als Antwort auf nahrungsbedingten oder sozialen Stress angesehen werden kann (Fowler & Hohmann, 2010).

2.6 Werkzeuggebrauch

Im Gegensatz zu freilebenden Schimpansen, die ein großes Repertoire an Werk­zeuggebrauch aufweisen, konnte die Herstellung und Verwendung von Werk­zeugen bei Bonobos in freier Wildbahn nur einmal im Salonga National Park in Form von „Fischen“ an einem Termitenhügel beobachtet werden. Dabei steckten die Tiere dünne Äste in die Öffnung der Termitenhügel, um durch das an­schließende Herausziehen die auf dem Ast sitzenden Termiten fressen zu können. In Gefangenschaft sind Bonobos zu einer sehr großen Bandbreite an Werk­zeuggebrauch in der Lage. Sie reiben sich zum Trocknen ihres Fells mit Holzwolle oder Blättern ab, reinigen verschmutzte Nahrung durch Abreiben mit Holzwolle, verwenden zerkaute Blätter als Schwamm zur Absorption von Trinkwasser aus kleineren Pfützen, benutzen Äste als Schlagwaffen gegen­einander und bringen Baumstämme und dickere Äste als Erhöhung in Position, um an höher gelegene Gegenstände heranzukommen (Caldecott & Miles, 2005). Ebenfalls das erwähnte „Fischen“ an Termitenhügeln wird von Tieren in Gefangenschaft sehr geschickt betrieben. Jordan (1982) beobachtete hierbei sogar die Fähigkeit zu Modifikation von Ästen zu effizienteren Werkzeugen durch Verjüngung und Aushöhlung. Mulcahy & Call (2006) fanden außerdem heraus, dass Bonobos zum „Fischen“ geeignete Äste bis zu 14 Stunden vor der eigentlichen Benutzung am künstlichen Termitenhügel gesammelt und bei sich behalten hatten, bis diese schließlich zum Einsatz kamen.

2.7 Sozialverhalten

2.7.1 Soziale Organisation

Die soziale Organisation von Bonobos ist eine Fission-Fusion -Organisation mit kleineren, variablen Subgruppen einer stabilen Großgruppe (Caldecott & Miles, 2005). In freier Wildbahn wurden Großgruppen von bis zu 200 Tieren gesichtet, welche Streifgebiete von 2200 bis 5800 ha einnehmen (Geissmann, 2003). Sub­gruppen von bis zu 23 Tieren spalten sich für Streifzüge zur Nahrungssuche von der Großgruppe ab (Fission) und finden nach ein bis mehreren Tagen wieder zusammen (Fusion). Dabei legen sie Strecken von ca. 1,2 bis 2,4 km zurück (Geissmann, 2003). Diese Subgruppen vermischen sich normalerweise nicht mit Mitgliedern anderer Großgruppen (Caldecott & Miles, 2005). Während sich bei Schimpansen Männchen von Weibchen und Jungtieren oft absondern und in getrennten Subgruppen umherwandern, finden sich bei Bonobos gemischte Gruppen verschiedenster Alters- und Geschlechtsklassen (Sommer & Ammann, 1998).

Bonobo-Gruppen sind patrilineal. Während die Männchen zeitlebens in ihrer Geburtsgruppe bleiben, beginnen Weibchen im Alter von neun Jahren fremde Gruppen zu besuchen, um sich danach in eine neue Gruppe einzugliedern (de Waal, 1998). Obwohl Bonobo-Männchen dadurch meist eng verwandt sind, unterhalten sie keine engen sozialen Beziehungen untereinander (Sommer & Ammann, 1998). Weibchen hingegen bilden starke soziale Bindungen zu anderen Weibchen der Gruppe und formen Koalitionen gegen Männchen. Diese starken affiliativen Beziehungen zwischen nicht-verwandten Weibchen sind bei Primaten sehr selten (Parish, 1994). Zum Beispiel gehen bei den ebenfalls patrilineal lebenden Schimpansen die eng verwandte Männchen ausgedehnte Koalitionen ein, während Weibchen lediglich lockere Beziehungen untereinander ausbilden (Sommer & Ammann, 1998).

2.7.2 Soziale Hierarchie

Die soziale Hierarchie bei Bonobos ist matriarchial. Der höchste Rang wird stets von einem Weibchen eingenommen, während den niedrigsten Rang immer ein Männchen besetzt (Stevens, Vervaecke & Elsacker, 2007). Dennoch ergaben Studien an fünf verschiedenen Bonobo-Gruppen in Gefangenschaft eine non-exklusive weibliche Dominanz, da mindestens ein Weibchen von einem Männchen dominiert wurde (Stevens, Vervaecke & Elsacker, 2008). Die Dominanr der Weibchen über die Männchen äußert sich in der Kontrolle über den Zugang zu Nahrung (Caldecott & Miles, 2005) und den Ausgang feindseliger Auseinandersetzungen (Sommer & Ammann, 1998). Nach Furuichi (1997) ist die weibliche Dominanz durch einen oder mehrere der folgenden Faktoren begünstigt. Erstens könnten der ausgedehnte Östrus und das nicht-zyklische Anschwellen der Anogenitalregion der Weibchen zu Vorteilen bei der Nahrungsverteilung führen. Diese Vermutung wird durch Beobachtungen an Schimpansen unterstützt, bei denen Weibchen mit maximaler Genitalschwellung Vorrang bei der Nahrungs­aufnahme hatten. Zweitens könnte die Fortpflanzungsstrategie der Männchen zum hohen sozialen Status der Weibchen beitragen. Im promiskuitiven Paarungs­system von Bonobos wäre es mit hohem Aufwand verbunden, andere Männchen von der Paarung mit Weibchen abzuhalten. Deshalb versuchen Männchen durch das Teilen von Nahrung mit Weibchen von diesen bei Kopulationen bevorzugt zu werden. Der dritte mögliche Faktor ist die Bildung von Allianzen zwischen Weibchen, die es ihnen ermöglicht Männchen erfolgreich zu attackieren und sie z. B. von begehrter Nahrung zu vertreiben. Männchen verhalten sich deshalb eher submissiv gegenüber Weibchen, wenn diese Teil einer Koalition sind. Die Bildung von Allianzen ist durch die starken sozialen Bindungen zwischen Weibchen untereinander möglich. Aufgrund der Patrilinearität sind diese nicht auf Verwandtschaftssympathie zurückzuführen und müssen durch andere Mechanismen hergestellt werden (Furuichi, 1989). Es wird vermutet, dass häufiger Genital-Kontakt in Form von GG-rubbing, Allogrooming und das Teilen von Nahrung Bonobo-Weibchen starke soziale Bindungen zueinander ausbilden lässt (Caldecott & Miles, 2005; Franz, 1999).

Über die Mechanismen, die die soziale Hierarchie zwischen Weibchen unter­einander bestimmen, können bisher nur Vermutungen angestellt werden. Beobachtungen von schon etablierten Bonobo-Gruppen geben hierüber nur wenig Auschluss. Betrachtet man jedoch Situationen, in denen gruppenfremde Weibchen in eine bestehende Bonobo-Gruppe immigrieren, fällt auf, dass ankommende Weibchen zunächst einen sehr niedrigen Rang besetzen. Diese Weibchen suchen dann auffällig häufig den Kontakt zu einem der älteren Weibchen, in Form von GG-rubbing und Allogrooming. Diese Kontakte scheinen den Integrationsprozess zu erleichtern (Furuichi, 1997; Pfalzer & Ehret, 1995). Ein weiterer Faktor, welcher den individuellen Rang eines Weibchens beeinflussen kann, ist die Geburt von Jungtieren. Beobachtungen von freilebenden Gruppen belegen, dass der soziale Rang eines Weibchens nach dessen erster Geburt stabiler wird. (Furuichi, 1989). Alter der Tiere, affiliative Beziehungen zu älteren Weibchen und Mutterschaft scheinen damit maßgebliche Faktoren für den Rang eines Weibchens zu sein.

Die soziale Stellung der Männchen ist maßgeblich durch den sozialen Rang ihrer Mütter beeinflusst (Furuichi, 1997). Mutter und Sohn haben eine enge soziale Bindung, die auch im Erwachsenenalter des Sohnes bestehen bleibt (Furuichi, 1989). Weibchen unterstützen ihren männlichen Nachwuchs bei aggressiven Auseinandersetzungen mit anderen Männchen und beeinflussen damit die Rangstruktur unter den Männchen enorm. Männchen mit hochrangiger Mutter tendieren zu einem hohen Rang in der männlichen Hierarchie. Meist besetzen Männchen ohne Mutter in der Gruppe daher einen der niedrigsten Ränge (Furuichi, 1997). Änderungen in der Dominanzstruktur der Weibchen können deshalb direkten Einfluss auf die Dominanzstruktur der Männchen haben. Vermut­lich bewirkt diese starke Bindung zwischen Mutter und Sohn, dass ältere erwachsene Weibchen nicht mehr emigrieren (Furuichi, 1989). Die Unterstützung des männlichen Nachwuchses könnte sich als eine Strategie zur Maximierung des Fortpflanzungserfolges über Generationen hinweg entwickelt haben. Indem hochrangige Weibchen ihren Söhnen zu einem hohen sozialen Status unter den Männchen verhelfen, können diese Nahrung leichter gegenüber anderen Männchen für sich beanspruchen. Männchen die Nahrung monopolisieren können, haben wiederum höhere Chancen von Weibchen bei der Kopulation bevor­zugt zu werden (Furuichi, 1997).

2.7.3 Aggressionsverhalten

Feindseliges Verhalten und physische Aggression treten in den Kontexten Nahrung, Reproduktion und Veränderungen in der Rangstruktur am häufigsten auf (Kano, 1980; Furuichi, 1997). Aggressive Auseinandersetzungen wurden bei wildlebenden Bonobos am häufigsten zwischen erwachsenen Männchen beobachtet (Furuichi, 1997; Hohmann & Fruth, 2003; Kano, 1980). Zwischen Weibchen scheinen sie hingegen seltener vorzukommen und bestehen meist lediglich aus dem Verjagen eines anderen Weibchens ohne tatsächliche physische Aggression (Furuichi, 1997). Zwischen Weibchen und Männchen sind feindselige Auseinandersetzungen eher selten und gehen meist von den Weibchen aus (Hohmann & Fruth, 2003). Obwohl aufkommende Aggressionen schnell durch soziosexuelles Verhalten[2] beschwichtigt werden können (Furuichi, 1997), kommt es in seltenen Fällen doch zu schwereren Verletzungen meist zum Nachteil der Männchen (Hohmann, 2003). Häufig weisen sie verstümmelte Finger und Zehen auf, die größtenteils weiblichen Attacken zuzuordnen sind (Sommer & Ammann, 1998).

2.7.4 Komfortverhalten

Auch bei Bonobos ist das für Primaten typische Allogrooming großer Bestandteil des Sozialverhaltens. Neben der Fellpflege ist es auch Anzeichen für affiliative Beziehungen zwischen einzelnen Tieren (de Waal, 1998). Kano (1980) beschreibt es als den besten Anhaltspunkt, um gegenseitige Zuneigung zu messen. Allo­grooming kommt in allen Alters- und Geschlechterkombinationen vor (Franz, 1999) und tritt meist in den Ruhephasen auf. Grooming ist zwischen erwachsenen Tieren meist direkt reziprok, d.h. dass sich die Tiere mehrmals während einer Grooming-Einheit abwechseln (Kano, 1980).

2.8 Sexualverhalten

Das sexuelle Verhaltensrepertoire von Bonobos ist wohl der am häufigsten genannte Unterschied zu Schimpansen (Parish, 1994) und ein aufgrund seiner Vielgestaltigkeit häufig untersuchtes Charakteristikum dieser Spezies. Bonobos schöpfen dabei alle erdenklichen Möglichkeiten an Alters- und Geschlechter­kombinationen aus. Über Kopulationen zwischen Männchen und Weibchen hinaus finden homosexuelle Kontakte zwischen Weibchen und zwischen Männchen untereinander, sexuelle Interaktion zwischen adulten und Jungtieren und zwischen Jungtieren untereinander statt (Hashimoto, 1997; Manson, Perry & Parish, 1997; Sommer & Ammann, 1998; de Waal, 1998). Dabei zeigen Jungtiere unter einem Jahr schon sexuelle Verhaltensweisen (Hashimoto, 1997). Sehr vielseitig ist auch die Ausgestaltung dieser sexuellen Kontakte. Neben Kopulationen finden Genital-Kontakte wie Genito-Genital-Reiben (GG-rubbing) unter Weibchen, Steiß-Kontakt und Penisreiben unter Männchen, heterosexuelles Aufreiten, manuelle und orale Stimulation der Genitalien anderen Tieres sowie Masturbation statt (Hashimoto, 1997; de Waal, 1998). Bonobos verpaaren sich zudem nicht nur in der für Primaten üblichen ventro-dorsalen Position, sondern auch in ventro-ventraler Stellung und dies sowohl in hetero- als auch in homosexuellen Paarkonstellationen (Blount, 1990). Im Folgenden sollen einige Formen sexueller Interaktion detailliert beschrieben werden.

2.8.1 Kopulation

Kopulation bezeichnet das Aufreiten eines Männchens auf ein Weibchen mit Intromission des Penis in die Vagina (Hashimoto, 1997). Beim dorso-ventralen Verkehr steht das Weibchen quadrupedal, sitzt oder geht in die Hocke, während das Männchen zweibeinig hinter ihm steht oder sitzt. Bei ventro-ventraler Kopulation liegt das Weibchen in der Regel auf dem Rücken, während das Männchen es zweibeinig vor ihm stehend umarmt (Kano, 1980). Da sich Weibchen Männchen meist auf dem Rücken liegend anbieten und sogar oft während des Aktes in diese Position wechseln, wird vermutet, dass sie den ventro-ventralen Kontakt bevorzugen. Zu dieser Präferenz könnte die Lage der Klitoris beitragen, denn da diese nach ventral gerichtet ist, wird sie bei ventro-ventraler Kopulation stärker stimuliert (Sommer & Ammann, 1998). Kopulationen sind eher von kurzer Dauer, im Mittel zwischen zehn und 20 Sekunden, selten länger als eine Minute (Kano, 1980). Obwohl prinzipiell beide Geschlechter zur Kopulation auffordern, wird der Großteil der Kopulationen von Männchen initiiert (Furuichi & Hashimoto, 2004). Die Aufforderung geschieht durch z.B. die räumliche Annäherung an ein Weibchen (Furuichi & Hashimoto, 2004), die Präsentation des erigierten Penis (Patterson, 1979), die Präsentation von begehrter Nahrung (de Waal, 1998) oder einen seitlichen Wiegeschritt mit aufrechtem Oberkörper und ausgestreckten Armen (Fedigan, 1992; Furuichi & Hashimoto, 2004). Allgemein werden Weibchen mit maximaler Genitalschwellung häufiger von Männchen umworben und stimmen auch häufiger in Kopulationen ein als Weibchen mit geringerer Schwellung. Freilandbeobachtungen in Wamba fanden jedoch immerhin noch 1/3 aller männlichen Aufforderungen an Weibchen mit geringer Genitalschwellung gerichtet, die in der Hälfte der Ereignisse mit dem Männchen kopulierten (Furuichi & Hashimoto, 2004). Von schwangeren Weibchen oder Weibchen mit Säuglingen wurde hingegen keine Bereitschaft zur Kopulation verzeichnet, wohl aber bei Müttern mit unselbstständigem Nachwuchs ab drei Jahren. Diese kopulierten ebenso häufig wie Weibchen ohne Nachwuchs (Furuichi, 1987).

Kopulationen kommen überdies bei Bonobos nicht nur zwischen adulten Tieren, sondern auch zwischen juvenilen Männchen und adulten Weibchen vor. Die frühe Fähigkeit zur Erektion des Penis juveniler Männchen ermöglicht die Kopulation mit adulten Weibchen (Kano, 1980). Bei sexueller Interaktion zwischen adulten Männchen und juvenilen Weibchen kommt es hingegen aufgrund des Entwicklungsstandes der Vagina nicht zum Einführen des Penis. Kontakte dieserart werden deshalb als heterosexuelles Aufreiten bezeichnet. Außer zwischen adulten und Jungtieren kommt dieses Verhalten auch zwischen adulten Tieren untereinander vor.

2.8.2 Genito-Genital-Reiben (GG-rubbing) zwischen Weibchen

Eine dem weiblichen Bonobo einzigartige Verhaltensweise ist das Genito-Genital-Reiben, das vom gewöhnlichen Aufreiten zwischen Weibchen anderer Primaten-Arten zu unterscheiden ist. In den meisten Fällen umarmen die Weibchen einander ventro-ventral und reiben ihre Genitalschwellung lateral aneinander (Hohmann & Fruth, 2000; Kano, 1980). Das Weibchen in oberer Position führt rhythmische Seitwärts-Bewegungen aus, während sich das untere Weibchen mit den Beinen an dessen Hüfte klammert (Abbildung 2). Der Rhythmus entspricht mit durchschnittlich 2,2 Seitwärtsbewegungen pro Sekunde dem Stoßrhythmus der Männchen bei der Kopulation (de Waal, 1998). Die nach ventral gerichtete Klitoris wird durch das heftige Reiben stimuliert, gerade bei Weibchen mit Genitalschwellung, deren Klitoris dann ebenfalls geschwollen und erektil ist (Sommer & Ammann, 1998). Gelegentlich verkehren Bonobo-Weibchen mit­einander auch in ventro-dorsaler Position. Während ein Weibchen auf dem Rücken liegt, kehrt ihm das andere stehend den Rücken zu und reibt seine Genitalschwellung an der des liegenden Weibchens (de Waal, 1998). Genital­reiben dauert meist zwischen wenigen Sekunden und einer Minute. Gesten und Verhaltensweisen, die zum GG-rubbing auffordern, ähneln denen der Kopulation. Ein Weibchen nähert sich einem anderen Weibchen und signalisiert durch einen seitlichen Wiegeschritt, ein Ziehen an der Schulter des anderen Weibchens oder durch rhythmische Bewegungen der Hüfte, wie sie auch beim GG-rubbing ausgeführt werden, die Bereitschaft zum Genital-Kontakt. Auch wenn sich ein Weibchen mit ausgebreiteten Armen vor einem anderen auf den Rücken fallen lässt, kann dies als eine Einladung zum GG-rubbing verstanden werden (Kano, 1980).

2.8.3

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2. Bonobo-Weibchen bei der Ausübung von GG-rubbing in ventro-ventraler Position (de Waal, 1998)

Sexuelle Kontakte zwischen Männchen

Die am häufigsten beschriebene Form sexuellen Kontaktes zwischen Männchen ist der Steiß-Kontakt, der das rhythmische Aneinanderreiben der Hoden bezeichnet. Zwei Männchen stehen sich dazu mit zugewandtem Hinterteil quadru­pedal gegenüber (Sommer & Ammann, 1998). Seltener wurde das sogenannte Penisreiben beschrieben, welches dem heterosexuellen Aufreiten in ventro-ventraler Position ähnelt. Dabei liegt das Männchen (gewöhnlich das jüngere) passiv auf dem Rücken, während das andere Männchen stößt. Da beide Männchen Erektionen haben reiben ihre Penes gegeneinander. Beim sexuellen Kontakt zwischen Männchen wurden bisher weder Ejakulation noch Versuche der analen Penetration beobachtet (de Waal, 1998).

2.9 Soziosexuelles Verhalten

Wie bei vielen anderen Primaten sind die Funktionen sexueller Verhaltensweisen auch bei Bonobos nicht auf die Fortpflanzung beschränkt, sondern als integraler Bestandteil des sozialen Beziehungsgefüges anzusehen (Fedigan, 1992; de Waal, 1998). Im Speziellen das Auftreten homosexueller Kontakte, heterosexueller Kopulation außerhalb des Östrus der Weibchen und sexuellen Verkehrs mit Jungtieren weist darauf hin, dass das Sexualverhalten von Bonobos mehr als nur der Reproduktion dienlich ist. Tatsächlich finden sich zahlreiche weitere Funktionen im Bereich der sozialen Kommunikation der Tiere. (de Waal, 1998) bezeichnete Sex als den „magischen Schlüssel zur sozialen Organisation von Bonobo-Gesellschaften“. Viele der sexuellen Interaktionen von Bonobos können deshalb als soziosexuelles Verhalten bezeichnet werden, also sexuelle Kontakte die vom eigentlichen Primärziel der Reproduktion entkoppelt und dem sozialen Gefüge von Gesellschaften dienlich sind (Fedigan, 1992). Paoli et al. (2007) und de Waal (1991) vermuteten, dass bei Bonobos die Hauptfunktionen des sozio­sexuellen Verhaltens der Abbau und die Regulation sozialer Spannung ist. Diese treten vermehrt in den Kontexten Aggression und Nahrungsaufnahme auf. Hashimoto (1997) und Parish (1994) untersuchten zudem die Ausbildung von sozialen Bindungen und Allianzen durch häufigen sexuellen Kontakt unter Weibchen. Im Folgenden sollen Auftreten und Funktion sexueller Interaktion in den genannten Kontexten genauer erläutert werden.

2.9.1 Soziosexuelles Verhalten im Kontext „Aggression“

Sexuelle Aktivität von Bonobos wird mit dem Abbau von Aggression in Zusammenhang gebracht (Westheide & Rieger, 2004). Kano (1980) vermutete aufgrund seiner Beobachtungen in freier Wildbahn schon früh, dass Spannungen zwischen Weibchen durch GG-rubbing abgebaut würden. Später zählte man auch andere Formen soziosexuellen Verhaltens, wie Steiß-Kontakt und Kopulation, zu spannungsregulierenden Verhaltensweisen (Kuroda, 1984, zit. nach Parish, 1994). Beobachtungen von de Waal (1991) weisen darauf hin, dass sexuelle Interaktion bei Anzeichen von Aggression als Beschwichtigungsmaßnahme eingesetzt wird und schwere körperliche Aggressivität dadurch meist ausbleibt. Da der Ausgang dieser Situationen ohne das Auftreten von soziosexuellem Verhalten nicht sicher rekonstruiert werden kann, bleiben dies jedoch nur Vermutungen. Unterstützt werden diese durch eine zweite Funktion soziosexuellen Verhaltens im Kontext von Aggression, nämlich der Versöhnung. de Waal (1991) beschreibt Situationen, in denen auf eine aggressive Auseinandersetzung sexuelle Interaktion folgte. Aufgrund des erhöhten Aufkommens affiliativer Interaktion nach diesen sexuellen Begegnungen, wie z. B. Allogrooming, schloss er, dass Bonobos Sex als Mittel zur Versöhnung einsetzen. Hohmann & Fruth (2000) fanden in einer groß­angelegten Freilandstudie in Lamako, dass die Rate von GG-rubbing nach aggressiven Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Weibchen höher war als die Rate vor einer aggressiven Auseinandersetzung. Da Aggression meist in Fütterungssituationen aufkam, ist es nicht ganz eindeutig, ob die sexuellen Interaktionen durch die Anwesenheit von Nahrung ausgelöst wurden oder tatsächlich als Versöhnungsakt fungierten. De Waal (1998) beobachtete jedoch auch Versöhnungen, die nicht während der Fütterung stattfanden. Zum Beispiel führten Bonobo-Männchen, die sich um die Kopulation mit einem Weibchen stritten, kurz danach Steiß-Kontakt aus. Kam Aggression zwischen einem Weib­chen und einem fremden Jungtier auf, so konnte die Situation durch intensives GG-rubbing zwischen dem Weibchen und der Mutter des Jungtieres entspannt werden. Diese Mechanismen zur Prävention von physischer Aggression sind ein wichtiges Element in der sozialen Organisation von Bonobos, ohne die die Gruppengröße und -konstellation vermutlich nicht möglich wäre (Blount, 1990; de Waal, 1991).

2.9.2 Soziosexuelles Verhalten im Kontext „Nahrung“

Obschon unterschiedlichster Untersuchungsschwerpunkte in Studien zum soziosexuellen Verhalten von Bonobos, erwies sich als zuverlässiger Auslöser für sexuelle Interaktion immer die Anwesenheit von Nahrung. De Waal (1998) beobachtete in einer Bonobo-Gruppe in Gefangenschaft, dass alle Männchen eine Peniserektion aufwiesen, sobald sich ein Tierpfleger mit Nahrung dem Gehege näherte. Noch bevor die Tiere Zugang zur Nahrung hatten, kam es schon zu zahlreichen Genital-Kontakten und Kopulationen. Parish (1994) löste erhöhte Raten sexuellen Verhaltens durch die Darbietung von begehrter Nahrung in Form eines mit Honig gefüllten, künstlichen Termitenhügels aus. Freiland­beobach­tungen von Hohmann & Fruth (2000) ergaben erhöhte Raten von Genital-Kontakten bei der Ankunft einer Bonobo-Gruppe an einem früchtetragenden Baum. Doch nicht nur das Auftreten sexueller Interaktion ist auffällig, sondern auch die Wirkung, die sexueller Kontakt auf die Tiere zu haben scheint. Die Aufregung und Spannung, die durch die Präsentation von Nahrung aufkommt, scheint sich unmittelbar nach den sexuellen Kontakten zu legen und ermöglicht das gemeinsame Fressen ohne aggressive Auseinandersetzungen (Kuroda, 1980), wie es z. B. bei Schimpansen häufig beobachtet wurde (de Waal, 1991). Es liegt nahe zu interpretieren, dass sich die Aufregung über Nahrung in sexuelle Erregung verwandelt, als ob sich die Begeisterung für Nahrung und Sex vermischte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Konkurrenz um Nahrung der Auslöser für sexuelle Interaktion ist und die aus der Konkurrenz resultierende Anspannung zwischen den Tieren durch soziosexuelles Verhalten abgebaut wird (de Waal, 1998). Beobachtungen aus Zoos bestätigen, dass die Bereitschaft zum Teilen von Nahrung unter anderem durch sexuelle Kontakte begünstigt wird (Parish, 1994; de Waal, 1991). De Waal (1998) beschreibt sogar den gezielten Einsatz von sexueller Attraktion, um an Nahrung zu gelangen. Zum Beispiel boten sich rangniedere Weibchen häufig den Männchen an, die im Besitz von begehrter Nahrung waren. Anschließend konnten die Weibchen dann Teile oder die gesamte Nahrung für sich allein beanspruchten. Parish (1994) bezeichnete dieses Verhalten bei Bonobos als "Sex-for-Food-Exchange" und fand heraus, dass dieses nicht nur in heterosexuellen Konstellationen vorkommt. Auch Weibchen teilten häufiger ihre Nahrung mit anderen Weibchen, wenn sie zuvor ihre Genitalschwellungen aneinander gerieben hatten.

2.9.3 Soziosexuelles Verhalten im Kontext „Ausbildung sozialer Bindung“

Die Tatsache, dass enge soziale Bindungen unter nicht-verwandten Weibchen bei Primaten sehr selten sind, lässt die Frage nach den Mechanismen zur Herstellung dieser Bindung bei Bonobos aufkommen. Die Integration gruppenfremder Weibchen in eine bestehende Bonobo-Gesellschaft gibt Hinweise auf die Entstehung affiliativer Beziehungen zwischen weiblichen Bonobos. Aus mehreren Beobachtungen dieser Integrationsprozesse geht hervor, dass vermehrtes GG-rubbing letztendlich zur Eingliederung des Weibchens in die Gruppe beiträgt (de Waal, 1998; Kano, 1980). Fremde Weibchen werden dabei sehr häufig von anderen Weibchen zum GG-rubbing eingeladen und sogar bevorzugt ausgewählt (Pfalzer & Ehret, 1995). Auch in Zoos, die Bonobos nach dem Fission-Fusion-Konzept halten, wurde bei Fusionen der Subgruppen ein vermehrtes Aufkommen von GG-rubbing zwischen den Weibchen beobachtet, die für eine Zeit voneinander getrennt waren. Es wird vermutet, dass diese Kontakte der Er­neuerung sozialer Bindungen dienen (de Waal, 1998).

[...]


[1] Im weiteren Verlauf dieser Arbeit ist mit der Verwendung des Trivialnamens Schimpanse stets Pan troglodytes und seine Unterarten gemeint.

[2] Siehe Kapitel 2.8 Soziosexuelles Verhalten

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863418465
ISBN (Paperback)
9783863413460
Dateigröße
1.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
Genito-Genital-Kontakt GG-rubbing Sex-for-Food-Exchange Nahrungsteilen Sozialverhalten

Autor

Katharina Reichert wurde 1985 in Bretten bei Karlsruhe geboren. Ihr Studium der Biologie an der Universität Marburg schloss die Autorin im Jahr 2011 mit dem 1. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien mit Prädikat ab. Bereits während des Studiums zeigte sich ein großes Interesse am Sozialverhalten von Primaten, welches in der wissenschaftlichen Studie zum soziosexuellen Verhalten der Bonobo-Gruppe des Frankfurter Zoos zunächst Befriedigung fand. Katharina Reichert entschied sich nach ihrem Abschluss gegen eine Laufbahn als Lehrerin, um sich weiterhin auf die Verhaltensforschung an Primaten konzentrieren zu können.
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Titel: Tausche Sex gegen Nahrung?: Eine Untersuchung über das gleichgeschlechtliche soziosexuelle Verhalten weiblicher Bonobos (Pan paniscus) bei der Nahrungsaufnahme
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