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Ökonomische Krisen des 21. Jahrhunderts als Gesellschaftskrise: Entwicklungen, Symptome und Bewältigungsstrategien von Risiken, Krisen und (Neben-)Folgen einer neuen Moderne

©2012 Bachelorarbeit 69 Seiten

Zusammenfassung

Massive Spekulationen auf dem US-Immobilienmarkt und das Platzen einer hieraus entstandenen Spekulationsblase haben 2007 zu einer Weltfinanzkrise geführt, in deren Folge wiederum (Staats-) Schuldenkrisen in diversen Nationen entstanden und aktuell weiter fortdauern. Diese Krisen jedoch, die letztlich scheinbar „normale“ Krisen eines neuen (?) Kapitalismus sind, blieben bzw. bleiben nicht beschränkt auf den ökonomischen Sektor, sondern weiten sich auf die gesamten Gesellschaften betroffener Nationen aus.
Vor diesem Hintergrund werden in der vorliegenden Arbeit die Hintergründe zur Entstehung des Kapitalismus in seiner heutigen Form dargestellt: die Abkehr vom nachfrageorientierten wirtschaftspolitischen Paradigma zum angebotsorientierten, die Abschaffung fester Wechselkurse, Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft und darin speziell der Finanzwirtschaft. Darauf aufbauend werden die für die aktuellen Krisen maßgeblichen Entwicklungen beleuchtet, an deren Ende letztlich gar Gesellschaftskrisen zu stehen scheinen, was am Beispiel Griechenlands u. a. verdeutlicht wird.
Aus soziologischer Perspektive werden die Krisen darüber hinaus im Fokus der Theorie reflexiver Modernisierung betrachtet. Der Übergang in eine neue, eine zweite Moderne und die im Sinne dieser Theorie damit einhergehenden und diagnostizierten gesellschaftlichen Umbrüche bedeuten tief greifende Veränderungen für Gesellschaften, mit denen Unsicherheit, Unplanbarkeit und eine Vielzahl „nicht-intendierter Nebenfolgen“ verbunden sind. Ebenfalls mit der neuen Moderne und ihren Charakteristika einherzugehen scheint die Entstehung des Finanzkapitalismus, dessen Krisen und Störungsanfälligkeit wie die Normalität in einer von Ungewissheit geprägten Epoche wirken.
Um aus diesen Umständen resultierenden Problemen, kritischen Entwicklungen und risikohaften Tendenzen begegnen zu können, ist ein Rückgriff auf Altbewährtes nicht mehr ausreichend. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit diverse Lösungsansätze und -möglichkeiten präsentiert und erörtert sowie ein Blick darauf gerichtet, was Gesellschaften künftig erwarten könnte, sollte nicht auf eine sich im stetigen Wandel befindliche Welt angemessen reagiert werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.2 Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft/der Finanzmärkte

Schon vor dem Bretton-Woods-System existierten wirtschaftliche Regulierungen und feste Währungsregulierungen, wie bspw. der Goldstandard der Jahre 1870-1914, die jedoch auch immer wieder abgeschafft und durch freie, flexible Pendants ersetzt wurden. Infolge sowohl der Abschaffung des Goldstandards mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges sowie während des Krieges eingeführter Kapitalkontrollen als auch nach Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre zeigte sich jedoch die Krisenanfälligkeit freier Finanzmärkte in beeindruckender Weise. Bevor es aber zu der letztgenannten Entwicklung kommen konnte, bedurfte es der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte und der Etablierung flexibler und freier Wechselkurse. Den Anstoß hierfür lieferte u. a. die Chicago School of Economics um Milton Friedman, der der Auffassung war, dass eine keynesianische und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik inklusive fester Wechselkurse und überwachter Finanztransaktionen lediglich zu unflexiblen Preisen und Löhnen führt, auf deren Basis wiederum ein nationales und auch speziell internationales Marktgleichgewicht nicht hergestellt werden kann. Dem Gegenargument, dass vollkommen freie Märkte zwangsläufig und historisch betrachtet zu übermäßigen Spekulationen führen, hielt Milton entgegen, dass derartige Spekulationen sich stabilisierend auf die Märkte auswirken und Überhand nehmende Spekulationen wiederum durch die unsichtbaren Kräfte des Marktes – der zu Gleichgewichten tendiert – von selbst ausgesondert werden.

Der neoliberale (in den USA auch als Neokonservatismus bezeichnete) Ansatz, der in letzter Konsequenz zu dem Paradigmenwechsel weg von nachfrageorientierter und hin zu angebotsorientierter Wirtschaftspolitik führte, hatte/hat zum Hauptziel, den Markt zu „entfesseln“ und von staatlichen Eingriffen zu befreien, sodass der Markt selbst zu einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage finden kann, da auch nur eben dieser dazu vollkommen in der Lage ist. In dieser Hinsicht sind auch die flexiblen Wechselkurse zu sehen und zu etablieren, sodass Devisenkurse sich frei bilden und ihren Volkswirtschaften (theoretisch) leistungsgerecht jeweils optimal anpassen können, nationale Zentralbanken eigenständig auf dem Devisenmarkt agieren und intervenieren können, um Inflationen (oder ggf. Deflationen) zu bekämpfen und Staaten – ganz im Allgemeinen – das „absolut ideale[n] System[s] (…) des radikal freien Marktes (…)“ (Schröder 2009: 2) nicht stören. In (neo-) liberaler Argumentation sind es so auch die Staaten, die durch ihre Interventionen die perfekten Marktabläufe empfindlich stören und es somit infolge externer Eingriffe irgendwann zu krisenhaften Anomalien kommt bzw. kommen muss. Krisen sind von diesem Standpunkt aus betrachtet also jeweils von „außen“ in den Markt getragen; ihre Ursachen sind keinesfalls im Markt zu suchen, der auf vollkommener Rationalität beruhend, dem stetigen Verfolgen von Eigeninteressen (unter Voraussetzung vollkommener Information; Homo oeconomicus) treu bleibend und daraus resultierend der Nutzenmaximierung für Marktteilnehmer ohne externe Einflüsse einwandfrei funktionieren würde. Staatsaktivitäten die Märkte betreffend dienen lediglich der Schaffung und dem Schutze von Rahmenbedingungen, wie z. B. Schutz von Eigentum, Gewährleistung von Sicherheit gegenüber „externen“ und „internen“ Einflüssen oder auch Etablierung und Sicherstellung von Vertragssicherheit (ebd.). Im Weiteren sind in Zusammenhang mit dem Rückzug des Staates dessen Unternehmen zu privatisieren, wobei dies im idealen Falle sämtliche Institutionen betrifft, wie bspw. das Bildungswesen oder das Gesundheitssystem. Damit einhergehend bedeutet der Rückzug bzw. die Verkleinerung des Staates um das größtmögliche Maß auch den Abbau des Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaates.[1]Darüber hinaus sind nach Friedmans und neoliberalem Standpunkt die Steuern, speziell auch die Unternehmenssteuern, zu senken, wodurch den Konsumenten mehr Mittel zum Konsum zur Verfügung stehen und – vielmehr noch – den Unternehmen auf der anderen Seite mehr Mittel zur Investition und günstigeren Produktion. Der neoliberale Staat hat zusätzlich zum bisher Genannten deregulierend zu wirken, indem ggf. bestehende Markt- oder/und Preiskontrollen, Mindestlöhne, Subventionen und – im Sinne des Freihandels – Zölle, Embargos etc. sowie aber auch die bereits näher aufgeführten festen Wechselkurse beseitigt werden.

Die theoretischen Folgen aus der Realisierung der beschriebenen Voraussetzungen für einen derartig neoliberal organisierten Staat sind sinkende Arbeitslosigkeit, geringere Staatsausgaben parallel und teils einhergehend mit dem Abbau von Bürokratie, steigende Produktion und somit steigendes Angebot der Unternehmen sowie mehr Investitionen der Unternehmen und steigender Konsum der Gesellschaft wie aber auch mehr Konkurrenz auf dem Markt, die einerseits zu mehr Innovationen führt und andererseits ein quasi natürliches Selektionsmittel für nicht markttaugliche Produkte (und Teilnehmer) darstellt.

In der Praxis wurde das neoliberale Paradigma ca. seit 1971 mit der Präsidentschaft von Richard Nixon in den USA nach und nach durchgesetzt. War die Nachkriegsperiode mit dem Bretton-Woods-System noch von wirtschaftlichem Aufschwung und steigendem Wohlstand verbunden, führte der Vietnamkrieg der USA und eine damit verbundene Steigerung der US-Dollar-Geldmenge zu einer Inflation, die durch steigende Rohölpreise noch verstärkt wurde. In der Konsequenz drohten die Ökonomien der USA und weiterer (Industrie-) Nationen in eine Rezession zu rutschen; das Wachstum schrumpfte oder stagnierte, die Zahl der Arbeitslosen stieg. Die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Tendenzen unter Nixon werden auch als „Nixon-Schock“ (Schäfer 2001: 41) bezeichnet, da zur Stabilisierung der US-Finanzen verhängt wurde, sowohl Löhne und Preise über drei Monate nicht zu erhöhen als auch zusätzlich dazu einen Sonderzoll von 10 % auf Importgüter zu erheben (ebd.). Auf diese Weise sollte die Geldmenge stabil gehalten und der Konsum ausländischer Waren durch inländische Produkte (teilweise) substituiert werden. Gleichzeitig jedoch stand das System fester Wechselkurse aufgrund der vorliegenden $-Inflation bereits unter großem Druck, da nun auch fremde Notenbanken und $-Besitzer damit begannen, ihre Währungsreserven in Gold umzutauschen. Nachdem absehbar war, dass die Goldreserven der USA den weltweiten Dollar-Bedarf bzw. die Dollar-Nachfrage nicht decken konnten, tauschten die USA von Juni 1971 an keine US-Dollar mehr gegen Gold ein. Das Ende des Bretton-Woods-Systems war besiegelt. In den darauf folgenden Jahren war die Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierungen ehemals staatlicher oder teilstaatlicher Unternehmen geprägt. Die Aufkündigung des Systems fester Wechselkurse hatte dabei den freien und flexiblen Devisenhandel an Börsen und somit variable und stark schwankende Währungskurse zur Folge, was wiederum in der Konsequenz auch (zunehmende) Spekulationen mit sich brachte, die ihrerseits wiederum in den darauf folgenden Jahren auf weitere Bereiche, wie bspw. den Rohstoffmarkt oder gar den Lebensmittelmarkt, „übergriffen“. Deregulierungen und Liberalisierungen ergaben sich unter Nixon – speziell im Zusammenhang mit den Finanzmärkten – auch für den Finanzdienstleistungssektor in den USA.

Als Beispiele für die Privatisierungen und die Deregulierung diverser Wirtschaftszweige können in den USA die Entmonopolisierung der Telefonbranche wie auch des Energiesektors angeführt werden (vgl. Schäfer 2001: 43). Für die Kapitalmärkte bedeutete das „neue“ wirtschaftspolitische Paradigma eine Abkehr von der Orientierung realwirtschaftlicher Entwicklung und Produktion sowie die Öffnung der Finanzmärkte für ausländische Finanzdienstleister. Waren bis zur Nixon-Ära der Kredit- wie auch Wertpapierhandel, speziell darunter die Aktienmärkte, auf jeweils inländische Transaktionen beschränkt und bspw. nur regionale Banken zur Kreditvergabe befugt (bzw. war dies der Habitus), so öffneten sich diese Märkte von nun an ebenfalls für überregionale und ausländische Anbieter. Finanzielle Mittel zur Bereitstellung von Krediten wurden nunmehr nicht wie zuvor aus (nationalen) Spareinlagen finanziert, sondern konnten international bezogen werden und separierten sich einerseits sowohl von ihrem ehemals realwirtschaftlichen Äquivalent als auch von den „Guthaben“ (z. B. Spareinlagen) von Anlegern. Die starken Finanzregulierungen der US-Notenbank, die bisher zumindest für eine gewisse Kontrolle der Preise und Geldmenge standen und ein gleichmäßiges Wirtschaftswachstum zum Ziel hatten, wurden aufgehoben, die Börsenaufsicht reduziert und Märkte geschaffen für neue, spekulative und kurzfristigere Anlageformen. Nach und nach etablierten sich so neue Formen von Finanzdienstleistern wie bspw. Investmentbanken, Pensions- und Hedgefonds u. a., deren Ziel die Profitmaximierung in möglichst kurzen Zeitspannen ist und mittels immer neu entstehender „Wertpapiere“ u. Ä. realisiert werden sollen (exemplarisch darunter: Derivate, Optionsscheine, Swaps, private-equity-fonds etc.) (ebd.: 43ff.).

Letzten Endes entstanden durch die Liberalisierung der Finanzmärkte nicht nur Spekulationsblasen in den Folgejahrzehnten, sondern in Kombination mit der Deregulierung und Liberalisierung der „Kredit- und Hypothekenmärkte“ auch die Voraussetzungen für die Verbriefung von Krediten und Hypotheken in sog. „mortgage backed securities“ u. Ä. sowie deren Handel, was wiederum das Entstehen und Explodieren einer weiteren Spekulationsblase und daraus resultierend eine Immobilienkrise und nachfolgend die Weltfinanz- und Schuldenkrise mit sich brachte.

Während diese Entwicklungstendenzen ihren Ursprung in den USA hatten, folgten bald darauf weitere Nationen dem Paradigmenwechsel hin zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und einer Abkehr vom „starken Staat“; so bspw. ab 1986 auch Großbritannien unter M. Thatcher (Thatcherismus) mit der Deregulierung der Finanzmärkte und der Öffnung der Börsen für internationale Akteure oder ebenso Deutschland ab den 1990er Jahren zur Anpassung des deutschen Finanzmarktes an den „neuen“ internationalen Standard.[2]

In den USA wiederum erlebte der unter Nixon (bis 1974) eingeleitete Paradigmenwechsel mit dem späteren Präsidenten Ronald Reagan (1981-1989) einen weiteren fördernden Impuls hin zu einer Wirtschaftspolitik und -gestaltung im Sinne der Chicagoer Schule. Im Detail wurden Steuersenkungen durchgesetzt in der Hoffnung, hierdurch einerseits den Konsum zu erhöhen und andererseits – als Hauptabsicht – gerade den Unternehmen durch niedrigere Abgaben weitere Investitions- und Produktionsanreize zu liefern. Als Ziel sollten darüber hinaus durch steigenden Absatz und Konsum die Staatseinnahmen zunehmen (wobei gleichzeitig der Staat selbst „schlanker“ gemacht werden sollte, um Ausgaben einzusparen) – trotz der zuvor erfolgten Steuersenkungen. Im Weiteren sollte die Aufnahme neuer Staatsverbindlichkeiten zurückgefahren bzw. vollständig gestoppt werden und durch höhere Zinsen sollten die Preise stabilisiert werden (vgl. Schäfer 2009: 53ff.). Hierüber hinaus ein wichtiges Kriterium im Zuge der Deregulierung (speziell des Bankensektors) war außerdem die Abschaffung fester Zinsen für regionale Sparkassen (savings banks), wodurch nun auch diese ihrerseits variabel die Zinsen für Darlehensnehmer gestalten konnten und mussten. Parallel zu den Erhöhungen des Leitzinses durch die Fed zur Inflationsbekämpfung jedoch erhöhten sich die langfristigen Hypothekendarlehenszinsen rasant auf teilweise beinahe 19 % (ebd.).

Die Deregulierung der Finanzmärkte setzte sich in späteren Jahren auch unter der Präsidentschaft Bill Clintons fort, der verantwortlich dafür war, dass sämtliche bis dato noch existente Beschränkungen für Finanzdienstleister zur nationalen Expansion abgeschafft wurden. Neben den ohnehin flexibel gestalteten Zinssätzen bei regionalen Sparkassen kam nun starker Konkurrenzkampf hinzu und überdies in viel höherem Maße erschwerend, dass die Verantwortung von Finanzdienstleistern für eine jeweilige (wirtschaftliche) regionale Entwicklung durch das Profitstreben und die Konkurrenz zu anderen, neu hinzugetretenen Akteuren im Finanzsektor unterminiert wurde. Einher mit dieser Deregulierung unter Clinton ging des Weiteren die Abschaffung der gesetzlich vorgeschriebenen Trennung von Investitions- und Geschäftsbanken, was in der Konsequenzen einerseits zu wachsenden Geschäftsfeldern und Tätigkeiten führte, andererseits aber auch die Komplexität des Bankensektors steigerte und die Konkurrenzsituation erneut anhob (ebd.: 87).

Die Auswirkungen sowie nicht erwarteten und nicht bedachten Nebenfolgen, die sich aus dem Wandel der Wirtschaftspolitik – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern weit über deren Grenzen und auch die Grenzen der (westlichen) Industrienationen hinaus – entwickelten, werden nachfolgend eingehender beleuchtet.

2.3 Krisen(-entwicklungen) eines „neuen“ Kapitalismus

Die soeben beschriebenen Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft und ihrer freieren Gestaltung versprachen bereits nach kurzer Zeit positive Auswirkungen. So erlebte bspw. Großbritannien nach der angebotsorientierten Umstellung der Wirtschaftspolitik und den damit verbundenen Umstrukturierungen der Ökonomie unter Thatcher eine kurze Erholung, die aber bereits Ende der 1980er Jahre wieder abflaute, in eine erneute Rezession folgte und u. a. steigende Arbeitslosenzahlen mit sich brachte. Ähnlich verhielt es sich in den USA, in denen die Steuersenkungen und weiteren Investitions- und Produktionsanreize für Unternehmen zwar vorerst zu fruchten schienen, jedoch schon bald von hohen Zinsen „aufgefressen“ wurden. Zwar stand einem Teil der Bevölkerung und den Unternehmen durch niedrigere Steuerbelastungen theoretisch mehr Kapital für Konsum und Investition zur Verfügung, doch die Geldpolitik des US-Präsidenten und der Notenbank, die Zinsen anzuheben, um die Inflation gering zu halten und die Preise zu stabilisieren, führte dazu, dass die Nachfrage nach Krediten stark zurückging und somit sowohl die Konsumenten als auch die Unternehmen ihre Nachfrage nach Darlehen drosselten. In der Folge war auch die US-Wirtschaft von einem erneuten Rückfall in eine Rezession bedroht. Diese aufzufangen sollte abermals mit Steuersenkungen gelingen, die ihrerseits wiederholt verhinderten, dass der US-Staat keine weiteren Schulden aufnahm – ganz im Gegenteil: Die Steuerreformen unter Reagan gingen dem Staat mit 700 Mrd. US-Dollar zulasten und die simultane Erhöhung von Rüstungsausgaben veranlassten im Weiteren zur Aufnahme von 200 Mrd. US-$ neuer Kredite. Insgesamt verdoppelten sich die Schulden der USA unter Reagan auf zwei Billionen USD im Jahr 1989 (vgl. Schäfer 2011: 56f.).

Generell betrachtet und nun auch hinsichtlich kritischer Auswirkungen sind in der Phase der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte bzw. seither sowie nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems statistisch gesehen die meisten Finanzkrisen der Geschichte zu verorten, speziell in sog. „sich entwickelnden“ Nationen der Erde. Derartige Krisen sind wie folgt definiert:

Finanzkrisensind Störungen des Finanzsektor, die mit schweren Problemen bei der Versorgung mit Geld und Krediten verbunden sind. Sie können durch unterschiedliche Faktoren ausgelöst werden: Schocks an den Wertpapiermärkten, politische Verknappung von Krediten, Druck auf Wechselkurse und Währungen, technologische Entwicklungen (durch Veränderungen der Produktions- und Investitionsstruktur), politische Ereignisse und anderes mehr. In den meisten Fällen geht den Krisen ein Boom voraus, in dem die Geld- und Kreditmenge stark steigt und die Risiken auch durch spekulative Finanzanlagen zunehmen. Wenn die Spekulationsblase platzt, kommt es zu massiven Zusammenbrüchen und/oder zu plötzlichen Kapitalabflüssen. Von deren Folgen sind auch nicht-spekulative Investoren, das ökonomische Wachstum, die Beschäftigung und der Wohlstand großer Bevölkerungsteile betroffen.“ (BpB 2010a; Hervorhebung im Original)

Die Bemessungsgrundlage für die Ausmaße einer solchen Krise stellen die „Kreditausfallrate[n], (…) fiskalischen Kosten (…) [und] die krisenbedingten Wachstumsverluste (…)“[3](ebd.) dar. Krisen größeren Ausmaßes werden unter Erfüllung mindestens einer der folgenden drei Bedingungen als solche bezeichnet: (1) die Kreditausfallrate übersteigt 20 %, (2) der Staat büßt 1/5 seiner Einnahmen ein oder (3) das Wirtschaftswachstum gemessen am Bruttoinlandsprodukt sinkt um mindestens 10 % (ebd.).

Wagt man im Kontext der soeben angeführten Indikatoren einen historischen Rückblick auf vergangene Krisen, so zeigt sich u. a., dass es seit dem 19. Jahrhundert in (westlichen) industriell entwickelten und entwickelteren Staaten tendenziell absolut mehr Krisen gegeben hat als in anderen Nationen. Allerdings waren die Ausmaße und Folgen solcher Krisen für betroffene Staaten und Gesellschaften dort weniger tief greifend als bspw. in sich entwickelnden Nationen. Das soll heißen, dass Krisen in Industrienationen z. B. seltener zu Staatsinsolvenzen geführt haben, als dies in sich entwickelnden Staaten zu beobachten ist. Im Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten sich jedoch die Umstände und es ist festzustellen, dass seither kaum irgendeine Nation der Erde von Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrisen verschont geblieben ist, wobei wiederum im Besonderen seit den 1970er Jahren ein verstärktes Auftreten großer Krisen auszumachen ist und lediglich im kurzen Zeitraum der beiden Dekaden der 1950er und 60er relativ weniger krisenhafte Erscheinungen auftraten (ebd.). Diese Erscheinungen hängen wiederum scheinbar stark von der Geschwindigkeit des Globalisierungsprozesses ab, der sich im 20. Jahrhundert und darin speziell seit dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte und intensivierte. Die relativ geringere Anzahl an Krisen nach diesem Krieg mag dabei einerseits darauf zurückzuführen sein, dass in der Periode nach dem Krieg der Wiederaufbau zerstörter Nationen weltweit Vorrang hatte und dadurch – rein ökonomisch gesehen – Ressourcen für eben diese Zwecke verwendet wurden, womit u. a. Baubooms einhergingen.[4]Auf der anderen Seite jedoch erscheint ebenfalls ein Zusammenhang zur in dieser Zeitspanne (wieder) vorherrschenden nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik und dem Keynesianismus zu bestehen sowie zum System fester Wechselkurse. Vor diesem Hintergrund wiederum ist es auffällig, dass mit dem Zusammenbruch des letztgenannten Systems und der abermaligen Angebotsorientierung im Sinne der Chicagoer Schule speziell seit den 1970er Jahren wieder vermehrt und gerade große Krisen auftraten und auftreten.

Hervorragende Beispiele für Krisen des Finanzsektors in verschiedenen Nationen, deren gesellschaftliche Folgen in keinem Falle zu vernachlässigen und die anhand der im Folgenden dargestellten Ausmaße teils offensichtlich zu folgern sind – jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht explizit betrachtet werden können –, sind die argentinischen Krisen der Jahre 1980, 1989, 1995 und 2001, die Staats- und Wirtschaftskrisen Mexikos 1981 und 1994 oder die Krisen asiatischer Länder im Zuge der Asienkrise[5]Ende der 1990er Jahre (siehe Tabelle):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[6]

(Datenquelle: Laeven/Valencia 2008; vgl. BpB 2010a)

Darüber hinaus sind ebenfalls seit den 1970er Jahren insgesamt 124 Banken-, 326 Währungs- sowie 64 staatliche Verschuldungskrisen zu zählen (vgl. Laeven/Valencia 2008; BpB 2010a).

Zusätzlich zu den Entwicklungen der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte im betreffenden Zeitraum kommt mit ihrer Gründung (1960) der OPEC im Laufe der folgenden Jahrzehnte eine maßgebliche Rolle in diesem Prozess zu. Mit der Festsetzung des Ölpreises durch diese Organisation und die Erhöhung des Selbigen ergaben sich weitreichende Konsequenzen für die Import- und Produktionskosten Erdöl importierender Nationen (und Unternehmen). Durch die immensen Kosten, die der Erwerb von Erdöl aus OPEC-Staaten mit sich brachte,[7]erfolgte eine Abwertung des US-Dollars durch „Flutung“ des Marktes mit durch den Erdölhandel erwirtschafteten sog. „Petro-Dollars“, die wiederum zu großen Teilen – begünstigt und gar erst möglich durch die Öffnung nationaler Börsen für den internationalen Handel sowie der Öffnung des Finanzsektors für internationale Finanzdienstleister – in Form von Investitionen aus den OPEC-Staaten zurück in die industrialisierten Länder flossen. Aufgrund der hohen Investitionen und der gestiegenen Geldmenge entstand neues Geldvolumen bspw. zur Vergabe von Krediten u. Ä.

Nachdem es zu Beginn der 1970er Jahre zu einer starken Anhebung der Erdölpreise durch die OPEC kam, in deren Folge die Ölkrisen der 70er Jahre resultierten, stiegen auch die Einnahmen mittel- und südamerikanischer Nationen wie bspw. Mexiko, in denen zuvor ebenfalls Rohölvorkommen entdeckt worden waren. Somit erfuhren auch diese Nationen einen Zuwachs an Investitionen zum Ausbau ihrer Rohölförderung und letztlich positive wirtschaftliche Entwicklungen sowie industrielle Modernisierung. Im Falle Mexikos ging mit dieser Entwicklung somit ein hohes wirtschaftliches wie auch Wohlstandswachstum einher (Durchschnittswachstum zwischen 1940 und 1968 bei 8 %) (vgl. Kamppeter 2011; Schäfer 2009: 100ff.). Die mexikanische Regierung nutzte die enorm gestiegenen Kapitalzuflüsse aus dem Ausland wiederum und etablierte eine sog. „Importsubstitutionspolitik“, um durch die Reglementierung und Regulierung des Güterimports ausländische Produkte durch inländische zu ersetzen, womit zunehmende Zahlungsströme ins Ausland begrenzt werden sollten. Allerdings hatte gerade der hohe Investitionszufluss aus dem Ausland verheerende Konsequenzen für Mexiko, dessen Zinsen für die zur weiteren Förderung des Wirtschaftswachstum und Ausbaus von Produktionsanlagen etc. aufgenommenen Krediten infolge der US-Geldpolitik bzw. der stetigen Erhöhung des USD-Leitzinses und des LIBOR[8]erheblich anstiegen und somit die wirtschaftliche Entwicklung sich abschwächte. Im weiteren Verlauf sanken auf dem internationalen Rohstoffmarkt die Preise für Rohöl wieder, wodurch die Exporteinnahmen Mexikos schrumpften, gleichzeitig sich die Zinskosten durch die Variabilität der Zinsen jedoch weiter erhöhten. Neben Mexiko waren von diesem Prozess in Form von entstehenden und wachsenden Handelsbilanzdefiziten Argentinien und Brasilien stark betroffen, wobei Mexiko letztlich 1982 seine Zahlungsunfähigkeit erklären musste (vgl. Kamppeter 2011; Schulmeister 2010). Nach den weltwirtschaftlichen Rezessionen Mitte der 1970er Jahre (1974/1975) und Anfang der 1980er (1980/1982) kam es – einhergehend mit/verstärkt durch die Ölkrisen der Jahre 1970er Jahre – infolge der Abschaffung des Bretton-Woods-Systems und einem sich neu gestalteten Finanzmarkt und Finanzkapitalhandel nach und nach zu krisenhaften Entwicklungen (vgl. Schulmeister 2010).

Bis hierhin hat sich gezeigt, dass die Entkopplung des Kapitals von der Realwirtschaft und realer Produktion zu einer Abstraktion des Kapitals geführt hat und zu einer „Entfesselung“ der Finanzmärkte. Einhergehend mit dieser Entwicklung jedoch ist seither die Funktion bzw. die Nutzung dieser Märkte zum Erwirtschaften möglichst hoher Renditen in möglichst kurzfristigen Perioden „mutiert“, wodurch starke Spekulationen entstanden sind und Finanzmärkte nunmehr von hoher Volatilität geprägt sind. Die Öffnung der Finanzmärkte für internationale Transaktionen und das Hinzutreten von Spekulanten wie aber speziell auch die Möglichkeit für Laien, sich am Börsenhandel zu beteiligen, förderte prozyklisches Handeln, das Aufwärts- wie Abwärtstendenzen verstärkt und mitunter katastrophale Auswirkungen hat. Folglich erhöhten sich nach und nach die Volumina der am internationalen Finanzmarkt gehandelten Gelder enorm, begünstigt auch von Eingriffen der Staaten, der Weltbank oder des IWF zur Bekämpfung von Krisen durch Förderprogramme, der Vergabe von zinsgünstigen Darlehen usw., genauso wie aber auch infolge der entstandenen Möglichkeit privater Haushalte zur leichteren Aufnahme von Krediten. Darüber hinaus den Trend der Zunahme von Finanzkapitalhandel fördernd ist der Umstand, dass die Pensionskassen in den USA seit 1982 an den Börsen in Form von Pensionsfonds notiert sind und gehandelt werden. Hinzu kommen die nach Bretton-Woods frei und flexibel handelbaren und nunmehr ebenfalls starken Spekulationen unterliegenden Devisenkurse, wodurch – neben den von hoher Volatilität geprägten Rohstoff- und Aktienmärkten – weiter Unsicherheiten auf dem internationalen Devisenmarkt und davon abhängigen Akteuren geschürt werden.[9]Der seit den 1980er Jahren wiederum einsetzende Aktienboom entkoppelte die Kurse vieler Wertpapiere von der realwirtschaftlichen Leistung und dem Leistungspotenzial betroffener Unternehmen. Diese Entwicklungen wurden bzw. werden abermals verstärkt durch neue Finanzinstrumente wie Derivate (hohe Renditen) und die Eingriffe von Ratingagenturen, deren Ratings für Akteure maßgeblichen Einfluss auf die Bonität und schließlich Kreditzinsen Letzterer haben.

War zu Zeiten des Bretton-Woods-Systems das Gros der Darlehen noch finanziert aus real existierenden Spareinlagen (Sparkapital~Investitionskapital) und durch diese gedeckt, entkoppelte sich dieser Trend gleichermaßen (vgl. Kamppeter 2011: 6ff.; Schulmeister 2010: 87ff.). Empirisch zeigt sich im Verlauf der hier geschilderten Entwicklungslinien, dass durch die Abstrahierung des Kapitals von der Realwirtschaft bspw. der Realzins in Europa seit Ende 1970er Jahre beinahe immer höher war/ist als das reale Wachstum der Wirtschaft. Die Geldmenge weist kein äquivalentes Wachstum verglichen mit der Gütermenge mehr auf.

Bis in die 1990er Jahre schrumpften die durch die Liberalisierungswellen hervorgebrachten Wachstumsraten diverser Volkswirtschaften jedoch wieder und die Arbeitslosenzahlen nahmen zu; im gleichen Zeitraum stiegen darüber hinaus die Schuldenberge vieler (auch industrieller) Staaten bis – ebenfalls noch in den 90er Jahren – die Fiskalpolitik von Sparmaßnahmen zur Bekämpfung der Staatsverschuldungen geprägt wurde. In Asien jedoch ist zur gleichen Zeit bereits eine schwere Krise fortgeschritten und die Verlagerung der Pensionskassen auf den Kapitalmarkt, wie es in den USA bereits in den 80er Jahren vollzogen worden war, wurde nun auch in Europa praktiziert (und zudem erfolgten Rentenkürzungen). Die Erhöhung der Kapitalmengen am internationalen Kapitalmarkt setzte sich demnach weiter fort, genauso wie Inflationen. Gegen Ende der 90er Jahre entstand parallel zur Asienkrise zudem nach und nach die New-Economy-Spekulationsblase, speziell durch den Börsengang vieler sog. Dotcom-Unternehmen. Neben professionellen Anlegern und Spekulanten (Unternehmen, Staaten, Hedge Fonds etc.) traten nun abermals auch verstärkt private Haushalte an den Börsen auf und die Spekulationsblase der New Economy blähte sich auf, bis die Werte letztlich überkauft waren und massive Abverkäufe einsetzten. In den Jahren 2000 bis 2003 brachen die Aktienkurse dieser Branche ein, wobei sich der Trend auch auf weitere Sektoren ausweitete. Um den massiven Kapitalabzügen und drohenden -engpässen zu begegnen sowie die Wirtschaft anzukurbeln, stellte die US-Notenbank abermals zinsgünstige Darlehen zur Verfügung; sie gab also abermals neues, günstiges Geld aus. Bedingt hierdurch und nach dem Börsenschock zogen die Anleger weiter und begannen auf den neu eingeführten Euro zu spekulieren sowie auf Pensionsfonds und schließlich auch auf verbriefte Kredite und Immobilienpreise in den USA (vgl. Schulmeister 2009; Kamppeter 2011).

3 Ökonomische Krisen des 21. Jahrhunderts

3.1 Entstehung, Verlauf und Eskalation

Die enormen Ausmaße der Weltfinanzkrise nach dem Platzen der Immobilienspekulationsblase in den USA Anfang 2007 bzw. daran anschließende und aktuell fortdauernde Schuldenkrisen, von denen auch Europa in hohem Maße beeinträchtigt ist, resultieren in starker Weise – um nicht zu sagen konsequenterweise – aus dem Paradigmenwechsel der späten 1960er und 1970er Jahre. Als sich der Börsenhandel in den 1980er Jahren verstärkte, in der darauffolgenden Deka­de weiter stark expandierte und diese Entwicklung schließlich nach dem Ende der New-Eco­nomy-Spekulation ein jähes Ende fand, wobei – wie betrachtet – eine große Menge an Geldern zum einen frei wurde (nachdem Investoren aus ihren Anlagen ausstiegen) und zum anderen, speziell in den USA, weitere finanzielle Mittel in Form von Zentralbankkrediten ausgegeben wurden und zudem auf dem dortigen Markt von Finanzdienstleistern verstärkt zinsgünstige Darlehen an Konsumenten weitergegeben wurden. Ein Großteil dieser Kredite („subprime mortgages“) wurde als Hypothekendarlehen für finanziell schwächer gestellte Konsumenten zur Verfügung gestellt, die sich so in großer Zahl Immobilien finanzierten. Die Hypothekendarlehen und Konsumentenkredite wurden wiederum von den Anbietern verbrieft und über „mortgage backed securities“ (MBS) gehandelt und ausgelagert sowie umgewandelt in „collateralized debt obligations“ (CDO). Dank des. „fair-value-Prinzips“ erhöhten sich die Aktiva derartige Finanzinstrumente besitzender Unternehmen sowie ihr Eigenkapital (Leverage-Effekt) und die jeweiligen Aktienkurse zogen seit 2003 (wieder) an. Die Wertentwicklung der verbrieften Kre­dite und Hypothekendarlehen wiederum entwickelte sich seinerseits positiv und Spekulationen auf deren Wertentwicklung setzten ein. Parallel wurde auf steigende Immobilienpreise in den USA spekuliert, nachdem die Nachfrage – durch die Möglichkeit der Aufnahme günstiger Kre­dite Immobilien zu erwerben begünstigt – stark anstieg. Für Darlehensnehmer versprachen die steigenden Immobilienpreise quasi eine Selbstfinanzierung aufgenommener Kredite, die sogar letztlich einen Gewinn darstellen sollten, sollten die Preise für die Immobilien stetig weiter an­steigen. Für die Finanzdienstleister auf der anderen Seite lief das Geschäft des Handels der Kre­dite ebenfalls lange Zeit sehr gut und die MBSs sowie CDOs wurden in großen Mengen ins Ausland verkauft oder verliehen. Dies allerdings hatte abermals zur Folge, dass die Auslandsverbindlichkeiten der USA sich weiter erhöhten und das Außenhandelsdefizit zunahm. Hierdurch bedingt waren die Ausgabe neuer Dollars und das Erwirtschaften hoher Renditen (durch Spekulation) erneut notwendig, um die Kosten für die Auslandsforderungen bedienen zu können, was demgegenüber jedoch abermalig eine inflationäre Entwicklung nach sich zog (vgl. Kamppeter 2011; Schulmeister 2010: 80). Gerade für die Industrienationen bedeutete dies in dieser Periode einen erneuten Aktienboom und zunehmende Transaktionen am Kapitalmarkt und den Finanzmärkten, wobei diese Entwicklung gerade in Europa relativ stärker ausfiel als in den USA. So nahmen u. a. kurzfristige Spekulationen zu, deren wichtiger Bestandteil auch die Spekulation auf MBSs und CDOs war. Im Jahre 2005 jedoch begann die Fed in den USA den Leitzins zu erhöhen, nachdem Geldmenge und Inflation in den Vorjahren zu stark anstiegen. Diese restriktive Geldpolitik führte ihrerseits wiederum zu steigenden Zinsen und somit steigenden Kosten für Darlehensnehmer sowie zu sinkenden Immobilienpreisen aufgrund geringerer Nachfrage zum einen nach neuen Krediten sowie zum anderen folglich nach Immobilien. Des Weiteren sank die Konsumfreudigkeit der US-Bürger bedingt durch ihre steigenden Kreditkosten. Da die hiervon betroffenen Kredite für finanziell schwächer Gestellte und darüber hinaus im Allgemeinen in ähnlicher Weise oftmals lediglich durch die Immobilien selbst abgesichert waren, folgte, dass die Werte der Immobilien die Darlehenssummen nicht mehr deckten. Aus finanzieller Not und Angst vor weiter sinkenden Preisen, begannen viele ihre Immobilien zum Verkauf anzubieten bzw. schließlich zu verkaufen. Dies verstärkte den Prozess sinkender Preise durch ein höheres Angebot und die Preise brachen letztlich dramatisch ein. Nachdem der Leitzins weiter angehoben wurde, um einer zu hohen Inflation abermals entgegenzuwirken, platzte in letzter Konsequenz Anfang 2007 die Immobilienblase; Banken mussten Immobilien zwangsversteigern, da die Kredite der Darlehensnehmer nicht mehr bedient werden konnten und die weiter fallenden Preise in Verbindung mit hohen Kreditzinsen ließen das Investorenvertrauen sowie die Spekulationen auf hohe Renditen einbrechen. Da viele verbriefte Kredite ins Ausland verkauft worden waren, weitete sich die US-Immobilienkrise rasant auf den gesamten Globus aus.[10]In absoluten Zahlen entfielen im Juli 2007 ca. 1.000 Mrd. US-$ auf subprime mortgages, was ungefähr 17 % aller Hypothekenwerte in den USA entsprach. Schätzungen zufolge fallen mindestens 30 % dieser Kredite vollständig aus (vgl. Kamppeter 2011). In der Folge dieser Entwicklung reagierten auch die Rating Agenturen prozyklisch und senkten die Ratings für Kreditderivate sowie nach und nach ebenso die Ratings solche Wertpapiere besitzender Unternehmen. In letzter Konsequenz mussten auf diese Weise gar auch die Ratings vieler Nationalstaaten herabgestuft werden, nachdem mit Finanzspritzen und Hilfspaketen rettend versucht wurde in die (Finanz-) Wirtschaft einzugreifen, wodurch sich oftmals die Staaten weiter in enormem Maße verschuldeten. Bevor diese Entwicklungen jedoch in den hier nachfolgend weiter behandelten gesellschaftskritischen Auswirkungen (3.2) gipfelten, nahm die Krise abermals an Brisanz zu, als ab September 2007 diverse Finanzakteure wie bspw. Hedge Fonds etc., die zuvor in Finanzderivaten u. Ä. inve­stiert waren, versuchten, ihre Verluste durch neue Spekulationen z. B. mit Rohstoff- oder/und Nahrungsmittelderivaten wieder auszugleichen. Durch die nun erhöhte Nachfrage nach Finanzprodukten anderer Sektoren ergaben sich dort starke Preisanstiege und bald schon neue Spekulationsblasen sowie dramatische Folgewirkungen nicht nur für die konjunkturelle Entwicklung, die aufgrund höherer Rohstoffpreise und somit steigenden Kosten gedämpft wurde, sondern darüber hinaus auch speziell für die Bevölkerungen sog. Entwicklungsländer durch für sie unbezahlbar gewordene Nahrungsmittel.

Um der Krise und der sich mittlerweile entwickelten Liquiditätsknappheit auf dem Interbankenmarkt zu begegnen, begann die Fed Mitte 2008 damit, die Leitzinsen zu senken, um zinsgünstig neues Kapital zu schaffen, im Besonderen auch für angeschlagene (Finanz-) Unternehmen. Demgegenüber erhöhte die EZB in Europa den Leitzins, um die dortige Inflation gering zu halten.[11]Diese beiden sich konträr gegenüberstehenden Geldpolitiken führten zu einer Abwertung des US-Dollars gegenüber dem Euro und in Zusammenspiel mit weiter steigenden Rohstoffpreisen verschlechterten sich (aufgrund steigender Kosten und sinkender Exporte) zunehmend die Konjunkturerwartungen sowie die reale Situation der Wirtschaft und das Konsumverhalten der Verbraucher nahm ab. Weitere Anhebungen des europäischen Leitzinses hatten darüber hinaus einen Vertrauensverlust gegenüber der Krisenbewältigungskompetenz und -strategie der EZB zur Folge, weshalb es nach und nach zu vermehrten Verkäufen des Euro durch Investoren kam und der Kurs zu bröckeln begann. Als Anfang 2008 zudem noch die Rohstoffblase platzte und die Preise bis Mitte des gleichen Jahres um knapp zwei Drittel nachgaben (vgl. Schulmeister 2010: 83), verschärfte sich die Krisenlage abermals.

Erneut verstärkte sich das Misstrauen unter Finanzunternehmen somit auf dem Interbankenmarkt; die weiterhin in sehr geringem Maße untereinander vergebenen Kredite spitzten Liquiditätsengpässe zu. Sowohl LIBOR als auch EURIBOR stiegen und in den USA mussten Investment- und Hypothekenbanken staatlich unterstützt und vor der Insolvenz bewahrt werden (Merrill Lynch, Fannie Mae), wobei jedoch Lehman Brothers nicht unterstützt und zahlungsunfähig wurde. Hieraus resultierten wiederum weitreichende Folgen nicht nur in den USA. Durch den Verlust sog. „credit derivates swaps“ und der Pleite von Lehman Brothers verlor z. B. der US-Versicherungskonzern AIG ca. 65 Mrd. US-Dollar; diverse Börsenkurse brachen ein. Dies hatte von Neuem und die dramatische Lage zuspitzend eine Kettenreaktion in Form von Panikverkäufen zur Folge, was schlussendlich einen Börsencrash mit sich brachte (Q3/4 2008; ebd.: 84ff.). Massive sog. „short trades“, also die Spekulation auf fallende Kurse an den Börsen, verstärkten diesen Trend neben praktizierten „trend-following trading strategies“ gewichtiger Finanzmarktteilnehmer zudem erheblich. Es resultierten aus dieser Krise bzw. diesen sich direkt aneinanderreihenden Krisen massive Verluste für Anleger und Unternehmen, Abschreibungen in Höhe Hunderter Milliarden USD und EUR (u. a. durch Kreditausfälle, unwiederbringliche Verluste aus Finanzinvestitionen), Verspekulierungen, Unternehmens- und Privatinsolvenzen sowie stark ansteigende Staatsverbindlichkeiten, nach­dem viele Staaten mit Hilfspaketen für Wirtschaft und Gesellschaft antizyklisch in die Krise einzugreifen versuchten. Auf der anderen Seite büßten Staaten enorm an Staatseinnahmen ein durch sinkende Steuereinnahmen aufgrund rückgängigen Konsums und sinkender Produktion und Reallöhne. Für die Weltwirtschaft bedeutete die Rezession allein 2009 einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 3,2 %, wobei hiervon hauptsächlich eben auch hoch entwickelte Industrienationen betroffen waren (vgl. Kamppeter 2011; Schulmeister 2010; BpB 2010b).

All diese genannten Tendenzen hatten nicht nur in den USA und Europa negative Auswirkungen, sondern sie führten zur Abschwächung der weltwirtschaftlichen Konjunktur, sinkenden Exporten und erheblichen negativen Folgewirkungen für diverse Volkswirtschaften und Gesellschaften, wie am Beispiel Griechenlands in Europa nachfolgend dargestellt wird.

3.2 Steigerung zur Gesellschaftskrise

An dieser Stelle soll nun konkret auf die Konsequenzen der seit 2007/2008 fortdauernden Weltfinanz- und Schuldenkrisen für den griechischen Staat, die dortige Wirtschaft und Gesellschaft als Mitglied der Europäischen Union sowie des Europäischen Währungssystems eingegangen werden sowie daran anschließend weitere Nationen exemplarisch anhand kritischer Implikationen der Krisen (kurz) dargestellt werden. Es soll und muss hier jedoch einschränkend angemerkt werden, dass sich bei der Betrachtung verschiedenster Nationen samt den Auswirkungen von Krisen stets auch die Frage danach stellt, welche bis zum Eintritt der Krisen bestehenden Strukturen den Verlauf kritischer Ereignisse begünstigen oder mildern. So förderten griechische Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen mit Sicherheit die negativen Folgen der Weltfinanzkrise wie auch der darauf folgenden Staatsverschuldungskrise, wobei gar der Beitritt zur Europäischen Währungsunion in Anbetracht der verhältnismäßig geringen Wirtschaftsleistung Griechenlands (bspw. gegenüber Deutschland oder Frankreich) hinsichtlich eines uneingeschränkten Erfolges fraglich erschein. Einerseits jedoch wird sich zeigen, dass nicht nur Griechenland, sondern darüber hinaus viele weitere Nationen, die scheinbar „besser“ für einen derartigen (Finanz-) Kapitalismus, in dem sich Krisen derartigen Ausmaßes ereignen, geeignet zu sein erschienen, ebenfalls katastrophale Konsequenzen davongetragen haben und weiterhin tragen werden. Auf der anderen Seite würde die Darstellung all der maßgeblichen Prämissen der diversen Staaten, ihrer Gesellschaften und Volkswirtschaften den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem übersteigen. Deshalb sollen im Folgenden „lediglich“ die Auswirkungen aufgezeigt werden, wobei am Beispiel Griechenlands zudem die zur Bewältigung der Krise eingeleiteten Gegenmaßnahmen und letztlich Umstrukturierungen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft Beachtung finden werden.

3.2.1 Die (Gesellschafts-) Krise in Griechenland

Infolge der Weltfinanzkrise vergrößerte sich das griechische Staatsdefizit und somit die Schuldenlast Griechenlands beträchtlich, wobei sich diesbezüglich bereits in den Vorjahren und Jahrzehnten besorgniserregende Entwicklungen zeigten. So lag das griechische Haushaltsdefizit gemessen am BIP seit 1980 mit Ausnahme des Jahres 1999 beständig über drei Prozent. Wies Griechenland in den Jahren 2003-2007 dabei durchschnittlich noch ein Defizit von 6,2 % auf, erhöhte sich dieses mit der Weltfinanzkrise rasant auf 9,8 % im Jahre 2008 sowie auf 15,6 % und 10,4 % in den beiden Folgejahren. Speziell das hohe Defizit 2009 (15,6 %) und ein seit 2008 schrumpfendes BIP gipfelten in der aktuellen prekären Situation dieses Staates (vgl. OECD 2012a). Seit 2007 nahmen die Verbindlichkeiten von 112,9 Mrd. auf 147,3 Mrd. € 2010 zu (ebd.). Die sich stetig erhöhenden Defizite und somit anwachsenden Verbindlichkeiten, speziell in den Krisenjahren, sind in hohem Maße darauf zurückzuführen, dass der griechische Staat helfend in die Wirtschaft eingreifen musste, um die Konjunktur zu beleben, sich gleichzeitig aber auch die Kreditzinsen durch Herabstufungen der griechischen Staatsbonität durch Ratingagenturen und Bonitäts-/Vertrauensverlusten erhöhten. Dieser ohnehin schlechte Zustand der Staatsfinanzen wurde durch Beschönigungen in den Vorjahren noch verstärkt und das wahre Ausmaß der Verschuldung erst 2009 vollständig offen gelegt.

Um die Staatsfinanzen zu sanieren sowie die Bedingungen des IWF, der EZB und der EU für Hilfszahlungen bzw. Hilfskredite (und auch eine Umschuldung der Finanzen) einzuhalten, wurden diverse Sparpakete verabschiedet, die tief greifende Einschnitte für die griechische Gesellschaft bedeuten. So wurden die öffentlichen Ausgaben bereits 2010 um neun Milliarden Euro gesenkt und andererseits die Staatseinnahmen um vier Milliarden Euro erhöht. Diese finanziell positiven Entwicklungen konnten durch Reformen des Renten- und Sozialversicherungssystems, durch den Abbau von Bürokratie bzw. öffentlicher Verwaltung, durch die Senkung von Gehältern für Beschäftigte im öffentlichen Dienst (Gehaltseinsparungen bzw. -senkungen bei Angestellten um 20-30 % bis 2011; das dortige mtl. Durchschnittsgehalt wurde auf unter 1.500 EUR gedrückt) und Privatisierungen von Staatseigentum erreicht werden. Bis zum Jahr 2015 sind diesbezüglich zudem weitere Einnahmen aus Privatisierungen in Höhe von 50 Mrd. € beabsichtigt (vgl. Malkoutzis 2011). Bereits an dieser Stelle rückt jedoch die Frage in den Vordergrund, ob gerade die Privatisierungsmaßnahmen langfristig den Erfolg gewährleisten, wie er sich kurzfristig abzeichnen mag und erwartet wird. Auch während der schweren Krisen des mexikanischen Staates in den 1980er und 90er Jahren kam es zu weitreichenden Veräußerungen staatlichen Eigentums auf Druck des Auslandes bzw. der Geldgeber, was jedoch – betrachtet man den heutigen Zustand der Staatsfinanzen Mexikos und der dortigen Wirtschaft wie Gesellschaft – keine langfristigen Vorteile generiert zu haben scheint.

Bisher erkennbare und sich abzeichnende Auswirkungen auf die Gesellschaft Griechenlands zeigen sich bei einem Blick auf die Arbeitslosenzahlen. Lag der Anteil der Arbeitslosen 2007 noch bei 8,3 % und im darauffolgenden Jahr gar niedriger bei 7,7 %, kehrte sich dieser (auch in den Vorjahren vorzufindende) Trend 2009 um und die Arbeitslosenquote stieg auf 9,5 % in 2009, 12,6 % in 2010 sowie (saisonbereinigt) sogar auf 21,7 % im Februar 2012 (vgl. OECD 2012a; Malkoutzis 2011; Eurostat 2012a). Insgesamt besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind dabei Frauen und junge Menschen; unter den 15-24 Jährigen ist beinahe jeder Zweite arbeitslos (vgl. Malkoutzis 2011). Verschärft wird die Situation der vielen Arbeitslosen zudem durch die auf lediglich ein Jahr begrenzte Arbeitslosenunterstützung (Mitte 2011 erhielt ungefähr nur 1/3 der Arbeitslosen staatliche Unterstützungen). Die aussichtslose Situation gerade junger Griechen fördert Unsicherheit, Unzufriedenheit und Zukunftsangst, weshalb viele Betroffene bereits abwandern oder in Zukunft eine Abwanderung planen (ebd.). Die Folgen der hohen Arbeitslosigkeit sind für das griechische Sozialversicherungssystem verheerend, auch wenn lediglich das erste Jahr der Arbeitslosigkeit subventioniert wird. Schätzungen aus dem Jahre 2010 zur Folge, als die Arbeitslosigkeit „nur“ knapp halb so hoch war wie zwei Jahre später, hätte die Arbeitslosenversicherung mit weiteren 115 Mio. € jährlich belastet werden müssen (Malkoutzis 2011). Ein weiterer Anstieg der Belastungen ist offensichtlich und wird die Lage weiter verschärfen. Leider ließen sich hierzu bei der Erstellung dieser Arbeit keine neueren Zahlen finden.

In Verbindung mit steigenden Arbeitslosenzahlen, Steuererhöhungen in Kombination mit ohnehin schon zu den höchsten Umsatzsteuern und Sozialversicherungsabgaben Europas zählenden Abgaben sowie den Lohnkürzungen[12]ergaben sich weiterhin negative Faktoren für das Konsumverhalten der griechischen Bevölkerung, deren privater Konsum mehr als zwei Drittel der griechischen Wirtschaftsleistung ausmacht. Aus diesem Umstand eines eklatant sinkenden Konsums reduzierten sich die staatlichen Steuereinnahmen abermals, der Absatz von Konsumgütern ging zurück und der Umsatz des Einzelhandels schwand um 12 %; speziell dies hatte alleine 2010 ca. 65.000 Schließungen im Einzelhandelsgewerbe zur Folge (ebd.). Insgesamt verringerte sich der Konsum der Griechen alleine im vierten Quartal 2010 um beinahe neun Prozent um 1,6 Mrd. Euro auf 39,7 Mrd. Euro (ebd.). In ähnlicher Weise stellte sich die Situation bzgl. der Konsumausgaben 2011 dar. Im zweiten Quartal des Jahres sank der Konsum der Griechen um weitere knapp sieben Prozent, wobei gut sechs Prozent dabei auf die privaten Haushalte entfielen. Darüber hinaus wurden fast 18 % weniger Bruttoinvestitionen getätigt sowie ein Rückgang öffentlicher Ausgaben um annähernd zehn Prozent (9,7 %) verbucht. Demgegenüber stiegen zwar die Exporte um 11,6 % an, die Importe jedoch sanken ebenfalls aufgrund der verminderten Kaufkraft der Griechen um 7,6 % (vgl. Arvanakos 2011: 1). Insgesamt reduzierte sich das Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr 2011 um 7,7 %, wobei das Baugewerbe besonders stark von der Rezession betroffen ist: Zwischen Januar und Mai 2011 gingen fast 50 % weniger Bauaufträge ein als noch im Vorjahreszeitraum (ebd.). Unter den rückläufigen Auftragseingängen und schlechten Prognosen für die nähere Zukunft macht sich auch das Ausbleiben öffentlicher Aufträge stark bemerkbar, d. h. die Sparmaßnahmen des Staates beeinträchtigen nicht nur beim Konsumenten direkt und unmittelbar die wirtschaftliche Erholung des Landes.

Als ein besonders großes Problem der Ökonomie und speziell des Handels stellt sich dabei in Griechenland die Entwicklung der Vorjahre speziell im Bereich des Einzelhandels[13]dar. Da im Zeitraum von 1995 bis zum Beginn der Finanzkrise 2007 gerade große Handelsunternehmen wie Kaufhausketten etc. sich eines starken Wachstums erfreuen konnten, war für diese Unternehmen die Bildung von Rücklagen möglich, während sich dies für kleine und mittelständische Unternehmen in erheblich geringerem Maße ergab (vgl. Arvanakos 2011). Dieser Trend spiegelt sich nun auch stark in den bereits genannten Schließungen von Einzelhandelsunternehmen ab. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Schwere der Krise trotz gebildeter Rücklagen auch Konsequenzen für größere Unternehmen hat, denen ebenfalls Umsätze wegbrechen.

Zusätzlich geplante und auf den Weg gebrachte Maßnahmen zur Umstrukturierung des Staatsapparates und zur Sanierung der Staatsfinanzen wurden u. a. durch ein vehementeres Vorgehen gegen Steuersünder eingeleitet, da bis 2011 rund ein Drittel der Griechen keine Steuern an den Staat abführte (gemessen am BIP entsprachen die Steuereinnahmen lediglich 5 %). Neben dem Abbau des aufgeblähten Staatsapparates im Zuge des Haushaltskonsolidierungsprozesses soll künftig der öffentliche Sektor professionalisiert und effizienter aufgestellt werden. Auf diese Weise soll Korruption abgebaut, überholte Verwaltungssysteme erneuert, Rückstände in der Verwaltung aufgeholt sowie die hohe Fluktuation in öffentlichen Ämtern reduziert werden. Die behördliche Ineffizienz und Inkompetenz zeigt sich exemplarisch an dem Umstand, dass bis 2011 lediglich knapp 1/5 aller Griechenland von der EU zustehenden Subventionen (2007-2013) eingefordert wurden, wodurch dem griechischen Staat fast 3,5 Mrd. Euro entgingen (vgl. Malkoutzis 2011: 6).

Neben privaten und gesamtgesellschaftlichen sowie ökonomischen Problemen bleibt auch die Politik nicht verschont. Die beiden größten Parteien des Landes, Nea Demokratia und Panellinio Sosialistiko Kinima, werden von der Bevölkerung maßgeblich mitverantwortlich für die Krisenentwicklungen gemacht. Dies zeigt sich besonders an den Mai-Wahlen 2012, in denen ein verhältnismäßig großer Anteil der Stimmen auf radikale Parteien entfiel, letztlich aber keine Regierungsbildung zustande kam und Neuwahlen durchgeführt werden mussten. Gerade die bisher (teilweise überparteilich) beschlossenen Sparmaßnahmen der zwischen 2009 und 2012 die Regierungsgewalt innehabenden PASOK erregten in der Bevölkerung Missgunst und Widerstand, was in Demonstrationen gipfelte und eben zudem auch in „Protestwahlen“. In der ersten Parlamentswahl 2012 übertrumpfte bspw. die sozialistische Partei SYRIZA die PASOK mit dem Versprechen, Sparmaßnahmen und Politik nicht mehr an den Vorgaben der EU, der EZB und des IWF zu orientieren.

Insgesamt und als weitere tief greifende negative Konsequenz der Finanz- und Schuldenkrise geht einher, dass die griechische Bevölkerung zunehmend von Unsicherheit, Ungewissheit und Pessimismus sowie Zukunftsängsten betroffen ist. Befürchtet werden speziell weitere ökonomische Einschränkungen, aus denen letztlich soziale Nachteile resultieren können. Existenzängste und Furcht vor sozialem Abstieg nehmen in hohem Maße zu. Aus Sorge um einen Austritt Griechenlands aus der Europäischen Währungsunion und einer Entwertung ihres noch vorhandenen Sparkapitals reduzieren die Griechen ihre Spareinlagen, die Sparquote sinkt kontinuierlich und jüngsten Entwicklungen zufolge zeichnet sich ein vermehrtes Abheben sämtlicher Spareinlagen ab; „Seit Ausbruch der Krise haben Privatleute und Unternehmer 63 Milliarden Euro von ihren Konten abgezogen, fast ein Drittel ihrer Einlagen.“ (Hoffmann 2012) Die Verunsicherung in der griechischen Bevölkerung ist dermaßen groß, dass 83 % der Konsumenten 2011 damit rechneten, kurzfristig kein Sparkapital zur Verfügung zu haben und zwei Drittel aller Hellenen sich auf eine weitere Zuspitzung der Situation einstellten (vgl. Arvanakos 2011).

Ein weiterer wichtiger Sektor für die griechische Wirtschaft ist der Tourismus, der – wie es schien – zu großen Teilen von der Krise verschont blieb. Jedoch hat sich auch hier speziell seit den Parlamentswahlen im Mai die Situation verschärft und Buchungen gingen vorübergehend um bis zu 50 % zurück (vgl. ABI/AFP/DPA 2012). Zwar spiegeln Proteste bspw. in Athen die gesamtgriechische Stimmung nicht wieder und speziell in den Tourismusgebieten ist dies noch weniger der Fall. Dennoch haben Kundgebungen zum Widerstand gegen ausländische Spardiktate und die Fremdsteuerung Griechenlands in Verbindung mit entsprechend teils negativer medialer Darstellung für Griechenland in einem weiteren Teilbereich die Krise verstärkende Wirkungen.

[...]


[1]Der nach Friedman gar als nicht moralisch zu bezeichnen ist, verteilt er doch Ressourcen der Wohlhabenden zwangsweise redistributiv auch an nicht Wohlhabende.

[2]Konkret auf Großbritannien bezogen bedeutete dies ebenfalls Privatisierungen, die Reduzierung des Staates, Steueranpassungen (der Spitzensteuersatz wurde gesenkt, die Umsatzsteuer angehoben) wie aber auch eine „Entmachtung der Gewerkschaften“ (ebd.: 49) durch den sog. „Employment Act“ (ebd.).

[3]Die Wachstumsverluste werden gemessen an der Differenz des durchschnittlichen BIPs der drei Vorjahre und dem in der Krise errechneten BIPs (vgl. BpB 2010a).

[4]Man betrachte hier bspw. das sog. Deutsche Wirtschaftswunder der 1950er Jahre.

[5]Asienkrise: Ausgegangen ebenfalls infolge von Deregulierungen und Liberalisierungen besonders im Finanzsektor und in diesem Zuge mitunter auch der Abschaffung fester Wechselkurse der thailändischen Währung (vgl. Dieter 2002).

[6]Ausfall der Steuereinnahmen oder/und „Wegfall“ der Staatseinnahmen durch Investition in Wachstumsprogramme gegen die Krise (vgl. BpB 2010a).

[7]Gleiches gilt für andere Erdöl fördernde Nationen, die die Preise ebenfalls anpassten.

[8]LIBOR und EURIBOR stellen den Leitzins für Kredite auf dem Interbankenmarkt jeweils für den USD und den EUR dar.

[9]Abgesehen von Termingeschäften.

[10]Siehe ausgewählte Beispiele unter 3.2.2.

[11]Wobei die Kosten sich negativ für Unternehmen und Haushalte entwickelten und die Zinspolitik nicht zu stabilen Preisen und Kosten führte – im Gegenteil: Eben genannte Akteure mussten zwischen 2005 und 2008 durch Zinserhöhungen von insg. 2,25 % rund 70 Mrd. EUR mehr aufwenden (vgl. Schulmeister 2010: 82).

[12]Neben Entlassungen ergaben sich in der Privatwirtschaft teilweise Gehaltskürzungen von bis 20 % (vgl. Malkoutzis 2011).

[13]40 % der Einzelhändler sehen negative Zukunftsperspektiven und rechnen deshalb auf Dauer mit weiteren Entlassungen (vgl. Arvanakos 2011).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783955495190
ISBN (Paperback)
9783955490195
Dateigröße
376 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Augsburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Wirtschaftskrise reflexive Modernisierung Schuldenkrise Kapitalismus nicht-intendierte Nebenfolge
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Titel: Ökonomische Krisen des 21. Jahrhunderts als Gesellschaftskrise: Entwicklungen, Symptome und Bewältigungsstrategien von Risiken, Krisen und (Neben-)Folgen einer neuen Moderne
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