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Kinder- und Jugendliteratur über den Holocaust: Didaktische Aufbereitungsmöglichkeiten in der Grundschule

©2010 Bachelorarbeit 65 Seiten

Zusammenfassung

Kaum eine andere Materie bewegt und beschäftigt bis heute die deutsche Gesellschaft ähnlich intensiv wie die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes unter der Führung von Adolf Hitler. Aufklärung, Dialog und Diskussion sind bis heute unbedingt notwendig, um die Geschehnisse der einschneidenden deutschen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Schule trägt als bedeutende Instanz der kindlichen Sozialisation maßgebliche Verantwortung bei der Vermittlung von demokratischen Werten und Normen. Schon lange gehört die Thematisierung des Dritten Reichs zum curricularen Unterrichtsstoff. Im Bereich der Primarstufe sparen die Lehrpläne benannte Inhalte jedoch stark aus. In der Grundschule findet der Holocaust in diesem Zusammenhang keine Erwähnung. Zurückgeführt wird dies auf scheinbar mangelhafte kognitive Fähigkeiten von Grundschülern sowie auf die unzureichenden Möglichkeiten einer kindgerechten Didaktisierung. Neben der generellen Verwendung des Themas in der Grundschule stehen auch Werke der KJL in Bezug auf deren Verwendbarkeit, Angemessenheit und Adaption im Mittelpunkt einer kontroversen Diskussion. Doch die Thematisierung des Holocaust in der Grundschule ist nicht zwangsläufig ein Tabu. Innerhalb dieses Fachbuches möchte ich unter anderem herauszufinden, inwieweit sich eine adäquate und grundschulgerechte Holocausterziehung dazu eignet, dem Kind durch Aufklärung, Ordnung und Strukturierung der eigenen Meinungsbilder gerechtigkeitsbewusste, demokratische und vorurteilsfreie Verhaltensweisen aufzuzeigen. Dazu wird das Kinder- und Jugendbuch "Ich bin ein Stern" von Inge Auerbacher auf seine didaktischen Aufbereitungspotentiale und Verwendungsmöglichkeiten in der Grundschule analysiert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Der Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur

1.1 Der Holocaust – eine Begriffsbestimmung

Dieses Fachbuch beinhaltet in ihrem Titel bereits die Bezeichnung ‚Holocaust‘. Da der Begriff immer wiederkehrend im Verlauf dieses Buches Gebrauch findet, sollte er zunächst historisch umrissen, definiert und von anderen Wortbedeutungen in den Fachtermini abgegrenzt werden.

Der Holocaust war die Ermordung von sechs Millionen Juden und anderen Opfergruppen durch die Nazis und deren Kollaborateure während des Zweiten Weltkrieges. Die Massentötungen begannen im Juni 1941 mit Erschießungen von jüdischen Zivilisten während der deutschen Inversion der Sowjetunion. Gegen Ende 1941 begann die organisierte Deportation von Juden in Todeslager im besetzten Polen. Bis Mai 1945 wurden so zwei Drittel der Juden in Europa ermordet (www.shoa.de).

Der Begriff Holocaust besitzt einen theologischen Ursprung und ist auf die ersten Übersetzungen der in der Thora gebrauchten hebräischen Ausdrücke olah (Brand­opfer) und kalil (Ganzopfer) zurückzuführen, die im Griechischen mit holokautoma übersetzt wurden. Später übernahm Martin Luther diese Bezeichnung mit ‚Brandopfer‘ in den deutschen Sprachgebrauch, wo sie fortan über Jahrhunderte ihre theologische Herkunft behielt. Eine semantische Veränderung des Begriffs wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts verzeichnet. In diesem Kontext wurde die Wortbedeutung um Elemente wie ‚Zerstörung‘ oder ‚Ermordung von Menschen‘ erweitert (vgl. von Glasenapp 2006, 143). Der Holocaust als Bezeichnung für den nationalsozialistischen Völkermord fand in der deutschen Sprache erst Mitte des 20. Jahrhunderts Gebrauch: Der eigentliche Begriff gründete sich dabei auf eine Berichterstattung der New York Times, die 1935 erstmals den Terminus für die damals stattfindende Bücher­verbrennung in Deutschland verwendete. Hierzulande etablierte sich die Benennung des Holocausts dessen ungeachtet erst 1979 durch eine amerikanische Fernsehserie gleichen Titels (vgl. Priebe 2006, 109). Früher wurde die Bezeichnung währenddessen auch auf den Bombenkrieg angewandt (vgl. Zastrow 2005, 3). „Erst diese US-amerikanische Serie hat den Deutschen einen Namen für das gegeben, was sie bis dahin mit dem Nazi-Unwort „Endlösung“ bezeichnet hatten […] 1980, ein Jahr nach Ausstrahlung der Serie Holocaust in der Bundesrepublik, wurde der Begriff zum „Wort des Jahres“ gewählt“ (Thiele 2001, 17f.). Obwohl fortan Ende der 70er Jahre der Begriff des Holocaust fast ausschließlich für den Judenmord der Nationalsozialisten Verwendung fand, sprach man indes bis in die 80er Jahre auch von einem nuklearen oder atomaren Holocaust. Dies repräsentierte keine bewusste Verharmlosung der damaligen Ereignisse, vielmehr konnte sich bis dato kein fester Begriff für die grausame Judenvernichtung konstituieren. Erst in den 90er Jahren etablierte sich die Bezeichnung für die Verbrechen der Nationalsozialisten endgültig (vgl. Zastrow 2005, 3).

Das Wort Holocaust begegnete aufgrund seiner heiligen Ursprungsbedeutung in seiner Verwendung auf den jüdischen Völkermord einiger Kritik. Dabei führt Zastrow an, dass schon in der ursprünglichen Bibelbedeutung nicht das gottgewollte Opfer gemeint war, vielmehr stellte sich schon damals die Bedeutung einer umfassenden Vernichtung heraus (vgl. ebd.). Dessen ungeachtet konnte sich der Begriff Holocaust trotz einiger Schwierigkeiten in der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit großer Akzeptanz durchsetzen und ist bis heute vorherrschend eindeutig besetzt (vgl. Heyl 1997, 15).

In Israel wird der Begriff Holocaust nicht als zentraler Terminus verwendet, hier steht der hebräische Begriff Shoah im Mittelpunkt des Gebrauchs (vgl. Zastrow 2005, 3). „Wie Holocaust ist auch das Wort Shoah bereits in der hebräischen Bibel zu finden. In den deutschen Übersetzungen wurde es mit Begriffen wie Katastrophe, Öde, Unheil, Zerstörung oder Verderben wiedergegeben“ (von Glasenapp 2006, 147). Israelische Theologen, Historiker und Schriftsteller sehen dabei die ursprüngliche theologische Bedeutung der Shoah - nämlich die der Sünde und Strafe - als unbedeutend an, vielmehr interpretieren sie den Begriff heute als übersinnlichen Zweifel bzw. Verzweiflung (vgl. Thiele 2001, 15).

1.2 Historische Phasierung von 1945 bis in die Gegenwart

In der Zeit nach 1945 folgten zahlreiche literarische Werke, die bis heute als Zeugnisse der jüngsten Vergangenheit gelten (beispielsweise von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll und Günter Grass). Die KJL näherte sich hier nur sehr widerstrebend diesem Thema an, erst Ende der 50er Jahren konnten die ersten Veröffentlichungen zum Thema Holocaust verzeichnet werden (vgl. Dahrendorf 2004, 136).

In der Zeit zwischen 1945-1949 fand eine Phase der politischen Säuberung statt, insbesondere die Initiierung der Entnazifizierung, eingeleitet von den Alliierten und die damit verbundene Kritik ausgehend von der deutschen Bevölkerung bestimmten die damalige Gesellschaftslage. Dabei entzog sich ein Großteil der deutschen Bürgerinnen und Bürger der konkreten Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des National­sozialismus. Die Konfrontation mit dem Mord und den grausamen Verbrechen löste meist nur ein betretendes Schweigen und ein Sträuben gegen den eigenen Anteil an der jüngsten Vergangenheit aus. Auch in den 50er Jahren war die Etablierung einer Schuld- und Schamkultur nur mühevoll umsetzbar. Dieses Jahrzehnt wurde von einem kollektiven Schweigen bestimmt: Der Holocaust wird in der Öffentlichkeit kaum thematisiert; Verharmlosungen, Leugnungen und Schuldverschiebungen beherrschten das Gesellschaftsbild (vgl. Flügel 2009, 29ff.). „Man rettete sich in eine Art Aufbaueuphorie, die das Verdrängen erleichterte“ (Dahrendorf 1996, 335). Neben dem Stillschweigen, das von der deutschen Gesellschaft ausging, gab es jedoch auch schon wieder neonazistische Äußerungen, welche erneut in dem damaligen Klima zum Tragen kamen (vgl. Thielking 1998, 181f.).

Zum Thema Holocaust lassen sich in der benannten Phase kaum Veröffentlichungen verzeichnen. Erst gegen Ende dieser Periode sind erste Publikationen zu registrieren, die sich vor allem durch ihren apolitischen Charakter kennzeichnen. Dahrendorf erkennt hierin eine vollständige Verdrängung der vergangenen nationalsozialistischen Zeit und die Rückbesinnung auf moralische Tugenden im Privatbereich sowie einen Innerlichkeitskult. Nur wenige Ausnahmen in der KJL thematisieren die Juden­verfolgung, beispielsweise das Schweizer Kinderbuch Die Kinder aus Nr. 67 von Lisa Tetzner (vgl. Dahrendorf 2004, 138f.).

Der Generationenwechsel im Zuge der 68er Bewegung löste eine zunehmende Kritik am gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aus (vgl. Flügel 2009, 38). Die junge Generation der 68er hinterfragte erstmals die Geschichte der eigenen Elterngeneration und die Schuldfrage der deutschen Bevölkerung an den Ereignissen nach der nationalsozialistischen Macht­übernahme. Indes wurden auch ehemalige Nationalsozialisten enttarnt, die sogar oftmals in Deutschland unter falschen Namen Karriere machen konnten. Desweiteren initiierte die sozial-liberale Regierung in den 60er Jahren ein neues demokratisches Bildungswesen, welches das Ziel hatte, mündige Bürger hervorzubringen, die einem erneut drohenden Totalitarismus demokratisch entgegenwirken würden. So wurden in dieser Zeit zahlreiche Unterrichtskonzepte zur Aufbereitung des Holocaust erarbeitet und eingesetzt (vgl. Geister 2008, 26). „[E]in Wechsel in der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus setzte ein, der auch an den immer drängenderen Fragen der Kriegskindergeneration an ihre Eltern ablesbar wurde“ (Flügel 2009, 39).

Thielking beschreibt die aufklärerischen Versuche der 60er Jahre in der KJL dennoch als eher hilflos und naiv. In dem Textheft ‚Kinder der Nacht, Schicksale jüdischer Kinder 1933-1945‘ informierte beispielsweise Rahel Mincs über die bis dato fast tabuisierte Zeit des Nationalsozialismus. Dennoch überschritten diese subtilen und hilflosen Versuche, das Grauen in Worte zu fassen mehrfach die Grenzen einer kindgerechten Erzählung oder sublimierten sogar die damalige Zeit (vgl. Thielking 1998, 184). Die ersten Bemühungen einer ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in der KJL waren immer noch äußerst spärlich. Dahrendorf nennt hier die bedeutsamsten Autoren dieser Zeit: Hans-Peter Richter mit Damals war es Friedrich (1961), Winfried Bruckner mit Die toten Engel (1963) und Clara Asscher-Pinkhofs mit Sternkinder (1963). Diese Werke zeigten einen ersten realistischen Anspruch zur Judenverfolgung auf und gelten als Urwerke der zeitgeschichtlichen Jugendliteratur. Im Zuge dessen kommt es zu einer ersten wissenschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit den vorliegenden Büchern (vgl. Dahrendorf 2004, 139).

In den 70er Jahren beginnt sich das Gesellschaftsbild allmählich durch die politischen und gesellschaftlichen Sozialreformen zu verändern, der Ruf nach einem Wandel wird immer lauter. Studentenproteste und die damit verbundene Kritik an der Elterngeneration und deren Aufbaustolz und Selbstzufriedenheit kennzeichnen das Jahrzehnt. Die noch immer stattfindende Verdrängung der nationalsozialistischen Zeit wird scharf kritisiert, Willi Brandt – ein Emigrant und Opponent- wurde Bundeskanzler (Dahrendorf 2004, 141). Auch die im Kapitel 1.1 bereits erwähnte Fernsehreihe ‚Holocaust‘ konfrontierte die deutsche Gesellschaft mit den Schreckensbildern des Nationalsozialismus.

Die damalige KJL spiegelte die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen wider – eine antiautoritäre Haltung zeichnete sich ab (vgl. ebd.). Die 1970er Jahren waren von einem aufklärerischen und sozialkritischen Bestreben, den realistischen Jugendroman in das soziale und politische Lernen mit zu integrieren, bestimmt. So wurde jener häufig als Mittel zur politischen Belehrung funktionalisiert (vgl. Daubert 2001, 105). Die bedeutendsten deutschsprachigen Veröffentlichungen aus diesem Jahrzehnt fasst Dahrendorf wie folgt zusammen: Warum warst du in der Hitler-Jugend? Vier Fragen an meinen Vater von Horst Burger (1978), Stern ohne Himmel von Leonie Ossowski (1978, DDR: 1958) und die Bücher von Judith Kerr und Johanna Reiss (vgl. Dahrendorf 2004, 141f.).

Die KJL der 80er Jahre ist von den stark ansteigenden Veröffentlichungen zur Holocaustthematik geprägt, das Interesse bei den Jugendlichen schien eher zu- statt abzunehmen (vgl. Dahrendorf 1988, 88). Auch in den weiteren Jahrzehnten ist das Interesse an einer Aufarbeitung nicht gesunken. „Auffällig ist neben den Erinnerungs­texten der ersten (Opfer-)Generation eine neue, mitunter befremdliche Erlebnis­perspektive, deren gemeinsamer Nenner mit Provozieren und Treffen beschreibbar ist“ (Thielking 1998, 188).

Dahrendorf sieht hypothetisch eine Verbindung zwischen der gesamtgesellschaft­lichen, medialen und politischen Entwicklung des Landes und deren Einfluss auf die Veröffentlichungen in der KJL. Die Bereitschaft, sich mit dem historischen Zeitabschnitt des Holocausts auseinanderzusetzten, spiegelte sich ebenfalls in der Themenauswahl der KJL wider (vgl. Dahrendorf 1988, 88). Diese Tendenz greift der Autor eine geraume Zeitspanne später erneut auf. In den Jahren 1995 bis 2003 erschienen in diesem Kontext 52 Jugendbücher zum Thema Nationalsozialismus. 38 dieser Bücher (75%) und damit die überwiegende Mehrheit behandeln den Holocaust. Kein Thema bedrängt die deutsche Öffentlichkeit mehr. Maßgeblich verstärkt wird dieser Effekt durch Filme wie Schindlers Liste (Spielberg) oder Holocaust von Lanzmann (vgl. Dahrendorf 2004, 142). Die schwierige Etablierung des Themas in der KJL kann ebenfalls auf die Problematik einer kindgerechten Vermittlungsbasis zurückzuführen sein. Hier standen die Autoren nicht nur vor dem Problem, das Thema Holocaust schonend, sondern auch ‚wahrheitsgerecht‘ behandeln zu müssen. Im nächsten Kapitel meiner Arbeit sollen folglich die Problematiken skizziert werden, die sich bei einer Thematisierung des Themas Holocaust potentiell ergeben können.

1.3 Die Problematiken in der Kinder- und Jugendliteratur: Ein wissenschaftlicher Diskurs

Der Holocaust in der KJL muss sich mehreren Problematiken stellen, die in einer kindgerechten literarischen Vermittlung zu diesem Thema auftreten. Zwangsläufig entsteht hier der Konflikt, die Historie zu verfälschen oder den Kindern eine zu wahrheitsgetreue Abbildung der damaligen Schrecken zu liefern. Dabei muss jedoch zwischen den literarischen Arbeiten und der darauf basierenden wissenschaftlichen Sekundärliteratur differenziert werden. Die Primärliteratur zu diesem Thema soll im Folgenden nicht diskutiert werden, da deren Thematisierung den Umfang dieser Arbeit erheblich übersteigen würde. Dieses Kapitel dient vielmehr dazu, die wissen­schaftlichen Kontroversen aufzuzeigen, die es allgemein zu dem Thema Holocaust in der KJL gibt, dabei beziehen sich einige Verfasser auf Studien, die sich auch mit den konkreten Werken beschäftigt haben. Im Anschluss hierzu wird dann eine explizite Beispielanalyse eines ausgewählten Werkes aufgegriffen und näher vertieft.

Die historische KJL bewegt sich häufig zwischen zwei Angelpunkten: Zum einen wird versucht, den Kindern einen umfangreichen Einblick in die damals bestehenden Lebensverhältnisse zu gewähren und dabei ein altersadäquates Denk- und Sprach­niveau beizubehalten. Zum anderen kann aber auch die erzieherische Intention vom Autor in der Geschichte Überhand nehmen, so wird häufig wörtlich nach falschem und richtigem Verhalten unterschieden, um damit die moralische Botschaft der Erzählung auszurichten. Angrenzend dazu wird vielfach die Vorstellung vermittelt, dass trotz aller historischer Lasten, welche die zentralen Gestalten zu tragen haben, kein Anlass bestehe, seine optimistische Hoffnung aufzugeben (vgl. Henke-Bockschatz 2008, 206). Shavit führt die Problematik der KJL zum Thema Holocaust ähnlich auf: Oftmals würde eine Vergangenheitskonstruktion gebildet, die sich auf den traumatischen Charakter der deutschen Historie gründet. Jene tendiert dazu, den jungen Lesern (auch hier wieder die männliche Form zur Vereinheitlichung) die dunkle Last zu ersparen und sich der Blöße der großelterlichen Generation zu entziehen. Die Auffassung, dass die junge Leserschaft im späteren Alter ohnedies mit dem genauen Geschichtsbild konfrontiert wird, führe in der KJL zu der Tendenz, die positiven Seiten des Lebens zu betonen und aufzuführen, auch wenn diese eher die Ausnahme in der nationalsozialistischen Zeit darstellten. Dementsprechend bestimmen hier vorwiegend auch ‚freundliche‘ Deutsche mit Vorbildcharakter, die ihren jüdischen Mitmenschen helfen, den literarischen Text. Dieser Umgang mit der Vergangenheit in der KJL ist jedoch durchaus problematisch. Abgesehen von der bewusst lückenhaften Darstellung werden die grausamen Schattenseiten laut Shavit nicht ausgeblendet, sondern finden sich häufig in der Schilderung des Leids wider, das den Deutschen widerfahren sei. In anderen Teilgebieten der KJL wird dagegen oftmals die schonungslose Realität literarisch festgehalten, in der Annahme, dass dies der pädagogisch und psychologisch richtige Weg sei. Eine schützende Auffassung wird dagegen nur in der Holocaust-Thematik beibehalten (vgl. Shavit 2008, 62f.).

Die KJL hält in der erzählenden Literatur eine Besonderheit bereit. „Alle Darstellungen des Dritten Reiches gehen davon aus, daß Kinder und Jugendliche sich nur mit Kindern und Jugendlichen identifizieren können. Deshalb wird die Geschichte des Dritten Reiches immer als Kindheitsgeschichte und aus der Perspektive von Kindern dargestellt“ (Sannes-Müller 1988, 59). Doch diese Perspektive muss ebenfalls kritisch betrachtet werden: Einerseits würde diese nicht zwingend gewählt werden, um Geschichte literarisch darzustellen, andererseits besteht besonders hier die Gefahr, dass alle literarischen Gestalten zu Opfern werden könnten (vgl. Sannes-Müller 1988, 59f.). Auch Ewers und Gremmel führen an, dass eine Perspektive aus der Erinnerung eines jugendlichen Ichs (vorwiegend aus der Opfer-, allenfalls aus der Verführtenrolle) dazu verleitet, dass die jungen Leser den Nationalsozialismus lediglich mit einer leidenden, aber keiner schuldigen deutschen Gesellschaft verbinden. Die vorherr­schende kindliche Erlebnisperspektive kann hier nur mit starkem Widerwillen mit der Deklassierung und Verfolgung der Juden in Verbindung gebracht werden (vgl. Ewers/ Gremmel 2008, 32). In diesem Kontext ist es von Bedeutung, die richtige Balance zwischen der Widergabe der Verbrechen und dem Versuch, diese kindgerecht darzustellen, zu finden. Historische Fakten zugunsten der kindlichen Entwicklungsstufe nicht auszulassen, ist dabei immer eine Gradwanderung. Jedoch besteht der Konflikt nicht zwingend darin, den Kindern die grausamen historischen Ereignisse vorzu­enthalten. Vielmehr werden häufig zur Schonung der Kinder die geschichtlichen Begebenheiten verfälscht und falsche Moralvorstellungen aufgebaut. „Wichtig ist, ob ein Ereignis so hätte geschehen können. Das heißt, ob es als repräsentatives Ereignis für die Geschichte dienen kann“ (Shavit 1988, 14). Dabei ist es nicht notwendig, den Kindern und Jugendlichen alle historischen Details zu schildern, vielmehr kann an einem repräsentativen Ereignis die Gefahr vermieden werden, die historischen Verhältnisse falsch darzustellen.

„Die Phase, in der das Dritte Reich nicht mehr ausdrücklich oder unausdrücklich Auto­biographie erzählt, steht noch aus“ (Sannes-Müller 1988, 60). Dagegen werden leider oftmals die Lücken in autobiographischen Texten mit wünschenswerten Erinnerungen ausgefüllt, um so eine nachträgliche Befreiung oder ein Aufbau der eigenen kindlichen Unschuld herzustellen. Demgemäß werden dann auch die Protagonisten mit einem idealisierten kindlichen Moral- und Gerechtigkeitsverständnis ausgestattet, das sie von den Taten der nationalsozialistischen Zeit und der eigenen Schuldigkeit immunisiert. Dies kann zur Folge haben, dass die jungen Leser solcher ‚Wunschautobiographien‘ die Macht der damaligen NS-Propaganda verkennen und zugleich die starke Zustimmung seitens der Jugendlichen der damaligen Zeit unterschätzen (vgl. Ewers/ Gremmel 2008, 32f.).

Shavit ermittelt in ihren Forschungen ein dominantes Narrativ in der westdeutschen KJL, welches sich ihrer Meinung nach in den frühen 1960er Jahren herausgebildet hat. Shavit schreibt dem dominanten Narrativ folgende Eigenschaften zu:

1. Das Narrativ wird meist mit der Vor- und der Nachkriegszeit in Verbindung gebracht, die Jahre 1941-1945 finden kaum Erwähnung;
2. Der Krieg wird häufig nur auf die innerdeutschen Gebiete bezogen, besetzte grenzüberschreitende Sektoren werden nur vereinzelt erfasst;
3. Hitler und dessen Nazis sind die Hauptverantwortlichen des Krieges und werden als Nicht-Deutsche dargestellt;
4. Die Handlungen deutscher Soldaten und die Teilhabe an Kämpfen wird nur sehr eingeschränkt beschrieben;
5. Die Erzählungen zum Kriegsende/ Nachkriegszeit thematisieren hauptsächlich deutsches Leid, die Beteiligung der Deutschen wird minimalisiert und relativiert, indem die Kriegsverbrechen der Alliierten besonders hervorgehoben werden;
6. Der Krieg selbst wird aus seinen Kontext hervorgehoben und als Universalphänomen behandelt (vgl. Shavit 2008, 52ff.).

Das dominante Narrativ zeigt deutlich manipulierende Eigenschaften, die hin zu einem bequemen und erwünschten historischen Vergangenheitsbild zielen. Eine bewusste Auseinandersetzung mit der dunklen Realität vergangener Zeit wurde hier vermieden. Dennoch und das betont Shavit auch, ist die Schlussfolgerung haltlos, dass der Holocaust nicht anders zu vermitteln sei. Vielmehr tritt die Existenz eines alternativen Narrativs zur richtigen Darstellung des dritten Reiches in den Mittelpunkt, das jedoch im Großteil der KJL keine Verwendung findet (vgl. Shavit 2008, 62). Auch wenn Shavit schon in ihren älteren gleichwertigen Forschungsergebnissen kontroverse Meinungs­bilder erzeugt, so müsse man laut Fölling-Albers anerkennen, dass sie die gefährliche Rolle von Klischees so beleuchtet hat, das tatsächlich die KJL zu diesem Thema in Form und Inhalt neu bedacht werden sollte (vgl. Fölling-Albers 1988, 81).

Die KJL zeichnet sich nicht zuletzt durch ihre zahlreichen Mischformen von Fiktion bis hin zur Tatsachendarstellung aus (vgl. Dahrendorf 1996, 336). Durch die Vielzahl der unterschiedlichen Kinder- und Jugendbücher zum Thema Holocaust wird deutlich, dass es keine allgemeinen Bewertungskriterien gibt, die für alle Bücher dieses Gebietes gelten können. Vielmehr sollte in diesem Kapitel herausgestellt werden, welche Problematiken sich zu diesem Thema ergeben, wenn in diesem Fachgebiet zu mehreren Büchern geforscht wird. Dabei ist nicht nur der reine Inhalt der Bücher ein entscheidendes Kriterium zur Bewertung eines kinderliterarischen Werkes, sondern auch die äußere Form muss in den Bewertungskatalog hinzugezogen werden: Die literarisch-ästhetische Gestaltung eines historischen Kinder- und Jugendbuchs ist nicht immer gleich vereinbarend mit dem historischen Wissen, welches das Buch vermitteln soll. So gibt es auch Erzählungen, die zwar in ihrer literarisch-künstlerischen Erzähl­weise durchaus brillieren, in ihrem geschichtsdidaktischen Anspruch jedoch weniger gehaltvoll sind (vgl. Henke-Bockschatz 2008, 209). Um nun detaillierter auf die einzelnen Bewertungskriterien eines bestimmten Werkes eingehen zu können, wird im weiteren Verlauf dieses Buches eine Beispielanalyse durchgeführt. Hierzu stelle ich zunächst geeignete literaturwissenschaftliche Kriterien vor, die es ermöglichen, über den Inhalt und die Form des Buches besser reflektieren zu können. Speziell soll dann ebenfalls die autobiographische Textform näher beleuchtet werden. Die literaturwissen­schaftliche und später auch didaktische Analyse soll zu dem ausgewählten Buch ‚ Ich bin ein Stern‘ von Inge Auerbaucher durchgeführt werden.

1.4 Literaturwissenschaftliche Kriterien

Das Zweiebenenmodell von Peter Wenzel kann genutzt werden, um die literatur­wissenschaftlichen Kriterien im Hinblick auf das „Was“ und „Wie“ richtig zu ordnen. Das ‚Was‘ des Erzählens (story) meint hier die Geschichte des Erzähltextes, also insbesondere die Handlung, die Ereignisse, die Figuren und den Raum, das ‚Wie‘ des Textes (discourse) hebt dagegen die Struktur und das Medium der literarischen Umsetzung in den Fokus der Betrachtung, beispielsweise die Erzählreihenfolge, -dauer, -häufigkeit oder –sprache. (vgl. Wenzel 2004, 15f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Zweiebenenmodell (vgl. Wenzel 2004, 15)

1.4.1 Das ‚Was‘ in der Erzähltextanalyse

Die eigentliche Handlung spielt eine bedeutende Rolle im Verständnis eines literarischen Textes. Um den Inhalt eines Textes erfassen zu können, kann zunächst die Oberflächenstruktur beschrieben und dargestellt werden (Darstellungsebene). Wenn im weiteren Verlauf dann die Grundmuster der Handlungselemente analysiert werden, gelangt man zur Tiefenstruktur eines literarischen Textes (vgl. Gansel 2010, 75). Diesbezüglich werde ich jedoch nur literaturwissenschaftliche Analysekriterien aufführen, die im Zusammenhang mit der späteren Betrachtung zu ‚Ich bin ein Stern‘ relevant sind. Ein inhaltlicher Auswahlprozess über die wesentlichsten Kriterien wird also bereits von mir vorab getroffen.

Die Oberflächenstruktur charakterisiert sich durch das Ereignis und das Geschehen (wie es ebenfalls Wenzel in seinem Zweiebenenmodell festhält). Das Ereignis kennzeichnet sich durch die kleinste Einheit der Handlung, der Handlungskern wird durch Prädikat und Subjekt bestimmt. Mehrere Ereignisse bilden zusammen das Geschehen. Diese beiden Elemente können dann vom Autor geformt und aufeinander bezogen werden, um die eigentliche Handlung der Erzählung herauszubilden (vgl. Gansel 2010, 75f.).

Wird ein wiederkehrendes Grundschema analysiert, welches sich hinter bestimmten Texten verbirgt, dringt man zu universellen Handlungsmustern vor, welche die Tiefenstruktur beschreiben. Aufgrund der zahlreichen literarischen Handlungs­varianten, kann natürlich kein einheitliches literaturwissenschaftliches Analyseschema gefunden werden. Im literaturwissenschaftlichen Konsens finden jedoch folgende Betrachtungen häufig Verwendung:

1. Der Beginn eines Textes: Der Anfang einer Erzählung kann sich in ver­schiedenen Varianten erstrecken (einleitend, mitten in der Geschichte be­ginnend, zunächst zusammenhangslos etc.);

2. Die Figuren: Die Protagonisten nehmen in einem Text eine zentrale Stellung ein, da sie die Handlung tragen und eine bestimmte Charakterisierung (innere und äußere Merkmale und Handlungselemente der Figuren) aufweisen. Die Beziehung zwischen Figur und Geschehen/ Situation kann durch eine Figuren­konzeption festgehalten werden. In der figuralen Charakteristik lassen sich im Besonderen Elemente (direkt und indirekt) aus der Figurenperspektive eines Ich-Erzählers ermitteln. Dabei können Figuren ‚Ich-Themen‘ nutzen, die haupt­sächlich die Gefühlswelt des Protagonisten betreffen;

3. Der Raum: Der Raum gibt immer einen ‚Ausschnitt von der Welt‘ wieder, er kann gesehen, gefühlt und bewertet werden, zudem kann in ihm eine Handlung stattfinden. Räume erfüllen bestimmte Raumfunktionen, d.h. sie transportieren Stimmungen oder eine Atmosphäre, wecken Erwartungen und haben symbolische Bedeutungen;

4. Spannung und Spannungsaufbau: Hierzu kann die äußere Spannung (also die Handlung selbst, oftmals durch gegenteilige und abgrenzbare Charakterzüge wie gut-böse, moralisch-unmoralisch etc. gekennzeichnet) von der inneren Spannung (innere Gefühlszustand der Figuren) differenziert werden (vgl. Gansel 2010, 83ff.).

1.4.2 Das ‚Wie‘ in der Erzähltextanalyse

In erzählenden Texten gilt es insbesondere immer zwischen dem Erzähler und dem Autor zu differenzieren, denn die vom Autor erschaffene Erzählinstanz kann nicht zwingend mit dem Autor der Geschichte gleichgesetzt werden. Die KJL hält die Besonderheit bereit, dass der Autor meist nicht mehr die Erzählperspektive des Kindes einnehmen kann, weil überwiegend seine Jugend und Kindheit schon vergangen ist. Der Erzähler übernimmt hier eine Vermittlungsinstanz, die es im Hinblick auf die Einführung, Angaben zu Zeit und Raum sowie Figurencharakterisierung näher zu beleuchten gilt. Hierbei ist zu beachten, dass es keine klar abgesteckten Grenzen zwischen den verschiedenen Erzählinstanzen gib, sondern die Übergänge fließend sein können (vgl. Gansel 2010, 55f.).

Die Ich-Erzählinstanz ist eine besondere Form der Erzählung, sie kommt einer dargestellten Alltagssituation am nächsten. Der Erzähler nimmt in der Ich-Perspektive unmittelbar selbst an der Handlung teil. Hierbei kann es sich um die zentrale Person in der Erzählung handeln oder auch nur eine Nebenperson betreffen. Besonders signifikant tritt die Unterscheidung zwischen dem ‚erzählenden Ich‘ und dem ‚erlebenden Ich‘ in den Fokus meines literaturwissenschaftlichen Auswahlprozesses. Während das ‚erzählende Ich‘ vergangene Ereignisse aus der Rückschau berichtet sowie eine auktoriale Position einnimmt, d.h. das Dargestellte auch rückblickend bewerten und kommentieren kann, handelt es sich beim ‚erlebende Ich‘ um das frühere Selbst des Ich-Erzählers. Texte mit größerem zeitlichem Abstand vom Ich-Erzähler zur Figur überschreiten häufig die Grenze zur Allgemeinliteratur, während Texte, in denen der Protagonist mit dem Erzähler zeitlich zusammenfällt, häufig als reine Kinder- und Jugendbücher angesehen werden. Die Ich-Erzählinstanz ist in der Weitergabe seiner Erfahrungen begrenzt, denn diese ist nicht allwissend. Drei wesentliche Merkmale lassen sich an dieser Stelle festhalten: 1. Die Bewusstseins- und Gefühlsdarstellung bleibt auf das Ich begrenzt; 2. Der Ich-Erzähler verfügt über Kenntnisse aus der Vergangenheit, kann jedoch über Zukünftiges nur spekulieren; 3. Die Ich-Erzählinstanz kann nicht an verschiedenen Orten gleichzeitig sein, sie berichtet über die Ereignisse, an denen sie selber teil hat. Von anderen Begebenheiten kann sie nur Einsicht ge­winnen, wenn jemand Drittes ihr davon erzählt; Durch eine Erzählung aus der Ich-Perspektive erscheint der Erzähler als persönlicher Vermittler, der sich direkt an die Leser wendet und seine Zusammengehörigkeit und Verbundenheit zu den realen Momenten der Erzählung versichert (vgl. Gansel 2010, 59ff.).

Die Erzählform kann also grob in Ich-Erzählung und Er/ Sie-Form unterschieden werden. Das Erzählverhalten soll dazu das Verhältnis des Erzählers zum Erzählten definieren. So kann ermittelt werden, ob der Erzähler einen absehbaren eigenen Standpunkt vertritt oder sich sogar an denen anderer Figuren orientiert. In einer Analyse kann das allgemeine Verhältnis zum Erzählten geklärt oder die Erzählinstanz selber näher untersucht werden, indem geprüft wird, ob der Erzähler als eigene Person erkennbar hervortritt (vgl. Spörl 2006, 265). Das Erzählverhalten ist zudem bei einer Ich-Erzählsituation in zwei Arten zu differenzieren: Zum einen die überschauende, auktoriale Erzählform (ein Ich erzählt) und zum anderen die personale Sichtweise der Figur (Ich-Erzählweise). Erstere ist häufig in der KJL anzutreffen und kennzeichnet sich vor allem auch durch seine reife und kritische Sichtweise auf die vergangene Jugend oder Kindheit aus. So lässt sich in einer weiteren Unterkategorie das auktoriale, vom personalen und vom neutralen Erzählverhalten trennen (vgl. Petersen 1993, nach Gansel 2010, 67).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(vgl. Gansel 2010, 68).

[E]in Autor [sollte] Erzählformen wähl[en], die Werturteile nicht aufdrängen, sondern zur autonomen Urteilsbildung und zur selbstständigen Auseinandersetzung mit Normen und Werten herausfordern. Nur so kann er die (heranwachsenden) Leser in der Entwicklung einer individuellen Werturteilsfähigkeit unterstützen (Daubert 2001, 106).

Der Standort des Erzählers beschreibt dabei das räumliche und zeitliche Verhältnis des Erzählers zu den Akteuren und dem Geschehen. So kann beispielsweise der Erzähler mit großer Distanz, aber auch mit detailgetreuer Nähe die Figuren, die Handlungen oder Denkweisen der Protagonisten darstellen, indem er die Vor- und Nachgeschichte bestimmter Figuren vermittelt oder sogar allwissend über dessen innere wie äußere Lebenswelt zu berichten weiß. In der Erzählperspektive wird daher auch nochmals zwischen der Außen- und Innensicht unterschieden. Die Erzählhaltung äußert sich in den wertenden Einstellungen des Erzählers zum Geschehen, sie kann neutral, ablehnend, ironisch etc. wiedergegeben werden (vgl. Petersen 1993, nach Gansel 2010, 68f).

Ergänzend möchte ich die bereits aufgeführten literaturwissenschaftlichen Kriterien um folgende Themenbereiche erweitern, die Martinez und Scheffel in ihrer ‚Einführung in die Erzähltheorie‘ treffend zusammenfassen:

- Zeit – die Verbindung zwischen dem Erzählten und dem Geschehen (z.B. Ordnung, Dauer, Frequenz);

- Modus – die Entfernung oder den Grad der Mittelbarkeit zu den Ereignissen (z.B. Distanz, Fokalisierung, Perspektiven) und

- Stimme – Das Erzählte selbst in seinem Verhältnis zum Erzähler (z.B. Zeitpunkt, Ort, Stellung zum Erzähler, Adressatengruppe) (vgl. Martinez/ Scheffel 2009, 30ff.).

1.4.3 Adaptionsmerkmale

Gansel (2010) beschreibt die besondere Relevanz der Adaption in der KJL. Die Adaption „bezeichnet alle Handlungen, Methoden, Formen, einen Text so zu gestalten, zu verändern, zu bewerben, anzupreisen, zu bewerten, auszuwählen, dass er den kognitiv-psychischen Dispositionen, den Bedürfnissen, dem Erwartungshorizont des anvisierten Adressatenkreises entspricht.“ (Gansel 2010, 23). Unterschiedliche Inhalte, Vermittlungsziele und Bezugsgruppen verlangen in diesem Kontext unterschiedliche Formen der Adaption:

- Stoffliche Adaption: Hierbei werden Elemente der Wirklichkeit von Kindern zum Gegenstand literarischer Darstellungen (z.B. Ferien, Ausflüge, Freundschaft, etc.);

- Formale Adaption: Die formale Adaption passt den Stoff den Fähigkeiten und den Wissen der kindlichen Leserschaft an. Hierbei sollen komplexe Texte er­fasst werden, die mitunter mehrsträngige Handlungen oder differenzierte Erzählperspektiven einnehmen. Wichtig zur Ermittlung der Geschichte ist auch die formale Wahl der Erzählform ;

- Sprachlich-stilistische Adaption: Eine sprachlich-stilistische Adaption vollzieht eine Anpassung an den individuellen kognitiven Stand der Adressaten. Konkret wird dabei auf komplexen Satzbau (mehr als zwei Teilsätze), Komposita mit mehr als drei Konstruktionen, Nominalkonstruktionen, abstrakte Nomina, Perspektivenwechsel, Zeitsprünge bei wörtlicher Rede, etc. verzichtet;

- Thematische Adaption: Hierbei wird die Botschaft eines Stoffes und dessen Beziehung zu den Erfahrungen der Kinder fokussiert;

- Axiologische/ wertende Adaption: Diese Adaption gibt entweder durch den Einsatz eines auktorialen Erzählers gesellschaftliche oder erwachsene Werte, Normen und Leitbilder prägend vor (z.B. in der Sozialisationsliteratur) oder ermöglicht dem Kind selbst als Wertungsinstanz zu agieren. Durch die Verwendung eines kindlichen Ich-Erzählers kann dieses über die Auffassungen der Erwachsenen dominieren;

- Mediale Adaption: Entscheidend ist hier die Wahl des Mediums (literarischer Text, Video, Film, etc.). Folglich ist es von großer Bedeutung neben der optischen Gestaltung, auch Formate und Schriftstile kindgerecht anzufertigen (vgl. Gansel 2010, 23ff.).

1.4.4 Die autobiographische Erzählform

In der Erzählung ‚Ich bin ein Stern‘ von Inge Auerbacher soll der autobiographische Aspekte im Hinblick auf die darauf folgende Analyse näher beleuchtet und herausgearbeitet werden.

Eine Fiktionalisierung der Literatur ist in autobiographischen Romanen nicht mehr gegeben, daher entfällt eine gewisse Schutzummantelung. Der Verfasser einer Autobiographie sieht sich meist mit der Frage der Selbstentblößung und schonungs­losen Recherche seines eigenen Lebens konfrontiert. Keine fiktive Romanperson sondern die persönliche und private Lebensgeschichte steht im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Der Autor als Privatmensch versucht hier im Blickwinkel des Publikums seinen Entwicklungsgang und die damit evtl. einhergehenden Traumatisierungen zu verarbeiten (vgl. Ewers/ Gremmel 2008, 31). Dennoch und darüber herrscht Konsens in der Forschung haben sich die Grenzen zwischen Roman und Autobiographie zunehmend entschärft. So beinhalte jede Autographie zu einem gewissen Teil auch fiktionale Elemente. Traditionelle Merkmale der Autobiographie (im gleichen Namen manifestierte Identität, paratextuelle Zeichen und Wiedergeben der Fakten) werden zunehmend in eine offenere Form umgewandelt (bspw. Erzählungen aus der dritten Person, fiktionale Teile, Untertitel wie Roman, Erzählung) (vgl. von Glasenapp 2008, 131f.). „[D]as Spiel mit den Ebenen Fiktion und Realität […] stellt eine Möglichkeit dar, sich inhaltlich den Verbrechen zu widmen, jedoch gleichsam Entlastungsstrategien in die Erzählung einzubauen“ (Flügel 2009, 233).

Nicht zuletzt bleibt leider den Verfassern von Autobiographien aus dem Zweiten Weltkrieg eines gemein: Die Ideologie der Nationalsozialisten sah meist kein Überleben der zentralen Personen vor, so konnte jenes aufgrund glücklicher Umstände wie Untertauchen, Widerstand oder Befreiung erst gesichert werden. Diese Bewusst­machung prägt häufig alle Autobiographien und kennzeichnet diese im Besonderen nochmals als Erinnerungsliteratur (vgl. von Glasenapp 2008, 141f.). Hier erkennt Klüger jedoch einen entscheidenden Nachteil, den die Memoirenliteratur in sich trägt. Denn die Ausnahme des Überlebens und das Schicksal des Einzelnen lässt die Leserschaft immer an den positiven Verlauf der Geschichte hoffen. Die Identifikation mit dem Ich-Erzähler lenkt die Aufmerksamkeit auf die, die überlebt haben und nicht auf jene, denen gedacht werden sollte, da sie dem grausamen Massenmord der Nationalsozialisten nicht entkommen konnten (vgl. Klüger 1992, 210). „Es ist aber vollkommen klar, daß keine Literatur die Geschichte beschreiben kann, wie sie „eigentlich gewesen ist“, auch wenn es um geschichtlich-literarische Texte geht“ (Shavit 1988, 14). Dabei sollte laut von Glasenapp ebenfalls bedacht werden, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit der eigenen Autobiographie für die Autoren selbst besitzt, denn diese verarbeiten oftmals die schweren Traumata der Vergangenheit in ihrer Literatur. Daher sind Autobiographien darüber hinaus ein Medium, die grausamen Auswirkungen des Nationalsozialismus aufzuführen und damit eine Verbindung zur Gegenwart zu schaffen. Die Tatsache, dass in der national­sozialistischen Zeit nicht über sein eigenes Schicksal gesprochen werden konnte, kann durch die Festhaltung einer autobiographischen Geschichte endlich entgegengetreten werden (vgl. von Glasenapp 2008, 142ff.). „Das Autobiographische berechtigt jedoch noch lange nicht dazu, die Texte so zu behandeln, als wären es historische Sach­berichte, um sie alsdann auch als solche themen- und stoffanalytisch behandeln zu können“ (Dahrendorf 1988, 85). Die autobiographischen Texte während des dritten Reiches heben sich besonders durch ihre Heterogenität hervor, sie zeichnen sich vor allem durch die unterschiedliche temporäre und inhaltliche Schwerpunktsetzung, die verschiedenen Sprachen und die damaligen individuellen Umstände aus (vgl. von Glasenapp 2008, 132ff.). Dass eine autobiographische Erzählung zwar nicht als Gesamtdarstellung des Holocaust verstanden werden darf, ist offensichtlich. Die Authentizität einer Autobiographie sollte jedoch nicht verkannt werden. Die autobiographische Literatur aus Sicht eines Kindes hält dabei eine Besonderheit bereit – sie differenziert sich vor allem durch die realen Erinnerungen und der Vergegen­wärtigung der Kindheit von anderen Abfassungsformen. So schlugen vor allem die grausamen Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit zu jenem Zeitpunkt in die Kindheit der Protagonisten ein, als diese selbst ihre Identität erst wahrzunehmen begannen (vgl. von Glasenapp 2008, 141).

2. Analyse eine ausgewählten Beispiels: Ich bin ein Stern

2.1 Inhaltliche Einordnung

Die autobiographische Erzählung ‚Ich bin ein Stern‘ von Inge Auerbacher erzählt aus dem Leben eines jüdischen Mädchens und skizziert die Leidensgeschichte ihrer Familie im zweiten Weltkrieg von der Reichskristallnacht bis hin zu der Befreiung durch die Alliierten.

Zu Beginn der Erzählung steht das Gedicht ‚Ich bin ein Stern‘, welches aus Kindersicht den Stolz, trotz Ausgrenzung einen jüdischen Stern zu tragen, widergibt. Auch die Puppe Marlene findet am Anfang der Erzählung eine besondere Erwähnung, hier wird der Halt, den ihr die Puppe im Laufe der nationalsozialistischen Verbrechenszeit gegeben hat, mit Wärme beschrieben.

Das Buch ist in vier Kapitel untergliedert und richtet sich durch die überschaubare Größe sowie die erklärenden Fußnoten insbesondere an junge Leser, die sich zum ersten Mal diesem Teil der deutschen Geschichte widmen. Im ersten Kapitel ‚Die Anfänge‘ wird die Leserschaft in die damaligen Lebensverhältnisse der Inge Auerbacher eingeführt, die frühesten Erinnerungen über die Zeit vor dem Krieg im Heimatort Kippenheim (Baden-Württemberg), etwa die jüdischen Gebräuche und Feiertage, das gemeinsame Gemeindeleben der Christen und Juden, die Herkunft des eigenen Hauses, aber auch die Verwundung des Vaters im ersten Weltkrieg werden dem Leser geschildert (S.9-20). Im zweiten Kapitel ‚Meine Geschichte‘ beschreibt die Autorin neben den glücklichen Erinnerungen an die Kindheit ferner die allmählich bedrohende Verfolgung der Juden. Während Inges Vater und Großvater plötzlich verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert werden, ist das Mädchen Inge mit ihrer Mutter den gewalttätigen Ereignissen der Reichkristallnacht, den Ängsten und den täglich mehr einschränkenden Gesetzesbestimmungen ausgesetzt. Nach einigen Wochen kehrt der Vater mit den bald darauf sterbenden Großvater zurück. Die Familie sieht sich gezwungen, in das Haus der Großeltern nach Jebenhausen zu ziehen, nachdem eine Flucht ins Ausland nicht mehr möglich erscheint. Die Großmutter wird kurz darauf nach Riga (Lettland) deportiert, aufgrund der Kriegsdienste des Vaters im 1. Weltkrieg kann sich die restliche Familie einer Zwangsverlagerung entziehen. Bald darauf müssen auch Inge mit ihren Eltern Jebenhausen verlassen. Sie werden in einem der ‚Judenhäuser‘ in Göppingen einquartiert, wo sie bereits die Folgen des Kriegsbeginnes erreichen. Daran an­schließend werden die Ereignisse beim Abtransport in das Konzentrationslager Theresienstadt geschildert (S.21-41). Das dritte Kapitel ‚Ein Ort der Finsternis‘ ist von den unmenschlichen Ereignissen im Konzentrationslager der Tschechoslowakei bestimmt. So schildert die siebenjährige Inge entsetzliche Schicksale anderer Kinder, die katastrophalen Lebensbedingungen im Lager, die Gefangenschaft, Krankheiten, Hunger, Tod und die Angst, in die Vernichtungslager Richtung Osten deportiert zu werden. Die Todesrate war aufgrund der Unterernährung und der mangelnden Hygiene im Konzentrationslager sehr hoch. Der tagtägliche Kampf um eine Ration Essen und die damit verbundenen Risiken, die Inges Eltern bei dem Diebstahl und dem Verstecken einiger Lebensmittel eingingen, kennzeichneten das Lagerleben. Trost in dieser unmenschlichen Umgebung findet Inge in den Spielen mit anderen Kindern und in ihrer Puppe Marlene, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet hat. Doch bald wird auch Inges beste Freundin Ruth mit ihrer Familie in den Osten zwangsaus­gewiesen, die Massentötungen in den Gaskammern von Auschwitz bestimmen Inges Gedankenwelt (S.42-77). Das vierte Kapitel ‚Die Befreiung‘ erzählt von den letzten Tagen im Konzentrationslager Theresienstadt. Im Mai 1945 werden die verbliebenden Menschen im Lager von den Alliierten befreit, den Überlebenden wird schmerzlich bewusst, in welch grausamer Gefangenschaft sie so lange verharren mussten. Eine nachfolgende Typhusepidemie, die schmerzliche Erkenntnis, dass keiner der Ver­wandten überlebt hat und das Stillschweigen der Gesellschaft über die vergangenen Naziverbrechen prägen die Zeit nach der Befreiung. Inge und ihre Eltern wanderten im Jahre 1946 nach Amerika aus, um dort einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen (S.78-91).

Im Anhang befindet sich eine Zeittafel der ‚Verfolgung der Juden 1933-1945‘, um den jungen Leser eine temporäre Einordnung der historischen Ereignisse zu gewährleisten. Gesondert wird zudem eine Karte der größten Konzentrationslager bereitgestellt, hier sind geschätzte Zahlen der zwischen 1939 und 1945 ermordeten Juden veröffentlicht (S.92-99).

2.2 Analytischer Teil

2.2.1 Analyse des ‚Was‘

Der Beginn der autobiographischen Erzählung von Inge Auerbacher hebt sich hervor. Zunächst beginnt das Buch mit dem Gedicht ‚Ich bin ein Stern‘, welches aus der Perspektive eines jüdischen Mädchens verfasst worden ist. Die Leserschaft wird in eine gegensätzliche Welt (Stolz vs. Ausgrenzung) in Form eines lyrischen Werkes eingeführt. Diese ersten Assoziationen können dann beim weiterführenden Lesen aufgefangen werden, um den gleichnamigen Buchtitel eine Bedeutung für die ganze Lebensgeschichte der Inge Auerbacher beizumessen. Das „Zeichen der Schande“ (S.32) wird in diesem Gedicht zu einem besonderen Gegenstand umgewandelt, der als stolzes Gottesgeschenk betrachtet werden kann. Partikulär vor dem ersten Kapitel schließt sich eine Danksagung an ihre Puppe Marlene an, die dem Mädchen in den dunklen Zeiten des Nationalsozialismus Schutz bot und mit ihr die Ängste, die Gewalt und die Gefangenschaft gemeinsam durch litt. Beginnend mit dem ersten Kapitel wird dem Leser dann eine Art Einstieg in die damaligen Lebensverhältnisse geboten. Ungewöhnlich ist hier die Vorwegnahme der zukünftigen Ereignisse, denn die Erzählerin berichtet bereits auf der ersten Seite, dass sie mit sieben Jahren zusammen mit ihren Eltern in ein Konzentrationslager in der Tschechoslowakei deportiert wurde und dass diese Ereignisse sie bis heute traumatisiert haben. Erst danach wird die Leserschaft in die vollständige (Vor-) Geschichte des Mädchens eingeführt.

Inge und ihre Familie sind die zentralen Figuren in der Erzählung, besonders die Eltern von Inge erleben die nationalsozialistische Zeit von Anfang bis zum Ende mit. Das Mädchen selbst ist ein sehr aufgewecktes, sympathisches und lebendiges Kind, welches sich vor allem durch seine starke Familienverbundenheit und seine normalen kindlichen Anliegen auszeichnet. Selbst während der Zeit im Konzentrationslager verliert Inge ihre kindlichen Eigenschaften nicht, sie versucht durch Spiele und Phantasie das Lagerleben erträglicher erscheinen zu lassen („Wir hatten nur wenige Spielsachen im Lager […] Wir erfanden unsere eigenen Spiele und mussten uns dabei auf unsere Phantasie verlassen“ (Auerbacher 2010, 49f.). Jedoch wird besonders am Ende gegenständlich, wie sehr ihre Kindheit unter den damaligen Bedingungen gelitten hat. „Ich hatte nur einen Wunsch: Ich wollte einen neuen Puppenwagen, obwohl ich dafür eigentlich schon zu alt war“ (Auerbacher 2010, 89). Inge will hier nach der Befreiung ihre verlorene Kindheit nachholen. Im Buch wird immer wieder deutlich, welches Elend vor allem die (jüdischen) Kinder im Nationalsozialismus erleiden mussten. Inge beschreibt prägnant ihre eigenen kindlichen inneren Figurenzüge, die sich oftmals durch die einfache Beschreibung der Abläufe herausstellen. Beispiels­weise das erschütternde Ereignis, bei dem ein Mann im Konzentrationslager Inge eine Schachtel gibt, in welcher dieser Dinge aufbewahrt, die Menschen an ihn erinnern sollten (S.74). Das Mädchen reagiert überrascht und neugierig, erst der erwachsenen Inge wird die Bedeutung dieses Momentes begreiflich.

Die Rolle der Familie nimmt indessen eine gesonderte Stellung ein. Sie repräsentiert einen Ort der Obhut und der Sicherheit. Auch in Inge Auerbachers Erzählung stellt die Familie (Eltern und Großeltern) eine wichtige Schutzfunktion im Leben des jungen Mädchens dar. Dies generiert Empathie bei der Leserschaft. Die Schutzrolle der Mutter und der Großmutter wird besonders in der Reichskristallnacht deutlich, in der Inge mit den beiden im Nebengebäude Sicherheit sucht. Auch zum Zeitpunkt der Befreiung in Theresienstadt, in der deutsche Nationalsozialisten mit Handgranaten versuchen, noch einige Lagerinsassen in den Tod zu reißen, wird die große Bedeutung der Eltern spürbar. „Eine Handgranate flog an mir vorbei, die mich nur knapp verfehlte. […] Dann rannte ich schnell zu meinen Eltern. Papa sagte, wir müssen irgendwo Schutz suchen“ (Auerbacher 2010, 81). Dabei wird im Buch besonders der Widerspruch der Schutzfunktion der Erwachsenen und dem Dilemma, dass diese selbst Momente der Angst und Furcht durchleben, deutlich. „Angst und Trauer erfassten die verzweifelten Frauen [hier die Mutter und die Großmutter]. […] Das Kind soll solche Sachen nicht hören“ (Auerbacher 2010, 24f.). Inges Kindheitserinnerungen sind geprägt von den jüdischen Feierlichkeiten mit ihrer Familie, die immer mit viel Mitgefühl und Wärme beschrieben werden. Der Nationalsozialismus zerstört immer mehr Teile dieser fürsorglichen Familienstruktur. Erst der Tod des geliebten Großvaters, dann die Deportation der Großmutter und die einhergehende Ungewissheit, sie jemals lebend wiederzusehen, zerstören die Obhut des Familienumfelds.

Die Polizei, die Sturmabteilung (SA), die deutschen Soldaten, der Lagerkommandant und die SS-Offiziere bilden das Gegenstück in dieser Figurenkonstellation. Prägnante Ereignisse sind für Inge vor allem die Reichskristallnacht, in der gegen die jüdischen Häuser und Synagogen gewalttätig vorgegangen wurde („Keiner unserer christlichen Bekannten zeigte Mitleid mit unserer schrecklichen Lage“ (Auerbacher 2010, 24)) und die Zwangsumsiedlung von Göppingen in das Konzentrationslager Theresienstadt („Meine größte Angst war, dass mir ein SS-Mann meine Puppe Marlene abnehmen würde“ (Auerbacher 2010, 36), bei der das Mädchen ein besonders symbolisches Ereignis für diese Figurenkonstellation (Familie vs. Nationalsozialisten oder Schutz vs. Gewalttätigkeit) in ihrer Erzählung darstellt: Ein SS-Offizier findet Gefallen an dem hölzernen Anstecker von Inge, den ihr die Mutter liebevoll geschenkt und angesteckt hatte. Dieser Anstecker als Symbol für die familiäre Schutzfunktion wird Inge mit Gewalt von jenem Nationalsozialisten entrissen. Hier wird vor allem die Schuldfrage der Deutschen aufgegriffen, indem die Erzählerin offene Fragen an die Leserschaft stellt („Wusste er, wo ich hingebracht werden sollte? […] Hätte sich ein anderes Mädchen wohl darüber [über den Anstecker] gefreut, wenn es von mir gewusst hätte?“ (Auerbacher 2010, 38f.). Besonders nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt wird Inge bewusst, wie sehr die Insassen gelitten haben, nachdem sie neben den Quartieren des Lagers einen wunderschönen Park mit Schwimmbad auffand. „Wie anders musste das Leben außerhalb der Mauern sein! Während wir hungerten, litten und ständig in der Furcht lebten, unser Leben zu verlieren, führten diese Menschen nur ein paar hundert Meter von uns entfernt ein Leben in Luxus“ (Auerbacher 2010, 85f.). Auch die Erkenntnis, dass viele Familienangehörige ihr Leben verloren haben und dass alle persönlichen Habseligkeiten sowie das Haus der Familie an christliche Nachbarn verteilt worden war, trifft Inge und ihre Eltern hart.

Die Puppe Marlene ist in dieser Erzählung besonders symbolträchtig. Sie lässt an vergangene glückliche Zeiten erinnern und begleitet das Mädchen bei den unmenschlichen Lagerbedingungen und Schreckensereignissen. „Marlene würde zum Transport bereit sein, so wie jede andere auch“ (Auerbacher 2010, 51). Sie steht zudem für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in der das Kind Inge mit ihrer Puppe wieder unbekümmert und sorglos ihren kindlichen Bedürfnissen nachgehen kann. „Ich hoffte nur, dass sie, wenn sie Marlene fänden, vorsichtig mit ihr umgehen und ihr nichts antun würden“ (Auerbacher 2010, 67). Marlene symbolisiert den Teil einer kindlichen Entwicklungsphase, der durch die Ereignisse des Nationalsozialismus noch nicht zerstört wurde. Sie steht für das Vertrauen auf eine bessere Kindheit.

Als Raum tritt in dieser Erzählung signifikant Kippenheim und Jebenhausen als Orte der Kindheit, des familiären Zusammenhalts und der jüdischen Feste und Traditionen hervor. An dieser Stelle erlebt Inge glückliche Kindheitstage zusammen mit ihren Eltern, Großeltern und der jüdischen und christlichen Gemeinde. „Wir fühlten uns, als wären wir alle Mitglieder einer weit verzweigten Familie“ (Auerbacher 2010, 15f.). Die Judenhäuser in Göppingen werden nur kurz geschildert, hier beginnt die Übergangs­phase zu der bevorstehenden Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt. Dieser Ort spiegelt die Schreckenszeiten wider, die Inge und ihre Familie erleben mussten. Die hohen Mauern, die tiefen wassergefüllten Gräben und der Stachel­drahtzaun symbolisierten die Gefangenschaft der Insassen. Das angrenzende Militär­gefängnis (‚Kleine Festung‘) galt mit seinen Einzelhaftzellen und dem angrenzenden Schießplatz als ein Ort des Todes, denn dort wurden viele Menschen umgebracht oder befanden sich auf dem Weg nach Osten in den sicheren Tod. Die Backsteinbaracken mit ihren Exerzierplätzen transportieren den Leser in eine hoffnungslose und stickige Atmosphäre. Der Raum kennzeichnet sich durch seine zusammengedrängten Prit­schen, der schlechten (im Winter eiskalten) Luft („Der Geruch des Todes war überall“ (Auerbacher 2010, 56)), den faulig riechenden Abfallhaufen, der als Spielstätte dient, den Leichenhaufen, der so gut es ging ignoriert wurde, seine Tiere (Ratten, Mäuse, Flöhe und Wanzen), das schmutzige Brunnen(wasser), die Gemeinschaftslatrinen, die keinerlei Privatsphäre boten und den Insassen selbst, die Hunger litten und krank waren. „Die überfüllten Kasernen und die Zimmer in den alten, verfallenen Häusern waren bis zum letzten Zentimeter mit zitternden Menschen belegt“ (Auerbacher 2010, 62). Theresienstadt ist ein Ort der Finsternis, der Angst, des Hungers, der Krankheit und des Todes.

Die Erzählung ‚Ich bin ein Stern‘ übermittelt eine äußere Spannung, die durch die Ereignisse in Thersienstadt begründet sind und eine innere Spannung, die von der Protagonistin Inge ausgeht. Der (junge) Leser kann die Empfindungen des Mädchens nachvollziehen und hofft immer auf einen positiven Ausgang für sie und ihre Familie. In welcher Weise Inge die inneren und äußeren Spannungen an die Leserschaft transportiert, soll nun anhand der Betrachtung der literarischen Mittel, also dem ‚Wie‘, erklärt werden.

2.2.2 Analyse des ‚Wie‘

Die autobiographische Erzählung ‚Ich bin ein Stern‘ von Inge Auerbacher berichtet aus der Ich-Perspektive der Protagonistin Inge Auerbacher selbst. Der Autor signalisiert hier eine äquivalente Identität mit der Erzählinstanz, die es im weiteren Verlauf noch näher zu beleuchten gilt. Der Text wird aus der Vergangenheitsform (Präteritum) erzählt, an einigen Stellen ist jedoch ein Präsensgebrauch zu verzeichnen (z.B. „Ich erinnere mich genau an das Geräusch von splitterndem Glas“ (Auerbacher 2010, 23)). Die Erzählform ist besonders geprägt durch das Wechselspiel zwischen dem ‚erzählenden Ich‘ und dem ‚erlebenden Ich‘, während ersteres vergangene Ereignisse aus der Rückschau bewerten kann, z.B. „Der damalige Wahnsinn war ansteckend. In unserer kindlichen Unschuld verstanden wir die Bedeutung nicht“ (Auerbacher 2010, 27f.), so ist der überwiegende Teil des Werkes aus Sichtweise des früheren Selbst der Inge Auerbacher verfasst worden. Durch die Ich-Erzählinstanz nimmt der Leser den Erzähler als persönlichen Vermittler wahr, was durch den autobiographischen Charak­ter nochmals verstärkt wird. Die Verbundenheit zur Schriftstellerin (bzw. Erzählinstanz) wird während der gesamten Erzählung aufrecht erhalten.

Das Erzählverhalten ist zum einen aus der Perspektive der jungen Inge geprägt, die die schrecklichen Ereignisse mit einer kindlichen Auffassungsgabe wahrnimmt (personale Erzählverhalten). Der Erzähler berichtet aus der Perspektive der Prota­gonistin und erfasst die Welt mit ihrem Blickwinkel. Im Schriftstück kommt dies besonders durch die erlebte Rede oder Teile eines inneren Dialoges zum Vorschein. Zum anderen werden diese Momente immer wieder aus der Perspektive der erwachse­nen Inge ergänzt. Hier tritt dann die auktoriale Erzählform in den Vordergrund, indem auch reife und kritische Sichtweisen der Erzählerin sichtbar werden. Die erwachsene Inge als Erzählverhalten hat ein Überblick über das Geschehen, indem sie beispielsweise im Buch vorwegnimmt, was als nächstes geschehen wird. Außerdem ist sie in der Lage, die Figuren zu bewerten und ihnen eine Bedeutung beizumessen (wie dem Mann mit der Schachtel).

Die Erzählung kennzeichnet sich durch ihren kindgerechten Sprachgebrauch, der sich vor allem durch einfach strukturierte und kurze Sätze charakterisiert. Der gewählte Sprachstil unterstützt die Erzählweise aus der Perspektive eines Kindes, wirkt jedoch gleichwohl auf den Leser, indem die schrecklichen Ereignisse sehr rational und sachlich beschrieben werden. Die wenigen Stellen in der Erzählung, in denen eine direkte Rede von der Erzählerin initiiert wird, sind durch ihre deutliche Intention besonders hervorgehoben. Beispielsweise tritt in der Szene, in welcher Inge und ihre Familie nach Theresienstadt zwangsdeportiert wird, die direkte Rede eines SS-Offiziers („Das brauchst du dort nicht mehr, wo du hingehst“ (Auerbacher 2010, 36)) in den Mittelpunkt der Schilderungen. Sie wirkt aufgrund ihres seltenen Gebrauchs überaus betont und angespannt.

Der Standort des Erzählers drückt im Besonderen zwei differenzierte zeitliche Verhältnisse zu der Protagonistin Inge Auerbacher aus. Die erwachsene (bewertende) Inge steht in einem distanzierten und reflektierten Verhältnis zu den national­sozialistischen Ereignissen; das Mädchen Inge, welches im Buch größtenteils aus ihrer Perspektive erzählt, steht in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Verhältnis zu ihrer eigenen Rolle. Unabhängig von den vereinzelten Perspektivwechseln vermittelt die Erzählerin dabei die Handlung und die Figuren mit detailgetreuer Nähe, indem die ergreifenden Ereignisse aus der kindlichen Perspektive konkretisiert werden. Dabei bildet besonders die kindliche Sichtweise mit den rational vernunftgemäß geschilderten Schreckensereignissen einen literarischen Kontrast.

Die Erzählperspektive ist von den vielen inneren Monologen, also der Innensicht der Protagonistin, charakterisiert; daneben ist die Erzählhaltung durch seine kindliche Sprache mit gleichzeitig auftretender Rationalität geprägt. In den oben benannten literarischen Mitteln können indes die literaturwissenschaftlichen Kriterien Modus und Stimme eingeordnet werden. Die Verbindung zwischen dem Erzählten und dem Geschehen (also das Kriterium Zeit) soll indessen spezifischer betrachtet werden: Die zeitliche Abfolge der Autobiographie ist linear verlaufend, d.h. das Buch gliedert sich in die Abschnitte der frühen Kindheitstage, über die allmähliche Bedrohung der Nationalsozialisten und die Deportation nach Theresienstadt bis hin zur Befreiung aus dem Konzentrationslager sowie den Schilderungen über die Tage nach dem zweiten Weltkrieg. Dabei werden auch einzelne Textpassagen, die als prägnante Ereignisse einzuordnen sind, zeitraffend und detaillierter beschrieben, andere werden für den Leser bewusst offen gehalten. Hier lassen sich initiierte Anknüpfungspunkte und Spannungsmomente ausfindig machen.

Eine Authentizität wird dem Leser vor allem durch seine zahlreichen Originalfotografien und –dokumente näher vermittelt. So kann der Leser den Eindruck gewinnen, dass diese Erzählung wahrheitsgerecht und emotionsauthentisch dokumentiert worden ist und keine fiktiven Elemente wiedergegeben werden.

2.2.3 Adaptionsmerkmale

Zur Ergänzung der vorangegangenen Analyse sollen ferner die Adaptionsmerkmale kurz skizziert werden:

- Stoffliche Adaption: Elemente der Wirklichkeit, welche die Erfahrungswelt der Kinder betreffen, lassen sich aufgrund des Kriegscharakter und der grausamen Judenverfolgung nur sehr wenige ausfindig machen. In dem Kapitel ‚die Anfänge‘ können die Kinder dennoch bereits erste Bezugspunkte zur dargestellten Kindheit von Inge Auerbacher finden und diese mit ihrer eigenen Lebenswelt vergleichen;

- Formale Adaption: Der Stoff ist dem kindlichen Leser so aufbereitet worden, dass dieser der Erzählung ohne Probleme folgen kann. Inwieweit der Stoff geeignet ist, um kindliche Reflexionsprozesse anzuregen, muss im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch diskutiert werden. Die Erzählung wird, wie oben bereits erwähnt, von der Ich-Instanz geleitet, um in ausgewählten Momenten von einer auktorialen Ich-Erzählvariante (die erwachsene Inge) ergänzt zu werden;

- Sprachlich-stilistische Adaption: Die Erzählung von Inge Auerbacher ist geprägt von der kindlichen Vermittlungsinstanz sowie der Ausrichtung auf die eigent­liche Handlung, d.h. es werden kurze kindgerechte Sätze gewählt (schwierige Wörter werden mit Fußnote erklärt), in denen ein komplexer Satzbau, Perspektivenwechsel und Zeitsprünge bei der wörtlichen Rede vermieden, bzw. eliminiert werden;

- Thematische Adaption: Die Botschaft des Stoffes fokussiert sich in vielen Fällen auf die konkrete kindliche Adressatenperspektive, indem Inge Auerbacher neben ihrer eigenen Perspektive immer auch die anderer Kindern thematisiert (bspw. „Ein anderer wichtiger Feiertag ist bei Kindern sehr beliebt“ (Auerbacher 2010, 15), „Die Kinder waren freundlich zu mir und gaben mir nie das Gefühl, abgelehnt zu werden“ (Auerbacher 2010, 27), „Jüdische Kinder durften normale Schulen nicht mehr besuchen“ (Auerbacher 2010, 32) und „Ich erinnere mich an einen Transport von mindestens tausend Kindern aus Polen im Sommer 1943“ (Auerbacher 2010, 43)).

- Axiologische/ wertende Adaption: Die Erzählung ist überwiegend wertneutral gehalten. Auch wenn in einigen Stellen die erwachsene Inge das damalige Geschehen kommentiert und beurteilt, sind diese auktorialen Wertungen nicht im Sinne einer Sozialisationsliteratur zu verstehen, vielmehr wird dem Leser eine eigene Wertungsinstanz beigemessen;

- Mediale Adaption: Die Gestaltungsprinzipien sind kindgerecht gewählt: Das Buch gliedert sich in vier überschaubare Kapitel, Schriftgröße und Zeilen­abstand sind für die Adressatengruppe ansprechend, Fotos und Originaldokumente unterstreichen den authentischen Charakter und lockern gleichzeitig das Lesen einer längeren Erzählung auf. Eine Zeitleiste und eine Karte mit den geschätzten Werten der ermordeten Juden befinden sich im Anhang des Buches und reichern die Geschichte mit weiteren Hintergrund­informationen an. Das Buchcover ist im vorderen Teil mit zwei Fotos ge­schmückt - ein Familienfoto der Auerbachers und das Haus in Jebenhausen ist zu sehen. Das Cover ist außerdem in einem rot-sepia-Stich gehalten, diese Farbe betont den historischen Charakter und den thematischen Schwerpunkt des Buches.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783863419011
ISBN (Paperback)
9783863414016
Dateigröße
1.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Dortmund
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,7
Schlagworte
Drittes Reich Primarstufe Didaktik Inge Auerbacher Deutschunterricht
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Titel: Kinder- und Jugendliteratur über den Holocaust: Didaktische Aufbereitungsmöglichkeiten in der Grundschule
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