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Das Wunschkind: Die Sehnsucht nach dem perfekten Kind

©2012 Diplomarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Am 1. Juni 1961 führte die Berliner Schering AG die erste Antibabypille für den westdeutschen Markt ein. Vier Jahre später folgte die ehemalige DDR mit einem eigenen Präparat, doch im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde sich hier für eine positive Konnotation in der Benennung entschieden, das Produkt wurde unter dem Namen ‚Wunschkindpille’ bekannt. Heute verhüten über die Hälfte aller deutschen Frauen mit der Pille und es ist mittlerweile selbstverständlich den Zeitpunkt für die Geburt eines Kindes frei zu wählen. Doch entgegen aller Erwartungen machen viele Wunschkinder Probleme. Obwohl diese Kinder oft zutiefst gewollt sind und sowohl materiell, als auch pädagogisch besser gefördert werden als jede vorangegangene Generation, häufen sich die Klagen von Erziehern und Lehrern über verhaltensgestörte Kinder und unreife Jugendliche. Viele Eltern reagieren mit Verunsicherung und Hilflosigkeit auf die Schwierigkeiten ihrer Kinder und professionalisieren sich mit der Hilfe von Ratgeberliteratur zunehmend selber. Andere geben die Verantwortung zunehmend an Nachhilfeinstitute, Förderzentren oder Therapeuten ab. Die Ursachen für das unerwünschte Verhalten bleiben dabei oft im Dunkeln. Ist die Entkopplung von Sexualität und Fruchtbarkeit durch die Pille für die Kindheit nicht ohne Konsequenzen geblieben? Ist das Wunschkind letztendlich ein verwünschtes Kind?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Theorien zur Genese des Kinderwunsches

Um sich das Wunschkind als Modell für diese Arbeit zu verdeutlichen, soll zunächst eine Übersicht über verschiedene Erklärungsmuster für den Kinderwunsch gegeben werden. Im Folgenden werden Deutungen aus der Biologie, Soziologie und Psychologie herangezogen, wobei der Blick von der gesellschaftlichen Makroebene zum Subjekt mit individuellen Motivationen übergeht. Diese Reihenfolge entspricht der ideengeschichtlichen Entwicklung in Europa.

2.1 Naturalistische Theorien

Frühe naturalistische Deutungen des Kinderwunsches zeichnen sich häufig durch Vergleiche mit der Tierwelt aus und sind in gegenwärtigen Diskursen selten vertreten. Der Fortpflanzungstrieb ist hier vor allem biologisch determiniert und unterliegt keiner bewussten Entscheidung. Gesellschaften würden sich analog zu Tierpopulationen bis zu dem Punkt vergrößern, an dem Nahrungsmittelknappheit das Wachstum limitiere. Die Fruchtbarkeit einer Bevölkerungsgruppe sinke also mit ihrer Dichte. Für den Einzelnen gelte es, nicht mehr Nachkommen zu zeugen, als seine Umwelt ernähren könne. Der Ökonom Thomas Robert Malthus ergänzte Ende des 18. Jahrhunderts diesen Ansatz in seinem „Essay on the Principle of Population“ um den Zusatz, dass auch kulturelle Errungenschaften Einfluss auf die Fortpflanzung haben würden. So hätten zum Beispiel willentliche Entscheidungen wie Heirat und eine Beschränkung in der Kinderzahl eine positiv regulierende Wirkung auf die Fruchtbarkeit einer Gesellschaft. Ein Geschlechtsakt, der die Zeugung von Kindern ausschließt, war jedoch nicht denkbar und galt für Malthus als Erniedrigung der menschlichen Würde.[1]

2.2 Ökonomische Fertilitätstheorien

Viele ökonomische Fertilitätstheorien basieren auf Arbeiten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA[2] entstanden sind. Ökonomische Geburtenplanung setzt ein Wissen über Verhütung und, anders als bei Malthus, die Bereitschaft zur Umsetzung von Techniken, die die Empfängnis verhindern, voraus. Der Einzelne entscheide bei der Familienplanung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, das bedeute, es würde ein etwaiger Nutzen gegen die zu erwartenden Kosten abgewogen. Die Situation sei folglich mit der von Konsumenten zu vergleichen, die unter Berücksichtigung von Vor- und Nachteilen ihre Kinderzahl realisierten. Eine wichtige Größe früher sozioökonomischer Theorien zur Fertilität sind die Opportunitätskosten; bezogen auf die Familienplanung seien die Opportunitätskosten jene, die nicht für die Kindererziehung aufgewendet würden und somit mit ihnen konkurrierten. Inbegriffen wäre auch ein Verdienstausfall aufgrund der aufzuwenden­den Betreuungszeit.[3]

Erweiterungen dieser Theorien ergänzen die Faktoren Zeit und Geld zur Entscheidungsfindung um das Streben nach größerem Wohlstand. Hierbei handelt es sich nicht ausschließlich um materiellen Wohlstand, der Begriff beinhaltet ebenfalls eine Steigerung des Bildungsniveaus und des sozialen Ansehens. Im Gegensatz zu modernen Theorien unterstellen frühe Werke einen negativen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Kinderanzahl, wobei sich dieser Umstand in Gesellschaften mit durchlässigen Schichten weiter dramatisiere. Der Grund hierfür sei, dass ein Individuum in einer Gesellschaft mit vielfältigen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg einer hohen Rivalität ausgesetzt wäre. Um sich durchzusetzen. müsse es vermehrt Ressourcen einsetzen, die in Konkurrenz zur Familienplanung stünden.[4]

2.3 Sozialpsychologische Modelle zur Entstehung des Kinderwunsches

Theorien mit einem (sozial- )psychologischen Hintergrund unterteilen sich in Paar- und Individualmodelle. Paarmodelle basieren auf der Annahme, dass der Kinderwunsch Produkt eines Interaktionsprozesses zwischen den potentiellen Eltern sei. Individualmodelle würden dagegen gelten, wenn ein Partner alleine die Entscheidung für ein Kind treffe und die Meinung des Anderen entweder keine Relevanz hätte oder sich der des dominierenden Partners anschließe. Gemein ist beiden Modellen, dass bei ihnen nicht der monetäre Nutzen von Kindern das entscheidende Motiv zur Fortpflanzung darstelle, sondern die emotionalen und sozialen Bedürfnisse der Eltern.[5]

2.3.1 Das Value of Children- Modell Hoffmann und Hoffmann

Der 1973 von Hoffmann und Hoffmann entwickelte und mittlerweile weitverbreitete Value of Children Ansatz ist ein Individualmodell. Es enthält erstmals ein systematisch geordnetes Werteschema, basierend auf einer Zusammenstellung empirischer Ergebnisse, das eine sozialpsychologische Analyse zum Kinderwunsch zulässt. Es umfasst die folgenden neun Kategorien:

1. Erwachsenen Status und soziale Identität (Adult status and social identity)

Elternschaft etabliert eine Person als reifes, stabiles und akzeptables Mitglied in der Gesellschaft und verschafft ihm Zutritt zu anderen Institutionen der Gesellschaft der Erwachsenen. Dies sei besonders für Frauen der Unterschicht, die nicht über Berufsbildung verfügen, ein wichtiger Aspekt.

2. Fortleben der eigenen Person in den Kindern (Expansion of the self)

Viele Menschen möchten, dass etwas von ihnen über ihr eigenes Leben hinaus fortbesteht. Ein Kind zu haben ist eine gute Möglichkeit, diesen Wunsch zu verwirklichen, denn es ermöglicht, sich selbst zu reproduzieren. Über das eigene Leben hinaus existiert jemand, der Charakterzüge von einem selbst und den Familiennamen trägt, was eine gewisse Unsterblichkeit impliziert.

3. Religiöse, ethische und soziale Normen (Morality: religion, atruism, good of the group, norms regarding sexuality, impulsivity, virtue)

Die Geburt eines Kindes wird oft als moralischer Akt gesehen; eigene Interessen werden zugunsten einer anderen Person aufgegeben.

4. Familiäre Bindung (Primary group ties, affiliation)

[…] die Wichtigkeit einer An- bzw. Einbindung in eine Familie [wird] unterstrichen. Dabei wird die Kernfamilie als “Bollwerk“ gegen die Entpersönlichung der Gesellschaft interpretiert. Mit einem Kind sind auch Mann und Frau stärker aneinander und in einen familiären Zusammenhalt eingebunden.

5. Suchen neuer Erfahrungen (Stimulation, novelty, fun)

Menschen wünschen sich Veränderungen und neue Erfahrungen, besonders dann, wenn das Leben zwar sicher, aber auch langweilig und routiniert geworden ist. Ein Kind ist eine große Veränderung im Leben und fügt diesem einen unvorhersagbaren und spannenden Aspekt hinzu.

6. Schöpferische Kraft und Leistung (Creativity, accomplishment, competence)

Wenn sich eine Gesellschaft über das Subsistenzniveau hinaus entwickelt hat und eine große Zahl von Leuten die grundlegendsten Lebensbedürfnisse befriedigen können, steigen die Bedürfnisse nach Kreativität, Errungenschaften und Verwirklichung. Die Erziehung eines Kindes ist eine Möglichkeit, solche Bedürfnisse zu erfüllen.

7. Macht und Einfluss (Power, influence, effectance)

In einigen Kulturen, z. B. in Indien, verändert Elternschaft gravierend die Möglichkeiten der Eltern, insbesondere der Mutter.

8. Sozialer Vergleich und Wettbewerb (Social comparison, competition)

Kinder können ihren Eltern Prestige und Wettbewerbsvorteile verschaffen, besonders hinsichtlich der Konkurrenz im Beruf. Darüber hinaus werden Kinder als Ausdruck von Potenz, Fruchtbarkeit und materieller Liebe gesehen.

9. Wirtschaftlicher Nutzen

Ökonomischer Nutzen ist einer der wenigen Aspekte, welcher direkt mit 'Kinder haben', aber auch mit Kontrazeption in Zusammenhang gebracht wird. Dabei steht der Lebensstandard in direktem Zusammenhang mit den Mitteln, welche für das Aufziehen von Kindern aufgewendet werden können.[6]

Aus diesen Kategorien leiten Hoffmann und Hoffmann drei Dimensionen vom Nutzen von Kindern ab:

I) ökonomisch- utilitaristische Nutzdimension; gemeint sind Wertfaktoren des ökonomischen Nutzens
II) psychologisch- affektive Nutzdimension; hierunter werden Wertfaktoren zusammengefasst, welche sich auf die Weiterentwicklung des Selbst, die familiäre Einbindung, die Suche nach neuen Erfahrungen, nach Kreativität und Kompetenz beziehen.
III) sozial- normative Nutzdimension; diese bezieht sich auf Faktoren wie Statusänderung, soziale Identität, Moralvorstellungen.[7]

Abb. 1: Hoffmann und Hoffmann „Value of children“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die genannten Dimensionen beziehen sich auf den individuellen Wert von Kindern, Hoffmann und Hoffmann gehen jedoch davon aus, dass dieser Wert vom jeweiligen soziokulturellen Kontext beeinflusst wird:

„Je nachdem also, wie die aktuellen familiären Lebensbedingungen die Wahrschein­lichkeitserwartungen der VOC [Value of children- Werte von Kindern] beeinflussen, ändern sich auch die subjektiven Erwartungen der (zukünftigen) Eltern an ihre Kinder.“[8]

Somit lässt sich mit dem Erklärungsschema von Hoffmann und Hoffmann ausreichend analysieren, welche Position Kinder innerhalb einer familiären Gemeinschaft erfüllen können. Hoffmann und Hoffmann gehen in ihren Ausführungen jedoch nicht darauf ein, warum eine bestimmte gesellschaftliche Position zu bestimmten Normen und Werten bei einer Person führen soll oder wie die Interaktion innerhalb der Wertestruktur und zwischen den Hauptelementen des Schemas zu berücksichtigen ist.[9]

2.3.2 Das Paarinteraktions- Modell von Rosenstiel et al.

Das von Lutz v. Rosenstiel et al. ebenfalls auf der Grundlage empirischer Erhebungen entstandene Paarinteraktionsmodell unterscheidet sich von Hoffmann und Hoffmann vor allem durch die Berücksichtigung beider Partner. Das entscheidende Kriterium beim Kinderwunsch ist aber auch hier der Wert von Kindern. Rosenstiel et al. unterscheiden zwischen dem intrinsischen und extrinsischen Wert von Kindern.[10] Als intrinsische Werte werden jene zusammengefasst, die auf den Eigenwert von Kindern und nicht auf die Realisierung bestimmter Lebensziele durch Kinder abzielen. Extrinsische Werte bezeichneten hingegen jene, die sich auf die wahrgenommene Instrumentalität von Kindern beziehe. Als dritte Einflussgröße auf den Kinderwunsch nennen Rosenstiel et al. den normativen Druck; unter diesem Punkt fassen Rosenstiel et al. die Bedeutung von Bezugspersonen des Paares in Bezug auf die Kinderfrage zusammen. Würden alle drei Komponenten berücksichtigt, ließe sich eine Aussage über den Kinderwunsch eines Paares treffen.

Später ergänzten Rosenstiel et al. das Modell um den Einfluss des gesellschaftlichen Wertewandels. In der Studie „Wertewandel und generatives Verhalten“ wird die Bedeutung von Kohorten- , Phasen- und Periodeneffekten sowie die Wohn- und Berufssituation als Einflussgröße auf den Kinderwunsch genannt. Es wird davon ausgegangen, dass sich im Rahmen von Sozialisationsprozessen individuelle Werthaltungen ausbilden, die für das Verhalten zu einem bestimmten Zeitpunkt bedeutsam seien. Die von der Gesellschaft geprägten subjektiven Vorstellungen seien wichtige Orientierungspunkte beim Kinderwunsch.[11]

Das Ergebnis dieser Studie war die Klassifizierung von fünf Komponenten die auf den Kinderwunsch wirken sollen:

1. Können- Physiologie
2. Dürfen- Normen
3. Situative Ermöglichung- Einkommen, Schicht, Beruf, Verhütung
4. Wollen- individuelle Motivation
5. Paarinteraktion- Interaktionsprozess in der Partnerschaft

Abb. 2 : Modell der Studie „Wertewandel und generatives Verhalten“ von Rosenstiel et al.[12]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das auf der vorangegangen Seite abgebildete Modell ergab sich zur Analyse von generativem Verhalten. In jenem findet sich die Komponente 4 in den jeweiligen Wertestrukturen der Partner, Komponente 3 in den situativen Bedingungen und der Interaktionsprozess des Paares 5 ist durch die doppelseitigen Pfeile gekennzeichnet. Die Komponente 1 „dürfen“ wird durch die Determinanten der Wertestruktur im unteren Teil des Schaubilds dargestellt.

2.3.3 Psychosoziale Kinderwunschtheorie bei Ottomayer

Klaus Ottomayers Annahmen zum generativen Verhalten gehen ebenfalls davon aus, dass die unterschiedlichen Lebenswelten und Wertvorstellungen von Mann und Frau den Kinderwunsch beeinflussen. Er ergänzt, dass kapitalistische Rahmen­bedingungen eine besondere Wirkung hätten. Oft lebten hier beide Partner in völlig unterschiedlichen gegenständlichen Welten, was zu einer fehlenden Überein­stimmung innerhalb ihrer Beziehung führen würde. Durch ein gemeinsames Kind würde versucht, diese Leere durch ein gemeinsames Drittes zu füllen, um sich so als Paar zu verwirklichen. Das Kind würde folglich zu einem Ersatzgegenstand für fehlendes Verständnis zwischen den Eltern. Dabei könne die Rolle des Nachkommen sowohl die eines familiären Sündenbocks annehmen als auch die eines umsorgten und mit Ansprüchen überladenen Kindes. Die Pädagogin Jutta Berninghausen fügt Ottomayers Ausführungen hinzu, man könne unter diesen Gesichtspunkten „Wunschkinder boshaft mit nutzlosen Haustieren vergleichen“[13].[14]

2.4 Psychologische Erklärungen für den Kinderwunsch

Während in den sozialpsychologischen Modellen bereits individuelle Kinder­wunschmotive genannt werden und sich besonders Klaus Ottomayer fast ausschließlich bewussten und unbewussten Motiven widmet, beschäftigen sich psychologische Ansätze ausschließlich mit ihnen. Sie müssen jedoch ebenfalls vor dem gesellschaftlichen Hintergrund, in dem sie entstanden sind beziehungsweise angewendet werden, betrachtet werden. Außerdem gilt es zu beachten, dass es innerhalb der psychologischen Forschung verschiedene theoretische Grundlagen gibt, die aus ihren jeweiligen Modellen heraus unterschiedliche Erklärungen für den Kinderwunsch bieten. Je nachdem, ob es sich beispielsweise um systemische oder psychoanalytische Ansätze handelt, variiert die Gewichtung unterschiedlicher psychologischer Phänomene. Da sich auch das Vokabular der Theorien unterscheidet, schlagen Gloger- Tippelt, Gomille und Grimmig in der Studie „Der Kinderwunsch aus psychologischer Sicht“ vor, ihn durch drei verschiedene „Wollensvorstellungen“ zu kategorisieren:

- „Kinderhaben im 'Modell des nicht völlig individuell planbaren, 'natürlichen' oder 'normalen' Verhaltens',
- Kinderwunsch im 'Modell des konflikthaften, ambivalenten und unbewussten Tuns' und
- Kinderwunsch im 'Modell des planbaren, tendierten Handelns' “.[15]

Die im weiteren Verlauf dargestellten psychoanalytischen Theorien entsprechen dabei dem zweiten Modell, da sie sowohl von unbewussten als auch von bewussten Motiven zur Fortpflanzung ausgehen. Das erste Modell ließe sich am ehesten auf biologistische Ansätze anwenden und soll hier vernachlässigt werden, da es in einer komplexen modernen Gesellschaft kaum noch Anwendung findet. Ebenso das dritte Modell, da es selbst nach Aussagen der Autorinnen nur für eine geringe Bevölkerungsgruppe zutreffend sei, da es ein überdurchschnittlich hohes Maß an bewussten Entscheidungen impliziere.

2.4.1 Frühe psychoanalytische Theorien von Freud und Deutsch

Sigmund Freuds Überlegungen zum Kinderwunsch in „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“(1905) basieren auf der Annahme des Kastrationskomplexes bei Mädchen und Frauen. Im Alter von vier Jahren merke das Mädchen, dass es keinen Penis habe und interpretiere dieses als Kastration ihrer selbst. Gleichzeitig entwickle sie einen Penisneid auf den Jungen, der erst durch den Wunsch nach einem Kind vom Vater abgelöst werden könne. Nachdem ihr auch dieser Wunsch nicht erfüllt werden dürfe, stelle sich bei der Frau ein Minderwertigkeitskomplex ein, der nur durch die Geburt eines Sohnes aufgehoben werden könne. Freud gestand sich jedoch im Hinblick auf diese Ausführungen ein, dass er sich bezüglich der weiblichen Entwicklung, im Gegensatz zur männlichen unsicher sei.

Helene Deutsch stimmt in vielen Punkten mit Freud überein, deutet jedoch darüber hinaus eine grundsätzlich passive und masochistische Einstellung der Frau. Diese stelle sich mit der Hinwendung von der aktiven klitoralen Sexualität hin zur passiven vaginalen Sexualität ein. Der Kinderwunsch, verbunden mit den Schmerzen der Geburt, sei letztendlich ebenfalls von unbewussten masochistischen Neigungen bestimmt, das Kind selbst habe eine kompensatorische Funktion für die Frau. Es lasse sie in einem Bereich des Lebens schöpferisch tätig sein, während ihr andere versagt blieben.[16]

So hat sowohl bei Freud als auch bei Deutsch das Kind für die Frau eine kompensatorische Funktion. Deutsch ergänzt, dass der Frau durch das Kind eine gewisse Produktivität ermöglicht werde, die ihr andernfalls versagt bliebe. Beide argumentieren jedoch aus einem Mangel heraus, das Kind bleibt für die Frau lediglich Ersatz. Es werde laut Berninghausen weder eine biologische Fort­pflanzungsmotivation in Betracht gezogen, noch bestehe die Annahme eines primären Kinderwunsches von Seiten der Frau. Es bleibe jedoch bemerkenswert, dass beide Ansätze die herabgesetzte und gegenüber dem Mann als minderwertig empfundene Stellung der Frau zu jenem Zeitpunkt erfassten und wiedergeben würden.[17]

2.4.2 Die Entwicklung des Kinderwunsches bei Boothe und Heigl-Evers

Im mehr als fünfzig Jahre später erschienen Titel „ Psychoanalyse der frühen weiblichen Entwicklung“ distanzieren sich die Autorinnen Boothe und Heigl-Evers von den oben genannten Thesen. Sie begreifen den Kinderwunsch als eine Entwicklung, innerhalb derer er sich in verschiedenen Formen zeigt.

Zunächst sei das Kind lediglich Gegenstand der subjektiven Vorstellungswelt (a), zu diesem Zeitpunkt wären die Fantasien über ein Kind weder an Alter noch Geschlecht gebunden, meist speisten sie sich aus eigenem Kindheitserleben. In diesen Vorstellungen wäre das Kind noch äußerst flexibel und verwandlungsfähig. Das ändere sich, wenn das Kind Teil eines Beziehungsplans (b) werde. Nun wäre die Fähigkeit und Bereitschaft zur Elternschaft bei beiden Partnern vorhanden, es stehe die Frage nach einer realen Zeugung zur Diskussion. Dabei würden die subjektiven Vorstellungskinder beider Eltern sowohl im stummen als auch im ausgesprochenen Dialog aufeinander treffen und entwickelten sich in einem gemeinsamen Ge­staltungsraum zu geplanten Kindern. Während der Schwangerschaft (c) erlangten die biologischen Verhältnisse Bedeutsamkeit, ab jetzt wäre Vaterschaft als biologisch männlich und Mutterschaft als biologisch weiblich definiert. Das Kind als „Werdendes“ erlange imperative Bedeutung und zwinge seine Eltern in Erwartung, sie müssten nun ihre Wünsche und Pläne auf ihr zukünftiges Kind ausrichten. Nach der Geburt nehme das Kind seinen Platz als von den Eltern unverkennbar getrenntes Individuum ein (d).[18]

Boothe und Heigl-Evers betonen jedoch ebenfalls, dass der Kinderwunsch für die Frau eine kompensatorische Komponente haben könne. Jedoch nicht in Bezug auf den vermeintlich fehlenden Penis, sondern auf die erlebte Getrenntheit zur eigenen Mutter und eine damit einhergehende Unvollständigkeit. Die Geburt eines Kindes solle diese Unvollständigkeit aufheben und die sich selbst als defizitär erlebte Frau gewissermaßen heilen.

Abb. 3: Entwicklung des Kinderwunsches nach Boothe und Heigl-Evers[19]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Außerdem ermögliche ein Kind einer Frau eine gefühlte Unterlegenheit aufzuheben und sich gleichzeitig durch das eigene Kind noch einmal selbst in die Rolle des Kindes zu fantasieren.[20]

Die Autorinnen gehen davon aus, dass sich hinter einem Kinderwunsch oft die Sehnsucht nach einer idealen Beziehung verbirgt. Die Idealisierung des Kindes würde diesem zunächst nützen, da es das Engagement der Eltern für ihren Nachwuchs stärke. Der Idealisierungsprozess könne den Eltern jedoch auch entgleiten und eine schädliche Wirkung auf das Kind haben.[21]

Insgesamt deutet die zuletzt vorgestellte psychologische Theorie über den Kinderwunsch, ausgewählt aus dem Gebiet der Psychoanalyse, am deutlichsten darauf hin, dass bereits der Kinderwunsch Motiven zu Grunde liegen kann, die sich für die Kindesentwicklung als problematisch erweisen können. Inwieweit auch die Kontrolle der Fruchtbarkeit mit Unterstützung hormoneller Verhütungsmittel als Einflussfaktor gelten darf, soll im weiteren Verlauf geklärt werden.

3. Die Entkopplung von Sexualität und Fruchtbarkeit

Die Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit ist in westlichen Gesellschaften, bis auf einige, zumeist religiös begründete Ausnahmen, zur Normalität geworden. Für die meisten ist es heute selbstverständlich, Sexualität ohne die Folge einer Schwangerschaft zu erleben. Möglich geworden ist dieser Zustand in erster Linie durch die Entdeckung hormoneller Verhütungsmittel. Darüber hinaus gewinnt auch die extremste Form dieser Entwicklung zunehmend an Bedeutung: Die In-Vitro-Fertilisation.

3.1 Die Pille

Der Zeitpunkt für die Geburt eines Kindes kann mit Hilfe zeitgemäßer Verhütungs­methoden lange hinausgezögert und genau geplant werden. Die Pille steht dabei stellvertretend und für eine Reihe effizienter hormoneller Verhütungsmittel, die unsichere und aufwendige Methoden ablösten. So war die Pille auch im Jahr 2011 das beliebteste Verhütungsmittel und wurde laut einer Umfrage von über 50% der 20- 35 jährigen Frauen genutzt.[22] Mit einem Pearl- Index[23] von 0,1- 0,9[24] ist die Pille bei richtiger Anwendung eines der sichersten Verhütungsmittel. Trotzdem ist eine Schwangerschaft schon kurze Zeit nach dem Absetzen der Pille möglich, so dass davon auszugehen ist, dass sie die Fruchtbarkeit nicht langfristig beeinträchtigt.[25] Die Pille erfüllt schließlich alle Voraussetzungen, um einen Kinderwunsch zu einem selbstgewählten Zeitpunkt zu realisieren und soll aus diesem Grund innerhalb dieser Arbeit die Entkopplung von Sexualität und Fruchtbarkeit repräsentieren.

Die Wirkungsweise der Pille beruht auf einem hormonellen Eingriff in die weiblichen Körperfunktionen. Die meisten Pillen wirken durch eine Kombination der Inhaltsstoffe Östrogen und Gestagen, in neueren Präparaten wird teilweise ganz auf Östrogen verzichtet (= Mini- Pille). Die beigesetzten Hormone unterbinden den Eisprung und regen die Bildung einer Barriere an, die das Eindringen von Spermien in die Gebärmutter verhindert.[26]

Ein weiterer Grund, der Pille eine stellvertretende Rolle zuzuweisen, ist ihre prägende gesellschaftliche Bedeutung in Deutschland innerhalb der letzten fünfzig Jahre. So stellen die Ausführungen von Eva- Maria Silies in ihrer Veröffentlichung „Liebe, Lust und Last- die Pille als eine weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960- 1980“ überzeugend dar, dass die Einnahme der Antibabypille eine Generation von Frauen definiert hat. Diese Generation unterschied sich laut Sillies durch die neue Möglichkeit zur Empfängnisverhütung nicht nur deutlich von der vorangegangenen Generation, sondern bekamen gleichzeitig die Chance, die erworbene Freiheit im Wechselspiel mit anderen gesellschaftlichen Prozessen zur aktiven (Neu- )Gestaltung der Frauenrolle zu nutzen. Die Tatsache, dass die Verhütung nun bei vielen im Verantwortungsbereich der Frau lag, hätte so den Weg zu mehr (sexueller) Selbstbestimmung bereitet.[27]

Abschließend definiert die Pille den Zeitraum innerhalb dessen sich die beobachtete Entwicklung und somit diese Arbeit bewegen soll. Es wird von einer Entwicklung ausgegangen, die vor ungefähr fünfzig Jahren einsetzte und sich mit der zweiten Generation der Pillennutzerinnen[28] nach 1980 manifestierte.

Zusammengefasst hat die Pille nicht nur medizinische Wert, sondern steht in besonderer Weise für gesellschaftliche Veränderungen und eine veränderte Sexualität.

3.2 Die Pille in Bezug auf das Wunschkind

Unter Betrachtung der vorgestellten Modelle zur Genese des Kinderwunsches ergeben sich unterschiedliche Ansatzpunkte für den physio- logischen und psychologischen Einfluss der Pille.

In frühen biologistischen Theorien zur Bevölkerungsentwicklung spielen Verhütungs­mittel noch keine Rolle, im Gegenteil, die Empfängnis zu verhindern wird mitunter als würdelos abgelehnt[29]. In diesen Modellen wird der Kinderwunsch nicht als bewusste Entscheidung dargestellt, sondern als eine biologische Notwendigkeit. Die später entwickelten sozialökonomischen Theorien erkennen Verhütung als Mittel des Einzelnen zur Nachwuchsplanung an, gehen aber von streng wirtschaftlichen Gründen aus. Demzufolge würde ein Paar in Verhütung investieren, um die Kosten für die Versorgung von Kindern einzusparen. Oder das Gegenteil tun, weil es sich durch die Geburt von Kindern einen Zuwachs an Wohlstand erhoffe. Sozial­psychologische Ansätze hingegen gehen darüber hinaus von individuellen psychologische Motiven für den Kinderwunsch aus. Im dargestellten Value of children- Modell von Hoffmann und Hoffmann setzt die Pille gleich auf zwei Ebenen an; zum einen auf der gesellschaftlichen, zum anderen auf der individuellen. Auf der gesellschaftlichen Ebene unterstützte die Pille feministische Tendenzen und veränderte die Sexualität. Auf der individuellen Ebene nimmt ihre Empfängnis verhütende Wirkung der Frau die Fruchtbarkeit und befähigt sie den Zeitpunkt für eine Schwangerschaft zu bestimmen. Im Paarinteraktionsmodell von Rosenstiehl et al. werden diese Ansatzpunkte um den männlichen Partner ergänzt, der zwar nicht direkt unter dem Einfluss der Pille als Medikament steht, aber sowohl durch gesellschaftliche Normen als auch durch seine Partnerin von ihr beeinflusst ist ( siehe Abbildung 4).

Unter Berücksichtigung der bisherigen Überlegungen kann das Wunschkind somit als das Produkt einer partnerschaftlichen Interaktion unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und individueller Wertestrukturen gesehen werden. Die Pille hat dabei sowohl Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen als auch auf das Individuum. Innerhalb der Gesellschaft hat sie an Veränderungsprozessen mitgewirkt, die unter anderem dazu geführt haben, dass Frauen nicht länger dazu bestimmt schienen, Kinder zu bekommen und den Haushalt zu führen. Auf individueller Ebene schafft die Pille die Voraussetzung, einen Kinderwunsch zu einem bestimmten Zeitpunkt zu realisieren sowie die Kinderzahl auf ein selbst gewählt zu limitieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Der Einfluss der Pille auf das generative Verhalten

3.3 Die Reproduktionsmedizin

Durch Entwicklungen in Medizin, Genetik und Biologie wird immer mehr eine gezielte Konstruktion von Elternschaft möglich.[30] Auf der Suche nach dem „Wunschkind“ drängen sich zwangsläufig zahlreiche Angebote auf, die Paaren mit Hilfe der modernen Reproduktionsmedizin helfen wollen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen oder auf Selbsthilfegruppen, die diesem Prozess beratend zur Seite stehen.[31] So wirbt das Kinderwunschzentrum- Hamburg in seinem Leitbild mit dem Slogan „Vom Kinder­wunsch zum Wunschkind“.[32]

Die In-Vitro-Fertilisation stellt in Deutschland[33], unter der Voraussetzung, dass beide Elternteile an der Zeugung des Kindes beteiligt sind, die extremste Form der Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit dar. Sie bietet Paaren, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen können, die Chance mit Hilfe „assistierter Fortpflanzung“ Eltern zu werden. Das für diesen Zweck angewendete Verfahren IVF basiert auf der Entnahme von Ei- beziehungsweise Samenzellen bei Frau und Mann. Im Labor werden beide zusammengebracht. Entstehen ein oder mehrere Embryonen, so werden diese in die Gebärmutter der Frau eingesetzt, um eine Schwangerschaft herbeizuführen.[34] Die Aussichten auf eine erfolgreiche Schwangerschaft liegen bei ca. 40%, in Deutschland würde nach Angaben des IVF- Registers jedes 80. Kind per IVF gezeugt.[35] Neben der Hilfe für kinderlose Paare ist die Reproduktionsmedizin mittlerweile ein relevanter Wirtschaftszweig. Nach Schätzungen des Handelsblatts wurden in diesem Bereich im Jahr 2010 sechs Milliarden Euro umgesetzt, 300 Millionen davon entfielen auf Deutschland.[36]

3.3.1 Vom Bastelkind zum Designer- Baby

Claus Buddeberg, Arzt in der Reproduktionsmedizin, schlägt in seinem Beitrag im Sammelband „Projekt Wunschkind“ vor, den Begriff „Wunschkind“ in diesem Zusammenhang zugunsten der Bezeichnung „Bastelkind“ aufzugeben. Er begründet seine Entscheidung mit den veränderten Voraussetzungen, unter denen heute Kinder geboren werden. Der Begriff „basteln“ impliziere nicht nur ein aktives Gestalten auf Grundlage eines Plans, sondern auch die Möglichkeit eines letztendlich trotzdem „misslungenen Produkts“. Darüber hinaus betont er die Beteiligung von zunehmend mehr Personen am Projekt „Wunschkind“. Neben der Mutter und dem Vater seien häufig schon eine Vielzahl von Spezialisten an der Zeugung und Planung eines Kindes beteiligt.[37]

Die Ansprüche der Paare an diese „Bastelkinder“ scheinen die in anderen Teilen der Arbeit geschilderten Wünsche und Hoffnungen noch zu übertreffen. Einige Ärzte glauben Symptome einer „Konsumentenhaltung“ bei potenziellen Eltern zu erkennen. Der populär gewordene Begriff „Designer- Baby“ suggeriert, man könne ein Kind von der Haarfarbe bis zur sexuellen Ausrichtung den Plänen der Eltern anpassen. Doch reichten laut der Medizinerin Agnes Flöel weder moderne Technologien noch das heutige Wissen über das menschliche Gnom aus, um dieses zu ermöglichen. Der Stand der Medizin erlaube es vor der Implantation einer befruchteten Eizelle allenfalls, einige Aussagen über grobe genetische Auffälligkeiten zu machen. Dieser Prozess würde laut Flöel im Zuge einer allgemeinen Technikgläubigkeit oft überschätzt und führe zu einer Anspruchshaltung auf ein gesundes Kind.[38] Der Jurist Christoph Thole zieht unter dem Stichwort „Kind als Schaden“ in der Zukunft sogar Haftungsklagen enttäuschter Eltern gegen Reproduktionsärzte in Betracht.[39]

Auch Elisabeth Beck-Gernsheim sieht in ihrem Aufsatz „Vom Kinderwunsch zum Wunschkind“ die Entwicklung gerade auf dem Gebiet der Pränataldiagnostik kritisch. Sie zitiert an dieser Stelle den Arzt Hermann Depp folgendermaßen: „Mit diesen medizinischen Fortschritten [der Pränataldiagnostik] werden weitere Begehrlichkeiten geweckt und vertieft. Der zunehmende Anspruch auf ein gesundes Kind mag am Ende soweit gehen, daß sich eine Art „Pflicht zum unbehinderten Kind“ entwickeln könnte.“[40] Beck-Gernsheim deutet solche Ansprüche als Fortsetzung eines Trends, dessen erste Maxime es sei, optimale Startchancen für das Kind zu schaffen. Und das nicht erst nach der Geburt, sondern schon im Stadium davor. Damit bahne sich eine neue Dimension der elterlichen Verantwortung an. Nicht nur, aber gerade bei In-Vitro-Befruchtungen sei der Druck besonders hoch, keine Diagnostik auszulassen, um mögliche Erkrankungen im Vorfeld ausschließen zu können. Wer solche Untersuchungen verweigere, gelte als ignorant, dumm und egoistisch. Beck-Gernsheim bezieht sich an dieser Stelle auf den Philosophen Martin Sass, der „risikoreiche Fortpflanzungsentscheidungen“ in einem Interview als unverantwortlich der Gesellschaft gegenüber bezeichnete, die schließlich einen „schwerst Be­nachteiligten“[41] in ihre Solidargemeinschaft aufnehmen müsse. Da der Begriff der Verantwortung auch immer die Möglichkeit des sich „schuldig machen“ durch ihre Unterlassung berge, sieht Berk-Gernsheim für betroffene Frauen das Risiko, sich lebenslang schuldig zu fühlen oder von ihrer Umgebung für schuldig befunden zu werden. Als weitere Folge der angestrebten Optimierungs- und Auswahlverfahren befürchtet Beck-Gernsheim eine geringere Wertschätzung gegenüber Kindern, die den Wunschbildern ihrer Eltern nicht entsprechen sowie einen gesellschaftlichen Rückgang der Solidarität mit kranken und behinderten Menschen.[42]

3.3.2 „Kann ein Samen Vater sein?“

Zu den genannten Überlegungen kommen neue hinzu, wenn die Eizelle der Mutter im Rahmen der IVF nicht mit dem Samen des Vaters, sondern mit einer Spende aus einer Samenbank befruchtet wird. Die Gründe hierfür können zum Beispiel die Unfruchtbarkeit des potenziellen sozialen Vaters oder der Wunsch einer alleinstehenden Frau nach einem Kind sein. Beatrice Patsalides widmet sich diesem Komplex mit dem Aufsatz „Kann ein Samen Vater sein?“ aus psychoanalytischer Perspektive. Unter Bezug auf Lacan und unter Verwendung dessen Vokabulars formuliert sie folgende Hypothese: Die radikale Trennung von Fortpflanzung und sexueller Begegnung in der Reproduktionsmedizin konstituiere eine Grenzüber­schreitung. Kulturelle Tabus, wie die Selektion von Leben nach subjektiver Wertigkeit würden plötzlich möglich. Die Ausklammerung des Vaters als „Dritten“ aus dem Zeugungsprozess führe zu einer Konfrontation mit einer neuen symbolischen Ordnung.[43] Damit deutet Patsalides sowohl eine Abschwächung des „symbolischen“ Vaters als auch des „imaginären“ Vaters an. Der imaginäre Vater sei dabei Träger von Eigenschaften wie Mut, Kraft und Eifersucht, mit ihm könne sich das Kind identifizieren, es könne seine Eigenschaften annehmen oder ablehnen. Seine Schwächung betrifft die Familie also unmittelbar. Der symbolische Vater ist dagegen am ehesten mit einem Gesetz zu vergleichen, dem sich die Individuen unterwerfen müssten.[44] Er bestimme Einschränkungen bezüglich des Sexuellen wie das Inzesttabu. Seine Erschütterung betreffe folglich eine ganze Kultur in Bezug auf ihre moralischen Leitlinien.[45]

Insgesamt betrachtet spitzt sich die Wunschkind- Problematik im Rahmen der Pränataldiagnostik und reproduzierenden Medizin weiter zu: „Die neue „Machbarkeit“ der Nachkommen überträgt die Logiken von Bedürfnis, Produktion und Konsum auf die Kinder, die dann - wie alle Produkte – halten oder nicht halten können, was sie versprechen.“[46]. Die enormen Anstrengungen, die Paare während einer IVF auf sich nehmen, beinhalten somit auch die Möglichkeit zu großen Enttäuschungen. Auf der einen Seite, weil das Kind nicht so geworden ist, wie sie es sich gewünscht hatten. Auf der anderen Seite kann ein wiederholtes Scheitern der IVF und damit ein Ausbleiben des Wunschkindes zur großen psychischen Belastungen werden. Carola Bindt weist im Rahmen einer Studie über die Auswirkungen reproduktions­medizinischer Behandlungen auf die betroffenen Kinder darauf hin, dass die Entstehung jener Kinder in kinderpsychiatrischen- psychotherapeutischen Kontexten in jedem Fall berücksichtigt werden sollte. Die akute Erkrankung oder Verhaltens­auffälligkeit reaktiviere „nicht selten Verlusterlebnisse und Traumatisierungen, die aus einem strapaziösen reproduktionsmedizinischen Behandlungsverlauf, verbunden mit erfolglosen IVF- Versuchen und Spontanaborten“ resultierten[47]. Darüber hinaus werfen die neuen medizinischen Möglichkeiten auch ethische Fragen auf, wie zum Beispiel die, ob es ein Recht auf einen Vater gibt. Oder, ob elterliche Verantwortung bereits bedeutet, der Gesellschaft ein behindertes Kind vorzuenthalten.

[...]


[1] Vgl. Anke Borchardt, Yve Stöbel- Richter: Die Genese des Kinderwunsches bei Paaren- eine qualitative Studie, Materialen zur Bevölkerungsforschung 114, 2004, S. 11- 12.

[2] Die hier genannten Theorien basieren auf Arbeiten von Harvey Leibenstein, Gary S. Becker und Richard Easterlin, vgl. Robert Herter- Eschweiler: Die langfristige Geburtenentwicklung in Deutschland, Opladen 1998, S. 99 f..

[3] Vgl. Herter- Eschweiler, Geburtenentwicklung in Deutschland, S. 99- 103.

[4] Vgl. ebd., S. 101

[5] Vgl. ebd. S. 202- 206.

[6] Yve Stöbel- Richter: Kinderwunsch als Intention- Zur Relevanz persönlicher und gesellschaftlicher Kinderwunschmotive als Prädikatoren des aktuellen Kinderwunsches, Leipzig 2000, S. 36- 37.

[7] Ebd. S. 37- 38.

[8] Ebd. S. 38.

[9] Vgl. Herter- Eschweiler, Geburtenentwicklung in Deutschland, S. 212.

[10] Vgl. ebd. S. 40.

[11] Vgl. ebd. S. 237- 247.

[12] Ebd. S. 244.

[13] Jutta Berninghausen: Der Traum vom Kind- Geburt eines Klischees, Frankfurt am Main 1980, S. 71.

[14] Vgl. ebd. S. 70- 71.

[15] Stöbel- Richter, Kinderwunsch als Intention, S. 51.

[16] Berninghausen: Der Traum vom Kind, S. 62- 66.

[17] Vgl. ebd. S. 67.

[18] Brigitte Bothe; Annelise Heigl-Evers: Psychoanalyse der frühen weiblichen Entwicklung, München 1996, S. 148.

[19] Ebd. S. 149.

[20] Bothe; Heigl-Evers: Psychoanalyse der frühen weiblichen Entwicklung, München 1996, S. 147- 150.

[21] Ebd. S. 152.

[22] Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2353/umfrage/genutzte- verhuetungsmittel- und- - methoden/ , 16.02.2012.

[23] Am Pearl- Index lässt sich die Sicherheit von Verhütungsmitteln ablesen, je kleiner eher ist, als desto sicherer gilt das Verhütungsmittel, http://www.profamilia.de/erwachsene/verhuetung/pearl- index.html, 16.02.2012.

[24] Vgl. http://www.profamilia.de/erwachsene/verhuetung/pearl- index.html, 16.02.2012.

[25] Vgl. Wunschkind kommt nach der Pille schnell, Fertilität nicht eingeschränkt, in: Ärzte Zeitung (22.04.2005), http://www.aerztezeitung.de/medizin/fachbereiche/gynaekologie/article/350017/wunschkind- kommt- nach- pille- schnell.html, 16.02.2012.

[26] Vgl. http://www.profamilia.de/erwachsene/verhuetung/pille.html , 5.03.2012.

[27] Eva- Maria Silies: Liebe, Lust und Last- Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960- 1980, Göttingen 2010, S. 7- 36.

[28] Richtwert nach der Berechnung der Generationslänge nach Karl Mannheim: Das Problem der Generationen; in: Kurt H. Wolff (Hg.): Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 509- 565.

[29] Wie z.B. bei Malthus.

[30] Vgl. Elisabeth Beck- Gernsheim: Vom Kinderwunsch zum Wunschkind, in: Eckart Liebau (Hg): Das Generationenverhältnis, Über das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft, München 1997, S. 110.

[31] Zum Beispiel: www.wunschkinder.net oder www.wunschkind.de, 22.02.2012.

[32] http://www.kinderwunschzentrum- hamburg.de/Unser- Leitbild?id=3 , 22.02.2012.

[33] Vgl. Leihmutterschaft ist in Deutschland bisher verboten, Max- Planck- Institut, http://web.archive.org/web/20101010104254/http://www.cueno.de/medr/show_all.asp, 1.04.2012.

[34] Vgl. Kinderwunsch- Zentrum- Ulm, Glossar: In- Vitro- Fertilisation, http://www.kidz- ulm.de/Glossar- H- I.17018.0.html , 1.04.2012.

[35] Vgl. Deutsches IVF- Register, Jahrbuch 2010, http://www.deutsches- ivf- register.de/pdf- downloads/dirjahrbuch2010- d.pdf , 1.04.2012.

[36] Vgl. Siegfried Hoffmann, Maike Telgheder: Was vom Leben bleibt, in: Handelsblatt, 7/2010, S. 4- 5.

[37] Vgl. Claus Buddeberg: Bastelbiographie- Vom Kinderwunsch zum Wunschkind, in: Klaus Vetter, Claus Buddeberg (Hg.): Projekt Wunschkind- Die Vorstellung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, Hamburg 2007, S. 7- 16.

[38] Vgl. Agnes Flöel: Designer- Baby- Was kann die Medizin leisten?, in: Designer- Baby, Diagnostik und Forschung am ungeborenen Leben, Paderborn 2009, S. 11.

[39] Vgl. Christoph Thole: Die zivilrechtliche Schadensersatzpflicht des Arztes für „wrongful birth“ und „wrongful life“ in der Rechtsprechung, Zur „Kind als Schaden“- Diskussion, in: Designer- Baby, Diagnostik und Forschung am ungeborenen Leben, Paderborn 2009, S. 85f. .

[40] Elisabeth Beck- Gernsheim: Vom Kinderwunsch zum Wunschkind, in: Eckart Liebau(Hg.): Das Generationenverhältnis, Über das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft, München 1997, S. 107.

[41] Ebd. S. 112.

[42] Vgl. ebd. S. 118f. .

[43] Beatrice Patsalides: Kann ein Samen Vater sein?, in: Andre Michels, Peter Müller, Achim Perner, Claus- Dieter Rath (Hg.): Jahrbuch für klinische Psychoanalyse, Band 7, Familie, Tübingen 2006, S. 164f. .

[44] Mona Clerico: Welt- Ich- Sprache, Philosophische und psychoanalytische Motive in Thomas Manns Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“, Würzburg 2004, S. 127.

[45] Patsalides: Kann ein Samen Vater sein?, S. 176f. .

[46] Thomas Macho: Wunschkind oder Kobold?, in: Klaus Vetter, Claus Buddeberg (Hg.): Projekt Wunschkind, Die Vorstellung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, Hamburg 2007, S. 101f. .

[47] Carola Bindt: Ungetrübtes Familienglück oder neue Risikokonstellation, Elternschaft und Kindesentwicklung nach reproduktionsmedizinischer Behandlung, in Karl Heinz Brisch, Theodor Hellbrügge (Hg.): Die Anfänge der Eltern- Kind- Bindung, Schwangerschaft, Geburt und Psychotherapie, Stuttgart 2007, S. 81.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783863418472
ISBN (Paperback)
9783863413477
Dateigröße
768 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1
Schlagworte
Entwicklungspsychologie Psychoanalyse Antibabypille Sexualität Pädagogik Fruchtbarkeit

Autor

Carla Rudat wurde 1984 in Paderborn geboren. Sie schloss im Jahr 2012 ihr Studium der Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg ab. Ihr Interesse an der Kinder- und Jugendpsychologie und ihre Erfahrungen in der Familienhilfe inspirierten sie zu ihrem Buch über Wunschkinder.
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Titel: Das Wunschkind: Die Sehnsucht nach dem perfekten Kind
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