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Mensch-Tier-Beziehung - Möglichkeiten und Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit

©2012 Bachelorarbeit 90 Seiten

Zusammenfassung

In Deutschland befindet sich in der heutigen Zeit in etwa jedem dritten Haushalt ein Haustier. Tiere existieren in allen Gesellschaftsschichten und begleiten Menschen verschiedenen Alters. In pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern steigt die Präsenz von Tieren ebenfalls: Tiere erhalten Einzug in Einrichtungen und Projekte. Außerdem werden gezielte tiergestützte Interventionen durchgeführt. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, welche Möglichkeiten Tiere für die Disziplin ‘Soziale Arbeit’ bringen und welche Risiken und Grenzen bestehen.
Zur Klärung dieser Fragen wird vordergründig die Mensch-Tier-Beziehung analysiert. Hierfür wird die historische und gesellschaftliche Entwicklung des Mensch- Tier-Verhältnisses betrachtet. Darauf aufbauend werden Erklärungsansätze aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu der Mensch-Tier-Beziehung erläutert und Verhaltensaspekte der Menschen und Tiere in der Beziehung zueinander konkretisiert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Danksagung
Für ihre kritische Begleitung, Anregungen, Ermutigungen und Korrekturen
danke ich an dieser Stelle Martin Walter, Annemarie Stengel, Rieke Hoeft
und Christian Herrmann

1 Einleitung
In Deutschland befindet sich in der heutigen Zeit in etwa jedem dritten Haushalt ein
Haustier (vgl. Industrieverbands Heimtierbedarf 2011). Tiere existieren in allen Ge-
sellschaftsschichten und begleiten Menschen verschiedenen Alters (vgl. ebd.). In
pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern steigt die Präsenz von Tieren
ebenfalls (vgl. Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 12 f.): Tiere erhalten Einzug in
Einrichtungen und Projekte. Außerdem werden gezielte tiergestützte Interventionen
durchgeführt. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, welche Möglichkei-
ten Tiere für die Disziplin ,,Soziale Arbeit" bringen und welche Risiken und Grenzen
bestehen.
Zur Klärung dieser Fragen wird vordergründig die Mensch-Tier-Beziehung analy-
siert. Hierfür wird die historische und gesellschaftliche Entwicklung des Mensch-
Tier-Verhältnisses betrachtet. Darauf aufbauend werden Erklärungsansätze aus ver-
schiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu der Mensch-Tier-Beziehung erläutert und
Verhaltensaspekte der Menschen und Tiere in der Beziehung zueinander konkreti-
siert. Auf dieser Basis werden verschiedene Bereiche tiergestützter Interventionen
aufgezeigt. Im Folgenden werden der Einsatz von Tieren in der Sozialen Arbeit un-
tersucht und weitere Berührungspunkte erläutert. Abschließend werden die durch
Tiere gebotenen Möglichkeiten und die in diesem Zusammenhang existierenden
Grenzen reflektiert.
Mit ,,Tieren" sind in dieser Arbeit höhere Tierarten gemeint. Auf kulturelle Einflüsse
und Differenzen wird nicht detailliert eingegangen, da dies als eigenständiges Thema
zu betrachten ist und den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde. Sofern nicht
anders gekennzeichnet, beziehen sich alle Ausführungen auf den europäischen
Raum.
Oftmals sind Tiere Gegenstand von Abschlussarbeiten sozialpädagogischer Studien-
gänge. Jedoch ,,... enden die Abschlussarbeiten trotz großen Fleißes und Engage-
ments (oft) mit einem für alle Beteiligten unbefriedigendem (!) Ergebnis ..." (Spies
2012 / i. E., S. 115 f.). ,,Für die betreuenden und benotenden DozentInnen sind sie
nicht immer Grund zur Freude ..." (Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 11). Als
Problem wird die Literaturlage genannt, ,,... die die Studierenden auf fragwürdige
4

Fährten bringen kann" (Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 11). Vor diesem Hinter-
grund erscheint das Verfassen einer Bachelorthesis zu diesem Thema gewagt. In die-
ser Arbeit wird daher kein Leitfaden zur Durchführung tiergestützter Sozialer Arbeit
erstellt. Viel mehr werden die Gründe für die Verwendung von Tieren erläutert, die
aktuelle Situation beschrieben und kritische Reflektionen beleuchtet.
2 Die Mensch-Tier-Beziehung im historischen Kontext
Um die Komplexität der Beziehung zwischen Mensch und Tier zu verdeutlichen,
wird in diesem Kapitel die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen
Mensch und Tier erläutert. Nach einer chronologisch angeordneten Ausarbeitung
der in der Vergangenheit vollzogenen Praktiken und Denkweisen wird im zweiten
Teil dieses Kapitels auf das heutige Zusammenleben von Menschen mit Tieren ein-
gegangen. In einem abschließenden Fazit wird die Entwicklung der Mensch-Tier-
Beziehung zusammengefasst und bewertet. Dabei wird besonders auf das Zusam-
menleben von Tieren und Menschen in der heutigen Gesellschaft eingegangen.
2.1 Geschichtliche Entwicklung
Seit Anbeginn der Menschheit leben Menschen mit Tieren zusammen. Das Verhält-
nis zwischen Mensch und Tier hat sich im Laufe der Jahrhunderte stark verändert.
Dies betrifft sowohl Veränderungen in der Art und Weise des Zusammenlebens, als
auch Veränderungen der menschlichen Einstellung dem Tier gegenüber (vgl. Körner
1996, S. 32).
2.1.1 Beginn der Menschheit
In den ersten Jahren der Menschheit war der Mensch als Jäger und Sammler der
Natur eng verbunden. Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier war kein von
Überlegenheit geprägtes. Tiere galten als gleichwertige ,,Mitgeschöpfe" (vgl. Münch
2001, S. 21). ,,... der Mensch (konnte) stets gleichzeitig auch ein Tier sein, wie um-
gekehrt Tiere gleichzeitig als Erscheinungsformen lebender Menschen galten"
(Greiffenhagen, Buck-Wernern 2007, S. 17). Später im Paläolithikum (Altsteinzeit)
übernahm der Mensch mehr und im Mesolithikum (Mittelsteinzeit) fast vollständig
die Jägerrolle in der Jäger- / Beute- Beziehung (vgl. ebd.).
5

Tiere dienten dem Menschen hauptsächlich als Nahrungs- und Kleidungslieferant,
aber auch als Vorbild für einige Verhaltensmuster, z.B. das Anschleichen (vgl.
Bökönyi 1985, S. 75 f.). Da der Erfolg der Jagd auch von dem Wissen über das Tier
abhängig war, studierten Jäger das Verhalten der Jagdtiere intensiv. So wurden
Kenntnisse über Tagesrhythmus, Herdenstruktur, Paarungsverhalten und Paar-
ungs-, Trag- und Wurfzeiten erlangt. Ebenso bedeutsam waren Anatomie, Biologie
und Physiologie der Beutetiere (vgl. ebd.). Das Wissen, das aus diesen Studien ge-
wonnen wurde, diente zuerst nur der Spezialisierung der Jagd und Weiterentwick-
lung des Jagdtypus.
2.1.2 Beginn der Landwirtschaft
Als die Menschen anfingen, sesshaft zu werden und begannen, Land- und Viehwirt-
schaft zu betreiben, war das bis dahin erworbene Wissen sehr hilfreich für die Do-
mestikation von Tieren. Zu dieser Zeit traten erste große Veränderungen in dem
Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ein. ,,Die Nutzbarmachung von Acker-
böden und die Haltung von Tieren nahmen erheblichen Einfluss auf die bis dahin
friedliche Koexistenz" (Frömming 2006, S. 4). Mit der Domestikation erlangten die
Menschen eine Art Dauerherrschaft über das Tier (vgl. Münch 2001, S. 21). Sie ent-
schieden nicht nur über Leben und Tod der eigenen Tiere, sondern züchteten durch
präzise Auswahl Tiere, die gut für das Zusammenleben mit Menschen geeignet wa-
ren. Der Mensch hatte von nun an Verantwortung für das Wohl seiner Tiere und ein
Tier konnte erstmals ein Partner für den Menschen sein (vgl. Frömming 2006, S. 5).
Körner (1996, S. 32) sieht dieses Verhältnis zwischen zwei Polen: ,,... der Verwen-
dung, der Kontrolle einerseits und der Sehnsucht nach dem ,Bruder Tier`, der Hin-
gabe andererseits."
2.1.3 Zeitalter der Antike
Im Zeitalter der Antike prägten einige Vorsokratiker, wie z.B. Pythagoras, Platon
und Aristoteles die Einstellung der Menschen zu Tieren (vgl. Münch 2001, S. 22).
Pythagoras schrieb nicht nur Menschen, sondern auch Tieren Vernunft zu (ebd.).
Ebenso wie Platon ging er davon aus, dass die Seelen verstorbener Menschen auf
Tiere übergingen. Aus diesem Grund verachtete er den Verzehr von Fleisch und er-
mutigte seine Schüler, Tiere respektvoll zu behandeln (vgl. Kaplan 2006, S. 5).
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Die einflussreichste Schule zu jener Zeit war die von Aristoteles, einem Schüler von
Platon (vgl. Kaplan 2006, S.5). Er vertrat die Meinung, dass Tiere zum Zwecke des
Menschen existierten. Dies ließe sich durch eine Hierarchie in der Natur erklären.
Demnach seien jene mit geringen Verstandeskräften zum Nutzen derer mit größe-
ren Verstandeskräften da (vgl. Singer 1982, S. 210). D.h. Pflanzen existierten für Tie-
re und Tiere für Menschen. Mit dieser Sichtweise wurde nicht nur die untergeordne-
te Stellung des Tieres begründet, sondern gleichzeitig auch eine Legitimation für
dessen Unterwerfung geschaffen (vgl. Otterstedt 2003a, S. 20).
2.1.4 Verbreitung des Christentums
Mit der Verbreitung des Christentums verstärkte sich die Herrschaft der Menschen
über Tiere. Der Gott der Juden und später der Christen setzte die Menschen über
alle anderen Lebewesen. Die Wurzel des christlichen Glaubens ist der Schöpfungs-
gedanke: Gott habe die Erde, Menschen, Tiere und Pflanzen geschaffen. Dem Men-
schen als Krone der Schöpfung sei alles andere Leben auf der Welt untergeben (vgl.
Frömming 2006, S. 8).
Und Gott sprach: Laßt (!) uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die
da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel
und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Er-
den kriecht. (Gen 1, 26-30)
Demnach bestimme der Schöpfergott, dass die Menschen über Tiere herrschen
könnten. Interessant ist die Frage nach der Umsetzung dieser Macht. Der Psycho-
analytiker und Erziehungswissenschaftler Jürgen Körner (1996, S. 36) schreibt dazu:
,,Der Mensch solle liebevoll und barmherzig mit Tieren umgehen, und zwar in dem
Sinne, wie er selbst auf die Barmherzigkeit Gottes vertrauen dürfe". Von einem gu-
ten Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Tier wird in einigen Gleichnissen
erzählt. So galt Noah als Erretter für die von der Sintflut bedrohte Tierwelt und in
der Weihnachtsgeschichte war es ein Esel, mit dessen Hilfe Maria und Joseph den
Tierstall als Herberge erreichten. An weiteren Stellen wird der Umgang mit Tieren
beschrieben. So stand z.B. am siebten Tag nicht nur dem Menschen, sondern auch
dem Tier eine Ruhepause zu: ,,Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun; aber des sieben-
ten Tages sollst du feiern, auf dass dein Ochs und Esel ruhen und deiner Magd Sohn
und der Fremdling sich erquicken" (Ex 23, 12). Diese Bibelstellen weisen darauf hin,
dass das Wohl der Tiere in dem christlichen Glauben eine Bedeutung haben
7

könnte (vgl. Frömming 2006, S. 9). Es scheint jedoch, als hätte die Kirche kein gro-
ßes Interesse an Tierschutz. ,,Tierschützer und Christen haben geschichtlich be-
trachtet kein gemeinsames Fundament" (a.a.O., S. 10). Erste Tierschutzbewegungen
des 18. und 19. Jahrhunderts gingen nicht von Christen, sondern eher von Atheisten
und Antiklerikern aus. Tieren wurde fehlende Vernunft und dadurch keine Gottes-
ebenbildlichkeit zugeschrieben und da sie demzufolge keine unsterblichen Seelen
besäßen, könnten sie nach dem Tod auf kein Weiterleben hoffen. So wurden Tiere
als ,,Sachen" angesehen, ,,... mit denen man nach Belieben verfahren konnte"
(Münch 2001, S. 29). Das Christentum und die Kirche haben somit den Herrschafts-
gedanken über Tiere geschürt und die in der Bibel vermittelte Verpflichtung und
Verantwortung den Tieren gegenüber nicht beachtet (vgl. ebd.).
2.1.5 Franz von Assisi und Thomas von Aquin - 13. Jahrhundert
Im 13. Jahrhundert regte der heilige Franz von Assisi einen ersten Wandel des
Mensch-Tier-Verhältnisses an. Er bezeichnete Tiere als ,,Brüder" und schrieb ihnen
eine Wahrnehmungsfähigkeit zu (vgl. Otterstedt 2003a, S. 22). Auch der einflussrei-
che dominikanische Philosoph Thomas von Aquin ging davon aus, dass Tiere Eigen-
schaften wie Ziel- und Zweckorientierung, Einsichts- und besitzen. Mit der Aussage:
,,Ein verändertes Verhalten des Menschen zu den Tieren wird auch Einfluß (!) auf
das Verhalten der Menschen untereinander haben" (Aquin, zit. n. Otterstedt 2003a,
S. 22) erstellte er die These, dass brutales und rücksichtsloses Verhalten der Men-
schen gegenüber Tieren zu ähnlichem Verhalten der Menschen untereinander füh-
ren könne (vgl. ebd.).
2.1.6 Zeitalter der Renaissance
In der Renaissance, dem Zeitalter des Humanismus, wurden die Gedanken von Assi-
si und Aquin kaum weitergeführt. Der Mensch stand erneut im Mittelpunkt (vgl.
Kaplan 2006, S. 8). Der Fokus wurde auf den Verstand und die Selbstkontrolle des
Menschen gelegt und damit grenzte er sich von den ,,verstandeslose(n) Triebwesen"
(Mütherich 2000, S. 32), den Tieren, ab, die als ,,Objekte menschlicher Verfügungs-
zwecke" (ebd.) betrachtet wurden. Abweichend von dieser Einstellung entstand je-
doch auch eine gegensätzliche Auffassung. Der Künstler und Naturphilosoph Leo-
nardo Da Vinci bezeichnete das Töten von Tieren als gleichwertiges Verbrechen wie
das Töten von Menschen und plädierte für die respektvolle Behandlung der
8

Tiere (vgl. Kaplan 2006, S. 8). Der französische Philosoph Michel de Montaigne wi-
dersprach ebenfalls der damaligen Einstellung Tieren gegenüber. Er wies Möglich-
keiten der nonverbalen Kommunikation zwischen Mensch und Tier nach und zeigte
somit, dass eine soziale Beziehung zwischen beiden Lebewesen möglich ist (vgl.
Mütherich 2000, S. 32 f.). Seine Denkansätze sind noch heute für die nonverbale Be-
gleitung von Menschen bedeutsam (vgl. Abschnitt 4.3.1.2).
2.1.7 René Descartes ­ 17. Jahrhundert
Ein bedeutender Wendepunkt wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit
der Philosophie von René Descartes erreicht. Der als ,,Vater der modernen Philoso-
phie" (Höffe 2008, S. 268) bezeichnete Naturforscher, Mathematiker und Philosoph
sah das Tier als eine Maschine, die von den Händen Gottes erschaffen wurde (vgl.
Descartes 1835, S. 50). Nach Descartes funktionierten diese Maschinen / Automaten
nach einem komplexen mechanischen Prinzip, ohne durch ein Bewusstsein gesteu-
ert zu sein (vgl. Kaplan 2006, S. 8; Otterstedt 2003a, S. 24; Frömming 2006, S. 6). Aus
dem fehlenden Bewusstsein, der fehlenden menschlichen Sprache und den nicht
vorhandenden Verstand der Tiere folgerte Descartes, dass diese auch keine Seele
besäßen. ,,Dies hatte zur Folge, dass ihnen gleichzeitig psycho-physische Fundamen-
talkategorien wie Schmerzerleben und Leiden abgesprochen wurden" (Mütherich
2000, S. 35). Die Schreie von Tieren, die geschlagen wurden, setzte Descartes mit
Geräuschen einer Saite gleich, die angeschlagen wurde. Der gesamte Körper sei je-
doch ohne Gefühl ­ wie ein Uhrwerk, nur komplexer (vgl. Kaplan 2006, S. 9). Diese
Denkweise beeinflusste die Einstellung vieler Menschen den Tieren gegenüber und
das Verhältnis zu ihnen. So waren grausame Untersuchungen am lebenden Tier
möglich, förderten sie schließlich den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn (vgl.
Kaplan 2006, S. 9; Frömming 2006, S. 6; Otterstedt 2003a, S. 24). Noch im 20. Jahr-
hundert legitimierte diese Trennung von Geist / Denken und Körper / Materie das
Leid von Tieren in wissenschaftlichen Experimenten, z.B. in Vivisektionen
1
(vgl.
Otterstedt 2003a, S. 24).
2.1.8 Jean-Jacques Rousseau ­ 18. Jahrhundert
Erst im 18. Jahrhundert schafften es bedeutende Persönlichkeiten, wie z.B. der fran-
zösische Philosoph Jean-Jacques Rousseau, eine neue Richtung für das Verhältnis
1
Vivisektionen sind operative Eingriffe am lebenden Tier (Duden 2003, S. 122)
9

zwischen Mensch und Tier einzuschlagen (vgl. Otterstedt 2003a, S. 24). Er sprach
sich für die Rechte von Tieren aus und lehnte den Verzehr von Fleisch ab. In seinen
ethischen Reflexionen nahm er nicht mehr ausschließlich die geistigen Fähigkeiten
der Tiere als Maßstab. Er stellte vielmehr Gemeinsamkeiten zwischen Menschen
und Tieren in den Bereichen der Sensibilität und des Fühlens fest (vgl. a.a.O., S. 25).
Diese Erkenntnisse bewirkten menschliche Verpflichtungen und Verantwortung
dem Tier gegenüber und lösten Tierrechtsgedanken aus, die zu ersten Tierschutzbe-
wegungen führten (vgl. Kaplan 2006, S. 10).
2.1.9 Charles Darwin ­ 19. Jahrhundert
Mit seiner Evolutionstheorie erschütterte Charles Darwin im 19. Jahrhundert den
christlichen Grundgedanken, der den Menschen in seinen Grundwerten von der
Natur getrennt betrachtete. Den Menschen ordnete er der Spezies der Primaten zu
und stellte damit das Tier als Vorfahre in den Mittelpunkt (vgl. Frömming 2006, S.
6). Mit dieser Theorie bewirkte Darwin, dass sich der Mensch wieder als Teil der
Natur sehen und fühlen konnte. ,,Die Biologie als Wissenschaftsdisziplin erfährt ein
rasch ansteigendes Interesse, der Natur- und Umweltschutz wird vorangetrieben
und die Heimtierhaltung wird populär" (a.a.O., S. 7). So entstand in England im Jahr
1822 das erste Tierschutzgesetz, nach dem Nutztiere nicht zu Unrecht gequält wer-
den durften (vgl. Kaplan 2006, S. 10). Auch in anderen Industrieländern gewann der
Tierschutz an Bedeutung. In Deutschland z.B. wurde 1837 der erste Tierschutzverein
gegründet, der sich 1881 mit anderen Tierschutzvereinen zum ,,Deutschen Tier-
schutzbund" zusammenschloss (vgl. Stober 2009).
2.1.10 Albert Schweitzer ­ 20. Jahrhundert
Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts erweiterte sich das Verständnis der Mensch-
Tier-Beziehung durch verschiedene Denkansätze. Der Theologe, Philosoph und Arzt
Albert Schweitzer (2009) entwickelte mit seinem Werk ,,Die Ehrfurcht vor dem Le-
ben" eine Ethik, die alles Lebendige äquivalent betrachtet. Mit der Aussage: ,,Ich bin
Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will" (a.a.O., S. 21) vermittelt er,
dass es kein weniger wertvolles Leben gibt. Für ihn waren Tiere gleichwertige und zu
achtende Mitgeschöpfe:
Mögen wir von seinen Regungen auch noch so wenig verstehen, so wissen wir
doch, daß (!) in ihm Wille nach Leben und Sehnsucht nach Glück ist wie in uns,
10

und daß (!) ihm Leiden und Vernichtung beschieden sind wie uns. Mit allem,
was lebt, sind wir durch Wesens-Verwandtschaft und Schicksalsgemeinschaft
verbunden. Wahre Ethik verlangt, daß (!) wir nicht nur uns nahestehendes Le-
ben, sondern alles Leben, das in unseren Bereich tritt zu erhalten und zu fördern
suchen. Alles Leben ist Geheimnis; alles Leben ist Wert. ... Erst wenn er seine
Verbundenheit mit allem Lebendigen anerkennt und betätigt besitzt der Mensch
wahres Menschentum. (Schweitzer 2001, S. 180 f.)
Mit dieser ,,universellen Ethik" sprach sich Schweitzer gegen die Missachtung von
anderen Lebewesen, z.B. in Stierkämpfen oder in Hetzjagden aus (vgl. ebd.). Für ihn
bestand keine klare Trennung zwischen Mensch und Natur, sondern eine Verbun-
denheit, die das Menschsein ausmacht. Die Denkweise von Albert Schweitzer und
weiteren Philosophen dieser Zeit prägte die Einstellung der Menschen und trug dazu
bei, dass sich die in den vorherigen Jahrhunderten entwickelte Distanz zwischen
Mensch und Tier wieder verringerte (vgl. Frömming 2006, S. 7).
2.1.11 Zeitalter der Industrialisierung
Im Zuge der Industrialisierung wurden viele Nutztiere durch Maschinen ersetzt (vgl.
Otterstedt 2003a, S. 25). Große Mastbetriebe entstanden und ,,Tierhaltung wurde zu
einer Tierproduktion" (ebd.). Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entstand ein
ambivalentes Verhältnis zwischen Menschen und Tieren (vgl. Abschnitt 2.2). Einer-
seits wurde das Tier in der Nahrungsproduktion und in Tierversuchen als Sache be-
handelt: Ohne das individuelle Tier zu sehen, anzuerkennen und auf sein Wohl zu
achten, wurden Tiere in Massen gezüchtet und kostenoptimiert gehalten (vgl. ebd;
Frömming 2006, S. 7 f.). Andererseits gewann die Beziehung zwischen Menschen
und Haustieren stark an Bedeutung: ,,In den von Vereinzelung und zwischen-
menschlicher Entfremdung geprägten westlichen Industriegesellschaften des ausge-
henden zwanzigsten Jahrhunderts rückt das Haustier als Bindungsfigur, als Partner-
und Gefühlswesen unerwartet in den inneren Zirkel des Menschen vor" (Rheinz
1994, S. 28). Als Partner und Freund wurden Haustiere in der modernen Gesell-
schaft populär. Die heutige Beziehung zwischen Mensch und Tier wird im alltägli-
chen Zusammenleben geprägt.
2.2 Zusammenleben mit Tieren in der heutigen Gesellschaft
Nach den Angaben des Industrieverbands Heimtierbedarf (2011) lebten 2010 allein
in Deutschland 22,3 Millionen Haustiere. Bei dieser Rechnung sind Zierfische und
11

Terrarientiere ausgeschlossen. In mehr als einem Drittel aller Haushalte werden
Haustiere gehalten. In Haushalten mit Kindern ist die Quote sogar noch höher. Die
Studie ,,Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts" (Zinnecker u. a. 2003)
beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dem Tier und dem Jugendlichen. Befra-
gungen ergaben, dass Tiere häufig als bedeutende ,,Bezugspersonen" genannt wur-
den. Sie wurden dabei meist als gleichwertiges Wesen empfunden, mit denen Ge-
heimnisse, Glück und Spaß geteilt wurden, die aber auch bei Trauer als Ansprech-
partner Trost spendeten (vgl. Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 17). Dabei be-
zeichneten 90% der befragten Kinder und 79% der befragten Jugendlichen ihre
Haustiere als ,,sehr wichtig" oder ,,wichtig". Für die Kinder und Jugendlichen gehör-
ten die Tiere dabei in der Regel zu den ,,vollwertigen Mitgliedern ihrer Familie"
(Zinnecker u. a. 2003, S. 32). ,,In der Beziehung zum Tier, in der Beschäftigung mit
ihm bringt sich Familie als kommunikative und eng verbundene Gemeinschaft per-
formativ hervor" (Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 17). Nach dem sozialkonstruk-
tivistischen Ansatz des ,,Doing Family" (Schier / Jurczyk 2007) tragen Tiere somit
dazu bei, ,,Familie" herzustellen. Nicht nur für Kinder und Jugendliche sind Tiere
alltägliche Begleiter in der heutigen Gesellschaft. Laut dem Industrieverband Heim-
tierbedarf (2011) leben die meisten Tiere in Haushalten von über 60-jährigen Men-
schen. Dies ist damit zu erklären, dass ältere Menschen aus physischen und psychi-
schen Gründen oft daran gehindert sind, an sozialen Aktivitäten teilzunehmen:
,,Tiere sind ein hilfreicher Begleiter und liebevoller Partner ... Wenn der Bekann-
tenkreis kleiner wird und Kontakte nicht mehr aufgebaut werden können ..." (Ot-
terstedt 2001, S. 55), ist eine Beziehung zum Tier eine seelische Unterstützung und
gibt dem Leben einen (weiteren) Sinn (vgl. ebd.).
Heimtierhaltung bedeutet jedoch nicht automatisch positive Reaktionen der Betei-
ligten. So können Tiere auch zur Belastung werden: ,,Das niedliche Kaninchen wur-
de größer und fing an zu beißen,... der Hamster stand erst nach 23 Uhr auf, ... die
Mutter war allergisch gegen den neuen Hund" (Wilde o. J.). In Deutschland befin-
den sich momentan etwa 500.000 abgegebene Tiere in Tierheimen (vgl. Rais 2006).
Gescheiterte Beziehungen zum Tier und gesundheitliche Auswirkungen mangelhaf-
ter Tierhaltung sind oft Gründe für die Abgabe des Haustieres (vgl. Buchner-Fuhs /
Rose 2012 / i. E., S. 18).
12

Ein weiterer Aspekt des Zusammenlebens mit Tieren in der heutigen Gesellschaft ist
die Nutzung der Tiere als Hilfsmittel. Obwohl Tiere in vielen Bereichen durch Ma-
schinen ersetzt wurden, ist der Nutzungsgedanke noch immer aktuell. So gibt es
Schutzhunde, Spürhunde, Rettungshunde, Behindertenbegleit- bzw. Blindenführ-
hunde und Tiere, die als therapeutische Begleiter eingesetzt werden (vgl. Otterstedt
2007, S. 14 ff.). Die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Tier erfolgt in diesen
Bereichen in der Regel auf partnerschaftlicher Basis des Vertrauens (vgl. ebd.).
Die in Abschnitt 2.1 bereits angesprochene Ambivalenz des Eingangs einer partner-
schaftlichen Beziehung mit dem Tier einerseits und der passiven und / oder aktiven
Unterstützung der Tierquälerei in der Nahrungsproduktion und in Tierversuchen
andererseits sind charakteristisch für die heutige Gesellschaft (vgl. Otterstedt 2003a,
S. 25). Das geliebte Haustier wird nicht mit dem Stück Fleisch auf dem Teller in
Verbindung gebracht (vgl. Hirschfelder / Lahoda 2012 / i. E., S. 162 ff.). Eine Pro-
duktion und Schlachtung der Tiere außerhalb der Sichtweite und dem Lebensraum
der meisten Menschen bewirkt eine ,,... Entfremdung der Bevölkerung von den ag-
rarischen Grundlagen" (ebd.) und ermöglicht eine gewisse Distanz zu dem Wissen
über die Aufzucht der Tiere. Die Gesellschaft des Konsums und Wettbewerbs fordert
große Mengen zu günstigen Preisen ­ seien es viele verschiedene Kosmetika, die an
Tieren getestet wurden oder Fleisch, das unter hochindustrialisierten Produktions-
methoden hergestellt wurde. Laut dem Tierschutzbericht der Bundesregierung
(Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 2003)
wurden im Jahr 2002 etwa 2,2 Mio. Tiere für Tierversuche verwendet. Knapp 500
Mio. Tiere wurden geschlachtet. Davon ca. 51 Mio. Säugetiere (Schweine, Rinder,
Schafe, Ziegen und Pferde) und ca. 444 Mio. Geflügeltiere. Vergleicht man diese
Zahlen mit der Anzahl der in Deutschland lebenden Haustiere, wird deutlich, dass
Menschen in Deutschland sich mit etwa 95,6% Nutz- und Versuchstieren und nur
etwa 4,4% Haustieren das Land teilen. Das enge Verhältnis der Menschen zu den
,,wenigen" Haustieren beeinflusst jedoch die Einstellung der Menschen auch Nutz-
tieren gegenüber. So sind Tierschutzinitiativen, wachsender Biofleischkonsum und
zunehmender Vegetarismus ein Zeichen dafür, dass auch das Wohl der Nutztiere
langsam an Bedeutung gewinnt (vgl. Kaplan 2006).
13

2.3 Fazit
Die Ausführungen dieses Kapitels machen deutlich, dass der Mensch seit Beginn
seiner Existenz in direktem Kontakt mit Tieren steht. Im Laufe der Geschichte hat
sich das Verhältnis zwischen Mensch und Tier geändert. Während der frühen Stein-
zeit lebten Menschen noch koexistent mit Tieren und beide waren gleichwertige Ge-
schöpfe. Gegen Ende der Steinzeit begann der Mensch als Jäger dem Tier überwie-
gend überlegen zu sein. Im Laufe der nächsten Jahrtausende verfestigte sich diese
Überlegenheit, sodass es in der heutigen Zeit absolut undenkbar scheint, dass sich
diese Hierarchie zwischen Mensch und Tier noch ändern könnte.
Die Beziehung zwischen Mensch und Tier wurde auch durch die Einstellung dem
Tier gegenüber geprägt. Die Frage, ob das Tier eine Seele habe, beschäftigte den
Menschen im Laufe seiner Geschichte immer wieder. Während die Menschen in der
Antike fest davon ausgingen, dass Tiere eine Seele hätten, evtl. sogar die von einem
verstorbenen Mitmenschen, wurde seit dem Christentum vermutet, dass das Tier
keine unsterbliche Seele besäße. Besonders mit der Philosophie von René Descartes
wurden dem Tier die Seele, Verstand, Gefühle und Emotionen abgeschrieben. Im
Laufe der Industrialisierung mit zunehmender Haustierhaltung änderte sich diese
Einstellung jedoch erneut und so geht die heutige Gesellschaft davon aus, dass ein
Tier Emotionen und Mitgefühl empfinden kann. Diese Fähigkeiten ermöglichen es,
das Tier als Partner zu sehen und in der Pädagogik bzw. für Therapien einzusetzen
(vgl. Kapitel 5 und 6).
Die Ambivalenz des Haustieres als Partner des Menschen einerseits und die wach-
senden Entfremdung von dem wilden Tier oder Nutztier andererseits, könnte ein
Hinweis darauf sein, dass die Menschen seit der Industrialisierung das Zusammen-
leben von Mensch und Tier noch stärker ihrer Kontrolle unterziehen wollen. Wäh-
rend unangenehme Berührungspunkte mit Tieren (z.B. Tierversuche oder Massen-
tierhaltung) möglichst außerhalb des menschlichen Lebensraums liegen sollen, fin-
den Haustiere in selektierter, kontrollierter, gebändigter und funktionalisierter Wei-
se Zugang zu den Menschen. Dies ermöglicht es, das Haustier als Familienmitglied
und Beziehungspartner zu sehen, ohne dabei die Überlegenheit und Entschei-
dungsmacht über das Tier zu verlieren. Erklärungsansätze, aus welchen Gründen
14

Menschen solche Beziehungen mit Tieren eingehen, werden im folgenden Kapitel
erläutert.
3 Theoretische Erklärungsansätze der Mensch-Tier-Beziehung
Das vorherige Kapitel über die geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung von
Mensch-Tier-Beziehungen hat dargelegt, dass der Mensch sich seit seiner Existenz
mit seinem Verhältnis zu Tieren auseinandersetzt. Besonders mit vermehrter Haus-
tierhaltung wächst das Interesse an dem Tier als Partner. In diesem Kapitel wird da-
her beleuchtet, welche Erklärungsansätze heutige Wissenschaften zu der Entstehung
von Mensch-Tier-Beziehungen liefern. Hierfür werden Theorien aus der Soziobiolo-
gie, Psychologie, Biologie, Philosophie und Sozialpädagogik erläutert. In dem Fazit
werden Überschneidungen der Erklärungsansätze aufgezeigt und die Problematik
der Verifizierbarkeit thematisiert.
3.1 Soziobiologischer Erklärungsansatz: Biophilie
Der Begriff ,,Biophilie" umfasst die altgriechischen Wörter ,,bios" ,Leben` und
,,philia" ,Liebe` und kann mit ,Liebe zum Leben` übersetzt werden. Mit dieser Bedeu-
tung verwendet Erich Fromm den Begriff in der analytischen Sozialpsychologie.
Demnach ist Biophilie das lebensfördernde Syndrom, das sich auf die Liebe zum
Leben und alles was dem Leben dient bezieht und sich durch kreative Arbeit, Pflege
und Hingabe auszeichnet (vgl. Landis 1978, S. 88). Als Gegensatz nennt Fromm die
Nekrophilie, das lebenszerstörende Syndrom, ,,... das sich auf die lustbetonte Anzie-
hungskraft von alldem bezieht, was destruktiv, mechanisch oder tot ist" (ebd.). Es
äußere sich in Gier, Sadismus, Machtkämpfen und Egozentrik. Fromm bezeichnet
diese Orientierungen als Charaktertypen, wobei die Biophilie biologisch bedingt ist
und die Nekrophilie eine ,,... sekundäre psychopathologische Alternative (ist), die
nur dann auftritt, wenn der Mensch an der Entwicklung der Biophilie gehindert
wird" (ebd.). Eine weitere Verwendung des Begriffes findet sich in der Soziobiologie.
Der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson (1984) weist in seinem Buch
,,Biophilia: The Human Bond With Other Species" darauf hin, dass sich in der Evo-
lution Menschen stets zusammen mit anderen Lebewesen entwickelt haben. Aus
diesem Grund haben sie eine biologisch begründete Affinität zu dem Leben sowie zu
der Natur entwickelt. Erfahrungen, die im Zusammenhang mit der Natur und ande-
15

ren Lebewesen gesammelt wurden, beeinflussen und manifestieren sich in sozialen
und psychischen Prozessen, z.B. in dem Prozess der Bindung. Wie Fromm geht Wil-
son davon aus, dass Biophilie biologisch bedingt ist. Er beschreibt sie als angeborene
Tendenz, den Fokus der Aufmerksamkeit auf das Leben sowie lebensähnliche Pro-
zesse zu richten (vgl. Wilson 1984, S. 1). Nach Wilson hängt die Existenz der Men-
schen von der Neigung ab, die Vielfalt von Lebewesen und lebenserhaltenden ökolo-
gischen Settings zu erkunden und sich mit ihnen zu verbinden (vgl. ebd.). Demnach
beeinflusst die Beziehung zu der Natur und zu anderen Lebewesen die menschliche
Identität und die persönliche Erfüllung (vgl. Kellert 1993b, S. 42). Wilson ist der
Meinung, dass Menschen, die andere Lebewesen verstehen, diesen und auch sich
selbst mehr Bedeutung und Wertschätzung entgegenbringen (vgl. Wilson 1984, S.
2).
Die Biophilie-Tendenz kann von der frühesten Kindheit an beobachtet werden. Der
Entwicklungspsychologe Erhard Olbrich (2003b) spricht von einer maximalen Ver-
bundenheit von Kind und Umwelt ab der Geburt. Diese kommt dadurch zustande,
dass ein Kind noch nicht in der Lage ist, bewusst Situationen zu reflektieren. Es kon-
struiert seine Umwelt auch weniger nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, als
es später im Erwachsenenalter der Fall ist. Diese anfängliche nicht vorhandene
Trennung von Kind und Natur bezeichnet Olbrich als ,,Verbundensein mit allen für
das Kind erfahrbaren Aspekten des Kosmos" (1997, S. 5). Er geht davon aus, dass
diese anfängliche Verbundenheit mit der Natur durch die Zivilisation und Sozialisa-
tion mit fortschreitendem Alter überdeckt und gemindert werden kann. Laut Jung
(1931) entwickelt ein Säugling nach und nach ein Bewusstsein, welches eine zuneh-
mende Trennung von der allumfassenden Verbundenheit bewirkt. Die sich im Ju-
gendalter entwickelnden bewussten Prozesse sollten sich mit den unbewussten er-
gänzen und nicht als Gegensätze fungieren. Olbrich geht in diesem Zusammenhang
auf die Relevanz der Affinität zur Natur und anderen Lebewesen ein:
... bleibt Bewusstsein zu ausschließlich ein ,monistischer Herrscher` der allein
[die] Welt erfasst und verarbeitet, dann besteht die Gefahr des Verlustes wesent-
licher Qualitäten ... Das ... ist eine Trennung, die sowohl den Kontakt zu den
tieferen Prozessen der eigenen Person unterbindet (etwa das Leben mit den ei-
genen Instinkten mit Symbolen, die sich einer bloß bewussten Deutung nicht er-
schließen, mit persönlichen unbewussten Dynamiken, etc.) als auch wichtige
16

Formen des Kontaktes mit anderen Lebewesen sowie mit Naturphänomenen
unmöglich macht, wenn sie nicht auf Umwegen den Zugang zu Bereichen der
menschlichen Bewusstheit finden. (Olbrich 1997, S. 8)
Demnach ist für Olbrich die Verbundenheit mit der Natur für tiefere, unbewusste
Prozesse und für den Kontakt mit anderen Lebewesen, wie z.B. Tieren, förderlich,
wenn nicht sogar notwendig.
Wilson (1984) macht deutlich, dass die Menschen dieses Bestreben zur Verbunden-
heit mit nichtmenschlichen Lebewesen und Natur trotz vermeintlicher Unabhängig-
keit in der Gestaltung ihres Lebensraumes zeigen (vgl. S. 109 ff.). In Städten werden
Parkanlagen angelegt, Vögel werden auf Balkonen angefüttert und Haustiere werden
gehalten. Wenn das Lebendige jedoch durch tote Gegenstände ersetzt würde (z.B.
Plüschtierroboter statt Haustiere), entstünden trotz guter Nachahmung der Natur
Defizite für den Menschen. Relevante Erfahrungsräume gingen verloren, derer das
menschliche Gehirn in der Entwicklung jedoch bedürfe (vgl. ebd.).
Gemeinsam mit Stephen Kellert belegt Wilson anhand von Beobachtungen, Erfah-
rungen und Feldexperimenten das Bedürfnis der Menschen, mit anderen Formen
des Lebens (sowohl mit der Vielfalt von Lebewesen, als auch mit lebenserhaltenden
Ökosystemen) in Verbindung zu stehen (vgl. Kellert, Wilson 1993). Kellert bezeich-
net Biophilie als eine ,,... emotionale, physische und kognitive Hinwendung zum
Leben und zur Natur" (1997, S. 2).
Kellert differenziert neun Perspektiven der Bezugnahme von Menschen zur Natur,
die die mutmaßliche biologische Grundlage der Verbundenheit zur natürlichen
Welt darstellen.
1. Die utilitaristische Perspektive betont die Nützlichkeit der Natur für den
Menschen. Sie sichert sein Überleben (Ernährung, Kleidung, Forschung und
Arbeitskraft) durch die Nutzung von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen, etc.
(vgl. Olbrich 2003b, S. 70).
2. Die naturalistische Perspektive beschreibt das Empfinden von Zufriedenheit
und Ausgeglichenheit des Menschen im Kontakt mit der Natur. Durch die
Verbundenheit kommt es zur Entspannung, aber auch zur Faszination, Neu-
gierde und Bewunderung der Komplexität der Natur (vgl. a.a.O., S. 70 f.).
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3. Die ökologisch-wissenschaftliche Perspektive umfasst die Beobachtung und
systematische Erforschung lebendiger und nichtlebendiger Naturelemente
(vgl. Hegedusch / Hegedusch 2007, S. 37). Der ökologische Schwerpunkt liegt
dabei auf dem ,,Zusammenspiel zwischen allen lebenden und nichtlebenden
Elementen der Natur" (Olbrich 2003b, S. 71), der wissenschaftliche Schwer-
punkt auf Analyse und Aufbau neuer Strukturen. Die ökologisch-
wissenschaftliche Perspektive dient zum Aneignen von Wissen. Außerdem
kann sie ein Verstehen, Erklären und Kontrollieren der Welt ermöglichen.
4. Laut der ästhetischen Perspektive fühlen sich die Menschen von der Schön-
heit und physischen Harmonie der Natur angezogen. Sie wirkt inspirierend
und ergreifend und gibt einem das Gefühl, etwas Vollkommenem begegnet
zu sein (vgl. Olbrich 2003b, S. 71).
5. Die symbolische Perspektive geht davon aus, dass die Natur verschiedene
Codes (Schemata, Kategorien) vorgibt. Diese Codes können dann von dem
Menschen verstanden werden. Als Beispiel können Schemata des Befindens,
wie z.B. Wut, Freude, Angst, etc. und des Verhaltens, wie z.B. Drohen oder
Dominieren genannt werden. Selbst wenn das Tier dem Menschen unbe-
kannt ist, kann er in der Regel trotzdem das Drohen oder ,,sich Freuen" des
Tiers erkennen, da es sich bei den meisten Tieren sehr ähnlich äußert und
damit übertragbar ist. Natursymbole treten historisch betrachtet in Mythen,
Sagen, Legenden und Märchen auf. Sie werden sowohl zur Spiegelung der ei-
genen Identität genutzt, als auch als Kennzeichnung der Details von lebenden
und nicht lebenden Elementen in der Welt (vgl. ebd.).
6. Die humanistische Perspektive betont die Liebe und Verbundenheit des
Menschen zur Natur. Sie äußert sich durch Fürsorge, Uneigennützigkeit und
Bindung (vgl. ebd.).
7. Die moralische Perspektive hebt die Bedeutung von Verantwortung hervor.
Wenn ein Mensch z.B. einem verletzten Tier begegnet, fühlt er sich in der
Regel verantwortlich, dem Tier zu helfen (vgl. ebd.).
8. Die dominierende Perspektive beschreibt den Drang der Menschen die Na-
tur zu kontrollieren und zu dominieren. Dieses Verhalten bewirkt u.a. die
Entwicklung mechanischer Techniken und Fertigkeiten (vgl. Vernooij /
Schneider 2010, S. 7).
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9. Die negativistische Perspektive ist durch Angst und Aversion des Menschen
gegenüber belebten und unbelebten Elementen gekennzeichnet. Beispiele
hierfür sind die Antipathie gegen einzelne Tierarten (z.B. Spinnen, Vögel,
etc.) oder Angst vor einem Wald bei Nacht.
Diese neun Perspektiven liefern verschiedene Erklärungen für Auswirkungen von
Natur auf den Menschen und sein Verhalten. Sie treten wiederholt in verschiedenen
Bereichen, Situationen und Lebenslagen auf. Sie sind im Zusammenhang zu betrach-
ten und können getrennt aber auch parallel auftreten. Nach Kellert (1997, S. 160 f.)
dient jede Perspektive der Biophilie menschlichen Anpassungsvorteilen während der
Evolution und Entwicklung und hat ihren ,,... spezifisch adaptiven Wert für den
Erhalt der eigenen Existenz ebenso wie für den Erhalt des biologischen, besser: des
ökologischen Systems" (ebd.).
Im Zusammenhang mit der Biophilie-Hypothese wird von vielen Autoren die be-
sondere Wirkung von Tieren beschrieben:
In Anwesenheit von Tieren werden Beziehungen zwischen SchülerInnen sowie
zwischen SchülerInnen und LehrerInnen kooperativer, freundlicher. Aggressives
und gewalttätiges Verhalten lassen nach, wenn Tiere anwesend sind. Die Anwe-
senheit von Tieren strahlt auf die ganze Situation und auf Institutionen aus und
lässt alle Beteiligten sozial attraktiver erscheinen. (Olbrich 2003b, S. 76)
Durch mangelnde Fachstudien und empirische Evaluationsforschung sind solche
Aussagen jedoch kritisch zu betrachten. Es besteht die Gefahr einer Idealisierung der
Tiere als Allheilmittel für die Soziale Arbeit (vgl. Abschnitt 7.5).
3.2 Psychologischer Erklärungsansatz I: Du-Evidenz
Du-Evidenz steht für das emotionale gewahr werden des ,,Du" im Anderen. Begeg-
net ein Mensch einem Tier, so ist es zunächst eine Begegnung mit einem ,,Es". Erst
durch sein Wesenhaftes wird das Tier zu einem ,,Du" (vgl. Greiffenhagen / Buck-
Werner 2007, S. 21 f.). Martin Buber schreibt dazu: ,,Wenn aber eins hervorsteigt aus
den Dingen, ein Lebendes, und mir Wesen wird, und sich in Nähe und Sprache zu
mir begibt, wie unabwendbar kurz ist es mir nichts als DU" (1997, S. 100). Das Ge-
genüber verliert seine Anonymität und wird in seiner Individualität erkannt und
angenommen.
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Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend kleinen
Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebenso we-
nig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber
wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig
sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt ... (Saint-Exupery
1956, S. 92)
In dem Kinderbuch ,,Der kleine Prinz" wird ,,Zähmen" als ,,vertraut machen" be-
schrieben (vgl. ebd.). Erst wenn sich das Subjekt mit dem Gegenüber auseinander-
setzt und es als Individuum erkennt, kann ein Beziehungsaufbau ermöglicht werden.
Zwischen Menschen und Tieren sind Beziehungen möglich, ,,... die denen entspre-
chen, die Menschen unter sich beziehungsweise Tiere unter sich kennen" (Greiffen-
hagen / Buck-Werner 2007, S. 22). Die Initiative, eine Beziehung aufzubauen, geht
dabei in der Regel von dem Menschen aus. Es kommt jedoch auch vor, dass sich ein
Tier einen Menschen als Du-Genosse auswählt.
In der Entwicklung von Du-Evidenz sind besonders persönliche, subjektive Gefühle
und Einstellungen bedeutend. Die Beziehung wirkt auf einer sozio-emotionalen
Ebene und ist Voraussetzung für Empathie und Mitgefühl. Der Ethnologe Frans de
Waal (2008) geht davon aus, dass sowohl Menschen als auch Tiere empathiefähig
sind. Er beschreibt eine Situation, in der ein Gorilla einem anderen, der in einem
Kampf besiegt wurde, seinen Arm umlegt und mit ihm trauert (vgl. a.a.O., S. 282 ff.).
Eine Du-Evidenz zwischen Menschen und Tieren kann besonders dann entstehen,
wenn Empfindungen, körpersprachlicher Ausdruck und Bedürfnisse der Menschen
und Tiere sich ähneln. So gehen Menschen bevorzugt Beziehungen mit sozial leben-
den Tieren wie z.B. Hunden und Pferden ein, da mit diesen eine positive Ver-
menschlichung (vgl. Abschnitt 4.1) und vielfältige Identifikationen möglich sind und
beide Parteien emotional sowie sozial von ihrer Beziehung zum Gegenüber profitie-
ren können (vgl. Vernooij / Schneider 2010, S. 7 f.).
Helmut Schelsky unterscheidet zwischen der Ich-Subjektivität und der Du-
Subjektivität. ,,Bevor das Kind sich selbst kennt als ein Ich, versteht es die Mutter
und bald auch den Hund als ein Du" (Buytendijk 1958, S. 39). Diese Offenheit für
eine Welt des Gegenübers, des ,,Du", begünstigt die Entstehung von Beziehungen
zwischen Kindern und Tieren. Im Zuge des Erwachsenwerdens können sich die Du-
Evidenzen zwischen Menschen und Tieren ändern. Einige Erwachsene lassen sich
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nicht mehr auf eine Beziehung mit Tieren ein, andere vermenschlichen ihre Tiere
und sehen sie sogar als Kindersatz.
In seinem Buch ,,Ich und Du" schreibt Martin Buber (1995, S. 92): ,,Nicht die Bezie-
hung ist es, die notwendig nachlässt, aber die Aktualität ihrer Unmittelbarkeit. Die
Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert, aber
im Wechsel von Aktualität und Latenz." Demnach sind in einer Beziehung wieder-
holte Impulse in der Begegnung wichtig, um ,,... die Aktualität der Beziehung erleb-
bar zu machen" (Otterstedt 2003b, S. 65). Die Beziehung mit dem Tier (dem Du)
wird durch Kommunikation ­ einem Dialog zwischen Tier und Mensch ­ geprägt.
In dem nonverbalen oder verbalen Gespräch wird versucht, eine Kommunikations-
ebene zu finden (vgl. ebd.). Abschnitt 4.3 beschreibt die Kommunikationsmöglich-
keiten zwischen Mensch und Tier.
Für den pädagogischen und therapeutischen Einsatz von Tieren (vgl. Kapitel 5 u. 6)
ist die Du-Evidenz die ,,unumgängliche Voraussetzung" (Otterstedt 2003b, S. 65) für
das Gelingen der Interventionen. Auch Bindungen zwischen Mensch und Tier kön-
nen nur auf der Ebene der Du-Evidenz entstehen (Otterstedt 2003b, S. 65).
3.3 Psychologischer Erklärungsansatz II: Ableitungen aus der Bindungs-
theorie
Die zuletzt beschriebene Du-Evidenz zwischen Mensch und Tier ist auch für bin-
dungstheoretische Ansätze relevant. Ein Mensch bindet sich nur an jemanden, mit
dem er zuvor eine Beziehung auf der Ebene der Du-Evidenz aufgebaut hat. Die Psy-
chologin Andrea Beetz geht davon aus, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tie-
re Bindungsobjekte sein können (vgl. Beetz 2003a, S. 76 ff).
Bevor auf die Möglichkeit der Bindung zwischen Mensch und Tier eingegangen
wird, werden im folgenden Abschnitt Erkenntnisse zu Bindungen aus der Human-
psychologie erläutert.
3.3.1 Bindungstheoretische Grundlagen
Die Bindungstheorie geht zurück auf die Forschung des britischen Kinderpsychia-
ters John Bowlby (1968) und der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth (1969).
Demnach entsteht im ersten Lebensjahr eine Bindung zwischen dem Kind und ei-
ner oder mehrerer Bezugsperson(en), die auf das Bindungsverhalten, wie z.B. La-
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783863418649
ISBN (Paperback)
9783863413644
Dateigröße
354 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Kiel
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
Pädagogik Soziale Arbeit Mensch-Tier-Beziehung Interaktion Kommunikation
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Titel: Mensch-Tier-Beziehung - Möglichkeiten und Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit
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