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Die (De-)Professionalisierung des Journalismus: Nachrichtenproduktion im Spiegel ihrer Zeit

©2012 Bachelorarbeit 43 Seiten

Zusammenfassung

Trotz seines jungen Alters ist der Berufsstand des Journalismus seit der Aufklärung Gegenstand zahlreicher Diskurse. Was kann, soll, darf und muss ein Journalist im Hinblick auf die ihn umgebenden Bedingungen leisten? Besonders in Zeiten des Internets, das sich noch immer rasant weiterentwickelt, sind diese Fragen aktueller denn je, sodass sich ein Vergleich mit den damaligen technischen Voraussetzungen lohnt. Diese Arbeit beleuchtet von einem kommunikationswissenschaftlichen Standpunkt aus, inwiefern sich die Nachrichtenproduktion im Laufe der Jahrhunderte verändert hat und welche Auswirkungen dies auf den Beruf des Journalisten haben kann. Mit diesen Erkenntnissen lassen sich weitere Schlüsse über die Zukunft des Journalismus und damit auch die mögliche Veränderung großer Teile unserer Gesellschaft ziehen. Einen speziellen Platz wird hierbei dem Bürgerjournalismus eingeräumt, der durch das Web 2.0 eine Renaissance erlebt.
Folgende Fragestellungen werden mithilfe der Studie beantwortet:
Was zeichnete die Arbeitsweise der ersten Journalisten aus, was charakterisiert den Berufsstand heute? Welcher (technischen) Mittel wurde sich früher und heute bedient? Welche Konsequenzen lassen sich daraus ableiten? Inwiefern haben sich Intentionen für das Verfassen einer journalistischen Nachricht geändert?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung

Der gesellschaftliche Einfluss des gegenwärtigen Mediensystems war in der Kommunikationswissenschaft schon immer der Mittelpunkt zahlreicher wissenschaftlicher Dispute. Jedoch sollte nicht nur hinterfragt werden, was die Medien mit den Menschen machen; auch eine konträre Sichtweise mit einem Fokus auf die jeweiligen Nutzungsweisen darf nicht außer Acht gelassen werden. So ist es gleichsam von hohem Belang zu ermitteln, wie sich die Arbeit der Medienmacher gestaltet, da diese einen maßgeblichen Beitrag für die Entwicklung der öffentlichen Meinung leisten und somit aktiv an der Veränderung der Gesellschaft teilhaben.

Um ein Verständnis für aktuelle Diskurse bezüglich dieser komplexen Wechselwirkungsprozesse zwischen Menschen und Medien zu erlangen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Hilfreich erweist sich dabei die Kommunikationswissenschaft, deren Wurzeln in der Zeitungskunde liegen. In ihrem Kontext wird unter anderem ergründet, mit welcher Intention, mit welchen Mitteln und in welchen Grenzen professionelle Journalisten damals wie heute arbeiten, um zu weiterführender Erkenntnis zu gelangen. Historisch gesehen erscheint es zunächst jedoch schwer, eindeutige Definitionen und scharfe Abgrenzungen zu finden, da es sich um einen Berufsstand handelt, der sich in einem stetigen Wandel befindet. Auch die rapide Weiterentwicklung der Massenmedien lässt eine eindeutige Antwort auf diese Fragen zunächst in weite Ferne rücken. Dennoch erscheint eine historisch-vergleichende Betrachtung mit zwei festen Fixpunkten als sinnvoll, um mögliche Zusammenhänge und Unterschiede von vergangenen Routinen mit der Gegenwart ergründen zu können. Somit bietet es sich an, eine Gegenüberstellung mit den Ursprüngen und dem gegenwärtigen Stand des Berufs anzufertigen. Vergleicht man die Merkmale der Arbeit der ersten professionellen Journalisten mit jenen der Gegenwärt, kann begriffen werden, inwiefern sich die Absichten für das Verfassen einer journalistischen Nachricht geändert haben könnten. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Selbstverständnis der Nachrichtenvermittler und dessen Veränderung im Laufe der geschichtlichen Entwicklung. Zudem sollte in diesem Zusammenhang aufgeschlüsselt werden, welcher technischen Mittel sich Journalisten damals bedienten und welche Möglichkeiten im gegenwärtigen Informationszeitalter zur Verfügung stehen. Dies ermöglicht im weiteren Verlauf Prognosen bezüglich der Zukunft journalistischer Arbeit.

Zentrale Fragestellungen und Thesen

Antworten auf Fragen nach den technischen und gesellschaftlichen Hintergründen sowie den Möglichkeiten damaliger und heutiger journalistischer Arbeit können den Weg für Vorhersagen bezüglich der zukünftigen Ausrichtung des Berufsstandes ebnen. Aus diesem Grund soll diese Bachelorarbeit zunächst folgende Fragen beantworten:

- Was zeichnete die Arbeitsweise der ersten Journalisten aus, was charakterisiert den Berufsstand heute?
- Welchen (technischen) Mitteln wurde sich früher und heute bedient? Welche Konsequenzen lassen sich daraus ableiten?
- Inwiefern haben sich Intentionen für das Verfassen einer journalistischen Nachricht geändert?

Aufgrund der umfassenden Thematik soll auf einige besonders wichtige Faktoren ein erhöhtes Augenmerk gelegt werden. So befasst sich die vorliegende Arbeit verstärkt mit zwei modernen Erscheinungen, die einen starken Einfluss auf den gegenwärtigen journalistischen Schaffensprozess ausüben: Zum einen spielen Multimedialität und Interaktivität neuer Medien wie dem Internet eine große Rolle. Die technische Entwicklung vollzieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und wirkt sich somit auch auf journalistische Aktivitäten und Denkweisen aus. Wie werden vor diesem Hintergrund nachrichtenrelevante Ereignisse wahrgenommen und vermittelt und wie unterscheidet sich dieser Prozess zur journalistischen Arbeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts? In diesem Zusammenhang steht zum anderen das Phänomen des Laien- oder Bürgerjournalismus: In Zeiten des Internet wird es immer einfacher, auch ohne professionelle Ausbildung am journalistischen Schaffensprozess zu partizipieren. Von daher ist die Frage zu stellen, welchen Einfluss nutzergenerierte Nachrichten auf den professionellen Journalismus ausüben.

Ausgehend von diesen Gedankengängen haben sich als Vorüberlegung drei Thesen herausgebildet, auf deren Grundlage diese Arbeit vorgehen wird:

1. Mit steigender Technologisierung steigt zwar die Quantität von journalistischen Nachrichten, die Qualität verschlechtert sich jedoch, weil aufgrund des vereinfachten Zugangs zu Informationen eine strengere und vor allen Dingen schnellere Selektion erfolgen muss.
2. Dieser Selektionsprozess gestaltet sich als weitaus komplexer als damals und führt zu einem kontraintuitiven Informationsverlust, da bestimmte Informationen „auf der Strecke bleiben“.
3. Aufgrund zahlreicher Partizipationsmöglichkeiten verschwimmen die Grenzen journalistischer Aktivitäten gegenwärtig zunehmend. Der Berufsstand des Journalisten hat sich demzufolge entscheidend verändert und befindet sich noch immer in einer Phase des Umbruchs.

Forschungsstand

Während historische Abhandlungen über den Journalismus bereits Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt worden sind (vgl. Wilke 1984, S. 3), lässt sich der Ursprung wissenschaftlicher Betrachtungen auf das Jahr 1910 datieren, in dem Max Weber eine Soziologie des Zeitungswesens vorschlug (vgl. Requate 1995, S. 13-14; Wilke 1984, S. 4-5). Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurde diese Thematik jedoch nur selten von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet; vielmehr rückten rein historische Untersuchungen in das Zentrum des Interesses. Aufgrund dieser Unbeständigkeit ist die originäre Publizistikwissenschaft bis heute „in auffälliger Weise durch Fehlschläge, Diskontinuität und Inkonsequenz bestimmt“ (Wilke 1984, S. 1). Obwohl in der gegenwärtigen Kommunikationswissenschaft die historische Sichtweise immer mehr von empirischen Untersuchungen abgelöst wird, kann es sich als günstig erweisen, beide Standpunkte miteinander zu verknüpfen (vgl. ebd., S. 7-10). Für die gegenwärtige Betrachtung existiert eine unüberschaubare Anzahl von Publikationen, die sich mit dem Einfluss der neuen Medien auf die Gesellschaft im Allgemeinen sowie auf den Journalismus im Speziellen befassen. Demgegenüber gibt es jedoch nur wenige Untersuchungen, die eine Verknüpfung zu den Anfängen des Journalismus herstellen und die Entwicklung der journalistischen Nachricht sowie den Einfluss von medientechnischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf organisatorische Prozesse vergleichend umschreiben. Diese Arbeit soll nun den Kenntnisstand innerhalb dieses speziellen Bereichs erweitern.

Vorgehensweise

Wie bereits erwähnt, ist die moderne Kommunikationswissenschaft in aller Regel durch empirische Methoden geprägt – obwohl in der vorliegenden Arbeit gewisse Qualitäten von Journalismus miteinander verglichen werden, ist es aufgrund des knappen Zeitrahmens nicht möglich, eine empirische Studie anzulegen. Von daher wird das Thema von einer kommunikationshistorisch-vergleichender Sichtweise aus bearbeitet. Für einen effektiven Erkenntnisgewinn erscheint dabei eine hermeneutische Vorgehensweise sinnvoll. In diesem Kontext sollen jedoch keine expliziten Theoriebezüge hergestellt werden, um nicht in den Grenzen etwaiger Modelle zu verfallen und somit den Fokus auf die historische Sicht zu gewährleisten. Auch eine Wirkungs- oder Rezipientenanalyse kann und soll in dieser Arbeit nicht vorgenommen werden, sodass sich ausschließlich auf die Nachrichtenwahl und Nachrichtenproduktion im Kontext der technischen und gesellschaftlichen Umgebung konzentriert wird. Der historische Fixpunkt soll auf den Beginn des Zeitungsjournalismus gelegt werden, da das Medium „Zeitung“ zu den relevantesten Auslösern für die Entstehung eines professionell -journalistischen Berufs gehörte. Die relevanten Merkmale dieses geschichtlichen Abschnitts, der sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert abspielte, werden in Kontrast zum journalistischen Schaffensprozess des 21. Jahrhunderts gestellt. Die „neuen Medien“ sind ihrerseits ein derart weites Feld, dass im Zuge der vorliegenden Arbeit nolens volens mit eingeschränktem Spielraum vorgegangen werden muss. Wie bereits erwähnt wird deshalb vordergründig auf den Einfluss des Internet als (all)gegenwärtig rezipierbare Kommunikationsplattform eingegangen. Nachdem zunächst historische und definitorische Grundlagen wie der Begriff der Nachricht oder die Entstehung des professionellen Journalismus in Mitteleuropa dargestellt werden, fokussiert sich diese Arbeit auf die Eigenschaften und Merkmale früher journalistischer Nachrichten und stellt ihre Veränderungen im Laufe der Zeit in Kontrast zu den Bedingungen und Einflüssen, denen die Schreiber gegenwärtig ausgesetzt sind. Besonders hinsichtlich der technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen soll somit eine Grundlage für mögliche neue Betrachtungsweisen und Perspektivenerweiterungen der Materie geschaffen werden.

2. Begriffliche und geschichtliche Grundlagen

Um ein Verständnis über die Arbeitsweise von Journalisten zu bekommen, werden in diesem Abschnitt zunächst der Nachrichten- und Journalismusbegriff sowie die Hintergründe des gewählten Zeitrahmens thematisiert. Mit den gewonnenen Erkenntnissen soll im Anschluss daran ergründet werden, wie sich der Beruf der Journalisten zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert herausgebildet hat.

2.1 Die Schlüsselbegriffe „Nachricht“ und „Journalismus“

Der Begriff der Nachricht

Der Nachrichtenbegriff lässt sich auf einen detaillierten Bedeutungshintergrund zurückführen und ist noch nicht so alt wie die Nachricht selbst. Bereits um 1450, zeitgleich mit der Erfindung des Buchdrucks, kam es in Europa zur Zirkulation von Informationen in Form von Flugblättern, Flugschriften und „neuen Zeitungen“ (vgl. Stöber 2005, S. 34-35). Diese Medien dienten zunächst größtenteils der Verbreitung religiöser, amtlicher, naturkundlicher oder literarischer Inhalte (vgl. Wilke 2008, S. 19). Eine Bedeutungszuschreibung dieser Informationen als „Nachricht“ blieb jedoch aus. Erst im 17. Jahrhundert fand der Begriff eine Verwendung als „Anweisung“ oder „Anordnung“, bis er im Laufe des 19. Jahrhunderts einen Bedeutungsumschwung hin zu der gegenwärtig bekannten Interpretation der „Botschaft“ oder „Neuigkeit“ erfuhr (vgl. Frerichs 2000, S. 119-120). Da man zu dieser Zeit noch nicht glauben konnte, dass wirklich so viele berichtenswerte Ereignisse parallel ablaufen können, wurde fiktionales nur selten von non-fiktionalen getrennt. Eine Unterscheidung von „Information“ und „Unterhaltung“ existierte demzufolge noch nicht (vgl. Ruhrmann 2010, S. 95-96). Kurz nach der ersten Verwendung des Begriffs erlebten in der Mitte des 18. Jahrhunderts neu gegründete Vereine, Salons, Bibliotheken oder Lesegesellschaften einen regelrechten Aufschwung, der zum Ende des Jahrhunderts hin seine Blütezeit fand. In diesen neuartigen Lokalitäten und Gesellschaften wurden nicht nur aktiv Diskurse geführt und Geselligkeit gefördert, sondern auch „Neuigkeiten“ ausgetauscht.

Diese interindividuelle Wahrnehmung von Ereignissen führte langsam aber sicher zu dem Bewusstsein eines Informationsaustauschs, der nicht nur auf privater sondern auch auf öffentlicher Ebene ausgetragen werden konnte. Ein Ereignis als solches ist jedoch bereits definitorisch schwierig zu umreißen. So gibt es keine „Ereignisse-an-sich“; vielmehr müssen sie „erst durch einen Beobachter aus ihren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang heraus abgegrenzt werden“ (Frerichs 2000, S. 177). Alles, was auf der Welt geschieht, kann somit als ein Ereignis umschrieben werden, welches wiederum innerhalb seines Kontextes auf unterschiedliche Weise eingegrenzt oder ausgeweitet werden kann. Somit kann auch jedes Ereignis zu einer Nachricht verarbeitet werden. Gleichsam mit der Entstehung dieser neuartigen Diskurse wurde also auch auf die Selektion von Ereignissen eingegangen, indem man die Frage stellte, was eine Information zu einer Nachricht macht (vgl. Wilke 1984, S. 56-57). Das Problem der Nachrichtenwahl, das in den nächsten Jahrhunderten Mittelpunkt zahlreicher Untersuchungen sein sollte, tritt also beinahe gleichzeitig mit Entstehung des Begriffes selbst auf. Wichtig ist zunächst also festzuhalten, dass eine Nachrichtenvermittlung schon vor der Herausbildung des journalistischen Berufs und sogar der Nachrichtendefinition selbst stattfand.

Die Nachricht in der Kommunikationswissenschaft

Für eine Definition des Nachrichtenbegriffs erscheint es als sinnvoll, zuerst die Kernmerkmale der Informationsträger zu untersuchen, um davon ausgehend die Nachrichten selbst klassifizieren zu können und somit eine Grundlage für die weiterführende Argumentation zu erhalten. In der beschreibenden Kommunikationswissenschaft sind deshalb bestimmte Nachrichteneigenschaften aufgestellt worden, die bereits in frühen Zeitungen zu finden sind (vgl. etwa Dussel 2004, S. 1). Auf diese Weise können Nachrichten als solche nicht nur explizit definiert werden – überdies dient es dazu, die Zeitung als Informationsträger zu umschreiben und sie von ähnlichen Medien wie den Zeitschriften abzugrenzen (vgl. Blöbaum 1994, S. 128). Zunächst werden deshalb die universellen Eigenschaften von Zeitungen umrissen, die sich zum Großteil effizient auf deren beinhaltende Informationen – die Nachrichten selbst – übertragen lassen können (vgl. im Folgenden Groth 1998).

Die Universalität besagt, dass über alles berichtet werden kann. Im Gegensatz zu Fachzeitschriften, die sich zumeist auf bestimmte Themen fixiert haben, gilt in der Zeitung das Prinzip, dass kein Thema ausgeschlossen sein muss. Weiterhin sollte, abhängig von der Nachrichtentechnik, eine gewisse Nähe der Berichterstattung zum Ereignis existieren (Aktualität). Diese Nähe wird nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich definiert. „Je mehr Menschen [von einem Ereignis] betroffen sind, umso wichtiger ist die Nachricht.“ (Wilke 2009, S. 221) Weiterhin waren bereits frühe journalistische Erzeugnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich (Publizität). Kein Bürger sollte ausgeschlossen sein, Zugang zu bestimmten Informationen zu haben – eine Nachricht wird stets publiziert.[1] Alle diese Merkmale müssen zudem mit real geschehenden Ereignissen verknüpft sein; die Unwahrheit soll also ausgeschlossen werden. Allgemein gesprochen muss ein Ereignis also möglichst realitäts- und zeitnah für ein disperses Publikum zugänglich gemacht werden, damit es den Status einer Nachricht erhalten kann.

Diese Definition kann jedoch nicht die Frage beantworten, unter welchen Umständen eine Information in eine Nachricht transformiert wird; schließlich muss aus den Unmengen von Informationen eine gewisse Selektion vom Journalisten erfolgen. Um diesen Prozess der Nachrichtenwahl nachvollziehen zu können, befassen sich Forscher deshalb seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit den verschiedenen Auswahlkriterien der Nachrichtenschreiber, indem sie den Informationsgehalt von Ereignissen untersuchten. Erstmals mit dem Thema befasste sich der US-amerikanische Journalist und Schriftsteller Walter Lippmann im Jahre 1922. Er arbeitete mehrere Faktoren heraus, die für diese Auswahl relevant sein könnten. Zu diesen zählen unter anderem Bedeutsamkeit, räumliche Nähe, Konflikt und Überraschung (vgl. Frerichs 2000, S. 130). Mit seinen Ergebnissen prägte er den Begriff des Nachrichtenwerts („news value“),[2] der sich aus der Gesamtheit aller Nachrichtenfaktoren eines Ereignisses zusammensetzt. Je höher dieser Wert ist, desto größer ist gleichsam die Wahrscheinlichkeit, dass intensiv über ein bestimmtes Ereignis berichtet wird. Fortan war es möglich, anhand eines theoretischen Modells zu erklären, welche möglichen Ereignismerkmale Journalisten dazu bewegen können, ein Ereignis zu einer Nachricht werden zu lassen. Unter dem Namen Nachrichtenwertforschung etablierte sich diese Disziplin Mitte der 1960er Jahre in Europa und wurde von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge sowie Einar Östgaard weitergeführt. Ihre Studie mit der Kernfrage „How do ‚events‘ become ‚news‘?“ übt bis heute einen großen Einfluss auf die Forschung aus. Galtung und Ruge stellten eine umfangreiche Liste von zwölf, teils untergliederten, möglichen Nachrichtenfaktoren heraus, die im Verlauf der Jahre immer wieder ergänzt wurde (vgl. Wilke 1984, S. 18-20). In Deutschland wurden Nachrichtenwerte auf einer breiten empirischen Ebene erstmals 1976 vom Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz überprüft und erweitert. Schulz entwarf 18 verschiedene Nachrichtenfaktoren, die er in sechs verschiedene Dimensionen einordnete (vgl. ebd., S. 26-27; Frerichs 2000, S. 131-132). Im Gegensatz zu seinen Vorgängern rückte er jedoch den Menschen selbst in den Fokus. Seiner Ansicht zufolge entscheide allein der Journalist mittels unbewussten Mechanismen, welche Ereignisse berichtenswert sind und welche nicht. Die Ereignisfaktoren per se seien vorrangig weniger relevant, vielmehr stünde der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung (vgl. Kepplinger 2011, S. 61-62). Auch das Finalmodell von Joachim Friedrich Staab (1990) stützte sich auf die Ausführungen von Schulz. Staab stellte im Zuge seiner Untersuchungen fest, dass die Nachrichtenschreiber zunächst das Ereignis nach ihren individuellen Richtlinien auswählen und dies im Nachhinein mit selbst gewählten Nachrichtenfaktoren legitimieren (vgl. Ruhrmann und Göbbel 2007, S. 8).

Hiermit wird deutlich, dass zwar klar umrissen werden kann, was eine Nachricht an sich ausmacht; jedoch existieren unterschiedliche Betrachtungsweisen über ihre Entstehung und Qualitäten. Hauptkritikpunkt an diesem Konzept ist demnach die nicht existente Rangfolge und Wertigkeit von zugeschriebenen Nachrichtenfaktoren (vgl. Frerichs 2000, S. 135). Weiterhin herrscht kein Konsens über deren Anzahl oder eine etwaige thematische Unterteilung. Ein objektiver Maßstab kann somit nicht gesichert werden (vgl. Frerichs 2000, S. 135). Demzufolge ist als Zwischenfazit zu ziehen, dass „[d]ie Auswahl und Gewichtung von Nachrichten […] trotz aller Objektivitätsnormen letztlich davon abhängig [ist], welche beruflichen und persönlichen Besonderheiten die jeweiligen Journalisten haben“ (Frerichs 2000, S. 176). Gerade weil sich Nachrichtenfaktoren jedoch in einem stetigen Wandel befinden und es somit niemals eine vollständige Faktorenliste geben kann, ist die Nachrichtenwertforschung noch immer von hoher Relevanz. Nicht zuletzt erlaubt die Nachrichtenwerttheorie einen gewissen Definitionsrahmen für die Umschreibung journalistischer Erzeugnisse.

Entstehung des Journalismus[3]

Die Definition des Journalistenberufs gestaltet sich bei näherer Betrachtung als komplex und undurchsichtig. Wurde bereits im 19. Jahrhundert festgestellt, dass der Beruf des Journalisten nicht eindeutig definiert werden kann, ist es auch heute noch schwierig, ein klares Sozialprofil zu erstellen (vgl. Requate 1995, S. 131-132). Jedoch ist eine Definition für die Wissenschaft (etwa für die Erstellung von Samples) eine unabdingbare Notwendigkeit.

Dass Journalismus ein sehr dehnbarer Begriff ist, wird in der historischen Betrachtung klar. Bereits Urvölker verfügten über Methoden der Mitteilungsübertragung; so setzten etwa die alten Griechen Leuchtfeuer zur Informationsvermittlung ein (vgl. Wilke 2008, S. 9). Streng genommen liegen die Wurzeln des modernen Journalismus bereits in derlei Methoden. Diese Art der Kommunikation ist jedoch von einer hohen raumzeitlichen Begrenztheit gekennzeichnet. Auch im 15. Jahrhundert, noch vor der Erfindung der Druckerpresse, wurden umherziehende Spielmänner als „wandernde Journalisten“ bezeichnet, da sie Lieder sangen, deren Inhalt alle eingangs beschriebenen Merkmale von Nachrichten enthalten konnten (vgl. Wilke 2009, S. 372). Selbst während der Etablierung des Buchdrucks konnte man noch nicht von „Journalisten“ in dem Sinne, wie man sie heute kennt, sprechen. Vielmehr waren die Drucker der Presswerke auf Post von Korrespondenten angewiesen, was dieser Form von Nachrichtenvermittlung die Umschreibung des korrespondierenden Journalismus einbrachte (vgl. ebd.). Der Nachrichtenvermittler dieser Zeit war „in der Regel um nüchterne Information und Faktenschilderung bemüht […]. Er wollte im Prinzip nicht mehr sein als ein neutraler Chronist des Zeitgeschehens“ (ebd., S. 373).

Die ersten Zeitungen erschienen erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, ungefähr 150 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks, zunächst noch in geringem Umfang von vier oder acht Seiten (vgl. Wilke 1984, S. 38). Da diese Medien nicht nur Meldungen mit den eingangs aufgezählten charakteristischen Nachrichteneigenschaften enthielten, sondern zusätzlich durch das Merkmal der Publizität bestimmt waren, kann hier erstmals von genuinen journalistischen Erzeugnissen gesprochen werden. Nicht zuletzt wird das Journal, von dem sich der Begriff des Journalismus ableitet, auch als Synonym für die Zeitung verstanden (vgl. Requate 1995, S. 132). Da der Zeitungsjournalismus also erst weit nach dem Beginn des Buchdrucks entstanden ist, kann es also als Fehlschluss angesehen werden, dass sich beide Elemente zeitgleich etabliert haben. Vielmehr handelt es sich um ein Potential, das sich 1450 neu herausgebildet hat und erst viel später ausgeschöpft wurde.

Die eben geschilderten Ausführungen bezüglich des Nachrichten- sowie Journalismusbegriffs sind ein Beleg für die Schwierigkeit, einheitliche Begriffsbestimmungen zu finden und die Ursprünge journalistischer Tätigkeiten tatsächlich zu datieren. Eine einwandfreie Definition journalistischer Botschaften fällt auch gegenwärtig schwer. Bevor dieses Thema jedoch beleuchtet wird, soll zunächst die Entwicklung des Journalismus im Europa des aufkommenden 19. Jahrhunderts als Grundlage für die gegenwärtige Verortung des Berufsstandes in den Fokus genommen werden.

2.2 Hintergründe des gewählten Zeitrahmens

Im Zuge der gegenwärtigen Debatten über eine Verortung des Journalismus erscheint eine historische Sicht nicht nur als hilfreich sondern auch als nötig: „Eine unhistorische Sicht führt nicht selten zu Verzerrungen und falschen Verabsolutierungen, zu Perspektivlosigkeit und Horizontverengung.“ (Wilke 1984, S. 9) Von daher sollen kurz die geschichtlichen Rahmenbedingungen zusammengefasst werden, mit denen sich die vorliegende Arbeit befasst.

Gesellschaftlicher Hintergrund

Die Französische Revolution hat 1789 in ganz Europa für einen einschneidenden gesellschaftlichen Wandel gesorgt: So bildete sich zum Ende des 18. Jahrhundert ein neues bürgerliches Bewusstsein heraus, dass sich vom bis dahin herrschenden Absolutismus immer mehr abspaltete. Diese neuen, freiheitlich geprägten Denkweisen spiegelten sich in einem starken Bedürfnis nach Wissenserweiterung wider, was sich auf geistiger und auf materieller Ebene deutlich bemerkbar machte und den Grundstein für die Industrialisierung legte. Parallel dazu war ein enormes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen, das für die Entstehung vieler Großstädte sorgte. Ferner entwickelte sich die Schulpflicht zu einer Selbstverständlichkeit, was eine steigende Alphabetisierungsrate mit sich brachte (vgl. Wilke 2008, S. 156). Folglich stieg die Nachfrage nach Büchern im Laufe der Zeit stetig an und „[d]as Leseinteresse verlagerte sich zunehmend von religiösen hin zu weltlichen Titeln“ (Telesko 2010, S. 228). Mit neuen Lexika und Enzyklopädien wurden ideale Plattformen für Wissensspeicherung und -vermittlung entworfen und zur Verfügung gestellt (vgl. ebd., S. 221). Auch eine Politisierung breiter Bevölkerungsschichten war nicht von der Hand zu weisen.

Der Kampfbegriff dieser Zeit war also ganz klar jener der „Bildung“. Sie wurde als höchstes Gut angesehen und bot einen optimalen Nährboden für die Verbreitung der Massenmedien (vgl. Wilke 2010, S. 51). Das Bedürfnis nach neuen Erkenntnissen konnte durch „Massenblätter“ befriedigt werden, was in der Entstehung eines Massenpublikums – oder einer Massen öffentlichkeit – resultierte (vgl. Telesko 2010, S. 230-233). Diese neue Massenöffentlichkeit ist als Summe verschiedener bürgerlicher Teilöffentlichkeiten zu begreifen[4] und löste sich vom klassischen Konzept einer absolutistischen Öffentlichkeit. Nunmehr konnten Diskurse für jeden Einzelnen zugänglich geführt werden, ohne dass dieser Prozess im Voraus der Kontrolle des Staates unterlag. Mit dieser Entwicklung ging auch die Herausbildung des Pressewesens und des Journalismus einher (vgl. Requate 1995, S. 117). Die journalistischen Erzeugnisse waren „Instrumente und Ausdruck der Emanzipation des Bürgertums [und] der Abgrenzung der Bürger von der herrschenden Adelsklasse“ (Faulstich 2006, S. 19). Eine gewisse „identifikatorische Funktion“ der Medien (ebd.) war somit deutlich wahrnehmbar.

Das Medien- und Gesellschaftssystem übten nunmehr einen wechselseitigen Einfluss aufeinander aus: Die neue bürgerliche Identität formte sich als Resultat der gewandelten Medienkultur, wohingegen letztere wiederum von den Bürgern ausging, die einen kontinuierlichen Wissensanstieg anstrebten. Im Zuge dieser Wechselwirkungen kann von einer Leserevolution oder Kommunikationsrevolution gesprochen werden (vgl. Telesko 2010, S. 228-229 und S. 232). Jürgen Wilke (2008, S. 154) spricht in diesem Zusammenhang gar von einer Entfesselung der Massenkommunikation, die wesentlich mit der Entstehung der Presse sowie dem Zugang zu neuem Wissen zusammenhängt.

Technologischer Hintergrund

Wie bereits herausgestellt wurde, war der Guttenbergsche Buchdruck 1450 noch kein direkter Auslöser für eine Entstehung journalistischer Erzeugnisse. Die damaligen technischen Gegebenheiten wurden eher sporadisch ausgenutzt, sodass die Entwicklung des Pressewesens über einen längeren Zeitraum stagnierte. Das „bestehende Druckverfahren war Mitte des 15. Jahrhunderts vollendet und sollte für 350 Jahre, von gewissen, rein materiellen Verbesserungen abgesehen, im Prinzip gleich bleiben“ (Wilke 2008, S. 13). Erst im Zuge des gesellschaftlichen Sinneswandels entstanden auch neue Verbesserungen der Presswerke. Demgemäß war die Erfindung neuer Drucktechnologien zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein wesentlicher Bestandteil für den Erfolg massenkompatibler Publikationen (vgl. Stöber 2005, S. 118-131). So konnte die 1811 erfundene Schnellpresse das Fünffache der Arbeit von herkömmlichen Pressen erreichen. Auf diese Weise stieg die Druck- und Formatkapazität erheblich an, sodass die Bedürfnisse des Publikums effektiver befriedigt werden konnten. Die Zeitungsauflagezahlen, die bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts rapide stiegen (vgl. Wilke 2008, S. 79), erhöhten sich in den Jahrzehnten darauf noch um einiges mehr. Spätestens mit Blick auf die technologischen Begebenheiten dieser Zeit wird deutlich, dass durchaus von einer Kommunikationsrevolution oder -entfesselung gesprochen werden kann, da die Kommunikation dieser Zeit sich durch alle Teile der Gesellschaft vollziehen konnte. Die Medienrealität näherte sich also seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert immer mehr der Ereignisrealität an (vgl. Wilke 1984, S. 21), was im besonderen Maße auf die Artefakte der Industrialisierung zurückzuführen ist. Gedruckte Medien bedingten diese Entwicklung jedoch nicht alleine: Auch die Telegrafie trug einen maßgeblichen Anteil dazu bei, da sie zum Ende des 18. Jahrhunderts den Beginn der Telekommunikation durch immaterielle Informationsvermittlung einläutete. So ermöglichte der Telegraf eine Informationsübertragung über Kontinente hinweg binnen weniger Minuten, was den Nachrichtenfluss erheblich beschleunigte (vgl. Wilke 2008, S. 161).

Anhand der Ausführungen ist zu erkennen, dass die Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine fruchtbare Grundlage für die Entstehung eines professionellen Journalismus darstellt. Wie dieser sich konkret entwickelt hat, wird im nächsten Abschnitt beschrieben.

[...]


[1] Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass Groth als vierte Zeitungseigenschaft die Periodizität aufzählt. Demnach werden Zeitungen zusätzlich dadurch definiert, dass sie in einer bestimmten Regelmäßigkeit erscheinen. Die Periodizität kann jedoch nicht a priori auf die Nachricht selbst angewandt werden; um überhaupt rezipierbar zu werden, muss sie stets an einen Träger gekoppelt werden, der sich in diesem Zusammenhang in der Zeitung manifestiert.

[2] Wichtig ist hierbei anzumerken, dass sich bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Vorläufer dieser Theorie herausgebildet hat. Joachim von Schwarzkopf unterschied 1795 in seiner Schrift „Über Zeitungen“ in Nachrichtenfaktor und Nachrichtenwert und entwickelte somit ein Konzept, dass erst über 100 Jahre später wieder aufgegriffen wurde (vgl. Ruhrmann 2010, S. 105).

[3] In diesem Abschnitt soll zunächst auf die Ursprünge des Berufs und frühjournalistische Arbeiten eingegangen werden. Eine Umschreibung des Berufsprofils im Rahmen des gewählten Zeitraumes erfolgt im Abschnitt 2.3. Weiterhin ist es im Kontext dieser Arbeit nicht möglich, detailliert auf die frühe Geschichte der Nachrichtenübertragung einzugehen, sodass in diesem Zusammenhang auf weiterführende Literatur von Mitchell Stephens (2007, S. 16-31) verwiesen wird.

[4] Jürgen Habermas behandelte diesen gesellschaftlichen Umschwung in seinem Werk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, das Mitte des 20. Jahrhunderts einen Grundstein für die kommunikationswissenschaftliche Öffentlichkeitsforschung legte. Allerdings legen neuere Erkenntnisse nahe, dass es sich vielmehr um einen Strukturwandel des Öffentlichen handelt, da die Öffentlichkeit nicht als einzelne Sphäre existiert (vgl. Faulstich 2006, S. 16-17).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783863419745
ISBN (Paperback)
9783863414740
Dateigröße
262 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,1
Schlagworte
Mediengeschichte Online-Journalismus Mediensystem Bürgerjournalismus Medien Journalist

Autor

Danilo Rößger, B.A., absolvierte ein Studium der Kommunikationswissenschaft und Philosophie an der Friedrich Schiller-Universität Jena.
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