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Können Normen gefährlich werden?: Fraktionszwang versus Artikel 38 (1) GG - Notwendige Normenanpassung oder gefährliche Verselbstständigung einer Norm?

©2011 Studienarbeit 41 Seiten

Zusammenfassung

Schon seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem im Grundgesetz Artikel 38 (1) verankerten Recht des Abgeordneten, seine Entscheidungen seinem Gewissen entsprechend zu treffen, ohne an Aufträge und Weisungen gebunden zu sein, und dem Anspruch der Fraktion genau dieses einzuschränken. Im Kontext der historischen Entwicklung und den im Grundgesetz verankerten und verfestigten Werten, den sich daraus ergebenden Verhaltenserwartungen sowie den damit verbundenen Normen und Normengefügen hat sich diese Studienarbeit zur Aufgabe gemacht - jedenfalls soweit dies der Rahmen zulässt - zu untersuchen, ob und inwiefern ein Prozess von Normverselbstständigung stattgefunden hat bzw. gerade stattfindet. Die Fragen, die dabei von zentraler Bedeutung sind, lauten: Können sich Normen oder Normengefüge so weit von ihrem ursprünglichen Zweck entfernen, können sie eine Eigendynamik entfalten, die sich letztendlich gegen die Menschen und ihre Interessen wendet? Oder ist dieser Prozess vielmehr eine Notwendigkeit, ein Anpassungsprozess? Wann wird eine Norm zur Gefahr? Diese Fragen versucht diese Arbeit am Beispiel von Artikel 38 (1) GG versus dem Fraktionszwang auf den Grund zu gehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Werte und Normen
2.1 Werte
2.2 Soziale Normen

3 Der Artikel 38 (1) Grundgesetz (GG) versus Fraktionszwang
3.1 Artikel 38 (1) und seine Entstehungsgeschichte
3.2 Die Fraktion, der Fraktionszwang und ihre Geschichte
3.2.1 Entstehungsgeschichte
3.2.2 Machtverhältnisse innerhalb und außerhalb der Fraktion
3.3 Freies Mandat versus Fraktionszwang
3.4 Pressestimmen

4 Verselbstständigung einer Norm oder notwendige Anpassung

5 Quellenverzeichnis
5.1 Literaturverzeichnis
5.2 Internetquellen

1 Einleitung

Der Mensch hat im Laufe seiner Anthropologie nicht nur eine körperliche Entwicklung durchgemacht, sondern auch Fertigkeiten, wie zum Beispiel die Werkzeugherstellung oder das Feuermachen erworben. Was jedoch zumeist bei dieser Betrachtung übersehen wird ist, dass der Mensch als soziales Wesen ebenfalls eine Entwicklung im sozialen Miteinander durchgemacht hat. Er musste wie jedes Lebewesen, das in einer Gruppe lebt, bestimmte Mechanismen des Zusammenlebens entwickeln. Allerdings konnten diese aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten im Laufe der Zeit besonders ausdifferenziert werden. In diesem Zusammenhang hat der Mensch, wie wohl kein anderes Lebewesen, ein komplexes Gefüge aus Werten und Normen geschaffen. Es ging ihm darum (bewusst, wie auch unbewusst) seiner ebenfalls immer komplexer werdenden Umgebung gerecht werden zu können. Ein wichtiger Faktor in dieser Hinsicht ist bestimmt die stetig anwachsende Zahl an Einzelindividuen auf der Welt und das dadurch bedingte räumliche Aufeinanderzurücken. Ein „Sich-aus-dem-Weg-gehen“ ist nicht mehr möglich und nur noch schwer sind Rückzugsorte zu finden. Es müssen Formen des Miteinanders entwickelt werden, die den neu entstandenen Problematiken entsprechen. Werte und Normen sind das Mittel der Menschen ihr Verhalten aufeinander abzustimmen und berechenbar zu machen. Sie sind die Instrumente, das moderne Werkzeug sozialer Beziehungen, mit denen der Mensch eine notwendige Reduktion von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten erzielt. Doch was ist, wenn die Normengefüge so komplex werden, dass der Mensch sie nicht mehr überschaut, sich in ihnen verliert? Was ist, wenn Teile des Normengefüges in einem schleichenden Prozess ein Eigenleben, d.h. eine Eigendynamik entwickeln und sich dabei von ihrem ursprünglichen Zweck entfernen? Was ist, wenn sie sich deshalb der Kontrolle des Menschen entziehen? Was ist, wenn sie nicht mehr für den Menschen arbeiten, ihm nützlich sind, sondern wenn sie den Menschen dominieren, seine Entwicklung behindern und ihn in eine Richtung drängen, in die er gar nicht möchte oder sollte?

Die vorliegende Arbeit kann zwar keine Antworten auf diese Fragen geben, denn dazu ist der Rahmen zu klein und die Thematik zu komplex, aber sie möchte die Problematik als solche veranschaulichen.

Schon seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem im Grundgesetz Artikel 38 (1) verankerten Recht des Abgeordneten, seine Entscheidungen seinem Gewissen entsprechen zu treffen und dies ohne an Aufträge und Weisungen gebunden zu sein und dem Anspruch der Fraktion genau dieses einzuschränken. Im Kontext der historischen Entwicklung und den im Grundgesetz verankerten und verfestigten Werten, den daraus sich ergebenden Verhaltenserwartungen sowie den damit verbundenen Norm und Normengefügen soll im Folgenden, soweit dies der Rahmen zulässt, untersucht werden, ob und inwiefern vielleicht ein solcher Prozess von Normverselbstständigung stattgefunden hat bzw. gerade stattfindet.

Hierzu wurde zurückgegriffen auf Literatur aus Politik, Soziologie und Psychologie sowie auf diverse Zeitungsartikel.

Am Anfang der vorliegenden Arbeit steht die Abgrenzung der Begriffe Wert und soziale Norm. Darauf folgen dann die Vorstellung vom Artikel 38 (1) des Grundgesetzes in seinem historischen Kontext und analog dazu die der Fraktion und des damit verbundenen Fraktionszwanges. Aus dieser Betrachtung heraus wird dann der Versuch unternommen mögliche Verselbstständigungsprozesse auszumachen und offenzulegen.

2 Werte und Normen

Will man soziale Normen, ihre Einbettung sowie einer möglichen Loslösung aus derselben mit den dazugehörigen Folgen untersuchen, und möchte man dies in den Kontext einer Verfassung stellen, also eines komplexen Gefüges von institutionalisierten Normen, dann muss nicht nur der Begriff der sozialen Norm beschrieben, definiert und erläutert werden, sondern auch ein weiterer hierfür zentraler Begriff. Gemeint ist der Terminus des Wertes.

Jede Verfassung ist der Ausdruck spezifisch kultureller Werte einer territorial begrenzten Gesellschaft, in der Regel eines Nationalstaates oder Staatenbundes. Diese Werte können von Staat zu Staat bzw. von Staatenbund zu Staatenbund sehr unterschiedlich sein. Sie hängen von Geschichte, Tradition, kulturellen Eigenheiten, politischem System und anderen Dingen ab.

In der vorliegenden Arbeit wird grundsätzlich von der Verfassung[1] der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen, dem Grundgesetz.

Wenn aber, wie oben behauptet, jede Verfassung ein Normengefüge darstellt und jede Verfassung gleichzeitig der Ausdruck der Werte einer speziellen Gesellschaft ist, wo liegt dann der Unterschied zwischen den beiden Kategorien Soziale Normen und Werte ?

2.1 Werte

Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass je nach Fachrichtung und manchmal auch innerhalb einzelner Disziplinen der Begriff Wert unterschiedlich definiert wird.

Hillmann führt eine Vielzahl an Definitionen aus Theologie, Psychologie und Soziologie an. Werte sind jedoch letztendlich für den Wissenschaftler „geschichtlich entstandene, kulturell relative, sozialstrukturell und individuell unterschiedliche ausgeprägte […] gesellschaftlich wandelbare Orientierungsstandards. “ [2]

Für Maag sind Werte zentrale Determinanten in Bezug auf Einstellungen und Verhalten. Sie haben die Funktion der gesellschaftlichen Integration und sollen stabilisierend wirken. Daraus folgt, nach Auffassung der Wissenschaftlerin, dass aus gesellschaftlichen Wertveränderungen, die sich im Wechselverhältnis mit den individuellen Wertvorstellungen befinden, große Veränderungen für und damit Auswirkungen auf den Einzelnen, aber auch auf die Gesellschaft als Ganzes ergeben können.[3]

Werte ‘ konstituieren sich nach Maag aus Wünschbarkeit (desiderativer Charakter) und damit sind sie „relativ generelle oder auch gesellschaftliche Erwartungsäußerungen.“ [4] Diese Kurzdefinition widerspricht Hillmanns Auffassung nicht, ist jedoch eine Betrachtung aus anderer Perspektive. Legt Hillman mehr Gewicht auf die historisch-kulturelle Entstehung von Werten, so stehen die zu erwartenden Handlungen sowie die ihnen zugrunde liegenden Einstellungen im Zentrum der Maag -Definition. Beide Definitionen spiegeln somit nur zwei Seiten der gleichen Medaille wieder. Werte sind historisch, kulturell und traditionell eingebettet, sie dienen als Orientierungshilfen, sodass Individuen, Institutionen und Gesellschaft auf ihrer Grundlage bestimmte Verhaltensweisen erwarten, voraussetzen und auch fordern können.

Luhmann sieht dies aus Systemtheoretischer Sicht wie folgt:

„Was an gesellschaftlich durchgehend anerkannten Werten noch generalisierbar ist – etwa Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde – ruht auf diesem Zusammenhang von Temporalisierung, Systemspezifizität und Interdependenzunterbrechung auf. Werte haben ihre Realitätsgrundlage also nicht in entsprechenden, durch sie beschriebenen oder anzustrebenden Gesellschaftszuständen. Sie werden in jedem Funktionssystem daher negativ beachtet im Sinne eines Mangels oder eines Begründungsbedarfs für Einschränkungen. Ihre gesellschaftliche Adäquität liegt also nicht in der Annäherung der Realität an das Werteprogramm, sondern in jenem Bedingungszusammenhang von Eigendynamik, Abweichungsverstärkung, Temporalisierung und Interdependenz-unterbrechung. […] Wertformulierungen haben daraufhin den Sinn, jedem System in der je eigenen Sprache zu verdeutlichen, wovon es abweicht.“ [5]

Demnach sind Werte die Grundlage auf der Normen und ihre Einhaltungsmechanismen entstehen.

2.2 Soziale Normen

Möchte man nun eine Abgrenzung zwischen den Kategorien Soziale Normen und Werte vornehmen, so gibt Maag in Anlehnung an Opp an, dass während Normen einen Verpflichtungscharakter haben, indem ihre Nichtbefolgung bestraft, d.h. sanktioniert wird, beinhalten Werte lediglich den Wunsch, dass etwas geschehen soll.[6]

Opp als bekennender Utilitarist geht in seiner Betrachtung des Normenbegriffs schwerpunktmäßig von einer Kosten-Nutzen-Perspektive aus. Soziale Normen werden demnach immer dann entstehen, wenn ihr Nutzen höher ist, als ihre Kosten. Als Orientierung dient dem Wissenschaftler hierbei das aus der Ökonomie stammendem Modell der property rights (Eigentumsrechte/Verfügungsrechte). Opp vollführt diesen Begriffstransfer, da er davon ausgeht, dass das Verfügungsrecht nicht nur auf die auf einem Markt gehandelten Gegenstände verweist, sondern auch auf die dort handelnden Personen und dass bestimmte Verhaltensweisen dabei vorausgesetzt werden. Somit ist die Übertragung von reiner Güterbetrachtung zur Normbetrachtung lediglich, aus Sicht Opps, ein Perspektivwechsel, nicht aber etwas völlig Neues.[7]

In seinem in Jahr 2000 geschriebenen Aufsatz Die Entstehung sozialer Normen als geplanter und spontaner Prozeß unterscheidet er nicht nur zwischen Normen, die geplant oder spontan entstehen, sondern stellt vor allen Dingen fest, dass weder ein Definitionsansatz, der lediglich die Erwartungsdimension der Normen berücksichtigt, wie der von George C. Homans[8], noch einer, der nur die Verhaltensdimension (Verhaltensregelmäßigkeit) thematisiert, ausreicht. Vielmehr geht Opp davon aus, dass je nach Fragestellung (Erwartung, wahrscheinlicher Sanktionierung und Verhaltensregelmäßigkeit) die Definition angepasst werden muss.[9]

Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb es keinen wissenschaftlichen Konsens in Bezug auf den Begriff der ‚ sozialen Norm ‘ gibt. Auch die Sozialpsychologin Korthals-Beyerlein bestätigte diese Uneinigkeit in der Begriffsfüllung. Sie stellt fest, dass weder in ihrem eigenen Fachbereich noch in der Soziologie eine einheitliche Begriffsdefinition zu den ‚ sozialen Normen ‘ zu finden ist und die Terminologien stark voneinander abweichen bzw. ihre inhaltliche Füllung. Eine Folge sei, dass eine Vergleichbarkeit bereits vorhandener Forschungsergebnisse nur schwer oder sogar gar nicht möglich sei.[10]

Die meisten bisher genannten Ansätze verfolgen einen mikrotheoretischen Ansatz, also die Betrachtung der Auswirkungen von Normen in erster Hinsicht auf das Einzelindividuum und dann erst auf die Gesellschaft (wenn überhaupt). Einen anderen Weg beschreitet der Soziologe Heinrich Popitz. Er ging in seinem Werk ‚ Die normative Konstruktion von Gesellschaft‘ von einem makrotheoretischen Ansatz aus, d.h. er untersucht die Gründe warum Normen entstehen, welche Funktion sie in Bezug auf Gesellschaft[11] und Zusammenleben der Menschen haben, wobei das Individuum – im Gegensatz zum mikrotheoretischen Ansatz - als solches nicht von großer Relevanz war. In Anbetracht der Thematik der vorliegenden Arbeit soll grundsätzlich dieser Ansatz mitgetragen werden, wobei jedoch im Falle des Falles auf die von Opp variabel gehaltene Dimensionsbetrachtung zurückgegriffen werden soll.

Popitz definiert für seinen makrotheoretischen Ansatz zunächst ‚ Gesellschaft„als ein Konglomerat wechselseitiger Verhaltensorientierungen“. Hierbei wird auch das zukünftige Verhalten in die Orientierung mit einbezogen. Vertrauen und ein gewisser Kredit des Vertrauens sind dabei Grundvoraussetzungen. Der Mensch braucht diese Normierung des Verhaltens, weil er eine Reduktion der Verhaltensmöglichkeiten vornehmen muss um handlungsfähig zu bleiben. Soziale Normen sind nicht ‚naturgegeben‘ sondern artifiziell und müssen gelernt werden. Sie sind von abstraktem Charakter und stellen eine ‚Gleichsetzung von Verhaltensabläufen‘ dar. Ein weiteres wichtiges Merkmal stellt, wie auch bereits schon zuvor erwähnt, auch bei Popitz der desiderative Charakter der sozialen Normen dar, der in bestimmten Verhaltenserwartungen mündet. Gewünschtes geht eine Verbindung ein mit dem des sozialen Sollens.[12]

Popitz hält fest: „Die Erwartungen, die Verhaltensorientierungen bestimmen, sind überwiegend mehr als ein bloßes Wahrscheinlichkeitskalkül. Wir wollen, was wir erwarten, oder wir befürchten es. Verhaltenserwartungen sind meist desiderativ. Sie sind verbunden mit Wertungen, Wünschen, Forderungen.“[13]

Normierungsprozesse gehen mit Typisierungsprozessen einher, denn nur durch eine Kategorisierung von Handlungen, aber auch von Personen, können die notwendigen Reduktionen vorgenommen werden. Hierin liegt die eigentliche Reduktion, in deren Zuge dann „Normstrukturen entstehen, welche die Mitglieder einer sozialen Einheit durch ein bestimmtes Beziehungsnetz (von Rechten und Pflichten) miteinander verbinde[t]“. Hierbei verweist Popitz darauf, dass der Einzelne nicht nur Mitglied einer sozialen Einheit ist, sondern gerade in modernen Gesellschaften mehrerer, was zu Überschneidungen von Normstrukturen führen kann und damit auch zu Konfliktsituationen (Inter- und Intra-Rollenkonflikte).[14]

Man könnte nun noch auf verschiedene Norm-Typisierungen eingehen, doch würde dies zu weit führen. Es soll hier an Ort und Stelle ausreichen zu sagen, dass Popitz vier Hauptkategorien sieht: a) die Allgemeinen Normen, die für die gesamte Gesellschaft bzw. Gruppe gelten, b) die Partikularnormen, die lediglich für einen Teil der Gesellschaft bzw. Gruppe gelten und c) die Grenznormen, die die Grenzen bzw. Ränder der Gesellschaft bzw. Gruppe markieren. Eine besondere Art von Normen, deren spezifische Funktion in der Stabilisierung der bisher genannten Normentypen und Normstrukturen liegt, sind die d) Sanktionen (Bestrafungen). Soziale Normen, die auf Vertrauen, Erwartungen und Wünschen basieren werden bei Nicht-Erfüllung immer von einer Sanktionsbereitschaft, d.h. von der Bereitschaft ein abweichendes Verhalten zu bestrafen (wie auch immer) flankiert. Dies ist für den Begriff der sozialen Normen von zentraler Bedeutung. Für viele Soziologen sind soziale Normen erst dann Normen, wenn eine solche Sanktionsbereitschaft[15] vorliegt. Auch sind viele soziale Normen nur dann als solche erkenn- und beobachtbar, wenn der Sanktionsfall eintritt. Sanktionen sind in der Regel ebenfalls normiert und werden von eigens dafür legitimierten Instanzen ausgeführt. Dies kann die Gruppe, für die die sozialen Normen gelten, sein, aber auch einzelne Personen oder Institutionen. Welche Sanktionen auf welchen Normbruch Anwendung finden, ist jedoch abhängig vom situativen und kulturellen Kontext.

Grundsätzlich müssen soziale Normen nicht verbal geäußert oder schriftlich fixiert werden, sie können als ‚bloße‘ Tatsachen bestehen. Bilden sich aus sozialen Normen ganze Normengefüge und verfestigen diese sich, so spricht man von institutionalisierten Normen. Popitz spricht in diesem Zusammenhang von einem Gehäuse.[16] Hierfür gibt es eine Vielzahl an sehr unterschiedlichen Beispielen. Eins der am häufigsten genannten ist die Ehe, aber auch Gesetze sind verfestigte Normen, ein Parlament ist ein Gehäuse bzw. eine institutionalisiertes Normengefüge bzw. eine Normenstruktur. Wenn also zu einem späteren Zeitpunkt vom Grundgesetz, vom Bundestag, von Gebilden wie Fraktion und Partei die Rede sein wird, dann handelt es sich in all diesen Fällen um Gehäuse, bzw. Normengefüge, bzw. verfestigte Normen und in den meisten Fällen auch um institutionalisierte Normen.

3 Der Artikel 38 (1) Grundgesetz (GG) versus Fraktionszwang

Das Grundgesetzt und insbesondere der Artikel 38 (1) des Grundgesetzes (GG) entstanden nicht von heute auf morgen, sondern hatten eine Entstehungsgeschichte, die sehr deutlich widerspiegelt, wie ernst es den Gründungsvätern dieses Landes mit unserer Verfassung war.

Frau Hamm-Brücher schildert in ihrer ‚Streitschrift‘, wie sie sie selber tituliert, zum einen, wie schwer sich die Parteien und ihre Vertreter gerade mit dem Artikel 38 (1) GG taten, aber auch welches Konfliktpotenzial im Laufe der Zeit aus ihm hervorging.[17]

3.1 Artikel 38 (1) und seine Entstehungsgeschichte

Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. [18]

Um den Artikel 38 (1) GG aber in seiner vollen Breite verstehen zu können und die in ihm verborgenen Intentionen in ihrem historischen Kontext auch für heutige Generationen verständlich zu machen, reicht es nicht aus, hier einfach nur den reinen Wortlaut wiederzugeben. Vielmehr ist es nötig, dessen Entstehungsgeschichte, allerdings nur in aller Kürze, sowie auch die historischen Hintergründe bzw. die Gründe zu schildern, warum gerade dieser Artikel den Verfassungsvätern so wichtig war.

Frau Hamm-Brücher zitiert in ihrer Streitschrift aus den Sitzungsprotokollen der Ausschüsse des Parlamentarischen Rates beginnend mit dem vom 16.09.1948 und endend mit der Beschlussfassung des Hauptausschusses vom 07.01.1949. Zum Beginn lag bereits die Urfassung des sogenannten ‚ Herrenchiemsee‘-Entwurf vor. Vergleicht man diese Urfassung mit dem endgültigen Ergebnis, so bleibt festzustellen, dass sie identisch sind. Nichtsdestotrotz tat man sich in der Entstehungsphase sehr schwer und es herrschte in den jeweiligen Gremien große Uneinigkeit. Auf der einen Seite gab es politische Vertreter, die den Fraktionszwang bzw. den Einfluss der Parteien und Fraktionen nicht derart eingeschränkt haben wollten, wozu zum Beispiel die Abgeordneten Heiland (SPD) und Selbert (SPD) gehörten, wobei die Parteizugehörigkeit nicht immer so eindeutig war, wie es hier jetzt erscheint. Andere wiederum sahen gerade in der Begrenzung des Fraktionszwanges und der Stärkung der Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten einen zentralen und unerlässlichen Aspekt dieses Artikels. Darunter waren unter anderem die Abgeordneten Lehr (CDU), Dehler (FDP) und Blohmeyer (CDU). Wieder andere wollten nur Teilformulierungen etwas abschwächen oder Differenzierungen einbauen. So machte der Artikel 38 (1) GG, der damals noch Artikel 46 hieß, im Laufe seines Festlegungsverfahrens eine permanente Wandlung durch:

[...]


[1] Anm.: Das Grundgesetz ist in engerem Sinne keine Verfassung, sondern ein Gesetz wie der Name auch schon sagt und war ursprünglich als Provisorium gedacht. Man ging bei seiner Schaffung davon aus, dass es früher oder später eine Gesamtdeutsche Verfassung geben, die man dann zu gegebener Zeit, gemeinsam schaffen würde. Nichtsdestotrotz wird in Folge in dieser Arbeit das Grundgesetz als Verfassung benannt.

[2] Hillmann, Karl-Heinz, 1986, S. 57.

[3] Vgl.: Maag, Gisela, 1991, S. 17.

[4] Maag, Gisela, 1991, S. 22.

[5] Luhmann, Niklas, 1997, S. 769.

[6] Vgl.: Ebd. S. 22.

[7] Opp, Karl-Dieter, 1983, S. 12 ff.

[8] Anm: Definition Homans: „A norm is a statement specifying how a person is, or persons of a particular sort are, expected to behave in given circumstances – expected, in the first instance, by the person that utters the norm. What I expect of you is what you ought to do.”

Homans, George C. (1974), S. 96.

[9] Vgl.: Opp, Karl-Dieter, 2000, S. 35- 39.

[10] Korthals-Beyerlein, 1979, S. 11.

[11] Anm: Definition Gesellschaft nach Popitz: „‚Gesellschaft‘ nenne wir also jede nach außen geschlossene soziale Gruppe, die sich wenigstens zum Teil biologisch selbst rekrutiert und die Neugeborenen sozial integriert.“

Popitz, Heinrich , 2006, S. 95.

[12] Vgl.: Ebd. 1980, S. 3-7 und ebd. 2006, S. 64.

[13] Ebd. 1980, S. 8.

[14] Vgl.: Popitz, Heinrich, 2006, S. 68ff.

[15] Anm.: Die Sanktionsbereitschaft muss aber nicht zwangsläufig auch in einer Sanktion münden. Es ist durchaus möglich auf die Sanktion zu verzichten.

[16] Ebd. 2006, S. 111 ff. und ebd. 1980, S. 50 ff.

[17] Vgl.: Hamm-Brücher, Hildegard, 1991, gesamt.

[18] Beck: Öffentliches Recht, 2008, S. 19.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863418588
ISBN (Paperback)
9783863413583
Dateigröße
346 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Rostock
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Werte Normengefüge gefährliche Normen Anthropologie Grundgesetz

Autor

Eva Mertens wurde 1963 in Hamm (Westfalen) geboren. 1984 schloss sie die Schule mit der Allgemeinen Hochschulreife ab. Es folgte nach einem viersemestrigen Studium an der Musikhochschule Detmold (klassischer Gesang), welches aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden musste, eine Ausbildung zur Bankkaufrau. Berufliche Erfahrungen konnte Frau Mertens auch außerhalb des Bankensektors sammeln. Sie arbeitete mehrere Jahre als selbstständige Vermögensberaterin und einige Zeit im Immobilienbereich. Situationsbedingt zeigte sie Flexibilität und gab Gesangs- und Blockflötenunterricht, arbeitete sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen, war in der Immobielienbranche tätig und beriet Gutacher. 2007 entschloss sich die Autorin eine zweite Ausbildung in Form eines Lehramtsstudiums (Sozialwissenschaften und Germanistik) aufzunehmen, welches sie im Juli 2012 mit dem ersten Staatsexamen erfolgreich abschloss. Inzwischen gilt sie als kompetente Autorin, die in der Lage ist, unterschiedliche Thematiken aufzugreifen und Stellung zu ihnen zu beziehen.
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