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Doing Innovation in Ostdeutschland: Theoretische Erläuterungen zur Entstehung von innovativen Praktiken in Phasen des Umbruchs

©2011 Bachelorarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

Das vorliegende Buch soll dazu beitragen, Hemmnisse und Chancen innovativer Praktiken in Ostdeutschland zu verstehen und im Rahmen eines „Doing Innovation“ zu denken, in der die praxistheoretische Verortung von Innovationen im Vordergrund steht. Die folgenden Fragen stehen dabei im Mittelpunkt der Betrachtung: Welche soziologischen Erklärungsansätze gibt es, um innovatives Handeln zu verstehen? Welche Hinweise zu Hemmnissen und Chancen kann uns die Entwicklung in Ostdeutschland der letzten 30 Jahre geben?
Zur Beantwortung dieser Leitfragen wird zunächst die praxistheoretische Verortung sozialer Innovationen hervorgehoben, die auch im Rahmen der Innovationsforschung gefordert wird (vgl. Howaldt/Schwarz 2010). Anschließend wird die Anwendung dieser neuen praxistheoretischen Perspektive für die Untersuchung von gesellschaftlichen Umbrüchen, beispielsweise die Ostdeutschlandforschung, zugänglich gemacht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung: Neuland denken

2. Innovation und Gesellschaft
2.1 Der kulturelle Wandel der Gesellschaft
2.2 Zum Begriff der Innovation
2.3 Zur Bedeutung der sozialen Innovation
2.4 Die innovative Entwicklung und Gestaltung des Raumes
2.5 Innovation und soziale Praktiken

3. Soziale Praktiken: Zwischen Routine und Innovation
3.1 Die praktische Wende
3.2 Zur Theorie sozialer Praktiken
3.3 Die (innovative) Logik der Praxis
3.4 Das innovative Kreativsubjekt

4. Innovation in Ostdeutschland
4.1 Das „Jammertal Ost“
4.2 Doppelter Umbruch in Ostdeutschland
4.3 Hemmnisse innovativer Praktiken in Ostdeutschland
4.4 Entstehung innovativer Praktiken am Beispiel der Energiewende in Ostdeutschland

5. Fazit: Doing Innovation

Literaturverzeichnis

1. Einführung: Neuland denken

„Neuland denken“ ist der Titel eines Dokumentarfilms, der mich im Laufe meines Studiums nachhaltig beeinflusst hat.[1] Die Filmemacher Holger Lauinger und Daniel Kunle gehen hier auf eine filmische Reise durch Ostdeutschland, setzen sich mit dem demographischen Wandel und Schrumpfungsprozessen ebenso wie mit der wirtschaftlichen Krise und gescheiterten Großprojekten auseinander, die nicht nur in Ostdeutschland vorhanden sind, sondern auch zunehmend zu globalen Phänomenen werden. Gleichzeitig hebt der Film aber die Chancen und Möglichkeiten im ostdeutschen Umbruch hervor und stellt dazu auch einige Pfade vor, in denen neue Praktiken versucht werden können, wie beispielsweise Zwischen- oder Umnutzungen von Brachflächen oder ehemaligen Fabrik- und Militärgebäude. Der Film fordert im Phasen des Umbruches auf, Neuland zu denken und „Doing Innovation“ zu wagen.

Das Thema dieser Arbeit setzt hier an und will dazu beitragen, Hemmnisse und Chancen innovativer Praktiken in Ostdeutschland zu verstehen und im Rahmen eines „Doing Innovation“ zu denken, in der die praxistheoretische Verortung von Innovationen im Vordergrund steht.

Dabei stehen für mich folgende Fragen im Vordergrund:

Welche soziologischen Erklärungsansätze gibt es um innovatives Handeln zu verstehen?

Welche Hinweise zu Hemmnissen und Chancen kann uns die Entwicklung in Ostdeutschland der letzten 30 Jahre geben?

Erstes Anliegen meiner Arbeit zur Beantwortung dieser Leitfragen ist es, die praxistheoretische Verortung sozialer Innovationen, die auch im Rahmen der Innovationsforschung gefordert wird (vgl. Howaldt/Schwarz 2010), hervorzuheben. Das zweite Anliegen ist, die Anwendung dieser neuen praxistheoretischen Perspektive für die Untersuchung von gesellschaftlichen Umbrüchen, beispielsweise die Ostdeutschlandforschung, zugänglich zu machen.

Dazu soll in einem ersten Schritt eine Begriffsbestimmung von „Innovation“ im Vordergrund stehen, wozu ich mich vor allem auf die wertvollen Analysen von (Zapf 1989) und Gillwald (2000) und auf Rammerts Konzept (2010) der Relevanz und Referenz (2010) beziehen möchte, wobei auch raumsoziologische Ansätze Beachtung finden. Dabei können nicht alle techniksoziologischen Diskurse ebenso wenig wie die aktuelle Innovationsforschung in ihrer ganzen Breite berücksichtigt werden. Daher werden beispielsweise Analysen von Netzwerken und Gemeinschaften (vgl. Callon/Law 1989, Kowol/Krohn 1995, Weyer 2000), von techno­logischen Systeme (vgl. Hughes 1987, Maynitz 1988) oder von Innovationsphasen und -zyklen (vgl. Tushman/Rosenkopf 1992) bewusst nicht berücksichtigt. Im Vordergrund stehen somit nicht Akteure im Rahmen der unterschiedlichen Entwicklungsphasen von Innovationen, sondern Subjekte in ihrem bestimmten kulturellen Kontext, der gegenwärtig aufzeigt, dass die Verinnerlichung von innovativen Praktiken konstituierend für die Gesellschaft ist.

In einem zweiten Schritt möchte ich eine Verortung von Innovationen in den sozialen Praktiken vornehmen und damit der soziologischen Innovationsforschung eine neue konzeptionelle Perspektive geben (vgl. Howaldt/Schwarz 2010). Dabei sollen vor allem die praxistheoretischen Ansätze von Schatzki (1996, 2002) und die Systematisierung durch Reckwitz (2003, 2004, 2006, 2008) herausgestellt werden, die die subjektive Perspektive sowie den jeweiligen konkreten Kontext beim Vollzug einer Praktik, berücksichtigen. Die vorgestellte Ansätze der Arbeit grenzen sich somit klar von anderen Zugängen ab, die entweder die Akteurperpektive (vgl. Giddens 1994) auf der einen Seite oder die Strukturen (vgl. Bourdieu 1992) auf der anderen Seite zu stark hervorheben. Dabei soll vor allem auch auf die Kritik durch Vertreter der Handlungstheorie (vgl. Bongaerts 2007; Schulz-Schäfer 2010) hingewiesen werden.

Vor allem steht dabei (innovative) Logik der Praxis, die neben dem kulturellem Kontext vor allem auch die subjektive Bedeutung einer Praktik hervorhebt, im Mittelpunkt, die somit vor allem kulturräumliche Bedingungen berücksichtigt. Im Kontext der jeweiligen Praxis spiegelt sich auch das spezifische (Gebrauchs-)Wissen der Subjekte wieder, dass eine wichtige Ressource zur Durchführung einer Praxis darstellt. Dabei können Praktiken immer sozio-kulturell eingeordnet werden, die dann auch die handelnden Akteure in unterschiedlich kulturell-historische Modelle des Subjekts einteilen können (vgl. Reckwitz 2006). Demnach ließe sich gegenwärtig von einem Subjektmodell des „Kreativsubjektes“ (Reckwitz 2006) oder des „Kreativunternehmers“ (Bröckling 2007) in einer „Innovationsgesellschaft“ (Rammert 2010) sprechen, dass innovative Praktiken so eingeprägt und routinisiert hat.

Am Beispiel Ostdeutschland möchte ich in einem dritten Schritt Einflussfaktoren unter­suchen, die sich auf den jeweiligen sozio-kulturellen Kontext auswirken und somit das „Doing Innovation“ von Subjekten hemmen oder fördern können. Der Kontext in Ost­deutschland wurde dabei vor allem durch die sozialistische Moderne, die Umbruchsphase nach 1989/90 sowie durch den aktuellen globalen Wandel geprägt (vgl. Vogel 1999, Land 2003, Kollmorgen 2005, Reißig 2009).

Abschließend wird ein Idealbild für innovative Praktiken am Beispiel der Energiewende skizziert, die gleichzeitig sozial, lokal und nachhaltig sind.

Die Arbeit beruht auf umfassende Studien der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Fachliteratur ebenso wie auf der Auswertung von empirischen Quellen. Eigene Studien und Praxisanalysen waren im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. In der soziologischen Auseinandersetzung wird die Mesoperspektive gesucht, die zwischen Handeln und Strukturen die sozialen Praktiken betrachten möchte. Damit werden jeweils ausschließende makro- und mikrosoziologischen Theorieangebote umgangen und der Blick weder auf Systeme noch nur auf Interaktionen zwischen Individuen gerichtet.

Das Beispiel Ostdeutschland dient dabei ausschließlich als Argumentationsfigur, an der einige der gewonnen Erkenntnisse gezeigten werden sollen. Eine unfassende Kontextanalyse Ost­deutschlands darf in dieser Arbeit daher nicht erwartet werden.

2. Innovation und Gesellschaft

2.1 Der kulturelle Wandel der Gesellschaft

Gesellschaften erwecken den Eindruck, sich beständig zu wandeln und zu verändern. An Beispielen wie dem Buchdruck, der Schifffahrt oder dem Fernsehen wird deutlich, dass uns der kulturelle Wandel oftmals an handfesten, technischen Dingen in Erinnerung bleibt oder dort materiell besonders spürbar wird. So steht im Zusammenhang mit dem Buchdruck auch die Reformation und der 30-jährige Krieg. Mit der Schifffahrt setzte der Handel und der kulturelle Austausch mit fernen Ländern ein. Mit dem Fernsehen wurde das Massenpublikum über die Landesgrenzen erreicht und sorgte für eine kulturelle Teilhabe unabhängig von Ort und Zeit, die auch im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in den 1990er Jahren stehen. Aktuell populär sind natürlich das Internet und die (technisch ver­mittelten) digitalen Interaktionen, die mit den sozialen Protesten (oder auch Web-Revolutionen) Anfang 2011 in Nordafrika in Verbindung stehen.[2]

Technische Erfindungen als technologischer Wandel und soziale Errungenschaften als sozialer Wandel stehen immer in einem engen Zusammenhang und wirken dabei wechsel­seitig aufeinander (vgl. Ogburn 1957: 138).[3] Wichtig ist, dass der Begriff „sozial“ in Form der sozialen Errungenschaft als spezifisch neue Praktik oder Interaktionsform verstanden wird. Sozial kann nämlich auch grundsätzlicher als jeder Wandel verstanden werden, der auf alle menschlichen technisch oder nicht-technisch vermittelten Handlungen basiert. Dieser Unterschied wird in der Literatur oft nicht deutlich genug gemacht, sodass der Gedanke Gefahr läuft, technikdeterministisch verstanden zu werden.

Aktuelle Beschreibungen, die den kulturellen Wandel der (westlichen) sozialen Ordnung begrifflich fassen wollen, konstruieren häufig Bindestrich-Gesellschaften oder Epochen-Label, angefangen von der Risiko-, Kontroll- und Erlebnisgesellschaft über die Multioptions- und Wissensgesellschaft bis hin zur Informations- oder Netzwerkgesellschaft (vgl. Bröckling 2007: 119). Diese Begriffe scheinen jedoch gerade Ausdruck einer komplexen und komplizierten Gesellschaftsentwicklung zu sein, die sich vielleicht rational gar nicht mehr auf ein Prinzip oder einen Begriff reduzieren lässt, sondern in ihrer begrifflichen Vielfalt vielmehr die kulturelle Verortung unterschiedlicher Gesellschaften abbildet.[4]

Ein neues Label sticht dennoch heraus: Die „Innovationsgesellschaft“ (Rammert 2010) ist Ausdruck einer Gesellschaft, in der Selbstrationalisierung und Kreativität wichtige Bestandteile sind, aber auch Ausdruck eines fühlbaren kulturellen Wandels, der die soziale Ordnung beständig in Frage stellt und verändert. Innovationen scheinen kulturelles Leitbild und Hilferuf zugleich zu sein und stehen dabei in dem praktischen Dilemma auf der einen Seite als abweichendes, regelverstoßendes Verhalten verdammt oder auf der anderen Seite als wertvolle Praktik eines Erfinders oder eines Genie glorifiziert zu werden. Meist geht das erste dem zweiten voraus.

Im folgenden Kapitel möchte ich daher als erstes auf die unterschiedlichen Begriffsdeutungen von Innovation eingehen, um im zweiten Schritt insbesondere die soziale Innovation als Fundierung aller Innovationen, gleichermaßen aber auch als eine Innovationsrichtung hervorheben, die erst jüngst mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Soziale Innovationen können dabei wichtige Impulse in der Raumentwicklung einbringen, wie abschließend in einem dritten Schritt erläutert werden soll.

2.2 Zum Begriff der Innovation

Dewey und Schumpeter haben, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven, schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Grundlagen für das Verständnis von Innovationen geschaffen. Dewey (2002: 127) zufolge gelten Innovationen auf der Handlungsebene als kreatives und experimentell erprobendes Handeln, das Möglichkeiten spielerisch ausprobiert und alternatives Handeln einschließt.

Schumpeter (1946: 134) sieht Innovation eher aus struktureller Sicht als „schöpferische Zerstörung“, die zum einen Wirtschaftsstrukturen oder Industriezweige zerstören, gleichzeitig aber auch neue ökonomische Strukturen sowie Märkte, Forschungsfelder, Berufe und Arbeitsplätze schaffen kann (zit. n. Rammert 2010: 21). Als aktuell deutlichstes Beispiel können hier die Erneuerbaren Energien gelten, welche die Atomkraftindustrie wortwörtlich „zerstören“.

Innovationen haben somit auf der Mikroebene ihre Wurzeln im eigenen, individuellen Handeln, dass allerdings auf der Makroebene die bestehende Ordnung zerstört und verändert.[5] Neuheiten oder Optimierungen bestehender Techniken oder Praktiken sein, die sowohl konstruktiv als auch destruktiv sind, da Neues geschaffen und gleichzeitig Bestehendes verdrängt wird (vgl. Braun-Thürmann 2005: 8).

Schumpeter betont dabei den zyklischen Charakter, auch Kondratieff-Zyklus (1926) genannt, der alle fünfzig Jahre neue Basisinnovationen ausmacht, die einen längeren technischen und sozialen Wandel nach sich ziehen:

(1) Die erste industrielle Revolution 1780 (Textil- und Eisenindustrie)
(2) die Industrielle Revolution ab 1848 (Eisenbahn/ Dampfschiffe)
(3) die Wissenschaftlich-technische Revolution ab 1890 sowie
(4) ab 1940 die wissenschaftlich-technische Revolution in Beschleunigung durch Kernenergie und Automation.
(5) 1980 bis 2030 könnte nun eine neue Phase abbilden, in der nachhaltige und erneuerbare Energien entwickelt werden, aber auch bio-chemische Technologien oder Computer- und Internettechniken im Vordergrund stehen (vgl. Rammert 2010: 23).

Innovationen stehen somit allgemein für Aufbruch und Erneuerung, immer in zeitlicher Abgrenzung zum Bestehenden oder Vergangenen, und sind im Zusammenhang mit anderen sozialen Phänomenen Ausdruck des sozialen und kulturellen Wandel (vgl. Rammert 2010: 29). Innovationen meinen dabei Variationen von Ideen, Praktiken, Prozessen, Objekten und Konstellationen, die aus kreativer Umdeutung und Umgestaltung oder aus zufälligen Abweichungen und Rekombinationen resultieren (vgl. Rammert 2010: 39). Wie können Innovationen nun erkannt und schließlich institutionalisiert werden?

Innovationen sind zum einen abhängig von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und Etablie­rung, wobei der spezifisch lokale Kontext eine entscheidende Rolle spielt. Innovationen müssen immer auch einen gewissen Bezug zu diesem Kontext und zu den dort bewährten und gewohnten Praktiken aufrecht erhalten um auch in der Region so eingeordnet und etabliert werden zu können, wie es von den Urheber_innen gedacht worden war (vgl. Howaldt/ Schwarz 2010: 93). Beispielsweise stoßen die neuen Techniken und Praktiken des Social Webs auf bestimmte Kulturen, Milieus oder Altersgruppen auf wenig Resonanz, da Erfahrungen mit diesem Medium und alltägliche Anknüpfungspunkte fehlen. Für Car-Sharing als Dienstleistung und gemeinsame Nutzung von Automobilen fehlt hingegen bisweilen die gesellschaftliche Akzeptanz, da das Auto zu sehr Ausdruck von Individualität und ein Statussymbol scheint.

So gibt es neben den vielleicht gewünschten Neuerungen auch ungeplante und zufällige Wirkungen, durch die Konflikte und Umbrüche hervorgerufen werden, an die sich erst angepasst werden muss (vgl. Gillwald 2000: 19; vgl. Howaldt/Schwarz 2010: 94). Ein Beispiel dafür sind die sozialen und ökonomischen Folgen der ökologischen Wende: So waren diese für Arbeitnehmer_innen, die in umweltbelastenden Branchen arbeiteten, meist negativ, da bei Durchsetzung ökologischer Standards diese Branchen Gefahr laufen nicht weiter zu existieren, sodass auch Arbeitsplätze verloren gehen können (vgl. Gillwald 2000: 20). Ebenso erfordert das gestiegene Umweltbewusstsein auch Veränderungen in den alltäglichen Routinen, beispielsweise im eingeschränktes Begehen von Naturschutzgebieten oder in der Mülltrennung, was Zeit zur Aushandlung benötigte.

Dabei spielen insbesondere symbolische und kommunikative Praktiken zur Überzeugung von Neuerungen eine wichtige Rolle, die helfen sollen, Innovationen als solche auch anzu­erkennen und als Verbesserung gegenüber dem Bestehenden zu erleben (vgl. Rammert 2010: 10; vgl. auch Braun-Thürmann 2005: 6). Entscheidend für die Etablierung neuer Produkte oder Dienstleistungen ist daher auch die symbolische Zuschreibung, es handele sich um eine innovative Praktik oder ein Produkt, sodass der Innovationsbegriff oftmals ausdrücklich im Ankündigungs- oder Werbetext vorkommt (vgl. Rammert 2010: 35).

Außerdem ist es für die Entwicklung von Neuerungen wichtig, Einfluss auf Märkte, auf politische Verhältnissen und auf die gesellschaftliche Infrastruktur und Öffentlichkeit aus­zuüben, die dann im Sinne der Urheber_innen die bestimmte Neuerung auch als durch­schlagende Innovation anerkennen. Das kann beispielsweise über Gelingen und Misslingen eines neuen Produkts auf dem Markt entscheiden (vgl. Rammert 1997: 398; auch Windeler/Schubert 2007: 217). Eine Innovation muss somit immer auch sozial mit konstruiert werden (vgl. Christmann 2011: 197).

In der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung dominierten bisher mehrheitlich Ansätze, die technologische Innovationen in den Vordergrund stellen, während soziale, kulturelle, ökonomische oder auch politische Innovationen kaum Beachtung erfuhren (vgl. Gillwald 2000; vgl. Howaldt Schwarz 2010; vgl. Rammert 2010; vgl. Braun-Thürmann/John 2010). Eine Ursache dafür kann sein, dass das Soziale immer als zu grundlegend aufgefasst wurde, da technische Innovationen insbesondere von gesellschaftlichen Leitbildern, Normen sowie bestehenden kulturellen Pfaden und sozialen Praktiken abhängig sind (vgl. Rammert 2007: 39, Weyer 2008: 152).

Zudem war das bisher dominierende Engagement in der Innovationsforschung in der Ökonomie und Industrie angesiedelt, wo naturgemäß das Hauptaugenmerk auf Produkt- und Prozessoptimierungen und somit auf technische und ökonomische Innovationen ausgerichtet war. Technische Innovationen scheinen in festen und anschaulichen Dingen und Artefakten gerade auch im Rahmen einer sehr materiellen und technisierten Gesellschaft sehr viel handfester und deutlich wahrnehmbarer zu sein, als es andere Spielarten von Innovationen, ob politisch, sozial oder ökonomisch, mit derem eher abstrakten Errungenschaften sind (vgl. Gillwald 2000: 42; vgl. Rammert 2010: 25).

Das wissenschaftliche Interesse scheint sich allerdings bedingt durch den globalen Wandel hin zu Gesellschaften, in denen sich zunehmend Dienstleistungen und neue, durch das Internet und die Naturerinnerung hervorgerufene soziale und ökologisch nachhaltige Praktiken etablieren, zu ändern und das Hauptaugenmerk zunehmend auf soziale Inno­vationen zu richten (vgl. Howaldt/Schwarz 2010: 92).

2.3 Zur Bedeutung der sozialen Innovation

Zapf gilt als ein wichtiger Wegbereiter für die Anerkennung der konkreten sozialen Inno­vationen (als soziale Errungenschaft) und versteht diese im Anschluss an Ogburns kulturellen Ansatz als

„neue Wege, Ziele zu erreichen [...], die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert sind, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden“. (Zapf 1989: 176)

Zapf betrachtet dabei soziale Innovationen als Voraussetzung, Begleitumstand oder als Folge von technischen Innovationen, deren menschliche Kreativität wichtigste Basis ist und schlägt eine Reihe unterschiedlicher Innovationstypen vor (vgl. ebd.: 175f., auch Rammert 2010: 27):

Dazu gehören Organisationsveränderungen und Marketingverfahren im ökonomischen sowohl neue Dienstleistungen und Muster der Bedürfnisbefriedigung im sozialen Bereich, aber auch neue Ideen und Konzepte im politischen Bereich. Konkrete Beispiele für soziale Errungenschaften sind das Frauenwahlrecht, die Umwelt- und Menschenrechtsbewegung sowie die Pflegeversicherung (vgl. Braun-Thürmann 2005: 19). Als politische Innovationen können beispielsweise die Parteien „Die Grünen“ oder etwas aktueller „Die Piratenpartei“ gelten, die durch neue politische Praktiken der Transparenz, Abstimmung und Macht­verteilung das politische bundesdeutsche System nachwirkend verändert haben und aktuell verändern.

Auch Gillwald (2000: 36) hat sich schon früh an einer breiteren Systematisierung beteiligt und hebt hervor, dass soziale Innovationen grundsätzlich Zeichen gesellschaftlichen Wandels sind, während technische Innovationen nur als dessen Mittel dienen. Innovationen sind ein Ergebnis von Verhaltensänderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, ob privat, ökonomisch oder staatlich, und somit klar sozial konstituiert (vgl. ebd.: 3). Soziale Inno­vationen bestimmen dabei Element und Teilprozesse des sozialen Wandels, der den technischen Innovationen vorausgeht, diese begleitet oder auch folgt (vgl. Howald/Schwarz 2010: 92).

Rammert (2010: 38) knüpft hier an, macht jedoch darüber hinaus einen für Innovationen allgemein grundlegenden Vorschlag. Rammert schlägt vor Innovation in Relation und Referenz einzuordnen. Nach Relationen können diese in (1) sozialen, (2) zeitlichen und (3) sachlichen Bezug gesetzt werden:

(1) Sozial betrachtet, kann zwischen normaler und abweichender Entwicklung unterschieden werden.
(2) Zeitlich gesehen, können Innovationen die Grenze zwischen dem Alten, was als vergangen und altmodisch gilt, und dem Neuen, was als zukünftig und modern gelten soll, bestimmen.
(3) Auf der sachlichen Ebene können Innovationen als schöpferische (bewusst regelbrechende) Abweichungen sowie auch als evolutionäre (unbewusste) Modifikationen, beispielsweise in Form von Fehlkopien oder zufällige Mutationen, eingeordnet werden.

Dabei kann die (soziale) Innovation neben ökonomischen, politischen oder künstlerischen, auch eine Referenz in sozialen Errungenschaften aufweisen, wie beispielsweise in neuen Dienstleistungen oder sozialer Teilhabepraktiken. Die Technische Innovation gilt hier nicht als Ziel, sondern viel mehr als Mittel der jeweiligen Referenz oder spezifischen Relation. Hierbei sind technische Innovationen nicht das Gegenteil von sozial, sondern vielmehr ein technisches Mittel von Innovationen, beispielsweise in Form der neuen sozialen Medien. (Vgl. Rammert 2010: 40; Howaldt/Schwarz 2010: 90; auch Rammert 2008: 229 f.)

Nachdem nun ein grundlegender Ansatz zur Klärung von (sozialen) Innovationen vorgestellt wurde, möchte ich auf einen weiteren wichtigen und oftmals in der Fachliteratur genannten Punkt eingehen, der Forderung der sozialen Gerechtigkeit und des Fortschritts.

Für Zapf sind Innovationen somit auch „neue materielle und soziale Technologien, die helfen, unsere Bedürfnisse besser zu befriedigen und unsere sozialen Probleme besser zu lösen“ (Zapf 1989: 174). Dabei wird von den Sozialwissenschaften die gleiche aktive Rolle in der Entwicklung sozial(gerecht)er Innovationen erwartet, die schon Innovationsnetzwerke in den Natur- und Ingenieurwissenschaften für technische Innovationen spielen (vgl. ebd.: 182). Soziale Innovationen sollen „analysiert und insbesondere (mit)gestaltet und hervorgebracht werden (Howaldt/Schwarz 2010: 91).

Auch für Rammert müssen sich soziale Innovationen auf das konkrete gesellschaftliche Leben beziehen und dabei soziale Forderungen nach sozialer Teilhabe, sozialer Integration und Gerechtigkeit sowie nach Solidarität, aber auch nach Individualität berücksichtigen (vgl. Rammert 2010: 43). Andere Autor_innen fordern in Verbindung mit technischen Innovationen auch ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit ein (vgl. Fichter 2010: 182; vgl. auch Schwarz/Birke/Beerheide 2010: 89).[6] Die nachhaltige ökonomische und ökolo­gische Entwicklung sowie die soziale Gestaltung lokaler und regionaler Räume steht im Zusammenhang mit der Etablierung von Innovationen, die gegenwärtig auch für Ost­deutschland eine wichtige Rolle spielt.

2.4 Die innovative Entwicklung und Gestaltung des Raumes

Räume werden, einer allgemeinen Definition nach Hamm (2003: 277) zufolge in sozialen Prozessen ausgehandelt und sind somit Grundvoraussetzung und Institution sozialer Praktiken, in denen diese sowohl symbolisch als auch physisch verortet sind.

Die räumliche Verortung ist abhängig von den spezifisch ökonomischen und politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen und somit auch vom kulturell-historischen Kontext.[7] Ostdeutschland ist durch die DDR-Vergangenheit und die Umbrüche der letzten Jahrzehnte strukturell geprägt. Einige Beispiele sind Massenarbeitslosigkeit, Abwanderungen, struktur­schwache Regionen, fehlende Identität und mangelndes Selbstbewusstsein der Menschen.

So sind technische, ökonomische und sozialen Innovationen gleichermaßen bedeutungsvoll und wichtige Impulse für die lokale Entwicklung, die sich auf das Wirtschaftswachstum, die soziale Teilhabe, das Image und die persönliche Identifikation der Akteure auswirken kann (vgl. Christmann 2011: 205).

Wichtig für die Entwicklung und Gestaltung ländlicher Räume ist, dass eine lokale Wert­schöpfung möglich wird, dass ökonomische Effekte vor Ort wirken und lokale Perspektiven und Zukunftschancen geschaffen werden. Soziale Teilhabe an Erneuerbaren Energien beispielsweise kann dabei als individuelle oder auch als gesellschaftliche Verwirklichungs­chance gefasst werden und kann sich in verschiedenen Formen, wie zum Beispiel in Ausbildungs- oder Arbeitsplätze, in nachhaltige Infrastrukturen, in Bürgerbeteiligungen an Windkrafträdern, aber auch in der Stabilität oder Senkung des Energiepreises, ausprägen.

Wichtig bei der Regionalentwicklung ist, dass Räume grundsätzlich unterschiedlich und vielschichtig eingeschätzt werden müssen und somit immer andere Anforderungen an die Gestaltung stellen und auch unterschiedliche Innovationsbedürfnisse haben. Daher ist die Einbindung lokaler Problemlagen, Wissensbestände und Praktiken, aber auch die Berück­sichtigung des spezifisch kulturellen Kontextes entscheidend.[8] Extern eingebrachte Innovationsideen können ohne Einbindung und Abstimmung mit lokalen Beteiligten Gefahr laufen, sich nicht in den räumlichen Kontext integrieren zu lassen und somit auch nicht akzeptiert zu werden (vgl. Howaldt/Schwarz 2010: 93). Ein Beispiel sind im ländlichen Raum gegenwärtige Widerstandsbewegungen gegen Windkraftparks. Sind hingegen die Kommunen und lokale Akteure sowohl ander Planung als auch and er Wertschöpfung beteiligt, besteht große Akzeptanz für die Windkraft.

Entscheidend für Innovationen in der Raumentwicklung ist daher auch die Rolle von Innovationsnetzwerken, die Beziehungen zu lokalen Akteure aufbauen können und somit helfen, Errungenschaften in den Regionen durchzusetzen.[9] Für die Durchsetzung Erneuerbare Energien in Ostdeutschland kann die interdisziplinär aufgestellte Akademie für nachhaltige Entwicklung aber auch der sozialwissenschaftlich organisierte Innovationsverbund Ost­deutschland gelten.[10]

Im Mittelpunkt von Innovationsnetzwerke steht dabei aber immer „Soziale Entrepreneure“, die auch auf Schumpeter (1946) zurück gehen. Der Unternehmer wird hier als Initiator, Macher und Visionär aufgefasst, der im Rahmen seiner ökonomischen Möglichkeiten immer auch die gesellschaftliche und räumliche Entwicklung im Blick hat und sich um nachhaltige und sozial gerechtere Problemlösungen bemüht (vgl. Bröckling 2007: 47; Christmann 2011: 193). Der Soziale Unternehmer gilt innerhalb von Pioniergruppen oder Innovations­netzwerken somit als symbolische Schlüsselfigur, da er sich den neuen Herausforderungen flexibel, rational und kreativ stellt. Der Entrepreneur bricht somit aus Routinen aus und versucht neue Wege, auf denen er sich durch sein persönliches Wissen, seine Willensstärke und Auffassungsgabe auszeichnet (vgl. Bröckling 2007: 115).

2.5 Innovation und soziale Praktiken

Die neuere soziologische Auseinandersetzung war für die Innovationsforschung sehr befruchtend, da das Soziale als grundlegende Voraussetzung, als Bestandteil oder Folge des Wandels gilt und soziale Innovationen nicht mehr als Gegensatz von technischen Innovationen verstanden werden. Innovationen, die immer schöpferisch und zerstörerisch zugleich sind, können damit als ökonomisch, ökologisch, politisch oder sozial eingeordnet werden, die dabei immer technisch oder auch nicht technisch sein können.

Soziale Innovationen sind hier soziale Errungenschaften, die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit einfordern und eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung und Gestaltung von Räumen haben. Für die Raumentwicklung und die Etab­lierung von Innovationen ist der lokale und kulturelle Kontext genauso mitentscheidend, wie das Vorhandensein von Innovationsnetzwerken und sozialen Unternehmern. Diese helfen Konflikte und Umbrüche zu vermeiden und Akzeptanz und Vertrauen zu erreichen.

Für Innovationen in Ostdeutschland sind sowohl die DDR-Vergangenheit, der spezifisch kulturelle Habitus, als auch das Vorhandensein kreativer Pionierbewegungen von Bedeutung. Gerade am Beispiel der Energiewende zeigt sich hier, wie in „abgehängten“ Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit innovative Praktiken versucht werden umzusetzen und den ländlichen Kommunen Perspektive und Identität zurückgeben werden kann.

Für die handlungstheoretische Fundierung möchte ich im nächsten Kapitel Bezüge zur Theorie sozialer Praktiken herstellen. Howaldt/Schwarz (2010: 103) fordern selbst eine grundlegende konzeptionelle Neuausrichtung der Innovationsforschung unter Berück­sichtigung der Praxistheorien. Dazu machen sie folgenden Zusammenhang deutlich:

„Eine soziale Innovation ist eine von bestimmten Akteuren bzw. Akteurs­konstellationen ausgehende intentionale, zielgerichtete Neukonfiguration sozia­ler Praktike n in bestimmten Handlungsfeldern bzw. sozialen Kontexten, mit dem Ziel, Probleme oder Bedürfnisse besser zu lösen bzw. zu befriedigen, als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist.“ (ebd.: 89)

Schon Ortmann hat mit Blick auf diesen Zusammenhang auf das „produktive Wechselspiel zwischen Akteuren und ihrem institutionellen Kontext“ (Ortmann 1995: 65, zit. nach Schwarz/ Birke/Beerheide 2010: 172) hingewiesen. Hier wird schon deutlich, dass Inno­vationen weder von Systemen und Strukturen durchgesetzt noch in den individuellen Akteuren allein angelegt sind, sondern im „Tätigwerden“ (Gillwald 2000: 41) und in der Ambivalenz von sozialen Praktiken liegen, die in den alltäglichen Routinen immer auch den Moment der Veränderung besitzen.

Rammert (2010: 35) hebt dabei hervor, dass Innovationen sich in veränderten Praktiken des Körpers oder in neuen Kombinationen technischer Objekte zeigen lassen. Das Neue bricht hier aus den unreflektierten Wiederholungen und Routinen durch Problemverschiebungen, Provokation oder Störungen hervor. Dadurch entstehen alternative Lebens- und Arbeits­formen sowie Lebensstile, die sich gegen bisherige Traditionen wenden (vgl. Rammert 2010: 33).

Damit sind die ersten Grundlagen für eine praxistheoretische Einordnung gelegt, die ich im nächsten Kapitel noch weiter ausführen möchte.

3. Soziale Praktiken: Zwischen Routine und Innovation

3.1 Die praktische Wende

Der „Practice Turn“ bezeichnet als ein neues sozialwissenschaftliches Paradigma die praktische Wende und wurde als Theorie von Schatzki/Knorr-Cetina/von Savigny in „The practice turn in contemporary theory“ (2001) ausgerufen.

Inhaltlich treten die sozialen Praktiken (altgriechisch: prâxis; Tat, Handlung) in der Praxistheorie zwischen Handeln und Struktur auf der Mesoebene in den Vordergrund, die neben dem Kontext, der kulturelles Wissen, Normen oder Werte ausdrückt, auch die subjektive Perspektive berücksichtigt. Die Vertreter der Praxistheorie wenden sich gegen teleologische Theorien, die den menschlichen Subjekten Bewusstsein, Rationalität und Intentionalität unterstellen und rekonstruieren genau diese Vorannahmen nicht universell, sondern im Rahmen eines spezifisch kulturell-historischen Kontextes (vgl. Hörning 2004: 30; vgl. Reckwitz 2004: 42, auch ders. 2008: 121). Dieser Kontext drückt sich in den alltäglichen praktischen Routinen ebenso aus wie in der Subjektivierung und der damit verbundenen Herstellung von Subjekten.

Für die Praxistheorie sind folgende zwei Vorläufer zu nennen, die neue handlungstheoretische Perspektiven aufschlugen und begannen weder in Strukturen noch in Handlungen allein, sondern beide zusammen zu denken: Bourdieu (1972) mit der „Theórie de la pratique“ und Giddens (1984) mit der „Theory of structuration“ (vgl. Reckwitz 2003: 283). Aber auch Garfinkels (1967) „Ethnomethodologie“ mit den dort hervorgehobenen Routinehandlungen, Foucaults (1978) „Gouvernementalitätskonzept“ verbunden mit den Technologien des Selbst und Latours (2001) Beiträge zur „Akteur-Netzwerk-Theorie“ haben großen Einfluss auf die Entwicklung der Theorie sozialer Praktiken.

Diese Systematisierung der Praxistheorie führte jedoch zu viel Kritik insbesondere durch Vertreter_innen der Handlungstheorie (vgl. Bongaerts 2007, Knoblauch 2008, Schulz-Schäfer 2010). So wirft Schulz-Schäfer (2010: 23) die Frage auf, wozu der Practice Turn notwendig sei und kritisiert die uneinheitlichen Begriffe, vor allem die inhaltlichen Vereinnahmungen an Bourdieus Habituskonzept sowie an Garfinkels Gedanken zu Routinehandlungen. Dies führte zu inhaltlichen Fehldeutungen und zur Umetekettierung handlungstheoretischer Begriffe und brächte keinen wirklichen Erkenntnisgewinn (vgl. Schulz-Schäfer 2010: 20f).[11]

Für die praxistheoretische Fundierung von Innovationen möchte ich vor allem die inhaltlichen Ansätze Schatzkis (1996, 2002), verbunden mit der deutschsprachigen Systematisierung durch Reckwitz (2003, 2004, 2008), anführen. Grund meiner theoretischen Fokussierung liegt darin, dass Schatzki die Theorie sozialer Praktiken als Paradigma sehr umfassend und klar vorgestellt hat, und weder die Strukturen, wie beispielsweise Bourdieu (1978) in seinem Habituskonzept, noch die Akteursperspektive, wie zum Beispiel Giddens (1992), zu sehr betont, sondern viel mehr in seinem Ansatz des praktischen und subjektiven Verstehens zwischen Kontext und Subjekt vermittelt und gleichzeitig das innovative Potenzial herausstellt.[12] Reckwitz Lesart ist dabei sehr kultur-historisch geprägt, in der er vor allem praktische Routinen betont. Um so wichtiger ist es, Schatzki zu bemühen, der den Praktiken einen subjektivspezifischen Sinn zuspricht, der auch eine Veränderung von Praktiken zulässt.

Dazu werde ich zuerst Kerngedanken der Praxistheorie, insbesondere zur Materialität und zur Herstellung von Wissen erläutern, bevor ich auf die Logik der Praktik eingehen möchte. Hier sollen die Wechselwirkungen zwischen innovativen Praktiken und den praktischen Routinen in den Mittelpunkt rücken. Abschließend möchte ich angesichts des gegenwärtigen „Inno­vationshype“ praxistheoretisch der Frage nachgehen, inwieweit sich Innovationen und die damit verbundenen Praktiken der Kreativität und Selbstrationalisierung im kulturhistorisch Kontext verorten lassen.

3.2 Zur Theorie sozialer Praktiken

Soziale Praktiken gelten in der Praxistheorie als die kleinste Einheit des Sozialen und setzen sich als ein „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“ (Schatzki 1996: 89), als ein Zusammenhang aus Tätigkeitsroutinen aus Gesagtem und Getanem, somit aus Denken, Träumen, Sprechen und Handeln, zusammen, die sich dabei jedoch erst im Tätigwerden ausdrücken (vgl. Reckwitz 2008: 113).

Für die praktische Analyse Ostdeutschlands ist es daher wichtig, die alltäglichen Praxis­routinen in den Blick zu nehmen, in denen sich der spezifisch ostdeutsche Kontext ausdrückt, der dem konkreten Raum eine kulturelle und historische Verortung ermöglicht. Dabei richtet sich der Blick auf die verkörperlichten Praktiken, bestimmte Verhaltensweisen, habituelle Gesten oder Mimiken, die Auskunft über das eigene Selbstverständnis und Selbstbewusstsein geben. Beispielsweise kann die soziale Alltagsgestaltung aus Fernsehen, Internetnutzung oder aber auch aus Unternehmungen mit Freunden in die Umgebung bestehen, die Art und Weise des praktischen Verhaltens kann selbstbewusst und extrovertiert, aber verschlossen und unsicher sein, Praktiken des Essens können gemeinsam mit der Familie oder auch individuell zwischendurch) stattfinden. Aber auch Praktiken der Anpassung und der Fügung, des inneren Rückzugs oder des Widerstands können helfen, den Kontext genauer zu bestimmen. Praktiken der Pflege öffentlicher Räume, wie die Bepflanzung von Grünanlagen aber auch Verschmutzung oder der Gebäudezustand, können Indikator darüber sein, wie sich die Beziehung zwischen den einzelnen Subjekten, ob diese sich als Gemeinschaft identifizieren oder vielmehr von einander abgrenzen, praktisch gestaltet.[13]

Wie hier deutlich wird, sind Praktiken immer körperlich verankert, in ähnlicher Weise beinhalten körperliche Praktiken aber auch den Umgang mit nicht-menschlichen Dingen (vgl. Schatzki 2002: 72). Alltägliche Kommunikationsroutinen und Interaktionsroutinen, ob verbal, mimisch, gestisch oder am Computer technisch vermittelt, werden von (menschlichen) Körpern ausgeführt, ebenso wie praktische Routinen des Gehens, Sitzens, Sprechens, des Fühlens, Abstrahierens oder Analysierens körperlich verinnerlicht sind. Für Schatzki (1996: 53) ist hier "Mind [...] the expressed of the body".[14] Körper werden im Vollzug von Praktiken zu Subjekten und sind Produkte kulturell-spezifischer Praktiken (vgl. Reckwitz 2008: 125).

Gleichermaßen sind Praktiken des Schreibens von der Entwicklung der Schrift über den Buchdruck bis hin zum computervermittelten Schreiben, wie schon im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, unabdingbar mit technischen Artefakten verbunden und haben Auswirkungen auf Praktiken des Abstrahierens und Analysierens sowie der Wissens­organisation und -archivierung. Nicht-menschliche Dinge oder Artefakte können aber auch persönliche Accessoires, Wohnungseinrichtungen, Haushaltstechniken, Straßen oder Gebäu­de, die eine räumliche Einordnung ermöglichen oder Kleidungsstücke sein. Diese sind Teil­elemente von sozialen Praktiken, deren Bedeutung erst im Vollzug der Praktik zum Tragen kommt, da sich nur in diesem Tätigwerden der mit den Praktiken verbundene Kontext offenbart:

[...]


[1] Weitere Informationen zum Film: http://www.neuland-denken.de

[2] Mit Beginn des Buchdrucks und den damit verbundenen Vervielfältigungsmöglichkeiten kamen vor allem Flugblätter als neue Medien auf, die schnell verbreitet und dann zu neuen emanzipativen Praktiken einiger Geistlichen gegen die Kirchenmacht genutzt wurden. Zu den Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Wandels zählt die Protestantische Reformation im 16. Jahrhundert ebenso wie der 30-jährige Krieg (1618 bis 1648). Auch wenn das Wissen anfänglich nur den Geistlichen, die lesen und schreiben konnten, vorbehalten war, sollte der Buchdruck in den nächsten Jahrhunderten entscheidend mithelfen, dass Zeitungswesen, Verlage und Berufe zu etablieren. Aber auch das Impressum, als Möglichkeit zur Verfolgung der Urheber unf die Zensur, wie im Wormser Edikt (1521), bestimmter Inhalte wurden eingeführt. In gleicher Weise wurden Lese- und Schreibpraktiken grundlegend verinnerlicht, ohne die eine sogenannte Wissensgesellschaft undenkbar gewesen wäre (vgl. Faulstich 2004: 26, vgl. auch Reckwitz 2008: 115).

[3] Oftmals wird Ogburn nur auf den „Cultural lag“ reduziert, der eine Lücke zwischen der sich schneller entwickelnden Technik und der trägen, hinterherhinkenden Kultur zieht (vgl. Ogburn 1957: 174, auch Rammert 2010: 27). Allerdings hat Ogburn selbst diesen Zusammenhang an anderer Stelle relativiert: [T]he fact that the technological change came first was simple observation of a temporal nature, and not inherent in the theory as such ... the independent variable could very well be an ideology or a nontechnological variable“ (Ogburn 1957: 170f.; vgl. Gillwald 2000: 37)

[4] Gleichermaßen sollte bewusst gemacht werden, dass diese Bindestrich-Gesellschaften Beobachtungen einer eurozentrischen Perspektive sind und nicht uneingeschränkt als universale, globale Zeitanalyse dienen können.

[5] Hier wird schon deutlich, dass weder das Handeln noch die Struktur allein zur Klärung von innovativen Phänomen beitragen, sondern beide Perspektiven gleichermaßen berücksichtigt werden müssen.

[6] Bei einer Innovation mit umweltentlastender Wirkung könnte allerdings auch von „Umweltinnovationen“ gesprochen werden, wobei der Zusammenhang zu sozialen Innovationen erst noch ausgeführt werden müsste (vgl. Jänicke 2008: 16).

[7] Martina Löw (2001) hat den wertvollen Weg zwischen Handlung und Struktur gefunden, der ein „relationales“ Raummodell vorschlägt, in dem der politische, ökonomische, geografische und soziale Kontext auf der einen Seite sowie die Subjekte auf der anderen Seite gleichermaßen aufeinander wirken und den Raum sozial (an)ordnen.

[8] Die Heterogenität von Räumen wird vor allem auch im Rahmen der Postkolonialen Theorie diskutiert, die hier die eurozentrische Konstruktion von geografischen, politischen und kulturellen Räumen kritisiert un deren Auswirkungen auf gegenwärtige Machtverhältnisse kritisiert. (vgl. Bhabha 2000)

[9] Innovationsnetzwerke bestehen aus kurzfristigen, sozialen Interaktionszusammenhängen, die zentrumslos sind und sich dabei aus wechselnden Akteuren zusammen setzen (vgl. Kowol/Krohn 1995: 89 f.; vgl. auch Rammert 1997, Braun-Thürmann 2005). Ihr vordergründiges Interesse ist, Unsicherheiten in der Etablierung von innovativen Praktiken abzubauen, Vertrauensbeziehungen und Akzeptanz gegenüber neuen Konsumenten aufzubauen, vor allem aber auch Ressourcen und Wissen auszutauschen.

[10] Zu den Webseiten: http://nachhaltigkeitsforum.de/4 und http://www.ostdeutschlandforschung.net/

[11] Routinepraktiken seien demnach immer schon als grundlegend für das menschliche Verhalten angesehen und schon in Webers „traditionalem Handeln“ (1922) angelegt worden, da dieses nicht ausschließlich durch das Bewusstsein, sondern vielmehr durch Gewohnheitshandeln gefasst werden kann (vgl. Bongaerts 2007: 252). Die Tätigkeiten im Vollzug seien zudem auch bei Schütz (1971) schon inhaltlich weiter entwickelt worden. Handlungen, die verkörperlicht oder mit Artefakten vollzogen werden, sind handlungstheoretisch schon durch Knoblauch/Heath (1999) ausgearbeitet. Ebenso weisen das Bourdieu‘sche Habitus-Konzept und die Habitualisiserung nach Berger/Luckmann große Gemeinsamkeiten auf (vgl. Bongaerts 2007: 251, 256).

[12] Das praktische Bewusstsein umfasst nach Giddens „all das, was Handelnde stillschweigend darüber wissen, wie in Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne dass sie in der Lage sein müssten, all dem einen direkten diskursiven Ausdruck zu verleihen“ (Giddens 1992: 36).

[13] Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (1933) von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel setzt hier, wenn auch nicht praxistheoretisch, mit dem Versuch der Analyse des gesamten soziografischen Kontextes an. Als Gegenstand dienen die Arbeitslosen der Stadt Marienthal. Dabei konnten psychologische, ökonomische aber auch soziale Praktiken im Rahmen von Arbeitslosigkeit analysiert werden, wie beispielsweise Praktiken des Gehens, in denen Gehdauer, Gehpausen sowie Gesprächszeiten aber auch die Haltung im Vordergrund standen.

[14] Alois Hahn (2010), auch wenn kein erklärter Praxistheoretiker, zeigt hervorragend, wie Körper und Bewusstsein zusammen wirken. Erwartungen prägen sich dabei durch Erfahrungen ins Körperbewusstsein ein, die Auswirkungen auf die Wahrnehmung beispielsweise von Ekel oder Angst hat. Dabei spielt gerade auch der kulturelle Kontext eine große Rolle, der unterschiedliche Erfahrungen entstehen lässt. Auch Emotionen stellt Hahn in Abhängigkeit von der Erfüllung von Erwartungen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955498924
ISBN (Paperback)
9783955493929
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Berlin
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
2,3
Schlagworte
Wissenssoziologie Praxistheorie Soziale Innovationen Handlungstheorie Soziale Praktik

Autor

Benjamin Köhler, Jahrgang 1984, hat seinen Bachelor of Arts in Soziologie technikwissenschaftlicher Richtung gemacht und beschäftigt sich vor allem mit gesellschaftlichen Umbrüchen und sozialen Praktiken im kulturhistorischen Vergleich. Zu seinen Schwerpunkten gehören im Rahmen der Wissens- und Regionalsoziologie die Osttdeutschlandforschung, die Praxistheorie sowie die Europäische Kulturgeschichte. Derzeit studiert Benjamin Köhler an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder und ist im Vorstand und in der Redaktionsleitung des soziologiemagazin e.V.
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Titel: Doing Innovation in Ostdeutschland: Theoretische Erläuterungen zur Entstehung von innovativen Praktiken in Phasen des Umbruchs
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