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Kinder- und Jugendliteratur im fächerübergreifenden Unterricht am Beispiel von „Echtzeit“: Konzipiert für die Sekundarstufe II

©2011 Bachelorarbeit 67 Seiten

Zusammenfassung

In der vorliegenden Studie wird der Fragestellung nachgegangen, ob es möglich ist, in den Unterrichtsfächern Deutsch und katholische Religionslehre fächerübergreifend Kinder- und Jugendliteratur zu lesen.
Der erste Teil der Studie ist die theoretische Basis. Hier soll dargelegt werden, was fächerübergreifender Unterricht bedeutet, besonders im Hinblick auf den Deutsch- und Religionsunterricht. Wo liegen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Zusammenarbeit bei diesen Fächern? Ist es sinnvoll, mit diesen fächerübergreifend zu arbeiten? Welchen Stellenwert nimmt Kinder- und Jugendliteratur in diesem Kontext ein?
Nach diesem theoretischen Input soll das erworbene Wissen praktisch angewendet werden. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich daher mit der Möglichkeit, fächerübergreifend mit Kinder- und Jugendliteratur zu arbeiten, wobei der Schwerpunkt auf dem Fach katholische Religionslehre liegt. Konkret soll das Kinder- und Jugendbuch „Echtzeit“ von Pnina Moed Kass, welches von der Jury des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises empfohlen wird, verwendet werden.
Ziel ist es, nicht nur aufzuzeigen, ob eine Zusammenarbeit möglich ist, sondern auch grundlegend die Lesekompetenz der Schüler zu fördern. Schließlich stellt die Lesekompetenz, d. h. das Lesen, Verstehen und Bearbeiten von Texten, eine Grundvoraussetzung für die Teilhabe am beruflichen sowie am gesellschaftlichen und kulturellen Leben dar. Über das Lesen werden verschiedenste Lebensbereiche erschlossen und Informationen, Fakten, Ideen oder Ideologien vermittelt. Die Lesefähigkeit ist also als „universelles Kulturwerkzeug“ zu verstehen und bedarf der fächerübergreifenden Förderung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Fächerübergreifende Literaturdidaktik

„42% der in der PISA-Studie befragten 15-jährigen gaben an, überhaupt nicht zum Vergnügen zu lesen, womit Deutschland fast das Schlusslicht bildet.“[1] Auch die aktuelle PISA Studie berichtet allenfalls von einer Verbesserung der Leseleistung. Angesichts dieser Ergebnisse steht der Literaturunterricht vor neuen bzw. weiteren Herausforderungen. Aber was kann Literaturdidaktik leisten?

Literaturunterricht fördert eine „individuelle, soziale und kulturelle Bedeutsamkeit.“[2] Jugendliche sind auf der Suche nach ihrer Identität. In der Literatur bekommen sie verschiedene Modelle von Identitäten (also Figuren) in verschiedensten Situationen vorgestellt. Literatur kann über „Quasi-Erfahrungen“[3] die Erfahrungslücken schließen, die das Leben offen hält. Die SchülerInnen haben die Möglichkeit sich in der fiktiven Literatur selbst zu finden. „Zu wissen, wer man ist und warum man so ist, trägt zu einem gelingenden Leben bei“.[4] In der Literatur werden elementare Fragen und Situationen formuliert, die Jugendliche zur einer Identitätsfindung verhelfen können. Die Probleme die aufkommen sind sehr nah an der Welt der Jugendlichen und fördern die Suche nach „dem eigenen Platz in der Wirklichkeit.“[5] Langenhorst argumentiert, dass über die Deutung der literarischen Fiktion eine Reflexion der Wirklichkeitsdeutung angestoßen werden kann. Das heißt die Jugendlichen setzen sich ehrlich mit ihrem Leben auseinander und fangen an sich und ihr Umfeld/Leben zu reflektieren.[6]

In der Sekundastufe II wird von den SchülerInnen darüber hinaus ein „Fremdverstehen“[7] verlangt. Die Jugendlichen lernen wie sie sich durch Nachempfindung in Nicht-Identifikationsfiguren hineinversetzen können. Nur wer in der Lage ist, sich über Empathie in andere Menschen zu versetzen, kann tolerieren, Handlungen akzeptieren und verstehen.[8] Im fächerübergreifenden Unterricht kann diese Ebene -neben der literarischen Ebene- untersucht werden. Gerade für den Religionsunterricht ist diese identifizierende Ebene wichtig.

Ganzschriften, die religiöse Bilder aufweisen, verhelfen neben dem persönlichen Standpunkt auch die religiöse Einstellung der Jugendlichen zu bestimmen. Die Beheimatung der SchülerInnen zu fördern ist ein elementares Bildungsziel des Religionsunterrichts.

Aber mehr noch: Sofern persönliche, wenn auch fiktive, Ereignisse an „Faktenwissen“[9] gekoppelt werden, lernt es sich viel leichter. Durch die Verbindung von Wissen und Emotionen werden Fakten unbewusst aufgenommen. Durch das Lesen erarbeiten sich die SchülerInnen einen erweiterten Wortschatz. Unbekannte Wörter müssen aufgrund des Kontextes nicht nachgeschlagen werden. Diese sind dann aber, wegen der inhaltlichen Stützung, bekannt.[10] Durch die Möglichkeit die „schriftlich fixierte Literatur“[11] immer wieder und egal wo aufzuschlagen und nachzulesen, ist eine „nachhaltige Verankerung von Lesestoff im Gehirn zu erwarten“[12]. Literatur gibt den Lesern die Zeit die sie benötigen, um über das Geschriebene nachzudenken. So wird den Lesern, in diesem Fall Jugendlichen, die Möglichkeit gegeben genau nach ihrem Tempo zu arbeiten. Neben dem Faktenwissen werden die Leser auch mit Gefühlen konfrontiert. Die SchülerInnen können ihr persönliches Empfinden und ihre Gefühlswelt mit der literarischen Umwelt abgleichen und sich positionieren. Die SchülerInnen haben also die Gelegenheit über das Medium Buch ihre Gefühle und Empfindungen in dem großen sozialen Netzwerk „Klasse“ mit MitschülerInnen und LehrerInnen zu artikulieren. Das Buch steht immer als neutrales Medium zwischen den Personen. Folglich fördert Kinder- und Jugendliteratur Heranwachsende bei ihrer Charakterbildung, ihren emphatischen Fähigkeiten und ganz nebenbei lernen sie Fachtermini und erweitern ihren Wortschatz.

Zudem eröffnen „Texte der Kinder- und Jugendliteratur wie kein zweites Medium im Unterricht die Möglichkeit, ein Thema ganzheitlich zu verlebendigen, also den Unterrichtsgegenstand anschaulich, komplex, individualisiert und subjektiv bedeutsam zu konstituieren.“[13] Lesen fördert die „soziale Bedeutsamkeit“[14] bzw. die „literarische Sozialisation“[15]. Das Buch steht im kommunikativen Zentrum bei Dialogen zwischen Familienmitgliedern, Freunden oder Lehrern. Die SchülerInnen lernen, sich auch mit Fachtermini über einen Gegenstand zu bewerten und sich zu artikulieren. Durch eine bestimmte Positionierung der SchülerInnen wird gegebenenfalls ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl entfacht. Über eigenes Schreiben (wie Um- oder Weiterschreiben) können die SchülerInnen kreativ tätig sein, aber auch zeigen, was sie gelernt haben und dies umsetzen. Die Anerkennungen dieser Leistung, sei es von Lehrern, Eltern oder Mitschülern, führen wieder zu einem besseren Selbstwertgefühl. Durch die Eigenschaft von Literatur, die Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft darstellen zu können, nehmen die SchülerInnen teil am „Prozess kultureller Kohärenzbildung, am literarischen Leben und am kulturellen Gedächtnis.“[16] Durch Literatur erinnern wir uns an Vergangenes, nehmen Einstellungen und Haltungen an und schließen uns einer „Konsensgemeinschaft“[17] an.

Natürlich sollte man immer im Blick haben, dass diese Argumente von Individuen abhängen und Literaturunterricht auch negative Aspekte hat. So ist der sogenannte „Bildüberlegenheitseffekt“[18] empirisch bestätigt worden. Eine visuelle Darstellung von Informationen bleibt demnach besser im Erinnerungsvermögen. Die Lehrperson sollte nach Möglichkeit versuchen, die Literatur visuell aufzubereiten, beziehungsweise aufbereiten zu lassen. Eine Übung zur Erstellung eines Posters oder eines Bildes mit Kernaussagen der Geschichte, wäre eine Möglichkeit Literatur visuell aufzubereiten. Wenn es möglich ist, sollte die Lehrperson zudem versuchen die Literatur mit Bildern zu bereichern. Daneben haben audiovisuelle Medien den Vorteil die Sichtweise zu erweitern.[19] Der professionell gesprochene Text regt zum Zuhören an und die SchülerInnen haben während eines Hörbuches die Möglichkeit sich voll in den Text, die Umgebung oder Figur hinein zu versetzen. Dadurch wird der Horizont der Figur erfasst und eine Reflexion der eigenen Welt angeregt.

Es stellt sich weiter die Frage: Warum fächerübergreifend Lesen? Zum einen „dient Literatur immer der ‚Selbst-Bildung’“[20]. Man erfährt etwas über ein fremdes Leben, eine neue Situation und andere Lebensweisen. Auch wenn diese oftmals fiktiv sind, können sie Bildungsprozesse bewirken die sonst nicht angestoßen worden wären. Zum anderen schult Literatur narrativ syntaktische Kompetenzen. Literatur ist offen für „Wissensbestände und Erkenntnisziele vieler Fächer“[21]. Je nach Vorwissen der SchülerInnen, Reihenziel und Fächerkombination kann die Literatur ausgewählt werden und so dem theoretischen Gegenstand immer wieder neu angepasst werden. Die Welt in der Literatur ist strukturiert, das heißt die Ganzschrift bildet nicht nur ab, es bleibt immer genug Raum für die SchülerInnen für Vorstellungen und weiterführende Diskussionen. Das Buch als Medium ist ein Teil des „kulturellen Gedächtnis“[22] und, auch wenn der Film seit 100 Jahren ebenso zur Kultur gehört, sollte den Jugendlichen nicht die Freude des Lesens genommen werden, die uns ältere Generationen überreicht haben. In Zusammenarbeit mit dem Deutschunterricht kann die Lehrperson literarisch arbeiten, ohne dabei die eigenen fachbezogenen Kompetenzen überschreiten zu müssen.[23] Durch die Zusammenarbeit der Fächer kommen die eigenen Fachstunden nicht zu kurz und werden trotz der literarischen Öffnung des Faches nicht eingeschränkt. Der Religionsunterricht muss also nicht Angst um die sowie so schon knapp bemessenen Stunden haben, da im Deutschunterricht sprachliche Elemente behandelt werden. Eine Zusammenarbeit der Fächer mit literarischer Unterstützung fördert die Horizonterweiterung der Jugendlichen und lässt keinen thematischen oder sprachlichen Aspekt zu kurz kommen.[24]

4. Konkretes Unterrichtsmodell am Beispiel „Echtzeit“ von Pnina Moed Kass

Im weiteren Verlauf soll nun die Jugendlektüre „Echtzeit“ von der Autorin Pnina Moed Kass in einer möglichen Umsetzung der Theorie des fächerübergreifenden Unterrichts (Deutsch und katholische Religionslehre) in der Sekundarstufe II vorgestellt werden. Zum besseren Verständnis des praktischen Teils wird zunächst eine Inhaltsangabe des Buches gegeben.

4.1. Handlung des Romans „Echtzeit“

Im Roman werden das Selbstmordattentat eines palästinensischen 16-jährigen Jugendlichen namens Sameh Laham in einem Bus in der Nähe von Tel Aviv mit anderen Lebensgeschichten von insgesamt 13 Figuren verknüpft, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Vor dem Bus, indem sich Sameh mit der Bombe befindet, fährt ein gelber Lieferwagen mit Omar Joulani, der Freund von Sameh Laham. Omar will ebenso den Schahid[25] erleben wie Sameh. In der letzten Sekunde vor der Zündung der Bombe ändert Sameh seine Entscheidung und lässt diese nicht explodieren. Aber Omar ändert seinen Plan nicht. Er lässt den gelben Lieferwagen mit sich selbst explodieren, so dass der Bus eben so verunglückt. In dem verunglückten Bus befinden sich neben Sameh unter anderem der 16-jährige Thomas aus Berlin. Er war auf dem Weg in das Kibbuz Broschim, außerhalb von Jerusalem, um von dort Antworten über seinen Großvater, der ein ehemaliger Nazi-Offizier war, zu finden. Thomas wurde am Flughafen von Vera Brodsky abgeholt, einer jungen Exilrussin, die in dem Kibbuz arbeitet und den Suizid ihres Freundes verarbeitet. Vera und Thomas wurden von Lidia Adler, der besten Freundin von Vera und Baruch Ben Tov erwartet. Baruch ist der Gärtner des Kibbuz und ein Holocaust-Überlebender mit einer extrem dunklen Vergangenheit (um selbst die Judenverfolgung im zweiten Weltkrieg zu überleben, musste er seinen eigenen Sohn, der noch ein Baby war und zu schwach für eine Flucht, ersticken). Daneben agieren im Roman der israelische Soldat Dan Oron, der feste Freund von Vera und Dr. Ibrahim Stitti, der israelische Arzt in einem palästinensischen Krankenhaus, der die Unfallopfer des Attentates betreut. Durch die Innensicht des Reporters Clive Burleigh bekommt der Leser den Blick hinter die „Kamera des Schreckens“, die zu oft von solchen Selbstmordattentätern berichten muss. Weitere Figuren sind die Eltern von Thomas Wanniger, der Imbissbudenbesitzer von ‚Yoni’s Diner’, der Sameh Laham illegal bei sich beschäftige und Muhamed Abutayeh, der sich auf ein erneutes Attentat vorbereitet. Ein wirrer, in sich verknoteter Konflikt wird in seine Einzelteile aufgespaltet und nachvollziehbar erzählt.

Durch die multiperspektivische Erzählweise entsteht ein packendes Hintergrundbild zu einer Schlagzeile, wie man sie heute aus den Nachrichten kennt. Die Autorin stellt die einzelnen Geschichten in „Echtzeit“ dar. Das heißt der Leser bekommt einen Ausschnitt der Figuren vom 09. April ab 4:45 Uhr bis zum 14. April 18:45 Uhr. In dieser erzählten Zeit erhält der Leser einen genauen Einblick in das Leben der Figuren sowie in ihre Vergangenheit, ihre tiefsten Ängste, ihre jeweiligen Handlungsmotivation, also ihren Charakter und so weiter. Man bekommt einen sehr tiefen, als auch breiten Einblick in das Leben der Figuren und ist unmittelbar dabei. Das schafft auch die gleiche Erzählzeit und erzählte Zeit gleich sind.

So schafft es der Roman Antworten auf die Handlungen der Personen zu geben, lässt aber zugleich Fragen offen. „Echtzeit“ ist darüber hinaus ein Buch, dass nah an der Realität ist, historische und politische Bezüge aufweist, sowie Informationen über eine andere Mentalität in einem für die meisten Europäer fremden Land liefert. Eine visuelle Aufbereitung der Figuren ist im Anhang ersichtlich.

4.2. Eignung der Lektüre für den Unterricht

„Echtzeit“ ist ein Werk, das nah an das Alltagsgeschehen der Jugendlichen angelehnt ist. Besonders in der Sekundarstufe II sollte „intentionale Jugendliteratur und Literatur für junge Erwachsene die Höhenkammliteratur ergänzen, damit die subjektive Bedeutsamkeit des Lesens weiterhin erfahrbar bleibt.“[26] Diesen Anspruch kann „Echtzeit“ erfüllen, da das Buch die Thematik des Nah-Ost Konflikt menschlich behandelt. Ein Thema, welches immer präsenter wird. Daneben wird ebenso thematisiert, wie Jugendliche auf der Suche nach sich selbst und nach ihren Wurzeln sind. Thomas ist beispielsweise auf der Suche nach dem Leben seines Großvaters, um so selbst seinen Frieden zu finden. Oder Sameh, der in seinem zerrütteten Leben Halt durch seinen Glauben finden will. Durch den Aufbau des Romans, stehen die Jugendlichen nicht vor unendlich langen Kapiteln, sondern vor kleinen Lebensausschnitten, was die Leselust fördern kann.

Das Besondere an „Echtzeit“ ist die große Figurenanzahl, die die SchülerInnen, durch die Erzählweise der Innensicht von Pnina Moed Kass, genaustens kennenlernen. Des Weiteren haben alle Figuren einen Schicksalsschlag in der Vergangenheit erleiden müssen, beziehungsweise werden diesen für ihre Zukunft erleiden. Die Handlungsmotivation der Figuren wird dem Leser klar gemacht, trotzdem bleiben Fragen für weiterführende Diskurse offen. So werden verschiedenste Themengebiete durch die vielen unterschiedlichen Figuren aufgegriffen. Über „historische, soziale, politische, anthropologische Zusammenhänge“[27] werden die SchülerInnen zum „kritischen Nachdenken angeregt“[28]. Wie schon erwähnt fällt es den SchülerInnen leichter über eine fiktive Figur bestimmte Themen mit der Lehrperson zu diskutieren, da sie ihre Positionen in die Denkweise der Figur darstellen können. Am Beispiel von Thomas Wanniger könnte das Thema mit dem Umgang mit dem zweiten Weltkrieg als Deutscher diskutiert werden. Es stellt sich die Frage, ob man wie Thomas nach Israel reisen muss um sich bei den Opfern zu entschuldigen:

„Du kannst nicht in einem Land herumlaufen und allen Leuten erzählen, es tut dir Leid. Das ist doch albern!“

Das habe ich auch gar nicht vor. Dort zu sein, zu versuchen, die Juden zu verstehen, das wird so sein, wie ›Es tut mir Leid‹ zu sagen. Versteht du das nicht?[29]

Oder muss man sich schuldig fühlen, wenn man nicht wie Thomas, sondern wie seine Freundin Christina denkt:

„Es ist, als ob du das Ganze nur tust, um mich zu ärgern, weil ich nicht vor Mitleid mit den Juden im Boden versinke. Na und, was soll’s? Wenigstens bin ich ehrlich.“[30]

Gibt es eine Richtlinie für das richtige Verhalten? Wie tritt man einem Holocaust-Überlebenden wie Baruch Ben Tov gegenüber auf? Was bedeutet der zweite Weltkrieg für mich als gläubigen Christ? Wie an dem Beispiel ersichtlich, bietet die Ganzschrift viel Raum für Diskussionen und eigene Meinungsbildung.

Einen aktuellen Bezug zum Lebensraum der SchülerInnen kann die Thematik des Selbstmordattentäters Sameh Laham bringen. Das Buch bringt den Jugendlichen eine anderes Lebensumfeld nahe. Sie werden damit konfrontiert wie es ist in einem Land zu leben, in dem Selbstmordattentäter ständig präsent sind, beziehungsweise was die Hintergründe solcher Taten sind. Das Thema ‚Selbstmordanschlag’ ist nach wie vor präsent in den Medien. Daher kann „Echtzeit“ zum Teil auch aufklärerische Momente mit sich bringen. Wenn die Jugendlichen erkennen was hinter einem Attentat steht, legen sie die eventuelle Abhärtung durch die häufige Berichterstattung in den Medien ab und reflektieren die Taten besser.

Interreligiöses Lernen ist ebenfalls als Themenschwerpunkt möglich. Sameh Laham ist Moslem, Vera Brodsky ist Jüdin und Thomas Wanniger ist wahrscheinlich Christ. Die großen monotheistischen Religionen sind demnach durch Figuren von „Echtzeit“ vertreten. Die SchülerInnen lernen sich mit anderen Religionen auseinanderzusetzen, aber auch ihre eigene Religion und sich selbst zu finden.

Daneben ist der Roman in den Nah-Ost Konflikt eingebettet. Die meisten SchülerInnen werden den „Nahen Osten“ als Krisengebiet einschätzen, wahrscheinlich jedoch ohne großes Hintergrundwissen. Eine Unterrichtsreihe zum Thema „Der nahe Osten“ ist demnach sicherlich spannend und aufschlussreich.

Allein über diese, die drei Figuren (Sameh/Omar, Vera und Thomas), lassen sich Unterrichtsreihen mit spannenden Schwerpunkten und aktuellen Bezügen für die Jugendlichen heute entwickeln.

Die Theodizeefrage oder das interreligiöse Lernen sind nur zwei Themen. Das Buch bietet verschiedene christliche Grundphänomene und Fragen. Durch den Suizid von Sergej, dem Exfreund von Vera Brodsky, und natürlich auch durch die vielen Toten des Selbstmordattentats steht das Thema „Tod und Trauer“ im Mittelpunkt des Buches. Eine Themeneinheit über die Eschatologie o. ä. wäre möglich, oder auch die Frage nach dem Umgang mit dem Tod, wie zum Beispiel die fünf Stufen des Sterbens. Mit dem Besitzer von Yoni’s Diner wird die Schuldfrage, bzw. der Umgang mit Schuld und Gewissen, behandelt. Ist er schuld an den Toten des Attentats, da er Sameh Laham illegal beschäftigt hat? Ist Vera schuld an dem Suizid von Sergej ? Weitere Themen wie Liebe, Angst oder Vorwurf werden ebenfalls von „Echtzeit“ behandelt. Diskussionsstoff bietet das Buch auf der inhaltlichen Ebene genug und durch die Vielzahl der Figuren haben die Jugendlichen ein hohes Identifikationspotenzial. Sie lernen mehrere Perspektiven kennen und können sich kritisch mit den angesprochenen Themen auseinander setzten und ihren Standpunkt finden.

Der Sprachstil von Pnina Moed Kass ist objektiv, unparteiisch und macht das Lesen einfach. Mit 259 Seiten ist es sicherlich für die Sekundarstufe II geeignet und mit einer kurzen, einfachen und verständlichen Syntax gut zu verstehen. Außerdem ist das Buch durch die zahlreichen Einschübe von anderen Textgattungen wie Artikel, Radionachrichten, Fernsehkommentare, Augenzeugenberichte, medizinischen Befunden und Verhörprotokollen sehr abwechslungsreich und bietet somit viele Analysemöglichkeiten.

Durch die Monologe der Figuren ist der Handlungsablauf ziemlich frei und bietet die Möglichkeit des kreatives Weiter- oder Umschreibens. Aber auch gelernte Techniken wie Charakterisierung oder eine Rollenbiografie können Unterrichtsstoff sein. So abwechslungsreich wie das Buch ist, kann der Unterricht gestaltet werden: lautes Lesen im Dialog oder die szenische Umsetzung sind mit „Echtzeit“ möglich.

Nur bei den vielen und zum Teil sehr abrupten Tempuswechseln von der Vergangenheit in die Gegenwart könnten die SchülerInnen Schwierigkeiten bekommen. Daneben sollte man als Lehrperson die vielen Fachbegriffe oder nicht übersetzte Begriffe erklären können, da „Echtzeit“ dieser Hilfestellung nicht nachkommt. Die Hintergrundinformationen zu den einzelnen Figuren machen das Buch zwar komplex, zum Teil aber auch langatmig, sodass sich die Lehrperson bei der Charakterisierung auf ein bis zwei Figuren konzentrieren sollte, da sonst die Unterrichtseinheit sehr weitläufig ausfallen könnte.

4.3. Zentrale thematische Aspekte von „Echtzeit“ für den Religionsunterricht

In diesem Kapitel sollen nun drei denkbare Unterrichtsreihen dargestellt werden, wobei nicht der Anspruch einer vollständigen Darstellung erhoben wird. Vielmehr sollen die Möglichkeiten und Ziele einer Reihe mit „Echtzeit“ im Religionsunterricht vorgestellt werden. Die sprachlichen Möglichkeiten werden im Kapitel 4.4 aufgezeigt, da an dieser Stelle davon ausgegangen wird, dass fächerkoordinierend gearbeitet wird. So wird sichergestellt, dass jede Religionsstunde thematisch voll genutzt werden kann und die sprachliche Ebene trotzdem nicht zu kurz kommt, da diese im Deutschunterricht behandelt wird. In der Unterrichtsreihe sollte man dann einen thematischen Schwerpunkt setzen, wie in der Unterrichtsreihe zum Schluss der Arbeit (Kapitel 5) ersichtlich wird.

4.3.1. Den Weltreligionen begegnen

In dem Roman „Echtzeit“ begegnet dem Leser der 16-jährige palästinensische Selbstmordattentäter Sameh Laham, sowie sein Freund Omar Joulani, der ebenfalls einen Selbstmordattentat plant. Beide sind Araber und gehören der islamischen Kultur an. Daneben ist Vera Brodsky, eine Russin mit jüdischen Wurzeln, die sie aufspüren möchte. Sie lebt schon länger im Kibbuz und fühlt sich hier, im Gegensatz zu ihrer Heimat, endlich sicher. Sie muss keine Angst vor Skinheads oder Antisemiten haben.

Die meister SchülerInnen wissen, dass der Islam und das Judentum Weltreligionen sind. Aber wer ist Mohammed oder JHWH? Was genau ist eigentlich eine Bar Mizwa? Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht sollte immer einen Stellenwert einnehmen. Die religiöse Pluralität in unserer Gesellschaft, die Globalisierung und die Konflikte nehmen immer weiter zu. Das Wissen über andere Religionen jedoch nicht. Zum Beispiel haben der 11. September und nachfolgende schreckliche Schlagzeilen das Bild eines gläubigen Moslems verzerrt. Nur durch Wissen können SchülerInnen andere Religionen und daraus resultierend auch Kulturen verstehen und akzeptieren. Dies sind die Ziele des interreligiösen Lernens.[31] Was kann „Echtzeit“ als Ganzschrift hierzu beitragen?

Durch die Erzählperspektive von Pnina Moed Kass erfahren wir nicht nur das Gefühlsleben der Opfer, sondern auch der Täter. Wir lernen also neben der Lebenssituation von Sameh Laham auch seine Gefühle kennen. Der Leser bekommt einen Eindruck seiner aussichtslosen Lage und daraus resultierend seine Motivation zum Attentat. Hier kann die Lehrperson anknüpfen und das Fundament des Glaubens zum besseren Verständnis vorstellen. Man sollte bei dieser Einheit darauf achten, dass die fremde Religion verstanden, jedoch die Beheimatung der Jugendlichen in die eigene Religion nicht vergessen wird. Das heißt es sollte ein Austausch der Religionen vorgenommen werden. Die jeweiligen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Glaubensgemeinschaften stehen im Vordergrund. Je nach Vorwissen sollte zunächst das Basiswissen der Religion entwickelt werden. Dabei ist es sinnvoll das Christentum in die Fragestellungen miteinzubeziehen. Um die Selbstständigkeit der SchülerInnen zu fördern, könnte dieser grundlegende Arbeitsschritt in drei Arbeitsgruppen (Christentum – Islam – Judentum) aufgeteilt werden. Die Arbeitsgruppen müssen jeweils bestimmte Fragestellungen beantworten, so wird der übersichtliche Vergleich gewahrt.[32] Die Ergebnisse könnten als Referat oder Poster vorgestellt werden. So wird zum einen die rhetorische Kompetenz der SchülerInnen gefördert zum anderen aber auch die Kommunikation untereinander. Eine visuelle Aufbereitung der Literatur wäre an dieser Stelle sinnvoll. Die SchülerInnen könnten sich überlegen wie die Figuren (Thomas, Sameh, Vera) aussehen könnten und sie mit typischen Glaubensutensilien darstellen, umso den „Bildüberlegenheitseffekt“ aufzugreifen (s. S. 9).

Im Anschluss wäre für die Sekundarstufe II die Arbeit an Quellentexten angemessen.[33] Die Lernenden können das Gelernte umsetzten und zugleich die Texte interpretieren. Sie lernen aus einer anderen Perspektive zu denken, sich in fremde Menschen, bzw. die Figuren aus Echtzeit, mit fremdem Glauben zu versetzen. Darüber hinaus erlernen sie sich interreligiös auszudrücken und Fachtermini zu benutzen, ein Grundstein des interreligiösen Sprechens. Da die einzelnen Arbeitsschritte an Figuren aus dem Buch gekoppelt sind, bleiben die Fakten über die narrative Verankerung besser im Gedächtnis und tragen zur Nachhaltigkeit des Lernens bei.

4.3.2. Israel heute: Juden, Muslime und Christen im Konflikt

Das Buch „Echtzeit“ ist mit seinen Einzelschicksalen in einen großen thematischen Rahmen eingebettet. Israel und die Umstände des Palästinenserkonflikts sind die großen Punkte, die die Figuren miteinander verbinden. Thomas Wanniger und Vera Brodsky liegen deshalb im Krankenhaus. Omar Joulani ist aus diesem Grunde tot. Dr. Ibrahim Stitti muss infolgedessen über drei Stunden für seinen Arbeitsweg einkalkulieren und Dan Oron muss deswegen als Soldat dienen und sein Leben riskieren.

In einem Mind Map können die Wissensgrundlagen des Palästinenserkonflikts festgestellt werden. Die Region Palästina besitzt für das Judentum, das Christentum aber auch für den Islam eine besondere geschichtliche und religiöse Bedeutung.[34] Diese „wechselvolle und problembeladene Geschichte“[35] wäre die Grundlage für die Unterrichtseinheit, die zum Beispiel in Gruppenarbeit möglich wäre. Die Klasse teilt sich in verschiedene „Konfliktebenen“ auf, wie etwa eine Gruppe, die die Hintergründe/Ursachen erarbeitet, eine Gruppe, die die Position der Israelis zusammenstellt, und eine Gruppe, die die Position der Palästinenser erörtert. Die SchülerInnen lernen nicht nur etwas über den Nah-Ost Konflikt, sondern auch was hinter einem solchen Konflikt steht: Die Menschen, die verschiedenen Religionen und durch „Echtzeit“ auch die Motive (zwar fiktive, aber realistische). Sie lernen einen Konflikt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten[36] und entwickeln so die Fähigkeit verantwortliche und moralische Urteile zu fällen und werden zur Mündigkeit erzogen. Durch die Förderung von moralischer Urteilsfähigkeit kann die Lehrperson über die Selbststeuerung zu einer Verringerung von Gewalt beitragen, was mittlerweile auch in der neurowissenschaftlichen Forschung bestätigt worden ist.[37] Mit dieser Grundlage könnte man die Religionen der Menschen betrachten und auf die Opfer des Krieges eingehen. In diesem Kontext wäre sicherlich „Der Engel der Geschichte“ von Walter Benjamin, den er in der neunten These in seinem Werk „Über den Begriff der Geschichte“[38] entwickelt, erwähnenswert. In einer Skizze von Paul Klee erkennt er den „Engel der Geschichte“ und beschreibt ihn folgendermaßen:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns schreibt, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässige Trümmer und Trümmer häuft und vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.[39]

Der Engel von Walter Benjamin richtet seinen Blick auf die Verlierer oder Tote der Geschichte und nicht auf die Sieger. Die Grundidee der narrativen Theologie, den Blick auf den Kleinen Ausgestoßenen zu richten, wäre mithilfe von Echtzeit praktisch möglich. Mit dem Engel der Geschichte als theoretischen Impuls könnten die SchülerInnen dies auf Echtzeit übertragen und ihren Blick dafür schärfen, das heißt den Blick auf Sameh Laham richten. Ziel ist es, dass die SchülerInnen sensibilisiert werden und nicht nur den politischen Hintergrund von Israel kennen, sondern vielmehr das Leben des Ausgestoßenen betrachten und Empathie entwickeln. Nur so können wir verstehen und besser agieren als in Wut, Zorn und Rache.

4.3.3. Die Theodizee Frage

Die Figuren in „Echtzeit“ sind nicht nur über die Rahmenhandlung des Nah-Ost Konflikts verbunden, sondern auch z. T. biographisch über das Leiden. Die Figuren müssen Schicksalsschläge wie den Tod einer geliebten Person (Elternteil, Lebensabschnittsgefährte oder ihre eigenen Kinder) ertragen. Der Höhepunkt im Plot, das Selbstmordattentat, steht für unaussprechliches Leiden. Eine Unterrichtseinheit zur Theodizee Frage ist naheliegend für „Echtzeit“. Die SchülerInnen könnten für die einzelnen Figuren „Leidbiographien“ erstellen. Warum leidet die Figur? Was denkt die Figur über ihr Leid? Kann die Figur das Leid akzeptieren? Wer ist verantwortlich? Gott? Welche Aktionen unternimmt die Figur, um dem Leiden zu entfliehen? Nach dieser Vorstellung haben die SchülerInnen eine „Redebasis“, das heißt, sie können im Namen der Figur Leid beschreiben und darüber sprechen, ggf. auch persönliches Leid schildern. Daraus entwickelt sich die Theodizee Frage, „die Rechtfertigung Gottes angesichts der Leiden der Welt vor dem Forum der Vernunft“[40]. Wie kann es sein, dass ein gütiger und barmherziger Gott das Leid, welches die Figuren auf verschiedene Arten teilen, zulässt? Das Theodizeeproblem wird anhand einer Grafik im Lehrervortrag vorgestellt (ohne „Lösungsansätze“).[41] Im nächsten Schritt könnten die SchülerInnen die Bibel als Quellentext interpretieren (mögliche Texte/Bücher: Abraham, Kohellet, Jesaja oder Ijob[42] ). Als Abschluss werden dann die verschiedenen Antwortversuche vorgestellt und durch die Lehrperson ergänzt (free will defense, malum physicum). Die SchülerInnen können diese dann in Diskussionsrunden problematisieren und bewerten. Ziel ist es den SchülerInnen die Antwortmöglichkeiten näher zu bringen, aber nicht eine eindeutig richtige Antwort auf die Theodizeefragen zu geben.

Möglich wäre auch die Aufnahme der Theologie von Johann Baptist Metz, der das Ziel formuliert, eine Zukunft aus dem Gedächtnis des Leidens zu entwickeln, in dem ex memoria passionis die Geschichte der Besiegten erzählt wird. Über Echtzeit sollen die SchülerInnen erkennen, dass das Leid und die Rettung der Figuren nur mit dem Glauben an Gott sinnvoll sind. Denn „ohne Gott würde diesem Schrei nach Rettung der Adressat fehlen und der Protest im Letzten sinnlos werden.“[43]

Dieses Reihenthema wird zum Schluss der Arbeit als Unterrichtsreihe vorgestellt, wobei andere Texte und didaktische Vorgehensweisen gewählt wurden, um keine Wiederholung entstehen zu lassen.[44]

4.4. Zentrale thematische Aspekte von „Echtzeit“ für den Deutschunterricht

Neben der inhaltlichen Ebene hat der Roman „Echtzeit“ auch sprachlich einiges zu bieten. Damit der Roman nicht das ganze Schuljahr im Religionsunterricht beansprucht, bietet es sich an, fächerübergreifend im Deutschunterricht zu arbeiten. Wie schon erwähnt, soll der Roman zum einen inhaltlich im Religionsunterricht und sprachlich im Deutschunterricht aufgearbeitet werden. Fragen zu Ort, Milieu, Atmosphäre, Zeit, Figuren und der sprachlichen Gestaltung können Unterrichtsthema sein. Aber auch wie das Verhältnis von Literatur („Echtzeit“) und Gesellschaft oder Politik zu sehen ist. Wurde die Autorin vielleicht von Politik oder sozialen Umständen beeinflusst? Mit „Echtzeit“ kann die kulturelle Kompetenz der SchülerInnen weiter gefördert werden. So wird, unter anderem der Nah-Ost Konflikt dargestellt, welcher ein in der Öffentlichkeit diskutiertes Problem ist. Die SchülerInnen lernen so u. a. sich in dieser Frage am kulturellen Leben mit Wissen zu beteiligen. Sie können die „Argumentationen nachvollziehen, kritisch werten und Stellung dazu beziehen.“[45] „In der analysierenden, interpretierenden und gestaltenden Auseinandersetzung mit künstlerischen, vor allem literarischen Werken […] gewinnen die Schülerinnen und Schüler Voraussetzung für eine angemessene ästhetische Rezeption.“[46] Sie entwickeln sich also im Umgang mit Sprache und sprachlichen Werken weiter. Dies stellt eine enorm wichtige Kompetenz dar, schließlich ist die sprachliche Kompetenz eine Grundbedingung menschlichen Zusammenlebens.

Im Folgenden werden, jedoch nur kurz, stundenthematische Aspekte für den Deutschunterricht vorgestellt.

4.4.1. Gestaltendes Erschließen

Um die SchülerInnen für die Erzählweise von Pnina Moed Kass zu sensibilisieren, schlägt Claudia Maaß, eine Lehrkraft für Fachdidaktik Deutsch an der Freien Universität Berlin, einen Einstieg mit ausgewählten Textauszügen vor.[47] Die Texterschließung ist eine Arbeit die darauf abzielt, aufzuzeigen, was von einem Text verstanden worden ist. Die SchülerInnen sollten diese Arbeitsform für spätere weitaus schwierigere Texte beherrschen und im Unterricht üben. Diese Fähigkeit ist für den Wissenserwerb der SchülerInnen immer Voraussetzung. Wichtig ist, dass so genannte Verstehensinseln gebildet werden. Das heißt Verstandenes wird herausgesucht und im nächsten Schritt verbunden, um so einen roten Faden zu finden, über den eine Reflexion des Textes möglich ist. Das bedeutet für die SchülerInnen eine genaue Untersuchung der Textausschnitte hinsichtlich inhaltlichen Aussagen, Struktur, formaler Aspekte und sprachliche Gestaltung. „Die gestaltende Erschließung betont besonders stark die aktive und schöpferische Rolle des Lesers. Er verarbeitet in einem eigenen Text das Deutungsangebot des rezipierten Textes, indem er explizit formuliert, was implizit darin angelegt ist.“[48] Genau diese Art der Leseaufgabe wird in PISA untersucht:

[…] die Fähigkeit einer Person, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Vielfältige Lebens- und Wissensbereiche werden über das Lesen eröffnet und erschlossen. Die Bandbreite von Leseanlässen ist sehr groß und das Lesen erfüllt gleichzeitig sehr unterschiedliche Funktionen. Sie reichen von dem für die Weiterbildung und das lebenslange Lernen zentralen Lesen zur Wissenserweiterung bis hin zum literarisch-ästhetischen Lesen. Über Texte werden dabei nicht nur Informationen und Fakten vermittelt, sondern auch Ideen, Wertvorstellungen und kulturelle Inhalte transportiert.[49]

Um diese Kompetenz auch nach der Grundschule weiter zu schulen, sind die Texte[50] „so gewählt, dass eine kurze Figurencharakteristik bereits möglich ist, sich die subjektive Sicht sowie die mosaikartige Struktur vermittelt und trotzdem Bezüge zwischen den Figuren entdeckt werden können.“[51] Die SchülerInnen bekommen ein Gefühl für die Lektüre und die Lehrperson kann „mittels der unterschiedlichen Stimmen und Sprechweisen die multiperspektivistische Erzählweise auch auditiv wahrnehmen“[52] lassen.

4.4.2. Rollenbiografie

Durch die Ich-Perspektive erfährt der Leser alles über das Innenleben der Figur. Er kann sich komplett in seine Gedanken und Gefühle hineinversetzen. Es bietet sich an, aus diesem Material eine „Rollenbiografie“[53] zu erstellen. Am interessantesten dürfte die Figur des Sameh Laham sein. Da Pnina Moed Kass alles sehr ausführlich darstellt, erfährt der Leser, wie Sameh lebt, wie es um seine Zukunft bestellt ist und noch vieles mehr. Dadurch, dass Sameh im letzten Moment doch zögert und die Bombe im Bus nicht explodieren lässt, ist es für die SchülerInnen auch einfacher sich in seine Figur hineinzuversetzen. In seinem zögern ist die Verzweiflung seiner Lebenssituation erkennbar. Eigentlich möchte Sameh Laham keinen Attentat begehen. Die Umstände machen ihn zu dem was er ist. Je nach Stand der SchülerInnen schlägt Claudia Maaß ein unterstützendes Handout mit Leitfragen vor[54]. Die SchülerInnen haben dann die Möglichkeit ihre Biografie entweder in Ich-Person, wie Pnina Moed Kass, vorzustellen oder ihren Text als Sameh Laham vorzutragen. Damit alle SchülerInnen die Möglichkeit haben ihren Text vorzustellen, macht Claudia Maaß den Vorschlag, die Klasse in Vierer-Gruppen aufzuteilen und innerhalb ihrer Gruppe den besten Text auszuwählen, der dann der ganzen Klasse vorgestellt wird.[55] Die SchülerInnen lernen Kriterien aufzustellen, um die Texte miteinander zu vergleichen. Daneben lernen sie in einem kleinen Rahmen selbst etwas vorzustellen und ihre Kommunikationsfähigkeit wird gesteigert.

Aus diesen Ergebnissen könnten im nächsten Schritt die Entwicklungen und Erkenntnisse der Figuren analysiert werden. Wichtig ist auch die Beziehungen der Figuren zu untersuchen.

In diesem Rahmen wäre sicherlich auch interessant, gewisse Stereotype herauszufinden, die man im Vorfeld von Moslems, Juden oder Christen ausgearbeitet hat und wie sie sich in den Figuren widerspiegeln oder auch nicht.

[...]


[1] Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 2009. S. 89.

[2] Ebd. S. 13.

[3] Abraham, Ulf/ Launer, Christoph: Weltwissen erlesen. Literarisches Lesen im fächerverbindenden Unterricht. hrsg. von Ulf Abraham und Christoph Launer. Baltmannsweiler: Schneider Verl. Hohengehren 2002. S. 13

[4] Jakob, Eva Franziska: Literaturdidaktik im fächerübergreifenden Deutsch- und katholischen Religionsunterricht (Sekundarstufe I). Diplomarbeit. Wien. 2009. S. 38.

[5] Langenhorst, Georg: Theologie & Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. S. 197.

[6] Ebd. S. 197.

[7]. Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 2009. S. 14.

[8] Jakob, Eva Franziska: Literaturdidaktik im fächerübergreifenden Deutsch- und katholischen Religionsunterricht (Sekundarstufe I). Diplomarbeit. Wien. 2009. S. 38.

[9] Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 2009. Ebd. S. 14.

[10] Ebd. S. 80.

[11] Ebd. S. 80.

[12] Ebd. S. 80.

[13] Rosebrock, Cornelia: Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht – aus der Perspektive der Lehrerbildung. In: Kinderliteratur, literarische Sozialisation und Schule. Hrsg. von Rank, Bernhard, Rosebrock, Cornelia. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1997. S. 11.

[14] Ebd. S. 14.

[15] Ebd. S. 14.

[16] Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 2009. S. 19.

[17] Ebd. S. 18.

[18] Ebd. S. 80.

[19] Ebd. S. 81.

[20] Ebd. S. 129.

[21] Ebd. S. 129.

[22] Ebd. S. 80.

[23] Jakob, Eva Franziska: Literaturdidaktik im fächerübergreifenden Deutsch- und katholischen Religionsunterricht (Sekundarstufe I). Diplomarbeit. Wien. 2009. S. 98.

[24] Zur besseren Übersicht sind die Figuren im Anhang grafisch dargestellt.

[25] Der Schahid ist ein Ehrentitel für Muslime, die ihr Leben für etwas Höheres geopfert haben.

[26] Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 2009. S. 90.

[27] Lange, Günter: Didaktische Grundüberlegungen zur Jugendliteratur. In: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Band 2. Hrsg. von Lange, Günter. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH 2000. S. 950.

[28] Ebd. S. 950.

[29] Pnina Moed Kass: Echtzeit. Übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn. Berlin: Berlin Verlag 2005. S. 51.

[30] Ebd. S. 55.

[31] Sajak, Claus Peter: Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht Theologische Grundlagen – Didaktische Überlegungen – Methoden und Medien. 2. Auflage. Mainz: Bischöfliches Ordinariat Mainz 2005. S. 16.

[32] Mögliches Arbeitsblatt im Anhang.

[33] Sajak, Claus Peter: Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht Theologische Grundlagen – Didaktische Überlegungen – Methoden und Medien. 2. Auflage. Mainz: Bischöfliches Ordinariat Mainz 2005. S. 18.

[34] Pnina Moed Kass: Echtzeit. Hörbuch gesprochen von: Jana Schulz, Peter Dirmeier, Marie Leuenberger u.v.a. Goyalit Verlag. Jumbo Neue Medien. 2006.

[35] Ebd.

[36] Maaß, Claudia: Echtzeit. Ein Roman von Pnina Moed Kass. In: Deutschmagazin. Ideen und Materialien für die Unterrichtspraxis 5-13. 4/2009. S. 40.

[37] http://www.welt.de/wissenschaft/article1122983/Die_Selbstkontrolle_sitzt_ueber_dem_Auge.html (abgerufen am 28.12.10)

[38] Konersmann, Ralf: Der Engel der Geschichte. In: Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. 1991.S. 121.

[39] Konersmann, Ralf: Der Engel der Geschichte. In: Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. 1991.S. 121.

[40] Petzel, Paul: Leiden-Theodizee. In: Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe. Hrsg. Von Gottfried Bittner, Rudolf Englert, Gabriele Miller, Karl Ernst Nipkow. München: Kösel-Verlag GmbH & Co. 2002. S. 99.

[41] Siehe Anhang. Grafik aus: von Stosch, Klaus: Einführung in die Systematische Theologie. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006. S. 105.

[42] Petzel, Paul: Leiden-Theodizee. In: Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe. Hrsg. Von Gottfried Bittner, Rudolf Englert, Gabriele Miller, Karl Ernst Nipkow. München: Kösel-Verlag GmbH & Co. 2002. S. 100.

[43] von Stosch, Klaus: Einführung in die Systematische Theologie. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006. S. 128.

[44] Vgl. hierzu: Maaß, Claudia: Echtzeit. Ein Roman von Pnina Moed Kass. In: Deutschmagazin. Ideen und Materialien für die Unterrichtspraxis 5-13. 4/2009. S. 39 – 44.

[45] Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II - Gymnasium, Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Deutsch. Schriftenreihe Schule in NRW: 1999. S. 6

[46] Ebd.

[47] Ebd. S. 39-40.

[48] Beste, Gisela. Lesen. In: Deutsch-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Hrsg. von Gisela Beste. Berlin: Cornelsen Srciptor 2007. S. 51.

[49] http://pisa.dipf.de/de/de/pisa-2009/ergebnisberichte/PISA_2009_Zusammenfassung.pdf (abgerufen am 23.12.2010.)

[50] Pnina Moed Kass: Echtzeit. Übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn. Berlin: Berlin Verlag 2005. S.14, S. 47, S. 23–24, S. 38–39.

[51] Ebd. S. 40.

[52] Ebd.

[53] Ebd. S. 41.

[54] Siehe Anhang.

[55] Maaß, Claudia: Echtzeit. Ein Roman von Pnina Moed Kass. In: Deutschmagazin. Ideen und Materialien für die Unterrichtspraxis 5-13. 4/2009. S. 41.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863419738
ISBN (Paperback)
9783863414733
Dateigröße
430 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Pnina Moed Kass fächerübergreifender Unterricht Deutsch Religion Jugendliteratur Kinderliteratur
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Titel: Kinder- und Jugendliteratur im fächerübergreifenden Unterricht am Beispiel von „Echtzeit“: Konzipiert für die Sekundarstufe II
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