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Lernen ist Gehirnsache: Was bewirkt Lernen auf neurobiologischer Ebene?

©2011 Examensarbeit 53 Seiten

Zusammenfassung

Das, was uns in so besonderem Maße für das Lernen auszeichnet, ist die hohe Anpassungsbereitschaft unseres Gehirns. Doch was genau spielt sich beim Lernen in unserem Gehirn ab?
Wie kann man Lernprozesse auf der Ebene unserer Gehirnzellen erklären?
Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich das vorliegende Buch, hauptsächlich im Bereich der Neurobiologie. Um zunächst einen Einblick in die Funktionsweise und Struktur des menschlichen Gehirns zu bekommen, werden in einem ersten Schritt anatomische und physiologische Grundlagen zusammengefasst dargestellt. Darauf aufbauend wird sich mit der Frage beschäftigt, was Lernen auf neurobiologischer Ebene bedeutet. Wie werden Informationen in unserem Gehirn gespeichert?
Im weiteren Verlauf geht die Autorin auf die Hirnstrukturen ein, welche für das Lernen von besonderer Bedeutung sind. Daran werden anschließend Faktoren erläutert, die den Lernprozess negativ oder positiv beeinflussen können. Jeder kennt diese eigenartigen Momente, in denen man um des Lernprozesses Willens eigentlich jemandem zuhören oder sich auf einen Text konzentrieren sollte, dies aber einfach nicht gelingt. Warum man in solche Situationen gerät, wird ebenfalls erläutert.
Nachdem aus den gewonnenen Erkenntnissen didaktische Rückschlüsse gezogen wurden, erfolgt ein erstes Zwischenfazit. Daran anschließend werden noch einige sehr banale Form des Lernens hervorgehoben: Der Prozess des Lernens ist in starkem Maße von der Interaktion eines Individuums mit anderen Menschen abhängig. Um diesem Aspekt einen gebührenden Platz einzuräumen, wird die Form des Lernens durch Nachahmung dargestellt, welche ohne die Auseinandersetzung mit anderen Menschen, ohne das Vorhandensein von Bezugspersonen oder Vorbildern nicht machbar wäre.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.3. Informationsweiterleitung

Eine Nervenzelle und die damit verbundene Reizübertragung, die das Gehirn zum Empfangen, Analysieren und Übermitteln von Informationen nutzt, funktioniert nach dem „Alles- oder- Nichts- Prinzip“. Hieraus folgen zwei verschiedene neuronale Zustände: Das Ruhepotenzial und das Aktionspotenzial.

Charakteristisch für das Ruhepotenzial sind die bereits schon vorhandenen Spannungsunterschiede zwischen dem negativ geladenen Zellinneren und dem positiv geladenen Zelläußeren, welche durch eine unterschiedliche Ionenkonzentration (größtenteils Kalium-, Chlorid- und Natrium- Ionen) entstehen. Die Zellwand (Membran) eines Neurons, eine Lipiddoppelschicht, wirkt als Isolator zwischen der Lösung im Cytoplasma und dem extrazellulären Raum und verhindert so den Ausgleich dieser elektrischen Differenz.

Ein Aktionspotenzial entsteht durch synaptische Anregung einer Nachbarzelle, welche, je nachdem ob eine Verbindung zu chemischen oder elektrischen Synapsen besteht, unterschiedlich ablaufen. Die Reizübertragung bei elektrischen Synapsen kommt grob gesagt durch direkte Ströme von der prä- zur postsynaptischen Membran zustande. Da diese Form der Reizweiterleitung aber eher selten auftritt, möchte ich nicht näher darauf eingehen.

Die chemische Übertragung von Reizen erfolgt laut Kandel (1995) mit Hilfe spezieller Neurotransmitter (Überträgerstoffe). Ein im synaptischen Endköpfchen eintreffender Strom sorgt über mehrere Prozesse für die Ausschüttung der Transmitter aus den gespeicherten Vesikeln. Zusammengefasst beschrieben diffundieren diese Überträgerstoffe durch den synaptischen Spalt (Entfernung ca. 20-40nm) und setzen sich, an der postsynaptischen Membran angekommen, an zugewiesenen Rezeptoren fest. Hierbei öffnen sich in der Membran vorhandene Kanäle, die ein explosionsartiges Einströmen positiv geladener Ionen (in diesem Fall Natrium) in den negativ geladenen Zellinnenraum ermöglichen. In dieser so genannten Depolarisierungsphase überwiegt für kurze Zeit eine positive Ladung im Zellinneren, so dass das Ruhepotenzial schlagartig in ein Aktionspotenzial umgewandelt wird. Diese Spannung kann, wenn sie einen bestimmten kritischen Wert erreicht, nun über das Axon an benachbarte Zellen weitergegeben werden. In der nachfolgenden Repolarisierungsphase kehrt die Zelle durch Schließen der Kanäle und weitere ausgleichende Vorgänge wieder in den Ruhezustand zurück.

Neben erregenden Signalen, gibt es auch hemmende Mechanismen. Werden diese aktiv, benötigt die betroffene Zelle nachfolgend einen stärkeren Impuls, um ein Aktionspotenzial auszulösen. Ob ein Potenzial exzitatorisch oder inhibitorisch ist, hängt von der Beschaffenheit der beteiligten Rezeptoren ab. Durch neuronale Integration (Verrechnung), welche bedeutend von der zeitlichen und räumlichen Summation der im Neuron eingehenden Signale abhängt, „entscheidet“ die Nervenzelle, ob der für ein Aktionspotenzial nötige kritische Wert erreicht wird, oder nicht.

Durch Analyse und Interpretation der durch eintreffende Signale entstandenen Muster erzeugt unser Gehirn die alltäglichen Eindrücke. Die Signalübertragung läuft bei allen Nervenzellen gleich ab und lässt sich übersichtlich in vier aufeinanderfolgende Signaltypen unterteilen: Eingangs-/Inputsignal, Integrationssignal, fortgeleitetes Signal, Ausgangs-/ Outputsignal. Die Information, die ein Aktionspotenzial sozusagen beinhaltet, wird dabei nicht von der Form des Signals, sondern der neuronalen Bahn bestimmt.

3. Was ist Lernen?

3.1. Definition

Lernen zu definieren ist keine leichte Aufgabe, da es je nach Fachdisziplin verschiedene Sichtweisen auf den Lernprozess gibt. In der Lernpsychologie wird Lernen laut Wikipedia (2011a) als „ein Prozess der relativ stabilen Veränderung des Verhaltens, Denkens oder Fühlens aufgrund von Erfahrung oder neu gewonnenen Einsichten und des Verständnisses (…) aufgefasst.“

Eine solche Verhaltensänderung kann in Form des schulischen Lernens stattfinden, aber auch als automatisches Nebenprodukt unserer Lebenserfahrungen entstehen. Münch (2008) stellt passend hierzu eine Differenzierung Schuhmachers dar, welcher in die Kategorien privilegiertes und nicht-privilegiertes Lernen unterscheidet. Ersteres bezeichnet Lernprozesse, die durch bestimmte Erfahrungen und Umweltbedingungen ausgelöst werden und biologische Entwicklungsschritte mit sich ziehen (beispielsweise sprechen und laufen lernen). Nicht-privilegiertes Lernen hingegen umschreibt Umstände, deren ausgelöste Lernprozesse auf keinem biologischen Rhythmus beruhen, wie es typischerweise Lernsituationen in der Schule an sich haben. Diese Art von Lernen wäre in gewissen Maßen vermeidbar, während Lernen als lebensbegleitende Funktion nicht von uns umgangen werden kann. Beide Formen des Lernens basieren auf drei Faktoren: einem anregenden Umfeld, individuellen Erfahrungen und häufige Anwendung (Münch, 2008).

Lernen hat für uns viel mit Gedächtnis zu tun. Wenn wir es schaffen, eine Information langfristig zu behalten, so bezeichnen wir diese als gelernt. Dabei ist Lernen nicht nur das Einspeichern neuer Informationen im Gehirn, sondern auch das Verknüpfen von Inhalten untereinander (Madeja, 2010). So speichern wir beispielsweise nicht nur ab, dass Milch ein Getränk ist, aus dem man Kakao mischen kann, sondern wir verknüpfen diese Tatsache mit dem Wissen, dass Milch von Kühen gegeben wird. Je nach Erfahrungshorizont kann also einer einfachen Information eine lange und komplexe Wissenskette folgen. Diese Fähigkeit ist enorm wichtig, denn nur hierdurch schaffen wir es, Zusammenhänge in unserer Welt zu erkennen und so ihre Komplexität annähernd zu begreifen.

Was genau Lernen auf neurobiologischer Ebene bedeutet, möchte ich hier nicht vorwegnehmen, da diese Fragestellung sich im weiteren Verlauf dieses Kapitels klären wird.

3.2. Neuronale Repräsentationen

Wenn wir die Augen schließen und ein inneres Bild entstehen lassen, einen Gegenstand oder Raum, ein Gesicht, eine Situation, …, dann können wir feststellen, dass unsere Welt und unser Körper in unserem Gehirn abgebildet sind. In der Neurowissenschaft wird diese Abbildung als neuronale Repräsentation bezeichnet. Mit dem Ausdruck Repräsentation ist in diesem Zusammenhang laut Spitzer (2002) ein inneres Abbild bestimmter äußerer, durch Reize vermittelter Charakteristika und Strukturen der Umwelt gemeint. Sämtliche Eindrücke und Erfahrungen hinterlassen in uns neuronale Repräsentationen, beziehungsweise ändern schon bestehende Repräsentationen- genau dies bezeichnet man als Lernen.

Auf neuronaler Ebene bedeutet eine Repräsentation, dass ein bestimmtes Neuron immer genau dann feuert, wenn ein ihm zugewiesener Input erfolgt. Vereinfacht ausgedrückt: jedes Neuron repräsentiert etwas. Dieser Vorgang wird durch das System unterschiedlicher Synapsenstärken ermöglicht. Jeder Input aus der Umgebung eines Organismus muss verarbeitet werden, um mit einem Output reagieren zu können. Neuronen arbeiten hierfür in neuronalen Netzwerken mit unterschiedlich starken Synapsen. Nehmen wir zur genaueren Erklärung ein ganz simples neuronales Netzwerk als Beispiel: Ein bestimmter Input führt zur Aktivierung bestimmter „Inputneuronen“, welche den aufgenommenen Reiz über Synapsen an „Outputneuronen“ übertragen. In unserem vereinfachten neuronalen Netzwerk ist jedes „Inputneuron“ mit jedem „Outputneuron“ über Axone verbunden. Der Unterschied zwischen den Verbindungen besteht in der Stärke der Synapse. Da ein Aktionspotenzial erst ab einem bestimmten Schwellenwert ausgelöst wird („Alles-oder-Nichts-Prinzip“) führt eine einzelne schwache Synapse in unserem Beispielnerzwerk nicht zu einer Reizweiterleitung. Durch einen Inputreiz werden aber nicht nur ein einzelnes „Inputneuron“, sondern mehrere aktiviert, wodurch ein spezielles Aktivierungsmuster entsteht, welches dazu führt, dass an einem „Outputneuron“ mehrere Signale eintreffen. Je nach Stärke der einzelnen Synapsen, über die der Reiz eintrifft, kann dieser eine Depolarisierung im präsynaptischen Neuron hervorrufen.

Die Stärke der Synapsen kann, wie im Kapitel „Die Plastizität des Gehirns oder: Lernen auf zellulärer Ebene“ dargestellt, durch Lernvorgänge verändert werden.

Eine Repräsentation bedeutet also, dass durch ein bestimmtes Inputmuster über das System unterschiedlich starker Synapsen genau ein Neuron aktiv wird. Das aktive Neuron repräsentiert dementsprechend den eintreffenden Reiz.

Das oben dargestellte Schema des „Input-Output-Mechanismus“ ist stark vereinfacht. Würde in unserem menschlichen Gehirn tatsächlich jede Repräsentation unserer Umwelt in nur einem Neuron gespeichert werden, wäre unser Gehirn stark für Störungen anfällig. Das Absterben eines Neurons würde bedeuten, dass die komplette in ihm gespeicherte Repräsentation verloren wäre. Dies ist glücklicherweise nicht der Fall, da unser Gehirn in neuronalen Netzwerken mithilfe von Neuronenpopulationen arbeitet. Jedes Neuron wird zwar, wie beschrieben, nur bei einem bestimmten Input aktiv, der Umkehrschluss jedoch gilt nicht. Vielmehr feuern bei einem Input eine ganze Reihe Neuronen, wenn auch unterschiedlich stark.

Zur genaueren Verdeutlichung möchte ich ein Experiment von Wilson und McNaughton, 1993, kurz darstellen (Spitzer, 2002):

Die beiden US-amerikanischen Wissenschaftler untersuchten, wie schnell Ortsinformationen von einem Organismus erworben werden können. Hierfür ließen sie Ratten einen Käfig genau erkunden, während gleichzeitig die Neuronenaktivität speziell im Hippocampus abgeleitet wurde. Anhand des Aktivitätsmusters der Neuronen zeigte sich, dass so genannte Ortszellen spezifischen Bereichen des Käfigs zugeordnet sind, dass also ein bestimmtes Ortsneuron an einer bestimmten Position im Käfig besonders stark aktiv wird. Dieses Phänomen können wir durch den schon erklärten Mechanismus der neuronalen Repräsentation begründen. Ein weiteres Ergebnis von Wilson und McNaughton war jedoch, dass unser Beispiel-Ortsneuron nicht nur dann aktiv wird, wenn sich das Tier an der dem Neuron zugewiesenen Stellen befindet, sondern auch, wenn es sich in der Nähe der Stelle aufhält. Die Lokalisation des Tieres im Raum wird also nicht durch ein einzelnes Neuron kodiert, sondern durch das Aktivitätsmuster vieler Neuronen. Die Wissenschaftler führten das Experiment so weit, dass sie aufgrund des Wissens, in welchem Neuron welcher Punkt des Käfigs repräsentiert ist, die Position ihrer Versuchstiere im Käfig allein anhand der Neuronenaktivität im Hippocampus nachvollziehen konnten. Die Aktivität einer einzelnen Ortszelle ergab hierbei nur ungenaue Angaben. Durch das variable Zusammenspiel aller Ortszellen wurde aber eine räumliche Orientierung möglich.

Je komplexer neuronale Repräsentationen sind, desto mehr Neuronenpopulationen sind beteiligt. Als Veranschaulichung nennt Spitzer (2002) eine Situation, in der ein Feuerwehrauto an einer Person vorbei fährt. Direkt werden die Repräsentationen, die die Person aufgrund individueller Erfahrungen gespeichert hat, aktiv. So feuern Neuronen für Bewegungen, Farben und Geräusche- aber auch Nervenzellen höherer Verarbeitungszentren, in denen zum Beispiel Gefahr, Neugier, Feuer,… repräsentiert sind, können aktiv werden.

3.3. Die Plastizität des Gehirns oder: Lernen auf zellulärer Ebene

Eine grundlegende Annahme war lange Zeit, dass das Gehirn sich nach der Geburt kaum mehr verändert. Immerhin bleibt die Zahl der Neuronen Untersuchungen zur Folge unverändert. Dennoch ist das Gehirn eines ausgewachsenen Menschen fast doppelt so groß, wie das eines Neugeborenen. Wachstum ist also erkennbar.

Wie hieraus schon ableitbar, ist das Gehirn also alles andere als statisch. Im Gegenteil. Das menschliche Gehirn ist in höchstem Maße flexibel, es passt sich den äußeren und inneren Bedingungen und Gegebenheiten ständig an- oder anders ausgedrückt: es lernt. Für uns ist diese Aussage nicht neu, da wir schon im vorherigen Kapitel erfahren konnten, dass sich neuronale Repräsentationen neu bilden oder verändern können. Wir nennen diese Fähigkeit „Plastizität“ (Spitzer, 2002). Der Begriff der „Plastizität“ stammt von dem griechischem Wort „plastikos“ ab, was so viel bedeutet wie „formend“ (Scholz und Klein, 2010). Je nach individueller Erfahrung formt sich also unser Gehirn um, wandelt sich, passt sich an.

Die individuelle Lebenserfahrung eines Menschen macht sein Gehirn durch die diesem eigene Plastizität zu etwas einzigartigem. Die in der Neurobiologie als Neuroplastizität bezeichnete Anpassung des Gehirns, beziehungsweise des zentralen Nervensystems an individuelle Erfahrungen, kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Diese sind im Folgenden näher beschrieben.

3.3.1. Veränderungen an Neuronen und deren Synapsen

„Lernen auf zellulärer Ebene bedeutet heutigen Vorstellungen zu Folge, dass die Kommunikation (d.h. die synaptische Verbindung) zwischen Nervenzellen spezifischer neuraler Schaltkreise gestärkt wird und andere- für spezifische Informationen nicht relevante- Verbindungen unterdrückt werden.“ (Brand/Markowitsch, 2006, S. 28).

Scholz und Klein (2010) nennen als Möglichkeiten der verstärkten Kommunikation zwischen Hirnzellen einerseits Veränderungen an den Nervenbahnen (weiße Substanz des Gehirns), welche beispielsweise durch Bildung neuer Axone oder eine verstärkte Myelinisierung hervorgerufen werden könnten, andererseits an den Zellkörpern der Neurone (graue Substanz), die durch das Ausbilden neuer Synapsen entstehen könnten. Sie fassen in Ihrem Artikel der Zeitschrift „Gehirn&Geist“ Untersuchungsergebnisse verschiedener Arbeitsgruppen von Studien zur Auswirkung motorischen Trainings auf die graue und weiße Substanz des Gehirns zusammen, und stellen folgende Ergebnisse dar: Nach sechs- bis zwölfwöchigem motorischen Training (in diesem Fall das Erlernen von Jonglieren) hat sich die mit Hilfe der Magnetresonanztomographie gemessene graue Substanz des Gehirns einer Regensburger Arbeitsgruppe nach im Bereich des Schläfenlappens, eigenen Untersuchungen zur Folge im Bereich des Scheitellappens, vergrößert. Auch die weiße Substanz des Gehirns wurde durch das Training positiv beeinflusst.

Lernen führt also erwiesenermaßen zu Veränderungen/Wachstum im Gehirn. Doch was genau findet bei Lernprozessen im Gehirn statt? Scholz und Klein zur Folge ist es mit Hilfe der Magnetresonanztomographie kaum möglich, Veränderungen auf zellulärer Ebene nachvollziehen zu können, da die Auflösung der Messung zu gering ist. Sie verweisen auf histologische Untersuchungen an Versuchstieren, welche einen genaueren Einblick in die Funktionsweise und Strukturen des Gehirns ermöglichen.

Brand/ Markowitsch (2006) helfen uns, Veränderungen des Gehirns durch Lernprozesse, welche wie oben zitiert auf der Stärkung der synaptischer Verbindungen beruhen, detaillierter nachvollziehen zu können. Auch sie nennen, wie Scholz und Klein (2010), verschiedene Möglichkeiten/Ebenen, auf denen Veränderungen stattfinden können, heben aber, ebenso wie Kandel ein Phänomen hervor, welches als Grundlage für weitere Anpassungs-/Lernvorgänge im Gehirn dient: die Langzeitpotenzierung.

Langzeitpotenzierung (LTP- long term potentiation) bezeichnet laut Brand/Markowitsch (2006) und Kandel (1995) eine langanhaltende Aktivierung der Nervenzelle auf postsynaptischer Seite durch kurze, hochfrequente Impulse. Voraussetzungen für eine Langzeitpotenzierung sind die Kooperation, dass heißt gleichzeitige Aktivität mehrerer afferenter Bahnen, die Assoziativität, welche die Verstärkung eines schwachen Impulses durch einen im selben Bereich des Dendriten eintreffenden und mit dem ersten Reiz in Verbindung stehendem stärkeren Reizes bezeichnet, und als drittes die Tatsache, dass LTP vor allem an Synapsen auftritt, die vorher durch einen Reiz aktiviert wurden (Spezifität). Die Mechanismen, die eine Langzeitpotenzierung entstehen lassen, sind in den verschiedenen Hirnregionen unterschiedlich und werden hier nicht näher erläutert (Kandel, 1995). Wichtig ist, dass durch das Entstehen eines LTP eine Reihe biochemischer Reaktionen ausgelöst wird, welche die Anpassungsvorgänge des Gehirns bei Lernprozessen begünstigen.

Langzeitpotenzierung kann beispielsweise als eine wichtige Voraussetzung für die Vermehrung oft genutzter Rezeptoren der postsynaptischen Membran gesehen werden. Dieser Mechanismus ist für Lernvorgänge unabdingbar, da die Neurotransmitter durch diese morphologische Veränderung vermehrt die Möglichkeit haben, bei der Übertragung eines Aktionspotenzials das Nachbarneuron zu erregen: Die im Zusammenhang mit neuronalen Repräsentationen erwähnte synaptische Stärke wird erhöht. Doch wie erfährt ein Neuron, ob ein Rezeptor der Membran häufig genutzt wird oder nicht?

Zusammenfassend erklärt nutzt eine Nervenzelle hierfür wieder Botenstoffe, welche innerhalb des intrazellulären Raums von den Dendriten zum Axonhügel wandern, und dort die Proteinsynthese beeinflussen (Brand/Markowitsch, 2006). Dieser Vorgang muss natürlich direkt an den Erfolg effizienter Rezeptoren gekoppelt sein, weshalb die Funktion der Botenstoffe von den Second Messenger übernommen wird. Diese spielen während der Reizübertragung vor allem bei so genannten indirekten Rezeptoren eine Rolle, bei denen der Rezeptor selber nicht an einen Ionenkanal gekoppelt ist, sondern durch das Ausschütten der Second Messenger indirekt Ionenkanäle beeinflusst werden können. Neben dieser Aufgabe erfüllen Second Messenger durch ihre Diffusion zum Zellkern des Neurons die Funktion, die Nervenzelle über die synaptische Aktivität zu informieren, welches wiederum zu der Synthese neuer Rezeptoren führt. Die Verknüpfung zur LTP besteht darin, dass die Langzeitpotenzierung die Prozesse der Bildung neuer Second Messenger begünstigt.

Die Bildung neuer Rezeptoren hat weitere Folgen. So ist sie zum Beispiel grundlegend für eine weitere Verzweigung der Dendriten der Neuronen, welche dazu führt, dass eine vermehrte Anzahl präsynaptischer Endigungen eine Verbindung mit der betroffenen Zelle eingehen können. Verglichen mit Scholz und Klein (2010) erklärt dies das Wachstum der weißen Substanz.

Das hier Beschriebene deckt noch lange nicht alle Prozesse ab, welche bei Lernvorgängen im Gehirn ablaufen. Unerwähnt blieb bis jetzt beispielsweise, dass Neuronen, neben der gezielten Vermehrung oft genutzter Rezeptoren, ihre synaptische Verbindung auch durch den Abbau bestimmter, beispielsweise inhibitorischer, Rezeptoren verstärken können.

Auch ein ebenfalls für Lernvorgänge wichtiger Mechanismus, welcher gewissermaßen als Gegenteil der Langzeitpotenzierung bezeichnet werden kann, ist die Langzeitdepression. Hiermit ist eine gezielte Unterdrückung der Neuronenaktivität gemeint, welche über hemmende Interneurone durch die gesteigerte Aktivität einer benachbarten Neuronenpopulation erreicht wird. Gewissermaßen kann der für einen aktuellen Lernprozess benötigte neuronale Schaltkreis die Aktivität benachbarter Populationen vermindern und durch die so entstehend selektive (und nicht globale) Aktivitätssteigerung Informationen tiefergehend verarbeiten.

Aus den genannten Zusammenhängen wird die hohe Bedeutung der beschriebenen Langzeitpotenzierung für Lernprozesse schon ersichtlich. Deutlich wird dies auch in der Hebb´schen Regel, welche 1949 von dem Psychologen Donald Olding Hebb im Bezug auf das zelluläre Lernen in neuronalen Netzwerken formuliert wurde: Wenn eine Zelle wiederholt und dauerhaft zur Entstehung eines Aktionspotenzials in ein und derselben Nachbarzelle beiträgt, resultiert dies in Wachstumsprozessen oder metabolischen Veränderungen, welche die Effizienz eines Aktionspotenzials erhöhen (Kandel, 1995). Der Psychologe ging hierbei von einer zirkulierenden Aktivität in Neuronenschleifen aus, welche, wie in der Hebb´schen Regel beschrieben, zu einer Stärkung der genutzten Verbindungen, und somit einer Vertiefung des in dieser neuralen Verbindung repräsentierten Wissens, führt. Diese Annahme spiegelt einerseits die Grundlagen zellulären Lernens- synaptische Plastizität- wider und macht außerdem auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: Für Lernvorgänge ist die Aktivität einzelner Neuronen nahezu unbedeutend. Erst die gemeinsame und gleichzeitige Aktivität vieler im Verbund organisierter Nervenzellen kann zu ausreichenden Anpassungserscheinungen führen, welche dann als Lernen bezeichnet werden (Brand/Markowitsch, 2006).

Um die enorme Bedeutung des gerade Beschriebenen hervorzuheben, möchte ich noch einmal auf die schon erläuterten neuronalen Repräsentationen zurückkommen. Bisher wurden diese als Abbildung alltäglicher Erfahrungen in unserem Gehirn beschrieben. Wenn dies etwas weiter gedacht wird, so stellen wir fest, dass alltägliche Erfahrungen in individuellem Wissen und Können münden. Informationen und Fähigkeiten sind im Gehirn also in Form von Verbindungsstärken zwischen den Nervenzellen gespeichert (Spitzer, 2002). Werden diese Verbindungsstärken durch oben beschriebene Veränderungen und Prozesse gefestigt, so festigt sich hiermit also auch die Assoziation, die von dieser Verbindung repräsentiert wird- wir lernen!

3.3.2. Veränderungen der kortikalen Karte

Bisher habe ich Lernprozesse fast ausschließlich auf neuronaler Ebene erklärt und bin hierbei ins Detail zellulärer Plastizität gegangen. Dies ist auch wichtig, denn jegliche lernbedingte Veränderung im menschlichen Gehirn basiert auf dieser bisher hervorgehobenen Ebene. Dennoch sollten wir auch großflächigere Betrachtungen nicht außer Acht lassen, weshalb ich im Folgenden auf die Plastizität kortikaler Karten eingehen möchte.

Der Begriff der Plastizität wurde im Verlauf meiner Arbeit bereits mehrfach erwähnt und umschrieben, so dass die Bedeutung geklärt ist. Kortikale Karten allerdings, wurden bisher nur indirekt erwähnt. Was also, können wir darunter verstehen?

Im Prinzip ist eine Erklärung aufgrund des bereits aufgebauten Vorwissens einfach: Der Begriff „Kortikal“ verweist auf die Hirnregion, in denen die sogenannten Karten zu finden sind: Die Großhirnrinde (Cortex). Auch diese bildet, wie schon in anderen Zusammenhängen veranschaulicht, zu allen sie erreichenden Eingangssignalen neuronale Repräsentationen. Das besondere ist, dass Neuronen, die ähnliche Inputs repräsentieren, nicht zufällig über den Cortex verteilt liegen, sondern in hohem Maße geordnet sind. „Diese Ordnung ist das Ergebnis der Wechselwirkung bestimmter Struktur- und Funktionsprinzipien des Kortex einerseits und der Lebenserfahrung des Individuums andererseits“ (Spitzer, 2002, S. 99).

Durch diese entstandene Ordnung, ergeben sich strukturierte und zusammenhängende Bereiche auf der Großhirnrinde, die ähnlichen Inputs zugeordnet sind- solche Regionen werden als kortikale Karten bezeichnet.

Die bekanntesten kortikalen Karten werden von dem berühmt gewordenen Penfieldschen Homunkulus gebildet. Dieser bezeichnet das Areal der Großhirnrinde, welches unsere Körperoberfläche „landkartenförmig“ einmal motorisch und einmal sensorisch repräsentiert. Der repräsentative Homunkulus des Cortex entspricht aber nicht der gleichen Proportion unseres Körpers. Das besondere ist vielmehr, dass Körperteile, welche eine hohe Input-Quote an den Cortex senden, hier auch auf einer größeren Fläche repräsentiert sind. So nehmen beispielsweise die neuronalen Repräsentationen unserer Zunge oder Hände deutlich mehr Raum ein, als die unseres Rückens.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Kandel, 1995, S. 335)

Es wird vermutet, dass auf unserer Großhirnrinde ca. 735 kortikale Karten repräsentiert werden, von denen viele aus höheren Verarbeitungsstufen entstehen und so schwer nachweisbar sind (Spitzer, 2002).

Nun aber zurück zu der Überschrift dieses Kapitels, welche mehr fordert, als die Erklärung kortikaler Karten.

Spitzer (2002) beschreibt in seinem Zitat, dass die Entstehung kortikaler Karten unter anderem abhängig ist von der individuellen Lebenserfahrung. Später ergänzt er dies jedoch um die Aussage, dass „kortikale Karten nicht nur erfahrungsabhängig entstehen, sondern einer beständigen erfahrungsabhängigen Umorganisation unterliegen“ (Spitzer, 2002, S. 105). Auch kortikale Karten sind also von der überlebenswichtigen Plastizität unseres Gehirns betroffen. Konkret: Wird aufgrund von Lernvorgängen ein erhöhtes Inputmuster in die zugeordnete kortikale Karte gesendet, so vergrößert sich diese. Spitzer nennt als Beispiel das Erlernen von Blindenschrift, bei dessen Prozess sich durch das Ertasten kleinster Erhebungen mit dem rechten Zeigefinger das zugehörige kortikale Areal des Fingers vergrößert. So sind beispielsweise akustische Landkarten bei Musikern um bis zu 25 Prozent größer als bei Nichtmusikern (Spitzer, 2002).

Diese Entdeckung der Vergrößerung kortikaler Karten bei Lernprozessen ist phänomenal. Noch beeindruckender ist die untersuchte Tatsache, dass kortikale Karten, beziehungsweise unser Gehirn, sogar komplett umlernen können/kann. Spitzer (2002) nennt hierfür als Beispiel eine Untersuchung von Lundborg und Rosén (2001), in der bei 54 Patienten, deren handversorgende Nerven durchtrennt waren, die Entwicklung des Tastsinns beobachtet wurde. Dieses Beispiel ist im Bezug auf kortikale Karten deshalb gut gewählt, weil die durchtrennten Handnerven zwar langsam aber stetig mit einer Geschwindigkeit von einem Millimeter pro Tag nachwachsen, dies aber nicht garantiert, dass einzelne Nervenfasern in die gleiche Region aussprossen wie vor der Verletzung. Konkret bedeutet dies, dass eine Nervenfaser, welche vorher beispielsweise ein Tastkörperchen im Daumen versorgt hat, nach der Regeneration möglicherweise einen sensorischen Punkt des Mittelfingers versorgt. Da die betroffene Nervenfaser aber auf der Großhirnrinde immer noch mit der kortikalen Karte des Daumens verbunden ist, verspürt der Patient bei Reizung des Nervs keinen Druck auf dem Mittelfinger, sondern dem Daumen. Unser Gehirn ist nun aber so lernfähig, dass es aufgrund der neuen eingehenden Inputsignale umlernen kann, also langsam neue Repräsentationen entwickelt und so die betroffenen kortikalen Karten umstrukturiert.

Diese Fähigkeit der enormen Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit des Gehirns ist für uns im Bezug auf die Anpassung an unsere Umwelt und die ständig stattfindenden Lernprozesse von sehr hoher Bedeutung. Sie ist, wie schon öfter erwähnt, einerseits abhängig von individuellen Lebenserfahrungen, formt andererseits aber auch unsere Individualität. Kandel geht sogar so weit zu sagen, dass die Plastizität unserer Hirnarchitektur in Verbindung mit der jeweils einzigartigen genetischen Ausstattung jedes Menschen die biologische Basis der Individualität bildet.

Zeitlebens sind unsere kortikalen Karten einer hohen Veränderung unterworfen, dies aber nicht nur im Bezug auf die bisher beschriebene Vergrößerung der Karten. Denn einen Nachteil hat die hohe Plastizität des Cortex: Kortikale Karten, die über einen ausreichend langen Zeitraum nicht mit Input versorgt werden, verkleinern sich.

3.4. Gedächtnis

„Voraussetzung für alles Lernen ist das Gedächtnis und damit die Fähigkeit, Informationen über längere Zeiträume im Gehirn zu speichern.“ (Madeja, 2010, S. 111)

Der Begriff „Gedächtnis“ ist uns aus unserer Alltagssprache gut bekannt. Wir verbinden ihn mit der Fähigkeit, Informationen zu behalten und uns im richtigen Moment an sie erinnern zu können. Je länger wir ein bestimmtes Wissen behalten und je mehr wir es in einen Gesamtkontext einordnen können, desto eher bezeichnen wir die Information als etwas Gelerntes. Abgekoppelt von der sehr komplexen und wissenschaftlichen Ebene der Neurobiologie, die zwar auch hier die Grundlage bildet, kann Lernen also auch einfach als die längerfristige Abspeicherung von Informationen (Brand/Markowitsch, 2006) im Gehirn bezeichnet werden, und so als ein Teil des Gedächtnisses. Im Folgenden möchte ich näher auf das Konstrukt „Gedächtnis“ eingehen.

Schon aus unserem Alltag ist uns bekannt, dass Gedächtnis nicht gleich Gedächtnis ist. Manche Informationen haben wir, einmal gelesen oder gehört, kurz danach schon wieder vergessen. Andere bleiben uns auf wundersame Weise erhalten und auch Tage bis Jahre später können wir uns an sie erinnern. Um diese unterschiedlichen Formen des Behaltens und Erinnerns zu ordnen, unterteilen wir unser Gedächtnis laut Hermann in die Dimension Zeit, Inhalt und Prozess. So ergeben sich verschiedene Systeme:

Unser Kurzzeitgedächtnis ist, anders als oft vermutet, auf die zeitliche Dimension von Zwanzig bis Vierzig Sekunden begrenzt und auch die Aufnahmekapazität hält sich in Grenzen. So kann es maximal vier bis sieben Informationseinheiten gleichzeitig abspeichern. Informationen können also in unserem Kurzzeitgedächtnis kurzfristig gespeichert werden und werden dann entweder weiterverarbeitet und abgespeichert oder vergessen.

Sozusagen im Gegensatz hierzu steht das Langzeitgedächtnis. Dieses ist in Aufnahmekapazität und Dauer der Speicherung von Informationen unbegrenzt. Da unser Langzeitgedächtnis Informationen verschiedenster Hintergründe beinhaltet, wird es je nach Inhalt weiter strukturiert. Folgende Einteilung geht auf Endel Tulving zurück (Brand/Markowitsch, 2006):

Inhalte, die motorischen Fähigkeiten oder Routinehandlungen entsprechen, werden im sogenannten prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Anders ist es mit Inhalten, welche reines Wissen repräsentieren. Faktenwissen, dementsprechend das meiste Schulwissen, wird im auch als Wissenssystem bezeichneten semantischen Gedächtnis gespeichert, wohingegen Wissen um die eigene Biographie, also Erinnerungen aus dem Leben, in unserem episodischen Gedächtnis abgelegt werden. Tulving unterteilt außerdem zwei weitere Systeme, von denen ersteres für die Wiedererkennungsleistung zuvor bewusst wahrgenommener Inhalte zuständig ist (Primingsystem), wohingegen zweites, das perzeptuelle Gedächtnis, eine Wiedererkennungsleistung aufgrund eines vagen Vertrautheitsgefühls, also unbewusst wahrgenommener Informationen, ermöglicht.

Ein für Lernprozesse unabdingbares Gedächtnissystem ist das Arbeitsgedächtnis. Dieses ist gewissermaßen hierarchisch zwischen dem Kurz- und Langzeitgedächtnis angeordnet, da es im übertragenden Sinne den Transfer von Informationen ermöglicht. Inhalte, welche in das Kurzzeitgedächtnis eingehen und vom Arbeitsgedächtnis aktiv mit Aufmerksamkeit versehen und bereits vorhandenem Wissen verknüpft werden, gelangen in das Langzeitgedächtnis (Hermann, 2006). Auch das Arbeitsgedächtnis ist hinsichtlich seiner Kapazität beschränkt, welche sich aber durch Kategorisierung/ Zusammenfassung einzelner Elemente vergrößern lässt. Ein typisches Beispiel ist das Merken einzelner Ziffern (2, 1, 0, 5, 1, 9, 8, 6,), welches sich enorm steigern lässt, indem diese beispielsweise als Geburtsdatum zusammengefasst (21.05.1986) und so auf die drei Gedächtniseinheiten Tag, Monat, Jahr reduziert werden. Wir nutzen unser Arbeitsgedächtnis immer dann, wenn wir mit Inhalten hantieren, diese neu ordnen oder verknüpfen, also allgemein geistig etwas mit ihnen machen.

Informationen, die unser Gehirn erreichen, durchlaufen im optimalen Falle, aufbauend auf den verschiedenen Gedächtnissystemen, folgenden Informationsverarbeitungsprozess: Aufnahme und Speicherung (Enkodierung) der Information; Konsolidierung, also Festigung; Ablagerung und Abruf (Brand, Markowitsch, 2006). Der Prozess der Enkodierung ist in diesem Falle gleichzusetzen mit dem Bilden neuer oder Verknüpfen bereits vorhandener neuronaler Repräsentationen.

Welche Informationen von uns bereits kurz nach der Aufnahme wieder vergessen und welche Inhalte längerfristig abgelegt werden, ist ein Auswahlprozess unseres Gehirns. Als Kriterium gilt hier die Wichtigkeit einer Information, welche von der Häufigkeit, mit der sie uns begegnet, abhängt. „Die Wiederholung ist damit das Prinzip, mit dem wir Informationen dauerhaft oder zumindest lange Zeit im Gehirn speichern können.“ (Madeja, 2010, S. 115). Auf neuronaler Ebene können wir dies bereits erklären: Tritt ein bestimmtes Input-Muster regelmäßig und wiederholt auf, so werden die dafür genutzten synaptischen Verbindungen verstärkt und so stabilisiert.

Die oben beschriebene Einteilung unserer unterschiedlichen Gedächtnis-„Schubladen“ verlockt dazu, Lernen als das Weiterreichen von Informationen aus der untersten Schublade in die oberste zu verstehen. Hiervor warnt Spitzer aber eindringlich. Die einzelnen Gedächtnissysteme sind in unserem Gehirn nicht als einzelne „Kästen“ vorhanden- dies ist ein Konstrukt des Menschen, eine Abstraktion, um unser Gehirn besser begreifen und fassbar machen zu können.

Wenn Lernen aber nun nicht das Weiterreichen von Informationen aus unserem Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis in unser Langzeitgedächtnis ist, was dann?

Spitzer (2002) weist hier auf den wichtigen Aspekt der Verarbeitungstiefe hin. Informationen werden in unserem Gehirn in verschiedenen Arealen gleichzeitig verarbeitet, verändert, beurteilt. Je intensiver und vielfältiger wir uns mit einem Inhalt beschäftigen, desto höher ist die Verarbeitungstiefe. Und weiter gedacht: Je höher die Verarbeitungstiefe, desto eher hinterlassen die verarbeiteten Informationen Spuren in unserem Gehirn, das heißt, desto eher werden neue neuronale Repräsentationen erstellt oder alte miteinander verknüpft. Um das Behalten einer Information zu steigern, ist es also sinnvoll, sich einem zu lernenden Inhalt bewusst hinzuwenden und diesen „im Geiste zu bewegen“. Spitzer (2002) erklärt so auch das Phänomen von Eselsbrücken. Man durchdenkt den Inhalt nochmal in einem anderen Zusammenhang, verarbeitet ihn dadurch tiefer und merkt ihn sich besser.

Eine interessante Fragestellung, die uns zur einer von Kandel beschriebenen weiteren Art der Einteilung unseres Gedächtnisses führt ist folgende: Wenn wir doch, wie das Modell von Tulving vermittelt, alle Fähigkeiten und jegliches Wissen in unserem Gedächtnis gespeichert haben, wieso gibt es dann Dinge, die wir in unserem Alltag bewerkstelligen, ohne sie in Worte fassen zu können? Oder mit Spitzers Worten (2002) ausgedrückt: Wir können viel, wissen aber wenig. Als imposantes Beispiel nennt er die deutsche Sprache. Muttersprachler können sich mit Leichtigkeit grammatikalisch richtig ausdrücken, ohne auch nur eine einzige Grammatikregel in Worte fassen zu müssen/ können.

Kandel (1995) nimmt anhand dieser Grundlage eine andere Einteilung des Gedächtnisses vor. Er ordnet Lernvorgänge, die verbalisierbare Kenntnisse enthalten, dem expliziten Gedächtnis zu, Formen des wahrnehmenden und motorischen Lernens hingegen dem impliziten Gedächtnis. Letzteres benötigt keine bewusste Wahrnehmung oder Kognition, es funktioniert vielmehr reflexiv und automatisch. Fähigkeiten des impliziten Gedächtnisses, zu denen auch das Erlernen von Regeln und Vorgehensweisen gezählt wird, bilden sich langsam und nur durch viele Wiederholungen aus. Spitzer vergleicht diese Form des Gedächtnisses mit der von Tulving genannten Kategorie des prozeduralen Gedächtnisses. Er ist es auch, der sich näher mit der oben genannten Fragestellung auseinandersetzt: Wieso speichert unser Gehirn so viel Können ab, ohne es uns als Wissen zur Verfügung zu stellen? Um dies zu beantworten, müssen wir uns wieder auf die Ebene der Neurobiologie begeben. Wie wir wissen, und zwar explizit wissen, sind Informationen im Gehirn in Form von Synapsenstärken gespeichert. Dies führt dazu, dass wir auf einen Input mit einem bestimmten Output reagieren, und das ganz automatisch ohne Nachdenken. Wir müssen uns nicht erst bewusst machen, welche Regeln auf den eintreffenden Input anzuwenden sind. Die Maschinerie der Neuronen, die Ebene der Hirnfunktion, bleibt uns verborgen. Würden wir vor jeglichem Output erst bewusst abwägen, welche Reaktion die richtige wäre, so wäre die Spezies Mensch aufgrund der Langsamkeit des Gehirns vermutlich bereits ausgestorben. Es ist also durchaus sinnvoll, dass unser Gehirn den Großteil unserer Fähigkeiten als implizites Wissen abspeichert.

An der Ausbildung von Gedächtnisinhalten ist eine Vielzahl an Strukturen unseres Gehirns beteiligt. Dies zeigen Untersuchungen an Patienten, bei denen aufgrund von Operationen oder Läsionen Teile des Gehirns nicht mehr funktionstüchtig sind. Kandel (1995) führt als den am besten untersuchtesten Fall den Patienten Henry M. an, welchem aufgrund starker epileptischer Anfälle der mediale Teil beider Temporallappen operativ entfernt wurde. Folge der Operation war eine anterograde Amnesie. Henry M. konnte alles vor der Operation gebildete Wissen ohne Schwierigkeiten abrufen, war aber nicht mehr in der Lage neue Inhalte in das Langzeitgedächtnis einzuspeichern. Sein Kurzzeitgedächtnis war demgegenüber völlig intakt.

Kurz- und Langzeitgedächtnis scheinen also in unterschiedlichen Hirnregionen angeordnet zu sein. Genauso verhält es sich vermutlich auch mit impliziten und expliziten Gedächtnisinhalten (Kandel, 1995). Welche Bereiche unseres Gehirns konkret an dem Aufbau eines Gedächtnisses, beziehungsweise an Lernprozessen beteiligt sind, wird im nächsten Kapitel beschrieben.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955495954
ISBN (Paperback)
9783955490959
Dateigröße
544 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Nachahmung Neurobiologischer Prozess Gehirn Neurobiologie Nachahmen
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Titel: Lernen ist Gehirnsache: Was bewirkt Lernen auf neurobiologischer Ebene?
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