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Neue Möglichkeiten des Risikomanagements zur Sturzprophylaxe in der Pflege: Analyse und Bewertung von Stürzen im statistischen Vergleich sowie Praxistransfer des Instruments der Fehler-Möglichkeit-Einfluss-Analyse (FMEA)

©2012 Masterarbeit 74 Seiten

Zusammenfassung

Der Umgang mit Kennzahlen im Pflegeprozess stellt in der Pflege noch ein weitgehend ungenutztes Potential dar. Lange Zeit wurde im fachlichen Diskurs die Meinung vertreten, dass Pflege nicht messbar sei und dies auch einem ganzheitlichen Ansatz nicht entsprechen würde. Die zunehmende Komplexität der Aufgaben in der Pflege und Begleitaufgaben benötigen jedoch neue Instrumente zur Planung und Steuerung.
In der vorliegenden Studie wurden mit der Fehler-Möglichkeit-Einfluss-Analyse (FMEA) neue Möglichkeiten des Risikomanagements zur Sturzprophylaxe in der Pflege erprobt und ein Praxistransfer in die Pflege gewagt. Grundlagen für ein wirksames Qualitätsmanagementsystem mit integriertem Risikomanagement werden beschrieben.
In drei Einrichtungen der Altenhilfe wurden Stürze empirisch erhoben. Die umfangreichen beschriebenen Möglichkeiten der Sturzprävention machen deutlich, dass Stürze kein unvermeidbares Schicksal sind. Die detaillierte Sturzanalyse und Kennzahlenbewertung im statistischen Vergleich liefern anschaulich strukturelle und prozessorientierte Verbesserungspotentiale auf. Diese sind praxisnah beschrieben und bieten konkrete Ideen für die professionelle Umsetzung des Pflegeprozesses und den Anforderungen aus den nationalen Expertenstandards in der Pflege.
Die Leser profitieren von folgenden Vorlagen zur sofortigen Anwendung:
• statistisch auswertbares und am Pflegeprozess orientiertem Sturzereignisprotokoll
• in die Pflege adaptierte Fehler-Möglichkeits-Einfluss-Analyse (FMEA)
• Information und Beratung über die Gefährdungspotentiale der
Expertenstandards in der Pflege
Der Autor Jörg Kußmaul beschäftigt sich mit Kennzahlenmanagement in der Pflege und hat bereits die „Die modulare Pflegevisite©“ als ein Instrument zur internen und externen Qualitätssicherung entwickelt. Gemeinsam mit der in die Pflege adaptierte Fehler-Möglichkeits-Einfluss-Analyse (FMEA) steht nur ein weiteres Instrument zur Verfügung um Kennzahlen im Pflegeprozess abzubilden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


02.02. Praxisbezogene Zielsetzungen

Ziele der Arbeit

- Das Gefährdungspotential Sturz ist mit den Sturzrisikofaktoren sowie mit wirksamen Präventionsmaßnahmen wissenschaftlich begründet und im Kontext des Pflegeprozesses dargestellt.
- Die vergleichende statistische Auswertung von Sturzereignissen in drei Einrichtungen der Altenhilfe hat stattgefunden. Konkrete Verbesserungsmöglichkeiten zur Sturzprävention sind abgeleitet und beschrieben worden.
- Eine organisatorische Verbesserungsmaßnahme zur Sturzprävention ist ausführlich beschrieben worden.
- Die Entwicklung eines an die Pflegeprozessschritte angepassten Sturzereignisprotokolls hat stattgefunden.
- Der Praxistransfer der FMEA zur Sturzrisikobewertung mit Kennzahlen sowie Anwendungsempfehlungen für die Praxis sind erfolgt.

03. Qualitätsmanagement

03.01. Begrifflichkeiten und Definitionen

Es gibt in der Literatur und in der Umgangssprache viele Definitionen und Beschreibungen von Qualität. Die Begrifflichkeit Qualität stellt sich als ein komplexes Gebilde heraus. Qualität kann nämlich nach objektiven aber auch nach subjektiven Kriterien beschrieben werden. Menschen definieren Qualität ganz unterschiedlich und nehmen diese auch anders wahr (vgl. Schmidt, 2010, S. 9).

Folgende Definitionen stellen eine Auswahl dar:

Diese Definition ist dem transzendenten Blickwinkel zuzuordnen: „Qualität liegt im Auge des Betrachters und weniger im Produkt, individuelle Konsumenten haben unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse, wobei diejenigen Güter, welche diese Bedürfnisse am besten befriedigen, als qualitativ besonders hochstehend betrachtet werden“ (Garvin, 1984, S. 27).

Diese Definition wurde aus einem betriebswirtschaftlichen Blickwinkel getroffen: „Qualität wird durch Kosten und Preise ausgedrückt, ein Qualitätsprodukt erfüllt eine bestimmte Leistung zu einem akzeptablen Preis bzw. steht in Überein­stimmung mit Spezifikationen zu akzeptablen Preisen“ (Garvin, 1984, S. 25).

In der DIN EN ISO 9000:2000 wird Qualität definiert als „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt“ (DIN ISO 9000:2005).

03.02. Annährung an den Qualitätsbegriff

Seit Menschen untereinander Handel betreiben, wird die Handelsware bei der Annahme auf deren Beschaffenheit (Qualität) geprüft. Bei einem Überangebot einer Warengruppe konnte in der Regel der Käufer Waren der besten Qualität für einen vergleichsweise niedrigen Preis erwerben. Handelsvereinigungen, wie zum Beispiel der weitgehend an der Ostsee ansässige Handelsverbund freier Städte Hanse, legten bereits im späten Mittelalter Kriterien für die Qualität fest. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Qualitätsprüfung durch wissenschaftliche Methoden spezifiziert. Qualität war bis dahin allerdings immer ein materielles Kriterium.

Erst in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann die Wissen­schaft damit, auch die Qualität des Managements zu definieren. Diese Entwick­lung galt als Grundlage für die heute gängigen Qualitätsmanagementsysteme (vgl. Schmidt, 2010, S. 8–9, 24–25).

03.03. Aufbau und Bestandteile eines Qualitätsmanagementsystems

In der DIN EN ISO 9000:2000 wird das Qualitätsmanagementsystem definiert als „aufeinander abgestimmte Tätigkeiten zum Leiten und Lenken einer Organisation bezüglich der Qualität“ (DIN EN ISO 9000:2000).

Das bedeutet, dass einzelne Elemente eines Qualitätsmanagementsystems wie zum Beispiel das Fehler-, Beschwerde- und Verbesserungsmanagement an sich noch kein Qualitätsmanagementsystem darstellen. Erst durch die Verknüpfung der Elemente entsteht ein System. Deutlich wird diese Verknüpfung, wenn man zum Beispiel die Beschwerden analysiert und dadurch eine Fehlerursachen­beschreibung durchführt. Dadurch lassen sich Fehlerkorrektur, Vorbeuge- oder Verbesserungsmaßnahmen planen und durchführen. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen und des Qualitätsmanagementsystems wird in der Management­bewertung beurteilt. Die oberste Leitung hält mit dem Einsatz von Ressourcen das System aufrecht und entwickelt es weiter.

Das weltweit verbreitetste Managementsystem basiert auf der Normenreihe DIN EN ISO 9000:2000 und stellt mit der DIN EN ISO 9001:2008 einen Leitfaden für den Aufbau mit folgenden Elementen dar:

1 bis 3. Einleitung, Anwendungsbereich, Normative Verweisungen, Begriffe
4. Qualitätsmanagementsystem
5. Verantwortung der Leitung
6. Management von Ressourcen
7. Produkt- und Dienstleistungsrealisierung
8. Analyse, Messung und Verbesserung

(vgl. Schmidt, 2010, S. 39).

Der Umfang eines Qualitätsmanagementsystems hängt maßgeblich von folgenden Faktoren der Organisation ab:

- Größe und Umfang,
- struktureller Aufbau (zentral/dezentral),
- Komplexität der Produktion bzw. Dienstleistungsangebot,
- Kundenanforderungen,
- gesetzliche Anforderungen,
- Reifegrad der Organisation

(vgl. Kamiske, Brauer, 2011, S. 203).

03.04. Kundenorientierung und -zufriedenheit

In der DIN EN ISO 9000:2000 wurden acht Grundsätze des Qualitäts­managements aufgestellt, die von der obersten Leitung einer Einrichtung genutzt werden können, um die Leistungsfähigkeit der Organisation zu verbessern. Dazu gehören die Kundenorientierung, die Führung, die Einbeziehung der Personen, der prozessorientierte Ansatz, der systematische Managementansatz, die stän­dige Verbesserung, der sachbezogene Ansatz für Entscheidungsfindung sowie die Lieferantenbeziehung zum gegenseitigen Nutzen (vgl. Kiefer, Rudert, 2006, S. 18).

In der DIN EN ISO 9000:2000 wird die Kundenzufriedenheit definiert mit der „Wahrnehmung des Kunden zu dem Grad, in dem die Anforderungen des Kunden erfüllt worden sind“ (DIN EN ISO 9000:2000).

Organisationen hängen von ihren Kunden ab und sollten daher gegenwärtige und zukünftige Erfordernisse der Kunden verstehen, deren Anforderungen erfüllen und danach streben, deren Erwartungen zu übertreffen. Fehler, Beschwerden und Pannen werden im Qualitätsmanagement als Chancen zur Verbesserung und als kostenlose Beratung gesehen (vgl. Kiefer, Rudert, 2006, S. 18).

Die Kundenorientierung im Gesundheitswesen bezieht sich nicht nur auf die direkt gestellten Anforderungen eines Kunden. Es zählen ebenfalls die Anforderungen dazu, welche der Kunde als medizinischer und pflegerischer Laie nicht kommuni­zieren kann. Die Anforderung zur Sturzvermeidung oder Sturzprävention könnte nur von einem informierten Kunden konkret gestellt werden.

Selbst wenn ein Kunde diese Anforderung nicht aktiv stellt, muss bei einer vorliegenden Sturzgefährdung trotzdem aus menschlichen, gesetzlichen und pflegewissenschaftlichen Gründen eine Sturzprophylaxe angeboten werden.

04. Risikomanagement

04.01. Begrifflichkeiten und Definitionen

Die Norm ONR 49000:2008 mit den Begriffen und Grundlagen zum Risiko­management des österreichischen Normungsinstituts ON beschreibt ein Risiko mit der Auswirkung von Unsicherheit auf Ziele, ausgedrückt in der Kombination von Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkung (vgl. ONR 49000:2008).

Die Norm DIN ISO 31000 beschreibt ein Risikomanagementsystem in den Prozessschritten Analyse, Bewertung, Festlegung von Maßnahmen und Steuerung/Controlling. Die Risiken werden einzeln bewertet und in einer Gesamtübersicht dargestellt. Das Risikomanagementsystem lässt sich in bestehende Qualitätsmanagementsysteme wie zum Beispiel die DIN EN ISO 9001:2008 einbinden (vgl. ISO 31000:2009).

04.02. Sinnhaftigkeit und Ziele des Risikomanagements

Organisationen sind in der Wertschöpfungskette Risiken unterschiedlichster Art ausgesetzt. Deshalb gilt es, Risiken zu erkennen, zu bewerten und zu bewältigen. Daraus können strategische Entscheidungen abgeleitet werden, um Gefahren abzuwehren und sich im Wettbewerb Vorteile zu verschaffen. Der Gesetzgeber schreibt Unternehmen zudem Maßnahmen zum Risikomanagement vor.

Ein Risikomanagementsystem ermöglicht die rechtzeitige Erkennung wesentlicher Risikopotentiale und erhöht dadurch den Handlungsspielraum der Entscheidungsträger in Organisationen. Risikomanagement umfasst alle organisatorischen Regelungen, Instrumente und Maßnahmen zur Erkennung und zum Umgang mit Risikopotentialen. Risikomanagement kann somit nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist Bestandteil des Qualitätsmanagementsystems und des strategischen und operativen Controllings (vgl. Brühwiler, 2009, S. 24).

04.03. Prozess des Risikomanagements

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Prozess des Risikomanagements (vgl. Pfeifer, 2008, S. 96)

04.04. Klassifizierung von Fehlern

In der DIN EN ISO 9000:2000 wird ein Fehler als „die Nichterfüllung einer festgelegten Anforderung“ definiert (DIN EN ISO 9000:2000). Deming hat bereits 1986 festgestellt, dass nur 3 bis 4 % der Fehler auf persönliches Versagen und 96 bis 97 % auf organisatorischen und systematischen Fehlern beruhen (vgl. Schmidt, 2010, S. 35).

Um einen Fehler im Rahmen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses analysieren und bewerten zu können, muss dieser vorab dokumentiert werden. Je besser die Dokumentation von Fehlern durchgeführt wird, umso effizienter gelingt der Prozess der kontinuierlichen Verbesserung.

Fehler können wie folgt unterschieden werden:

- systemisch auftretender oder einmalig aufgetretener Fehler und
- unkritisch oder kritischer Fehler

(vgl. Piechotta, 2008, S. 11–12).

04.05. Umgang mit Fehlern in einer konstruktiven Fehlerkultur

Wie eine Organisation grundsätzlich mit Fehlern umgeht, bestimmen das Klima und die Kultur der Einrichtung. Ist es erlaubt, Fehler zu machen? Sind alle Fehler gleich kritisch? Ist man schuldig, wenn man einen Fehler gemacht hat? Wird aus Angst vor Bestrafung ein Fehler lieber vertuscht oder kann ein Fehler eingestanden werden?

Es gilt in der Organisation eine Fehlerkultur zu schaffen, die ein vertrauensvolles Verhältnis ermöglicht. Jeder Fehler ist eine Chance zur kontinuierlichen Verbesse­rung. Das Qualitätsmanagementsystem hilft, Fehler sachlich aufzunehmen, zu bewerten und die Ursachen zu ergründen, um geeignete Korrekturmaßnahmen einzuleiten.

04.06. Geschichte der Fehler-Möglichkeit-Einfluss-Analyse (FMEA)

In den 1960er Jahren hat die Raumfahrt mit dem Apollo-Projekt eine besondere Bedeutung in den USA eingenommen. Um bei diesem komplexen und komplizierten Projekt die hochgesteckten Ziele nicht durch Fehler zu gefährden, wurde die FMEA als Instrument zur Fehlerprävention von der NASA entwickelt. In den 1970er Jahren kam die FMEA in den Bereichen Medizin, Kerntechnik und Militär zum Einsatz. Die Marine der USA (NAVY) standardisierte das Instrument. Ab 1977 wurde die FMEA in der Automobilindustrie erfolgreich eingesetzt und ist heute noch ein Bestandteil des Risikomanagements. Die Grundlage bildet die Norm VDA 6 (vgl. DGQ, 2008, S. 9–10).

04.07. Definition der FMEA

Die FMEA ist ein systematisches Verfahren. Es dient dazu, gezielt mögliche Fehler zu bewerten. Das Instrument bedient sich dabei den Kategorien:

- Bedeutung aus Kundensicht,
- Auftretungswahrscheinlichkeit sowie
- die Entdeckungswahrscheinlichkeit des Fehlers bezogen auf einen Ursache

(vgl. Theden, Colsman, 2010, S. 86–89).

04.08. Vorstellung und Einsatzgebiete der FMEA

Die Überbegriffe System-, Produkt- und Prozess-FMEA decken die verschiedenen Arten des Instruments grundsätzlich ab. In der Vorgehensweise sind die Arten der FMEA überwiegend identisch (vgl. DGQ, 2008, S. 29). Der noch im weiteren Verlauf dargestellte Adaptionsansatz der FMEA in die Pflege wird zum Typ Prozess-FMEA gehören.

In der FMEA Vorlage (siehe Anlage 4: Fehler-Möglichkeits-Einfluss-Analyse (FMEA)) werden im Kopfteil die Stammdaten eingefügt. Die Fehlerrisiken werden darunter nummerisch und fortlaufend aufgeführt. Im nächsten Feld wird die Fehler­auswirkung und im dritten Feld die Fehlerursache beschrieben. Als nächstes sind bestehende Vorbeugemaßnahmen und Prüfungsmaßnahmen zu dokumentieren.

Zur Errechnung der Risikoprioritätszahl wird in Kategorien die Bewertungs­klassifikation von 1 bis 10 dargestellt. Die Multiplikation der einzelnen Kategorien ergibt die Risikoprioritätszahl. Das Ergebnis liegt im Bereich von 1 bis maximal 1000 (vgl. Theden, Colsman, 2010, S. 86–89).

Die Bedeutung von Fehlern wird im folgenden Bewertungsschema dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Bewertungsschema für die Bedeutung von Fehlern (vgl. Theden, Colsman, 2010, S. 86)

Der Maßstab für die Auftretungswahrscheinlichkeit von Fehlern wird im folgenden Bewertungsschema dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2: Bewertungsschema für die Auftretungswahrscheinlichkeit von Fehlern (vgl. Theden, Colsman, 2010, S. 87)

Der Maßstab für die Entdeckungswahrscheinlichkeit eines Fehlers wird im folgenden Bewertungsschema dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 3: Bewertungsschema für die Entdeckungswahrscheinlichkeit eines Fehlers (vgl. Theden, Colsman, 2010, S. 88)

Nach der FMEA ist eine Risikoprioritätszahl von mehr als 100 nicht tolerierbar. Es müssen dann gezielt Maßnahmen geplant werden, um das Fehlerrisiko zu minimieren. Diese können sich auf die Vermeidung eines Fehler, die Reduzierung der Bedeutung oder auf die höhere Entdeckungswahrscheinlichkeit beziehen (vgl. Theden, Colsman, 2010, S. 86–89).

Die abgeleiteten Maßnahmen werden mit einem fixen Zieltermin und den personellen Verantwortlichkeiten für die Umsetzung definiert. Aus diesen Maßnahmen lässt sich nun eine erneute Risikobewertung durchführen. Der Nutzen der eingeleiteten Maßnahmen wird deutlich und kann exakt der neuen Auftretungswahrscheinlichkeit, der veränderten Bedeutung des Fehlers oder der erhöhten Entdeckungswahrscheinlichkeit zugerechnet werden.

Dieser FMEA-Kreislauf kann theoretisch so häufig durchgeführt werden, bis eine akzeptable Sicherheitsstufe bzw. ein tolerierbares Risiko erreicht worden ist.

05. Sturzrisiko – Die Gefahr aus dem Leben zu stürzen

Von 100000 verstorbenen Menschen in Deutschland wird bei 7,8 % der Männer und bei 9,9 % der Frauen der Sturz als Todesursache angegeben (vgl. Bundes­ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, 2002).

05.01. Epidemiologische Fallzahlen

„Stürze und sturzbedingte Verletzungen zählen zu den häufigsten Ereignissen, welche die Selbständigkeit zu Hause lebender älterer Menschen beinträchtigen, Ängste auslösen, Alltagskompetenz einschränken, Pflegebedürftigkeit und Heim­einweisungen bewirken“ (CAREkonkret, 2010). In über der Hälfte der Fälle verliert der gestürzte Mensch seine Selbständigkeit und ist auf pflegerische Unterstützung angewiesen (vgl. DNQP, 2006, S. 46–47).

Die Gefahr zu stürzen nimmt im Alter exponentiell zu. Die zentralen Körper­funktionen wie Muskelkraft, Koordination, Gleichgewichts- und Sinneswahr­nehmungen nehmen ab und führen zu Veränderungen im Gangbild. So stürzt jeder zweite Mensch zwischen 70 und 75 Lebensjahren etwa einmal im Jahr. Menschen über 90 stürzen im Mittel sogar zweimal pro Jahr (Schädler, Knuchel, 2004, S. 30).

Die Klinikbehandlung eines Oberschenkelhalsbruches kostet laut AOK bis zu 11000 Euro (vgl. CAREkonkret, 2011). „Allein die Zahl der sturzbedingten Hüftfrakturen stieg von 1994 bis 2004 um 20000 auf 120000 pro Jahr. Aktuell schätzen Experten die jährlichen Kosten durch Stürze Älterer, deren Rehabilitation und Pflege auf mehr als zwei Milliarden Euro“ (CAREkonkret, 2010, S. 5).

05.02. Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege

Der Expertenstandard bildet eine wissenschaftliche Grundlage aus einem breiten Fundus an Ergebnissen aus nationalen und internationalen Studien. Die massiven psychischen und physischen Auswirkungen nach einem Sturzereignis für einen Menschen begründen die Wichtigkeit der Thematik. Schwerpunkte liegen auf der Epidemiologie, der Sturzrisikoeinschätzung mit den intrinsischen und extrinsischen Sturzrisikofaktoren sowie der Interventionsmöglichkeiten zur Sturzprävention.

Durch die Pflegewissenschaftler und Experten wird konstatiert wird, dass ein Sturz immer ein multifaktorielles Ereignis darstellt. Damit beinhaltet die Intervention in der Regel ebenfalls komplexe Maßnahmen zur Sturzprävention. Ein Sturzereignis wird dabei mit den Merkmalen „unabsichtlich/ungeplant“ sowie „von einer höheren zu einer tieferen Ebene“ einer Bewegung definiert. Der Faktor Zeit sowie der daraus folgende Verletzungsgrad haben keine Auswirkung auf die Definition. Das unbeabsichtigte und langsame Herausrutschen aus dem Rollstuhl stellt nach dieser Definition einen Sturz dar, obwohl der Zeitrahmen sich über Minuten hinziehen kann. Der Freiheitsentzug stellt dabei keine sinnvolle Sturzpräventions­maßnahme dar, denn diese Bewegungseinschränkung fördert sogar die Sturzgefährdung. Aus diesem Grund sind die Bewegung, der Aufbau von Muskulatur sowie die Übung von Gleichgewicht zu fördern. Der Expertenstandard wendet sich an die Einrichtungen, an die Pflegefachkräfte und Pflegehilfskräfte sowie an am Pflegeprozess Beteiligte z. B. die Reinigungskräfte. Die berufs­übergreifende Zusammenarbeit zum Wohle des sturzgefährdeten Menschen wird ausdrücklich betont (vgl. DNQP, 2006, S. 23–24).

Dr. Becker stellt in seiner Studie mit 1000 teilgenommenen Pflegeeinrichtungen in Bayern zum Projekt „Sturzprävention in der Pflege“ der AOK Bayern mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, dem Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart sowie den Universitäten Ulm und Leipzig fest, dass ca. 20 % der Oberschenkelfrakturen nach einem Sturz verhinderbar wären. Für Deutschland würde dies bedeuten, dass drei- bis viertausend der Frakturen verhindert werden könnten. Dies würde wiederum ein Einsparpotential von 50 bis 55 Millionen Euro für die gesetzlichen Krankenkassen bewirken (vgl. Becker, 2010, S. 14).

Die Umsetzung des Expertenstandards ist in den Einrichtungen immer noch sehr unterschiedlich. Dies stellten die Pflegewissenschaftler Buttler und Klewer im Jahr 2010 in einer Erhebung in zwei Altenheimen fest. Dabei bemerkten sie bereits Fehler in der Dokumentation. Die vorgehaltenen Überleitungsbögen enthielten keine Angaben zum Sturzrisiko. Sie überprüften bei 140 Bewohnerinnen und Bewohner, ob eine Sturzrisikoeinschätzung erfolgt war. Bei 85,7 % lag eine Risikobewertung vor.

In den folgenden sechs Monaten stürzten tatsächlich 34 Bewohnerinnen und Bewohner. Bei 62,5 % wurden nach dem Sturz Maßnahmen zur Sturzprävention geplant. In 75 von 85 Maßnahmenplänen zur Sturzprävention wurde der Einsatz von Hilfsmitteln zum Gehen und zur Veränderung der Umgebung aufgeführt. Jedoch kamen die Hilfsmittel in diesen Einrichtungen nicht zum Einsatz, da sie nicht vorhanden waren. Eine erneute Risikoeinschätzung nach einem Sturz wurde bei niemandem durchgeführt. Eine Beratung erfolgte nachweislich nur bei 31,7 % der Fälle (vgl. Buttler, Klewer, 2010, S. 31).

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783955496104
ISBN (Paperback)
9783955491109
Dateigröße
5.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Witten/Herdecke
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Pflegemanagement Wohngruppe Pflegeprozess Sturzstatistik Expertenstandard
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Jörg Kußmaul, M.A., ist freiberuflicher Berater für Pflege- und Qualitätsmanagement. Er arbeitet als Lehrbeauftragter der Hamburger Fern-Hochschule sowie als Dozent bei Akademien und Verbänden. Des Weiteren ist er Fachbuchautor, Diplom-Pflegewirt (FH) und TQM-Auditor (zertifiziert).
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