Demografischer Wandel: Über die Bedeutung des Alters in einer alternden Gesellschaft
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Alter(n) in Zahlen und Fakten
1.1 Was ist Alter(n)?
Eine scheinbar einfache Frage, die aber bei genauer Betrachtung gar nicht so einfach zu beantworten ist. Es gibt wissenschaftliche Literatur auf dem Markt, die sich ausschließlich mit Beantwortung dieser einen Frage beschäftigt. Das zeigt wie vielschichtig und interdisziplinär man darauf antworten kann.
„Alter – das ist kein plötzliches Ereignis, sondern ein allmählicher biologischer Vorgang, der mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Es handelt sich um einen irreversiblen Prozess, sozusagen ein biologisches Schicksal, das jedes Lebewesen erfasst“ (Ho/Wagner/Eckstein 2008, S. 33). Eine kurze und prägnante, sowie sehr nüchterne biologische Betrachtungsweise auf das Alter. Für die Soziologen bedeutet Altern als Prozess diverses: „Auf der Individualebene sind es die permanenten Sozialisationsvorgänge und die Erfahrungen, die in einem bestimmten Lebensalter die Handlungskompetenzen und Deutungsmuster beeinflussen“ (Prahl/Schroeter 1996, S. 14). Die heute 80-Jährigen beispielsweise wurden in der ausklingenden Weimarer Republik geboren, erlebten als Kinder und Jugendliche die Erziehungsstile des Dritten Reiches und später die der DDR oder BRD. Sie durchlebten also verschiedene Sozialisationsstile und Gesellschaftsordnungen. Apropos Gesellschaft: Auf dieser Ebene lassen sich Veränderungen in der Wertschätzung von Altwerden und Altsein erkennen: Altersbilder wandeln sich in rasantem Tempo, neue gesellschaftliche Muster kristallisieren sich heraus. Und auf der demographischen Ebene verändert sich die Bevölkerungsstruktur: Der Anteil der älteren Jahrgänge nimmt zu, während der Anteil der Jüngeren abnimmt. Auf diesen drei Ebenen (Individual-, Gesellschafts- und demographische Ebene) wird Altern als Prozess begriffen und meint trotzdem auf jeder Ebene verschiedenes (vgl. ebd.).
Altern ist ein lebenslanger Prozess, der bei jedem Menschen anders verläuft. Unsere Alterung ist „eine komplexe Erscheinung mit kulturellen, biologischen und individuellen Aspekten, deren Gestalt und Bedeutung sich im jeweiligen Umfeld einer Gesellschaft und ihrer Zeit äußert“ (Druyen 2005, S. 21). Es ist ein dynamischer Vorgang und „als Wechselspiel zwischen der individuellen Biografie und dem Lebenskontext“ (ebd.) zu verstehen.
Werfen wir ferner einen Blick in die frühe Menschheitsgeschichte: Der homo sapiens beispielsweise, der vor 200 000 Jahren die Erde besiedelte, starb, bevor er altern konnte. Die Cro-Magnon-Menschen hingegen, die vor ca. 50 000 Jahren lebten, wurden durchaus 60 Jahre alt und überlebten somit das Ende ihrer Fortpflanzungsphase. Demnach scheint das Alter(n) eine Zivilisationserscheinung zu sein. In dieser Kultur, die weder Schrift noch Papier kannte, war das Alter eine der bedeutendsten Ressourcen. Die Alten sammelten und bewahrten wertvolles Wissen auf und gaben es an die heranwachsende Generation weiter. Wenn man so will, waren diese Alten die Archive und Bibliotheken ihrer Zeit. Nicht nur die verlängerte Lebensspanne, auch der körperliche Verfall und die Vergreisung haben ihren evolutionären Sinn. Wären die Cro-Magnon-Menschen im Alter weiterhin stark, fit und potent geblieben, dann wären sie immer noch mit Jagen, Sammeln und Fortpflanzen beschäftigt gewesen. Nur das Alter mit seinen Erscheinungen erlaubte ihnen den Müßiggang und das Kommunizieren über alte Zeiten und neue Geschehnisse (vgl. Seidl 2005, S. 7). Doch wie sieht das heute aus? Heute müssen wir nicht mehr alt sein um Wissen weiterzugeben. Wir sind und fühlen uns auch geistig und körperlich mindestens zwei Jahrzehnte jünger als der Cro-Magnon-Mensch, der sich, müde von Jagd, Kampf und dem Zeugen unzähliger Kinder, ab dem 45. Geburtstag „in seine Höhle verkroch, sich am Lagerfeuer wärmte und nach einem schönen Stück gebratenen Büffels seinen Kindern und Enkeln die Welt erklärte“ (ebd.). War das Alter also nur eine Erfindung der Cro-Magnon-Zeit, die sich heute womöglich längst überholt hat?
Ab wann ist man nun eigentlich alt?
Der Mensch hat sich sein Leben seit jeher gerne in Abschnitte unterteilt. Schon im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. teilt Solon in seiner Alterselegie den Lebenslauf in zehn Stufen zu sieben Jahren ein, wobei die letzten beiden Stufen das Alter bedeuten (hier: 56 – 70 Jahre). Solon selbst wurde 80 Jahre alt und erreichte somit ein Alter, das er in seiner Einteilung nicht berücksichtigte (vgl. Ehmer 2008, S. 157). Pythagoras hingegen gliedert das Leben in vier Stufen zu je 20 Jahren und parallelisiert die Jahreszeiten mit den Lebensphasen. Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter sollen wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter aufeinander folgen. Diese Analogisierung regt zum Nachdenken an. Erstens werden wir an unsere Natürlichkeit in Bezug auf Leben, Sterben und Altern erinnert und zweitens wird uns der Kreislauf bewusst, von dem wir ein Teil sind. Allerdings geht dieser nicht für uns von vorne los, sondern für die nachfolgende Generation (vgl. Welsch 2008, S. 201). Im Assyrischen findet sich eine weitere erstaunliche Einteilung: „40 Jahre ist Blüte, 50 Jahre sind kurze Tage, 60 Jahre ist reifes Alter, 70 Jahre sind lange Tage, 80 Jahre ist Greisenalter und 90 Jahre ist gesegnetes Alter“ (Höffe 2008, S. 191). In der späten römischen Republik unterschied man sogar schon zwei Phasen des Alters: senior (45 – 60 Jahre) und senex (60 Jahre bis zum Tod). Das 60. Lebensjahr findet sich häufig als Grenze zum Greisenalter, beispielsweise in der Neuzeit, als sich die Einteilung des Lebenslaufes in Zehnjahresgruppen durchsetzte (vgl. Ehmer 2008, S. 157). Heute bezeichnet die Bevölkerungswissenschaft, also die Demographie, die Zeit ab dem 65. Lebensjahr als Alter. Die Soziologie spezifiziert diese Jahre: So werden die 60 – 75-Jährigen als die jungen Alten, die 75 – 90-Jährigen als die Alten, die 90 – 100-Jährigen als die Hochbetagten und die über 100-Jährigen als die Langlebigen bezeichnet. Darüber hinaus schlug Peter Laslett schon in den 1970er Jahren vor, zwischen dem dritten und dem vierten Alter zu unterscheiden. Das dritte Lebensalter beschreibt die Phase nach der Erwerbsarbeit, die heutzutage meist 20 Jahre und länger sein kann. Es ist die Zeit der neuen Alten, die fit, mobil und konsumfreudig sind. Das vierte Lebensalter hingegen ist eine kurze Phase und umfasst die biologischen Vorgänge des nahenden Todes (vgl. Prahl/Schroeter 1996, S. 13f).
Fraglich bleibt, ob eine chronologische Festlegung des Alters überhaupt Sinn macht oder ob wir uns nicht eher davon lösen sollten. In vielen östlichen und afrikanischen Kulturen spielt das chronologische Alter eine eher untergeordnete Rolle. Bedeutsamer bei der Altersorganisation sind Ereignisse, wie zum Beispiel das Klimakterium, graue und/oder ausfallende Haare, das Nachlassen körperlicher und geistiger Kräfte. „In vielen Wildbeutergesellschaften gilt ein Mensch als alt, der nicht mehr an weiten Jagdzügen oder an der Versorgung von Kleinkindern teilnehmen kann. Bei Kriegerkulturen setzt Altsein sogar noch früher ein, wenn Schnelligkeit und Körperkraft nicht mehr als hinreichend erachtet werden“ (ebd., S. 61). Und so haben die Menschen seit jeher das Alter nicht nach dem bewertet, was es tatsächlich ist, sondern nach dem was es nicht ist. Dunkelheit sei als Abwesenheit von Licht definiert und Alter als Abwesenheit von Jugend (vgl. Druyen 2003, S. 194). Trotzdem ist Alter „ein relativer Begriff, der vor allem von der Perspektive des Betrachters abhängt […] Je jünger ein Mensch ist, desto früher beginnt in seinen Augen das Altsein“ (Harsch 2012, S. 213).
Der demographische Wandel
Von der Antike bis in das 18. Jahrhundert hat sich in der Demographie nur sehr wenig verändert. Über die Jahrhunderte hinweg waren stets 5 – 10 Prozent der Bevölkerung, also ein recht geringer Teil, über 60 Jahre alt. Die Mehrheit der Menschen erreichte das hohe Alter nicht, was auch bedeutete, dass das Sterben, mehr als heute, in allen Altersstufen stattfand. Vor allem die Sterblichkeit von Säuglingen und Kleinkindern war sehr hoch. Trotzdem gab es auch zu jener Zeit alte und sehr alte Menschen. Hohe Anteile 60 – 80-Jähriger finden sich bei den Päpsten des Mittelalters oder den Künstlern der Renaissance. Bereits in der Antike schätzte man das von der Natur gesetzte menschliche Höchstalter korrekterweise auf 120 Jahre. Viele der großen Griechen lebten erstaunlich lange: Die Philosophen Epiktet, Platon und Pyrrhon von Elis erreichten ein Alter von 75, 80 und 90 Jahren. Der Lyriker Solon wurde 80, der Dichter Sophokles 90 und der Sophist Gorgias gar stolze 100 Jahre alt. Allerdings gab es zu jener Zeit gravierende geographische Unterschiede bezüglich der durchschnittlichen Lebensdauer der Bevölkerung. Diese betrug in Rom aufgrund der sehr hohen Kinder- und Jugendsterblichkeit nur 22,6 Jahre, in den nordwestafrikanischen Provinzen hingegen durchschnittlich bis zu 60 Jahre (vgl. Höffe 2008, S. 191).
Im 19. und 20. Jahrhundert begann der demographische Wandel. Trotz aller Kriege und Katastrophen wuchs die Weltbevölkerung zwischen 1900 und 2000 von 1,5 auf 6 Milliarden Menschen an. Daher bezeichnen Demographen das 20. Jahrhundert auch als das Jahrhundert des Bevölkerungswachstums. Dieser Trend wird sich stark verlangsamen (vgl. Kocka 2008, S. 217). In Deutschland beispielsweise würde die Bevölkerungszahl ohne Zuwanderung bis zum Jahr 2050 auf 50,7 Millionen Menschen zurückgehen. Und bis 2100 könnte sie sich sogar bis auf 24,3 Millionen verringern (vgl. Druyen 2005, S. 19f). Die Weltbevölkerung wird bis 2080 mit ca. 9 Milliarden Menschen ihr Maximum erreichen und danach in die Phase der Weltbevölkerungsschrumpfung kommen (vgl. Birg 2003, S. 8). Das 21. Jahrhundert wird daher als das Jahrhundert des demographischen Alterns in die Geschichte eingehen (vgl. Kocka 2008, S. 217). „Denn der unaufhaltsame, sich von Tag zu Tag beschleunigende Verfall der Bevölkerung, die Überalterung unserer Gesellschaft, die graue Revolution wird das Antlitz Europas stärker verändern als die französische, die russische oder die osteuropäische Revolution, wird größere gesellschaftliche Veränderungen anrichten als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen“ (Tichy/Tichy 2001, S. 10, zit. nach Druyen 2005, S. 17f). Die Fakten lassen sich nicht schönreden: Das Statistische Bundesamt rechnet bis zum Jahre 2050 mit einem Bevölkerungsrückgang von ca. neun Prozent. „Dabei wird für die Anzahl der Personen im Erwerbsalter (20 bis 64 Jahre) ein Rückgang um 20 Prozent, für die Anzahl der über 65-Jährigen eine Zunahme um 54 Prozent und für die über 80-Jährigen eine Zunahme um 174 Prozent erwartet“ (Kruse/Schmitt 2005, S. 9). Die durchschnittliche Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt stieg innerhalb der letzten 150 Jahre von 48 auf 83 Jahre und verdoppelte sich somit fast. Zu verdanken haben wir das dem medizinischen Fortschritt und dem Gesundheitssystem, der Hygiene, verbesserten Lebensbedingungen, sowie zunehmender Bildung und steigendem Lebensstandard. Das Erreichen eines hohen Alters ist heute kein Einzelschicksal mehr oder gar ein Privileg. Geburtskohorten altern und sterben gemeinsam und der Tod ereilt die Menschen hauptsächlich im hohen Alter. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit bilden nun die Alten die zahlenmäßig stärkste Gruppe. 2008 lag der Anteil der über 60-Jährigen bei 24 Prozent, 2040 sollen es laut Experten-Prognosen schon 35 Prozent sein. Was die Alterung betrifft, ist Deutschland ein Spitzenreiter. Jahr für Jahr werden weniger Geburten als Todesfälle registriert. Gegenwärtig liegt die Geburtenziffer in der Bundesrepublik zwischen 1,3 und 1,4 Kindern pro Frau. Wir haben, laut Franz-Xaver Kaufmann, „kein Überalterungsproblem, sondern vielmehr ein Unterjüngungsproblem“ (Kocka 2008, S. 219). Denn nicht das Altern, „sondern der absehbare und sich voraussichtlich beschleunigende Rückgang unserer Bevölkerungen“ (Druyen 2005, S. 18) ist das zentrale demographische Problem.
Die Zahlen zeigen deutlich welche Rolle ältere Menschen in unserer Gesellschaft gegenwärtig schon spielen bzw. spielen sollten (vgl. Ehmer 2008, S. 162). Die Grafik, die man früher Alterspyramide nennen konnte (s. Abb. 1), weil es mehr Kleinkinder als Teenager, mehr Teenager als Erwachsene und mehr Erwachsene als Greise gab, gleicht heute einem Baum mit dickem Stamm und einer noch breiteren Krone (s. Abb. 2). In knapp 40 Jahren wird diese Grafik einem Dönerspieß gleichen (s. Abb. 3). Die Mehrheit bilden dann die 55- bis 70-Jährigen. 2050 wird es gar mehr 80-jährige als 30-jährige Frauen geben. „Wenn nicht ein großer Krieg oder eine Seuche die Population der Europäer drastisch reduziert, dann wird es genauso kommen. Denn die 20-Jährigen, die im Jahr 2025 fehlen werden, müssten jetzt schon auf der Welt sein. Und die 80-Jährigen, von denen es im Jahr 2050 so viele geben wird, sind seit 1970 unter uns“ (Seidl 2005, S. 7).
Abbildung 1: Altersaufbau, 1910
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: www.planet-wissen.de/alltag_gesundheit /alter/gesellschaft_der_alten/alterspyramide.jsp, 01.06.2009
Abbildung 2: Altersaufbau, 2010 Quelle: www.destatis.de/bevoelkerungspyramide/, 11.04.2012
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Altersaufbau, 2050
Quelle: www.destatis.de/bevoelkerungspyramide/, 11.04.2012
Auch die potentielle Lebensdauer des Menschen hat wohl ihren Höchstwert mit ca. 120 Jahren erreicht. Immer mehr Menschen nähern sich diesem Maximalwert an. 1938 gab es lediglich drei Personen in Deutschland, die 100 Lebensjahre aufwiesen. Fünfzig Jahre später waren es bereits fast 4000 (!) (vgl. Prinzinger 1996, S. 254). Laut Vorausberechnungen der Vereinten Nationen werden 2025 rund 44.000 und 2050 gar 114.000 Hundertjährige in Deutschland leben (vgl. Lehr 2003, S. 3). Aus Zeitgründen kann der Bundespräsident nun nicht mehr persönlich zum 100. Geburtstag gratulieren und einen Blumenstrauß überreichen, aber er lässt eine Karte schicken.
1.2 Warum altern wir?
Warum altern wir überhaupt und sterben nicht kurz nach der Fortpflanzungsphase, so wie es mehrheitlich in der Natur der Fall ist? - Eine Einheitstheorie über das Altern gibt
es (leider) nicht, dafür aber mehr als 200 Alternstheorien, die sich auch recht gut klassifizieren lassen. In Abbildung 4 findet man die zwei großen Theorietypen Stochastische Theorie, die Altern und Tod der Organismen aus stochastischen Abnutzungsprozessen erklärt, und Deterministische Theorie, die Altern und Tod als Folge genetischer Determination erklärt. Im Grunde ist Altern ein endogener, genetisch programmierter Prozess (Programmtheorie, s. Abb. 4). Wir altern, weil sich unsere Zellen nicht unbegrenzt teilen. Der amerikanische Altersforscher Leonard Hayflick wies an Zellkulturen nach, dass sich Zellen nur 50 mal teilen und dann degenerieren (Zellteilungstheorie, s. Abb. 4).
Endogene und exogene Einflüsse werden hierfür verantwortlich gemacht (vgl. www.gesundheit.de, 2004)[1]. Die Stoffwechseltheorie nach Rubner, die laut Prinzinger
von den Gerontologen bisher praktisch ignoriert wurde (vgl. Prinzinger 1996, S. 433), besagt, „daß die Lebensdauer (bei uns wie bei anderen Tieren) durch eine Obergrenze des Energieumsatzes definiert ist“ (Welsch 2008, S. 212). 120 - 125 Jahre bilden das Ende der Fahnenstange, selbst bei „sparsamster Lebenshaushaltsführung“ (ebd.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Schematische Einteilung der Alter(n)stheorien
Quelle: Prinzinger 1996, S. 420
Wenn man so will, altern und sterben wir, weil ewig lebende Organismen für die Evolution höchst uninteressant sind. Es gäbe keine Entwicklung, keine Anpassung, keine Optimierung. Deren „Fortpflanzung würde nur auf die ewige Wiederholung des Gleichen hinauslaufen“ (Welsch 2008, S. 209). Altern und sterben sind ganz natürliche Vorgänge. Sie machen den Weg frei für die nächste Generation und dienen somit der Weiterentwicklung der Art. Bei genauerer Betrachtung scheint das allerdings nur auf die menschliche Spezies zuzutreffen. In der freien Natur sterben Organismen lange bevor sie alt sind. Sie werden gefressen, sterben durch Krankheit, Hunger, Machtkämpfe, Unfälle oder sie sterben gleich nach dem Akt der Fortpflanzung. Die Agave beispielsweise bildet nach ca. zehn Jahren die erste Blüte aus. Kommt es nun zur Befruchtung und Samenbildung, stirbt die Pflanze ab. Interessant ist, dass die Agave bis zu 100 Jahre alt werden kann, wenn man die Blütenbildung durch Abschneiden der Triebe verhindert. Viele Fischarten (darunter z.B. Neunaugen oder Aale) sterben unmittelbar nach der Eiabgabe und selbst Säugetiere, wie zum Beispiel die Männchen der Breitschwanz-Beutelmaus oder des Virginia-Opossums sterben nach der Paarung. Das Alter(n) bzw. das Fortbestehen der einzelnen Organismen spielt keine große Rolle in der Natur. Wichtig ist einzig die Weitergabe der Gene. Bei uns Menschen ist das anders. Im Vergleich zu unseren nächsten tierischen Verwandten, den Schimpansen oder Gorillas, unter denen kaum ein Exemplar 50 Jahre alt wird, leben wir erstaunlich lange. Frauen können nach der Menopause noch Jahrzehnte weiterleben. Im Tiervergleich ist das sehr ungewöhnlich. Demnach altern wir Menschen, erstens weil wir keine Fressfeinde haben, „weil wir genug zu essen haben, um zu überleben, weil kein Krieg und keine Seuche uns dahinrafft. Dass unsere Körper, zweitens, dabei verschleißen, liegt daran, dass wir sie eben gebrauchen“ (vgl. Seidl 2005, S. 6).
Wissenschaftler, Dichter und Philosophen versuchen seit Jahrhunderten das Rätsel des Alterns zu lösen. Für Aristoteles war das „Altern eine fortschreitende Erkaltung des Körpers“ (Füller/Keller 1999, S. 21). Der römische Arzt Galen sah das ähnlich: Seiner Ansicht nach begann die Alterung sobald der Körper trockener und kälter wurde. Paracelsus betrachtete den Menschen im 16. Jahrhundert „als eine Summe chemischer Verbindungen, in denen im Laufe des Lebens verschiedene Vergiftungen entstehen. Diese chronische Selbstvergiftung führe schließlich zum Tode“ (ebd.). Im 20. Jahrhundert begann mit der Gerontologie die wissenschaftliche Erforschung des Alterns. Heute ist sich die Mehrzahl der Gerontologen einig darüber, dass es nicht nur eine Ursache für die Alterung des menschlichen Organismus gibt, sondern zahlreiche innere und äußere Einflüsse dafür verantwortlich sind. Unser Altern wird zum einen maßgeblich von unseren Genen bestimmt, doch zum anderen spielen auch unsere Lebensumstände eine wichtige Rolle. Stress, schädliche Substanzen in der Umwelt, mangelnde Bewegung, ungesunde Ernährung, Nikotin-, Koffein- und Alkoholkonsum lassen uns vorzeitig altern (vgl. ebd., S. 23).
1.3 Wie altern wir?
Das Alter als letzte Phase des Lebenslaufes hat viele Gesichter. Wir altern individuell und doch gemeinsam, aber wir altern anders als frühere Generationen. Man kann seit ein paar Jahrzehnten eine „allgemeine Biografisierung“ (Böhnisch 2008, S 258) beobachten, d.h. dass immer mehr ältere Menschen ihr Leben nicht mehr nach gesellschaftlich vorgegebenen Mustern leben, sondern eigene Lebensperspektiven und –stile entwickeln. Im voranschreitenden 21. Jahrhundert wird das Alter eine dominierende Lebens- und Sozialform sein, zumindest in den Industrieländern. Im Jahr 2030 werden beispielsweise ca. 40% der Deutschen 60 Jahre und älter sein. Tews (1993, S. 17) spricht hier vom dreifachen Altern und meint das Verhältnis von weniger jungen zu mehr alten Menschen, die noch dazu immer älter werden. Diese Aussage impliziert gleichzeitig, dass zukünftig sowohl die Zahl der fitten als auch die Zahl der pflegebedürftigen alten bzw. sehr alten Menschen steigen wird.
Ernst Bloch, der marxistische Philosoph, der selbst ein hohes Alter von 92 Jahren erreichte, hatte einen realistischen Blick auf das Alter: Der Leib erhole sich weniger rasch, jede Mühe verdopple sich und die Arbeit gehe nicht mehr so flink von der Hand. Seiner Meinung nach ist der „Einschnitt des Alters deutlicher als jeder frühere Lebensabschnitt und brutaler negativ “ (Höffe 2008, S. 194). So herrsche im Alter Resignation, „kein bloßer Abschied von einem Lebensabschnitt [...], sondern der Abschied vom langen Leben“ (ebd.). Bloch fährt weiter fort, dass das Alter für Unwissende wie der Winter, für Weise wie Weinlese und Kelter sei. Die Reife sieht er als gesundes „Wunschbild des Alters“ (ebd.). Der „Wunsch nach Beschaulichkeit und Muße, die Liebe zur Stille, [...] die Weisheit, das Wichtigste zu sehen, das Unwichtige zu vergessen“ und die biblische Erfahrung, dass man des Lebens satt, zuversichtlich auf das eigene Ende schaut, gehören zu dieser Reife dazu, die man jedoch nicht von heute auf morgen erlangt. Altern kann und muss man lernen. Und dieser Lernprozess könnte in drei Phasen verlaufen, die jedoch nicht strikt aufeinander folgen müssen. In der ersten Phase, dem resignativen Altern, finde man sich, laut Höffe, mit einer traurigen Wirklichkeit ab; man nehme vor allem die körperlichen und geistigen, sowie die sozialen Verluste wahr. In der Phase abwägend-integratives Altern besinne man sich auf altersgerechte Interessen und Beziehungen. Nun frage ich mich aber: Was versteht man unter altersgerechten Interessen und Beziehungen? Ein allgemeingültiges Verständnis von diesen Begriffspaaren gibt es sicher nicht, daher fände ich bedürfnisbefriedigende Interessen und Beziehungen glücklicher gewählt. Oft steht einem nicht das eigene Alter im Weg, sondern die körperliche Verfassung. Manch einer ist mit 70 Jahren noch so fit, um dreimal in der Woche joggen zu gehen, ein anderer des gleichen Alters sitzt, müde von der lebenslangen harten Arbeit, lieber im Sessel und schaut sich seine Briefmarkensammlung an.
Kommen wir nun zur letzten Phase, dem kreativen Altern. Hier lässt man „der neuen Lebensphase ihre Eigenart“ (ebd., S. 195). Zugleich sehe man sich den Zwängen von Konkurrenz und Karriere enthoben und werde bezüglich der Frage nach mehr oder weniger Erfolg gleichgültig. Nun „treten Unbestechlichkeit, Selbstachtung, Güte und Humor in den Vordergrund“ (ebd.).
Welsch andererseits sieht Leben und Alter im Plural. Für ihn gibt es „nicht nur ein Leben und ein Alter, sondern mehrere Leben und mehrere Alter“ (Welsch 2008, S. 199). Unsere biologische Geburt, unseren Geburtstag, feiern wir jedes Jahr erneut - aus Dankbarkeit und Freude. Doch sind es nicht auch die folgenden Geburten (psychisch, intellektuell) und die damit hinzukommenden Lebensformen, die für uns von besonderer Bedeutung sind? Wenn wir nun nach Welschs Ansicht mehrere Leben während unserer biologischen Lebenszeit haben, dann machen wir logischerweise auch mehrere Alterns- und Todeserfahrungen. Mit Leidenschaft verfolgte Ideale altern und werden schal, Hoffnungen und Utopien zerbrechen. Im Laufe unseres Lebens tragen wir nicht nur Freunde zu Grabe, sondern auch Träume und Illusionen. Wenn man so will, dann ist jede Lebensphase ein Auf- und Abstieg, der von Leben und Tod umgeben ist (vgl. ebd., S. 200) (s. auch Kap. 3.1).
Entwicklungstendenzen einer älter werdenden Gesellschaft
Gesellschaftlich betrachtet unterliegt die Altersphase seit der industriellen Revolution einem ständigen Wandel, der gekennzeichnet ist durch Verjüngung, Entberuflichung, Feminisierung, Singularisierung und Hochaltrigkeit. Die Alten sehen heutzutage nicht nur jünger aus als frühere Alterskohorten, sie schätzen sich selbst auch als jünger ein (positiver Effekt). Andererseits haben ArbeitnehmerInnen, trotz dieser Verjüngung, jenseits der 50 kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Man wird viel zu früh als alt deklariert und somit geistiger und körperlicher Leistungsfähigkeit beraubt, zumindest in den Köpfen vieler Personalchefs (Backes/Clemens 2003, S. 336). Hier wird der Ruf nach einem zeitgemäßen Altersbild wieder laut (s. auch Kap. 2.1).
Durch die hohe Lebenserwartung und die frühe Entberuflichung in den vergangenen Jahrzehnten, ist eine zunehmend lange Alterszeit ohne Berufstätigkeit entstanden. Politisch muss diesbezüglich nach einer Lösung gesucht werden, wie das Rentensystem zukünftig finanziert werden kann. Die Rente mit 67 ist nur ein erster Schritt. Gleichzeitig müssen die Unternehmen altersgerechte Stellen schaffen. Denn „Nicht einmal mehr ein Drittel der Männer (29,6 Prozent) und noch weniger Frauen (12 Prozent) beenden ihr Arbeitsleben regulär“ (Kade 2007, S. 25). Wer noch etwas vom Leben haben will und es sich leisten kann, scheidet vorzeitig aus dem Beruf aus (s. auch Kap. 3.2). Der Rückgang der Älteren-Erwerbsquote ist vor allem einer Politik der Frühverrentung und einschneidender Arbeitsmarktveränderungen seit den 1980er Jahren geschuldet. Trotz Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre, die der Bundestag 2007 beschloss, scheiden die meisten Menschen um das 60. Lebensjahr aus dem Berufsleben aus und haben durchschnittlich noch 20 Jahre Rente vor sich (Männer: 18 Jahre, Frauen: 22 Jahre) (vgl. ebd., S. 26). Die Hochaltrigkeit boomt, wenn man so will. Der Anteil der deutschen Bevölkerung in der Altersklasse 75 – 84 Jahre liegt derzeit bei ca. acht Prozent. Im Jahr 2030 werden rund zwölf Prozent über 75 Jahre alt sein. In diesen Altersstufen feminisiert sich das Alter. Frauen sind hier gegenüber den Männern in einer überwiegenden Mehrheit vertreten. Sie überleben ihre Männer oft, sind im Alter verwitwet, ledig oder geschieden. Hier verdichten sich die Merkmale Hochaltrigkeit und Singularisierung in der Feminisierung, denn die Mehrheit der Männer hingegen lebt bis zum eigenen Tod mit einer Partnerin zusammen (vgl. Böhnisch 2008, S. 257).
Druyen (2005, S. 19) fügt dem Strukturwandel des Alter(n)s zwei Entwicklungstendenzen hinzu: Kinderlosigkeit und soziale Ungleichheit. Seiner Ansicht nach ist die nachlassende Bereitschaft, Kinder zu bekommen, die eigentliche Ursache der demographischen Problematik und er fordert dazu auf „die Differenz des Zukunftsbeitrages zwischen Eltern und Kinderlosen“ (ebd.) dringend zu schließen und somit soziale Ungleichheit zu verringern. In seinem Urteil von 2001 erklärte das Bundesverfassungsgericht beispielsweise die Pflegeversicherung als verfassungswidrig, „weil sie Menschen ohne Kinder in einer den Gleichheitsgrundsatz verletzenden Weise privilegiert. Denn kinderlose Menschen erwerben allein durch ihre monetären Beiträge zur Pflegeversicherung die gleichen Ansprüche wie jene, die durch die Erziehung von Kindern als den künftigen Beitragszahlern auch die vom Gericht als generativen Beitrag bezeichnete Leistung erbringen, ohne die das umlagefinanzierte System der Pflegeversicherung (sowie der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung) zusammenbrächen“ (Birg 2012, S. 245f).
Zwischen sinkender Geburtenrate und ökonomischen Fortschritt besteht eine Wechselwirkung, das so genannte demographisch-ökonomische Paradoxon (vgl. Birg 2003, S. 7): „Je höher das Pro-Kopf-Einkommen, desto niedriger ist die Pro-Kopf-Geburtenzahl“ (Birg 2001, S. 24, zit. nach Druyen 2005, S. 19). Oder anders ausgedrückt: „Die Menschen leisten sich umso weniger Kinder, je mehr sie sich auf Grund des wachsenden Realeinkommens und Lebensstandards eigentlich leisten könnten“ (Birg 2003, S: 7). Ende des 19. Jahrhunderts wurden, mit Einführung der Bismarckschen Sozialversicherungen, Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Tod von den Familien auf den Staat umgelagert. Und je besser man von den sozialen Sicherungssystemen diesbezüglich abgefangen wurde, desto weniger Kinder musste man sich anschaffen. „Mit diesem Einschnitt wurde wahrscheinlich jener psychologische Grundstein gelegt, der einerseits über Jahrzehnte hinweg zu einer steigenden Anspruchshaltung dem Staat gegenüber führte und andererseits die Bedeutung der Reproduktion für die Familien entschärfte“ (Druyen 2005, S. 19).
2 Alter(n) und Vorurteile
2.1 Altersbilder und Stereotype
Vor 100 Jahren wäre die „apokalyptische Vision von der vergreisenden Gesellschaft“, um es mit den Worten von Claudius Seidl (2005, S. 8) zu sagen, eine Horrorvorstellung gewesen: Die Mehrheit der Menschen über 30, wenige unter 20, kaum Kinder. Diese Gesellschaft wäre damals als „müde und verbrauchte, traurige und unbewegliche Versammlung älterer Menschen“ (ebd.) eingestuft worden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Seidl führt hierzu einige Beispiele an: „Wer heute zum Beispiel fünfundvierzig ist, hat sich vor zwanzig Jahren bestimmt nicht vorstellen können, dass er sich heute so jung fühlen würde. Und gleichzeitig ist da immer die Furcht, dass es demnächst vorbei sein könnte mit dem schönen Leben. Wer vor zwanzig Jahren zwanzig war, formte das Bild seiner Zukunft nach dem Modell der 40-Jährigen, die er damals kannte, und wundert sich heute, dass er noch immer nicht so alt geworden ist. Wer in zwanzig Jahren sechzig sein wird, orientiert sich am Modell der 60-Jähriegen, die er jetzt kennt. Ob er dann tatsächlich so alt sein wird, das wissen wir in zwanzig Jahren. Fast alles spricht dagegen“ (ebd.). Das Durchschnittsalter in den Industrienationen steigt stetig an und diejenigen, die dieses Alter erreichen, werden immer jünger. Es liegt also auf der Hand: Zwischen unseren heutigen Lebensbauplänen und denen der Cro-Magnon-Menschen (s. auch Kap. 1.1) liegen Welten, allerdings nicht in unseren Köpfen. Dort halten wir an den konservativen Altersbildern fest. Ein Beispiel hierfür ist das Stereotyp vom senilen, klapprigen alten Menschen, der am Krückstock gehend Hilfe beim Überqueren einer Ampel sucht. Bei diesem Gedankenbild fallen uns Begriffe wie Hilfsbedürftigkeit, Abhängigkeit, Vereinsamung, Armut, Krankheit und Gebrechen ein. Auch Aristoteles, einer der bekanntesten und einflussreichsten Philosophen der Geschichte, lässt kein gutes Haar an der älteren Generation. Seiner Meinung nach hätten sich die Älteren im Verlauf ihres Lebens öfters getäuscht, überdies viele Fehler gemacht und vieles Schlechte erlebt, weshalb sie in kognitiver Hinsicht vorsichtig seien. „Sie behaupten nichts mit Sicherheit, setzen lieber ein vielleicht hinzu. Weil sie hinter allem das Schlechte annehmen, sind sie pessimistisch und argwöhnisch. Vom Leben erniedrigt, setzen sie sich keine bedeutenden Ziele mehr; sie sind kleingesinnt, überdies knauserig, nicht zuletzt, weil sie sich vor allem fürchten, feige. Weil man das, was kaum noch vorhanden sei, besonders begehre, hängen sie, je näher das Lebensende komme, umso mehr am Leben. [...] Die Älteren – fährt Aristoteles fort – leben mehr in der Erinnerung als in Hoffnung; sie reden ununterbrochen über das Vergangene, weil sie bei dessen Erinnerung Freude empfinden. Sofern sie Unrecht begehen, tun sie es nicht wie die Jungen aus Übermut [...], sondern aus Bosheit [...]. Und Mitleid verspüren sie nicht aus Menschenliebe, sondern aus Schwäche, denn alles, was es zu erleiden gibt, halten sie für nahe bevorstehend. Schließlich seien sie nicht humorvoll, sondern weinerlich“ (Höffe 2008, S. 192). Im Gegensatz zu Aristoteles hob der deutsche Sprach- und Literaturwissenschaftler, sowie Jurist und Begründer der deutschen Philologie und Altertumswissenschaft, Jacob Grimm, 75-jährig in seiner Rede über das Alter das Glück des Altwerdens hervor. Er sah sogar die fortschreitenden körperlichen Defizite, wie beispielsweise die Schwerhörigkeit oder das Nachlassen der Sehkraft, positiv, „denn man werde nicht von überflüssiger Rede unterbrochen und von störenden Einzelheiten abgelenkt“ (ebd., S. 194).
Wir sind heute fast alle viel jünger als es die dominanten Klischeebilder des jeweiligen Alters erlauben. Aber: „die Fahrpläne des Cro-Magnon-Menschen bestimmen das Handeln der Institutionen und die Entscheidungen der Personalchefs – sie begegnen uns im Werbefernsehen und in den Bilanzen der Rentenversicherer – beherrschen immer noch die Köpfe all jener, die in unserer Gesellschaft die Uhren stellen und die Baupläne fürs Leben entwerfen“ (Seidl 2005, S. 8). Seidl fordert uns auf, die Steinzeitbilder in unseren Köpfen zu zerstören. Für den Einzelnen sei es „eine seelische, für die Gesellschaft aber auch eine ökonomische Notwendigkeit“ (ebd.). In einer Gesellschaft, die den demographischen Wandel gestalten will und muss, braucht es daher ein modernes Altersbild. Wir laufen andernfalls Gefahr einen Großteil der älteren Generation ins Abseits zu drängen. „Ein neues Denken ist gefragt, das das Alter als Chance begreift und das Alter in seiner Vielfalt wahrnimmt“, heißt es so schön in der Informationsbroschüre Alter schafft Neues des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2008, S. 6). „Wir brauchen ein neues, auf den veränderten Bedingungen basierendes Verständnis vom Alter und Älterwerden und entsprechende Strukturen, in denen die veränderte Realität des Lebens gelebt werden kann. Die Verschiebung der Altersgruppen erfordert eine neue Logik des Sozialen und eine neue Philosophie der zweiten Lebenshälfte, die dem Zugewinn, der Vielfalt und der Weisheit Rechnung trägt. Es gilt, Rahmenbedingungen zu schaffen, die der differenzierten Gruppe älterer Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten die Möglichkeit gibt, weiterhin aktiv am Gesellschaftsleben teilzunehmen“ (Druyen 2005, S. 20). Doch wie erreicht man in einem ersten Schritt ein solches Umdenken? – Durch Aufklärung! „Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen für diesen Bewusstseinswandel hin zu einem realistischen und zeitgemäßen Altersbild zu gestalten“ (Böhnisch 2008, S. 256). Der Auftakt in diese Richtung war die Veröffentlichung des sechsten Altenberichtes der Bundesregierung, der den Blickwinkel gezielt auf Altersbilder in der Gesellschaft lenkt. Wir müssen das Alter als Teil des Lebens verstehen, der an keine Jahreszahl gebunden ist, „sondern sich abhängig von der individuellen und gesellschaftlichen Situation in sehr differenzierten Ausprägungen darstellen kann“ (Druyen 2005, S. 20). Diese aufgeschlossene Sichtweise wirkt einer Stigmatisierung entgegen und wird dem subjektiven Selbstempfinden der Älteren gerecht. Weit verbreitet ist beispielsweise immer noch die Auffassung, dass Menschen im Alter rigide werden, also die Fähigkeit verlieren, sich neuen Bedingungen psychisch anzupassen und nicht mehr zu kreativen Leistungen fähig sind. Wer jedoch mit 60 rigide ist, war es höchstwahrscheinlich mit 30 auch schon. Das Alter spielt hier nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Kruse 2005, S. 32). Auch Cicero wusste schon, „dass Leiden am Alter und Klagsamkeit über das Altwerden weniger vom Alter selbst als mehr von der früheren Lebensführung und der Persönlichkeit, dem Charakter bestimmt werden“ (BMFSFJ 2002, S. 52). Die Notwendigkeit eines differenzierten Altersbildes liegt auf der Hand. Die Amerikaner beispielsweise bezeichnen ihre älteren Mitmenschen schon fast liebevoll als „Selpi“ (second life people) und gestehen ihnen so ein zweites Leben zu. Das Alter erhält durch diese Aufteilung eine ganz besondere Qualität, die sich von den vorangegangenen Lebensphasen unterscheidet. In Europa hingegen wurde jahrhundertelang vom „kindischen Alter“ gesprochen, was sich auf die Verhaltensweisen alter Menschen bezog. Es ist kaum zu glauben, aber Alte und Kinder wurden in der gesellschaftlichen Bewertung gleichgestellt (vgl. Prahl/Schroeter 1996, S. 15). Vor zwei bis drei Generationen durfte auch noch vom Greis gesprochen werden. Heute klingt es fast diskriminierend, obwohl der Begriff, ähnlich wie in der Zoologie der grizzly bear den Graubär meint, einfach impliziert, dass man ergraut bzw. die Haare hellgrau, silbergrau werden. Heute spricht man lieber von Senioren oder best agers. Die romanischen Anredeformeln Seigneur, Signore, Sire oder Sir bedeuten in den verschiedenen Sprachen alle das Selbe: „Der Ältere ist der in Ehren Ergraute, der Ehrwürdige, der von Seiten der Jüngeren Achtung verdient“ (Höffe 2008, S. 189). Denn die Alten abzulehnen, sei Selbsthass und eine Zurückweisung dessen, wozu man selbst unweigerlich werden müsse (vgl. Druyen 2005, S. 21). Altersdiskriminierung kann jeden von uns treffen. „Die Voreingenommenen und ihre Opfer werden nicht in verschiedenen Lagern geboren, sondern sie trennt die Zeit. Die einst Voreingenommenen werden selbst zu Opfern“ (ebd.). „Gibt es überhaupt einen größeren Undank dem Leben gegenüber, als das Alter in all seiner Unterschiedlichkeit, vor allem aber mit seiner neu geschenkten Zeit, zu ignorieren? Durch die aufmerksame Betrachtung des Alters unserer Mitmenschen bekommen wir doch eine Ahnung vom eigenen kommenden Alter“ (Druyen 2005, S. 21). Es wäre sträflich, diese Einsicht nicht als Wegweiser für die eigene Zukunft zu verwenden.
Doch bereits in der Renaissance und zu Beginn der Neuzeit wurde das Alter zum Sinnbild des Abgelebten und des Vergangenen. Jugend hingegen stand für das Neue, für Fortschritt und Innovation. Bildhaft zum Ausdruck kommt dies in Ausgaben von Galileis Schriften. Hier erscheinen „Aristoteles als lahmer und Ptolemäus als blinder Greis, während der Begründer des modernen heliozentrischen Weltbildes, Kopernikus, als junger Mann dargestellt wird, der mit offenen Augen in die Welt blickt“ (Ehmer 2008, S. 159). Trotzdem war das Alter in der Vormoderne gleichrangig neben Jugend und Erwachsenenalter gestellt. Erst seit der industriellen Revolution wird das Alter entwertet und ausgegrenzt. Es ist heute eine entberuflichte Zeit, in der kein eigenständiger gesellschaftlicher Beitrag mehr erwartet wird. Ältere Menschen verfügen über Zeit und gesundheitliche Ressourcen, obwohl sie aus dem Erwerbsprozess ausgeschieden sind. In der vorindustriellen Zeit war das anders. Die Leute mussten je nach Gesundheitszustand weiterhin hart arbeiten für ihr täglich Brot, bis an ihr Lebensende. Hohes Ansehen genossen sicher die Alten in Adelskreisen, in Klöstern, sowie die städtischen Kaufmänner. Für die Mehrheit der damaligen Bevölkerung jedoch war das Alter eine beschwerliche Zeit, „oft begleitet von damals noch nicht behandelbarem Siechtum und anhaltender Notwendigkeit, für das Existenzminimum noch Arbeiten zu verrichten“ (Böhnisch 2008, S. 105). Eine besonders harte gesellschaftliche Abwertung erfuhren arme alte Frauen. Schon im Spätmittelalter wurden diese leichtfertig als Hexe abgestempelt, wodurch sie bis zum Lebensende ein gesellschaftlich ausgegrenztes Dasein führten (vgl. ebd.)
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft, in der scheinbar nur Schönheit und Jugendlichkeit zählen, herrscht nur wenig Verständnis zwischen Alt und Jung. Wir leben in einer Zeit, in der es dank Hygiene und medizinischen Fortschritts, immer mehr ältere Menschen gibt, deren Sozialstatus jedoch ein immer niedrigeres Niveau aufweist. Das höchste Ansehen genossen alte Menschen in den schriftlosen Kulturen (s. auch Kap. 1.1), wo sie das gesamte, für die Gesellschaft so wichtige, Wissen besaßen. Und je älter die Alten wurden, desto mehr wussten sie und umso höher war ihr Sozialstatus. Konfuzius beispielsweise sah im Alter die höchste Stufe der Reife. Der antike griechische Philosoph Platon forderte sogar ein Mindestalter von 50 Jahren für höhere Ämter, da man seiner Ansicht nach „Einsicht und festgegründete wahre Meinungen erst im Alter erreiche“ (Höffe 2008, S 191). Die Titulierung der/die Alte war also zu jener Zeit keine Beschimpfung, sondern eine Bezeichnung, die mit Achtung und Respekt einher ging. Heute verbinden wir mit diesem Begriff eher negativ besetzte Attribute wie beispielsweise: krank, schwach, dement, senil, klapprig usw. Das Alter mit seinen reichhaltigen Erfahrungen hat seit Erfindung des Buchdruckes immer mehr an Bedeutung einbüßen müssen. Werte, Leitbilder, Ideale haben keinen Bestand mehr. Wer nicht in allen Bereichen flexibel und anpassungsfähig ist, gilt als altbacken und ist vor allem auf dem Arbeitsmarkt unbrauchbar. Der technische Fortschritt überholt sich ständig. Ältere Menschen haben kaum eine Chance bei der Fülle an Neuerungen den Überblick zu wahren, geschweige denn den neuen Systemen gewachsen zu sein. Hier erklärt der Enkel dem Opa den Computer und nicht umgekehrt (vgl. Prinzinger 1996, S. 242). Diesen „gesellschaftlichen Bruch in der kulturellen Wertschätzung und Bewertung des Alters“ (Böhnisch 2008, S. 104) verdeutlicht folgende Aussage: „Jetzt wird das Alter zu Grabe getragen; das Alter verliert das Sagen. Fortan lauscht die Jugend nicht mehr andächtig den Worten von Greisen, wie es seit den Tagen von Joachim Heinrich Campe in unzähligen Variationen dargestellt, jetzt rennen alte Männer und Frauen ganz verzückt der Jugend hinterher und ergötzen sich an ihrer Melodie“ (Borscheid 1992, S. 38; zit. nach Böhnisch 2008, S. 104).
Jugend- und Schönheitswahn
Jung ist schön, alt ist hässlich?! Mit Jugend verbinden wir im allgemeinen Schönheit und Frische. „Ein junger Mensch hat eine glatte, straffe, elastische Haut. Falten werden durch eine gute Fettauspolsterung der Unterhaut vermieden. Altersflecke und sonstige Hauterscheinungen sind selten. Der Busen der Frau ist jugendlich straff und wohl geformt. Übermäßige Fettanlagerungen fehlen normalerweise. Die Haare sind geschmeidig und füllig vorhanden. Die körperliche Leistungsfähigkeit, was z.B. Laufen, Gehen usw. anbelangt, ist voll vorhanden“ (Prinzinger 1996, S. 361). Und im Alter? – Da wenden sich diese Eigenschaften ins Gegenteil: Die Haut wird schlaff und runzelig, Altersflecken werden sichtbar, der Busen hängt, die Haare werden grau und/oder fallen aus und auch die körperliche Leistungsfähigkeit lässt zu wünschen übrig. Diesen Verschleiß will der moderne Mensch nicht länger hinnehmen und begibt sich unters Messer, genauer: unter das Skalpell des Schönheitschirurgen. „Schlappe Augenpartien werden ebenso wie die Faltenstirn geliftet, ganze Gesichter gestrafft und neu gepolstert, Nasen verformt, Fett an der einen Seite abgesaugt und zur Unterpolsterung von zum Beispiel Mundwinkeln oder Lippen an diesen Stellen wieder eingespritzt. Auf’s kahle Körperhaupt werden neue Haare gepflanzt; an den Beinen, den Armen und unter der Achsel werden sie entfernt. Weibliche Busen werden auf der Welt hundertausendfach mit Silikonbeuteln vergrößert, wieder gehoben und in bessere Form gebracht“ (ebd.) und so weiter und so fort. All diese Maßnahmen sind natürlich nicht medizinisch erforderlich, sondern dienen nur dazu, das Erscheinungsbild, die äußere Fassade der Person, zu erneuern. Doch was treibt die wachsende Zahl an PatientInnen der Anti-aging-Chirurgie dazu sich operieren zu lassen? Versucht man damit scheinbar das Leben zu verlängern, indem man die Augen verschließt vor dem eigenen Alter mit all seinen Erscheinungen? Ist es die Angst vor dem Tod oder sind es die negativen Altersbilder, denen man nicht angehören möchte? Oder ist es der Druck und der hohe Anspruch an sich selbst in dieser schnelllebigen Zeit stets mithalten zu müssen? Die meisten Menschen erhoffen sich ein gesteigertes Selbstwertgefühl nach solch einem Eingriff, doch wenn man bedenkt, dass jede fünfte Schönheits-OP Komplikationen nach sich zieht (vgl. www.augsburger-allgemeine.de, 2008)[2], sei die Frage erlaubt, ob es das wirklich wert ist. Glücklicherweise gibt es vor dem chirurgischen Eingriff noch andere Möglichkeiten, die man ausprobieren kann um seine alternde Optik zu verjüngen. Trotzdem sind all diese Mittel nur ein kläglicher Versuch der Jugend hinterher und dem Alter davon zu laufen. Vielleicht sollte man sich stattdessen Hilfe bei einem Psychotherapeuten holen, um den Blick auf sich selbst zu ändern und die Selbstwahrnehmung der Realität anzunähern. „Im Allgemeinen hassen wir das Altwerden, und wir hassen die Alten dafür, dass sie es uns vor Augen führen“ (Hillman 2000, S. 53; zit. nach Druyen 2003, S. 175). Diesen Eindruck gewinnt man in einer Gesellschaft wie der unseren, in der Äußerlichkeiten höchste Priorität besitzen. „Denn die Schönheit der Seele ist schwerer zu sehen als die des Körpers“ (Druyen 2003, S. 175).
Wenn wir einen Menschen nach längerer Zeit wiedersehen, denken wir manchmal leicht erschrocken, er oder sie sei alt geworden. Denn hier wird uns die Endlichkeit des Lebens bewusst. Doch zu einem gelingenden Leben gehört dieses Bewusstsein dazu. Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass die Naturgesetze auch bei uns Menschen gelten, dass sich das Spiegelbild verändert, die Kräfte nachlassen und auch die Sexualität einem Wandel unterliegt.
2.2 Alter und Sexualität
Alter und Sexualität ist ein Begriffspaar, dass für viele Menschen (vor allem jüngere) nicht zusammen gehört. Seit der Aufklärungswelle in den 1960er Jahren gehen die Menschen offener mit ihrer Sexualität um. Sexuelle Wünsche und Erfahrungen, bei denen man früher rote Ohren bekam, werden heute selbstverständlich in der Öffentlichkeit (in Radio- und Fernsehsendungen, in Zeitschriften und Büchern) diskutiert. Doch das Thema Sexualität im Alter, das in den letzten 20 Jahren auch vermehrt in den Medien auftauchte, ist trotzdem immer noch ein absolutes Tabuthema, insbesondere für die Alten selbst. In der Jugendzeit der heute 70-Jährigen beispielsweise war es verpönt über sexuelle Bedürfnisse zu reden, geschweige denn sich in der Öffentlichkeit zu küssen und Zuneigung zu zeigen. Sexualität im Alter wurde und wird auch immer noch mit einem Stigma versehen und verdrängt. Schuld daran sind negative Altersstereotype und die tief sitzenden negativen Selbstbilder alter Menschen. Aufgrund der Individualisierungstendenzen, die der soziale Wandel mit sich brachte, diversifizierten sich auch die Lebensstile älterer Menschen. Die sogenannten neuen Alten stehen vermehrt offen zu ihren Sehnsüchten und „klagen ihr Recht gegenüber der Jugend ein. Sie lernen und definieren ihre intimen und sexuellen Bedürfnisse neu“ (Prahl/Schroeter 1996, S. 137). Interessant ist auch, dass zu Beginn der 1980er Jahre, also vor ca. 30 Jahren, die 60-Jährigen annähernd so häufig Sex hatten wie die 40-Jährigen zur Zeit des Kinsey-Reports Ende der 1940er Jahre. Das ist ein weiteres aussagekräftiges Beispiel für die fortschreitende Verjüngung des Alters. Die Mehrheit stellt jedoch bis zum Ende des siebenten Lebensjahrzehnts die sexuelle Aktivität ein. Gründe hierfür sind: Partnerverlust, Krankheit, mangelndes Lustempfinden, Erektionsprobleme, Versagensängste usw. (ebd.). Ältere Frauen verdrängen ihre sexuelle Lust meist. Zum einen liegt das in den hochbetagten Altersklassen an der relativen (kriegsbedingten) Seltenheit der Männer und den daraus resultierenden geringen Chancen, einen passenden Partner zu finden. Und zum anderen sind mehrheitlich alte Frauen, aufgrund der höheren Lebenserwartung gegenüber Männern, verwitwet oder alleinstehend und können so, auch wenn sie es wollten, ihre Sexualität nicht mehr ausleben. Eine 68-jährige Frau antwortete auf die Frage, ob sie denn jetzt manchmal Lust auf Sex habe, leise folgendes: „Wenn ich meinen Mann hätte: ja“ (von Sydow 1992, S. 102) und fügt lächelnd hinzu: „Aber Sie können nicht mehr radfahren, wenn Sie kein Fahrrad haben!“ (ebd.).
Schon Paracelsus wusste vor 500 Jahren, dass Liebe die beste Medizin ist. Wir brauchen die Nähe zu anderen Menschen um psychisch gesund zu bleiben. Zärtliche Berührungen spenden Wärme und schenken Lust, sodass Körper und Seele, sowie die Beziehung gestärkt werden. Schon allein aus diesem Grund sind Liebe und Erotik kein Vorrecht der Jugend, sondern vielmehr in jedem Alter wichtig und wünschenswert. Das wissen auch die LeiterInnen in Pflege- und Altenheimen. Hier werden zuweilen zertifizierte SexualbegleiterInnen gebucht, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, jedoch, im Unterschied zu Prostituierten, keinen Geschlechtsverkehr, Oralkontakt und auch kein Küssen. Es geht vielmehr um Berührungen, körperliche Nähe, Intimität. Nach solchen Treffen sind die Heimbewohner glücklicher, ausgeglichener und zufriedener als vorher (vgl. Bornemann 2011). Das zeigt deutlich, dass alte, kranke und behinderte Menschen keine geschlechtslosen Wesen sind (als die sie ja gesellschaftlich oft abgestempelt werden), sondern dass sie auch sexuelle Bedürfnisse haben. Wenn bei älteren Menschen überhaupt die Rede von Sexualität ist, dann jedoch meist in einer „verräterischen Sprache. Zärtliche, sinnliche Berührungen zwischen älteren Menschen werden herablassend als süß oder rührend, als lüstern und anormal“ (Füller/Keller 1999, S. 103), als „abartig, krankhaft, unanständig und pervers“ (Druyen 2003, S. 159) bezeichnet. Und sexuell aktive ältere Frauen und Männer werden mit unschönen Beinamen, wie zum Beispiel der geile Bock oder der Lustgreis, belegt (vgl. ebd.). Die Sexualwissenschaft betrachtet die erotische Liebe als „die Fähigkeit, im intensiven körperlichen Kontakt mit einem anderen Menschen Lust zu empfinden und zu teilen“ (Füller/Keller 1999, S. 104). Hierbei geht es weniger um das Erreichen des Höhepunktes (Orgasmus), als vielmehr um die Lust und Freude am Gegenüber, an dessen Körper und um liebevolle Berührungen. Heutzutage gibt es glücklicherweise keinerlei Vorschriften mehr mit wem, auf welche Art, wie oft oder bis in welches Alter man Sex haben sollte. Wichtig ist, dass man das tut, worauf man Lust hat – dass man NUR das tut, worauf man Lust hat. Im Laufe der Jahre verändert sich die Sexualität. Das ist völlig normal. So wie sich die Körperfunktionen verlangsamen, verlangsamen sich auch die sexuellen Reaktionen. Aufgrund der hormonellen Umstellung im Klimakterium wird die Scheide der Frau nicht mehr so leicht feucht wie in jungen Jahren. Darüber hinaus wird die Haut der Genitalien dünner und empfindlicher. Männer brauchen in der Regel mehr Zeit um eine Erektion zu bekommen und erleben den Erguss meist nicht mehr so intensiv wie in jüngeren Jahren. Außerdem ist eine erneute Erektion häufig erst Stunden oder Tage nach dem letzten Orgasmus möglich. Die amerikanischen Sexualwissenschaftler William Howell Masters und Virginia Johnson bewiesen, dass das Lustempfinden, trotz körperlichen Verschleißes, bis in das hohe Alter nahezu unbeeinträchtigt bleiben kann, sofern man gesund ist und sich in der Partnerschaft wohlfühlt. Spätestens seit Veröffentlichung ihres Buches Die sexuelle Reaktion (1967) ist der Mythos vom geschlechtslosen Alter somit widerlegt (vgl. ebd. S. 104f).
[...]
[1] Lebensphase Alter (URL: www.gesundheit.de/medizin/alter-und-pflege/altwerden/lebensphase-alter), 25.06.2004
[2] Jede fünfte Schönheits-OP zieht Komplikationen nach sich (URL: www.augsburger-allgemeine.de/panorama/Jede-fuenfte-Schoenheits-OP-zieht-Komplikati-onen-nach-sich-id3631761.html), 22.04.2008
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783863419004
- ISBN (Paperback)
- 9783863414009
- Dateigröße
- 653 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Ernst-Abbe-Hochschule Jena, ehem. Fachhochschule Jena
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,8
- Schlagworte
- Ehrenamt Großeltern lebenslanges Lernen Altersbilder Tod Demografie
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing