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Soziale Online-Netzwerke als Medium der Ermächtigung am Beispiel Facebook: Online social networks as an empowering medium using the example of Facebook

©2012 Bachelorarbeit 61 Seiten

Zusammenfassung

Immer wieder erregen groß angelegte Facebook-Aktionen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Das Nutzen der Seite als öffentliche Plattform zur Mobilmachung gegen Menschenrechtsverletzungen („Kony2012“) oder den Protesten von Tierschützern gegen die Europameisterschaft 2012 in der Ukraine und Polen - verschiedene Interessengruppen versuchen mithilfe des sozialen Netzwerkes im Internet, gesellschaftliche und politische Veränderungen herbeizuführen.
Diese Studie beleuchtet am Beispiel der Facebook-Gruppe „One Million Voices Against FARC“ wie das soziale Netzwerk Menschen ermächtigen kann, sich für ihre Interessen einzusetzen und welchen Nutzen die Soziale Arbeit aus den Erkenntnissen ziehen kann.
Es wird die These aufgestellt, dass Facebook einen öffentlichen Raum darstellt, in dem Politik stattfindet und es seinen Usern ermöglicht, sich im öffentlichen Raum zusammenzuschließen, um gemeinsame Gedanken auszutauschen und gemeinsam zu handeln. Darauf aufbauend kann Facebook der Sozialen Arbeit eine Plattform für ihren politischen Auftrag bieten: auf Ungerechtigkeiten, Wertverletzungen, verhinderte Bedürfnisbefriedigung hinzuweisen und für ein selbstbestimmtes Leben zu kämpfen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3 Ziel der vorliegenden Arbeit

Der oben beschriebene Fall der Facebook-Gruppe „One Million Voices Against FARC“ zeigt, wie schnell und einfach es möglich sein kann, viele Menschen zusammen zu schließen und gemeinsam zu handeln. Das gemeinsame Interesse der Menschen waren die Wut und der Missmut gegenüber dem Auftreten und den Handlungsweisen der FARC sowie die Machtlosigkeit der Regierung gegenüber den Rebellen. Das Ziel des Gruppengründers Morales war die Gründung einer engagierte Gemeinschaft, die sich gemeinsam gegen die FARC einsetzt. Facebook war ihr Medium, mittels dem sie sich organisierten, gemeinsame Aktionen durchführten und Druck auf die FARC und die kolumbianische Regierung ausübten. Facebook ermächtigte die Menschen, sich für ihre Interessen einzusetzen.

In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie die Ereignisse in Kolumbien erklärt werden können und welchen Nutzen die Soziale Arbeit aus den Erkenntnissen ziehen kann?

Im Sinne einer sehr umfassenden Definition bezeichnet Politik „jegliche Art der Einflussnahme und Gestaltung sowie der Durchsetzung von Forderungen und Zielen, sei es im privaten oder öffentlichen Bereichen“ (Frantz & Schubert, 2005, S. 7). Ausgehend von diesem Verständnis von Politik wird folgende These aufgestellt: Wenn Facebook ein Ort ist, der es Usern ermöglicht, sich im öffentlichen Raum zusammenzuschließen, um gemeinsame Gedanken auszutauschen, im Sinne von Arendt gemeinsam zu handeln - dann ist Facebook ein öffentlicher Raum, in dem Politik stattfindet.

Der deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. (DBSH) definiert Soziale Arbeit in Anlehnung an die International Federation of Social Workers (IFSW) folgendermaßen:

„Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Pro­blemen in zwischenmenschlichen Beziehungen und sie befähigt die Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.“ (DBSH, 2009, S. 13).

In Bezug auf die Anti-FARC Bewegung in Kolumbien beinhaltet das Selbstbild der Sozialen Arbeit besonders die Befähigung der Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten sowie die Förderung des sozialen Wandels hervorzuheben. Wenn die These zutrifft, dass Facebook ein öffentlicher Raum ist, in dem Politik stattfindet, dann bietet dieses Netzwerk der Sozialen Arbeit eine Plattform für ihren politischen Auftrag: auf Ungerechtigkeiten, auf Wertverletzungen, auf verhinderte Bedürfnisbefriedigung hinzuweisen und für ein selbstbestimmtes Leben zu kämpfen.

4 Netzwerke

Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit taucht immer wieder der Begriff des „Netzwerks“ auf. Dieser ist die Grundlage für Virtual Communitys, sozialen Online-Netzwerken und damit auch für Social Network Sites wie zum Beispiel Facebook.

4.1 Soziales Netzwerk

Für Holzer spielen „[w]eder individuelle Motive noch Bestandsprobleme sozialer Systeme [die] geeignete[n] Ausgangspunkte für die Erklärung sozialer Sachverhalte“ (Holzer, 2009, S. 253). Es sind „die Beziehungen, in die Individuen und andere soziale Einheiten eingebunden sind.“ (ebd., im Original kursiv). Diese sozialen Beziehungen bezeichnet Weber als ein „aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“ und sagt nichts darüber aus, „ob »Solidarität« der Handelnden besteht oder [..] das gerade Gegenteil“ (Weber, 1976, S. 37, im Original kursiv). Durch ein Geflecht verschiedener Beziehungen entsteht ein sozialen Netzwerk, welches jeden Menschen umgibt.

Der Begriff des sozialen Netzwerks wurde von John Barnes geprägt - er gilt somit als dessen Urheber (vgl. Bögenhold & Marschall, 2007, S. 15). Er untersuchte die kleine relativ isolierte Gemeinde Bremnes auf einer Insel in Norwegen und entdeckte dabei, dass das soziale Gefüge der Gemeinde neben dem territorial hierarchischen administrativen und dem industriellen ein drittes System beinhaltete – die soziale Beziehungen der Bewohner, welche aus Freundschafts-, Bekanntschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen bestanden (Barnes, 1954b, S. 237; Bögenhold & Marschall, 2007, S. 15). Während die ersten beiden Systeme klar gegliedert und hierarchisiert waren, besaß das letztere „keinerlei vereinheitlichende Organisation, keine Unterteilungen und keine Grenzen“ (Penkler, 2008, S. 89; vgl. Barnes, 1954b, S. 237).

Aufgrund seiner Beobachtungen beschrieb Barnes ein Netzwerk folgendermaßen:

“Each person is, as it were, in touch with a number of other people, some of whom are directly in touch with each other and some of whom are not. Similary each person has a number of friends, and these friends have their own friends; some of any one person’s friends know each other, others do not. I find it convenient to talk of a social field of this kind as a network. The image I have is of a set of points some of which are joined by lines. The points of the image are people, or sometimes groups, and the lines indicate which people interact with each other. We can of course think of the whole of social life as generating a network of this kind” (Barnes, 1954a, S. 43).

Der Begriff des Netzwerks impliziert dabei das Bild eines Spinnen- oder eines Fischernetzes. Die einzelnen Knoten des Netzes bilden die Menschen, manchmal auch Gruppen, die wiederum mit unterschiedlich vielen anderen Knoten bzw. Menschen/Gruppen durch Linien verbunden sind. Persönliche Merkmale der einzelnen Mitglieder, also nominale Attribute wie Alter und Geschlecht, sind hierbei ausgeklammert (vgl. Jansen, 2006, S. 22).

Die sozialen Beziehungen sind nach Barnes´ Aussage nicht zwangsweise von Dauer, manche sind längerfristig, andere lösen sich auf oder schlafen einfach ein, während wieder andere neu entstehen – das soziale System wird dadurch kontinuierlich verändert (ebd. S. 237).

Netzwerke können egozentriert, auf Basis der Dyade, der Gruppe und dem Gesamtnetzwerks analysiert werden (Müller & Gronau, 2010, S. 8ff.). Beim egozentrierten Netzwerk bildet ein Knoten den Mittelpunkt, von dem die Verbindungen ausgehen und die Beziehungen zu anderen Knoten darstellen (ebd., S. 9). Bei der Dyade werden jeweils zwei Punkte als Paar und deren Beziehung zueinander untersucht (ebd.). Die darüber liegende Analyseebene behandelt einzelne Gruppen. Dabei werden mehrere Knoten analysiert, die untereinander eine engere Beziehung haben als der Rest des Netzwerkes (ebd.). Dabei kann auch die so­ziale Position einzelner Knoten im Vergleich zur Gruppe untersucht werden (ebd.). Das Gesamtnetzwerk bildet sich aus der Summe aller Elemente und ihren Beziehungen (ebd.).

Luc Boltanski und Eve Chiapello (1996) haben nach der Analyse von Managementliteratur und –diskursen der 1990er Jahre herausgearbeitet, dass Netzwerke, deren Organisation auf flachen Hierarchien beruht, die freie Entfaltung der Fähigkeiten und Kapazitäten der Mitarbeiter ermöglichen (Boltanski & Chiapello, 1996, S. 91 ff., zitiert nach Penkler, 2008, S. 113f.). Diese Netzstrukturen sind partizipationsfreundlicher, da sich die Mitarbeiter autonom selbst regulieren können (ebd.).

Facebook bietet nun die Möglichkeit, sich online mit Freunden und Bekannten zu vernetzen und miteinander zu kommunizieren. Das soziale Netzwerk der norwegischen Insel, welches Barnes beschrieben hat, wird mittels Facebook auf den virtuellen Raum im Internet verlagert. Zeit- und Ortsgebundenheit sind dabei nicht mehr entscheidend. Das soziale Netzwerk kann einfacher über (staatliche, geografische, kulturelle, familiäre, usw.) Grenzen hinweg aufgebaut und gepflegt werden – vorausgesetzt die technischen Möglichkeiten sind vorhanden. Die eingangs beschriebenen Proteste gegen die FARC wurden über Facebook organisiert und zeichneten sich durch flache Hierarchien aus. Jeder Teilnehmer nahm freiwillig und aus persönlicher Überzeugung teil; der Grad der Mitarbeit variierte vom Gründen der Gruppe und dem Organisieren der Demonstrationen über deren Teilnahme bis hin zur passiven Bekundung der Solidarität mittels eines Klicks auf der Homepage. So konnten die Interessen, Motivationen, Kapazitäten und Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder der Gruppe optimal genutzt werden.

Die Reichweite sozialer Netzwerke, die Stärke der schwachen Bindungen sowie das durch Netzwerkarbeit generierte Sozialkapital eines Menschen werden in den nächsten Abschnitten näher beleuchtet.

4.1.1 „Small World“-Phänomen

Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram (1967) stellte Ende der 1960er Jahre die These auf, dass jeder Mensch auf der Welt jeden anderen über eine geringe Anzahl von Ecken kennt.

„Any two people in the world, no matter how remote from each other, can be linked in terms of intermediate acquaintances, and that the number of such intermediate links is relatively small“ (Milgram, 1967, S. 63)

Er stellte fest, dass sich eine Verbindung zwischen zwei beliebigen Menschen auf der Erde mithilfe persönlicher Bekanntschaften im Durchschnitt über nicht mehr als sechs Zwischenschritte konstruieren lässt (Holzer, 2005, S. 315). Im Rahmen seiner Untersuchung wurden Einwohner des mittleren Westens der USA aufgefordert, einen Brief an eine ihnen unbekannte Person zu übergeben (ebd., S. 316). Diesen Brief sollten sie dabei an Personen weitergeben, von denen sie annahmen, dass diese der Zielperson näher standen als sie selbst (ebd.). Die Anzahl der Zwischenpersonen variierte dabei zwischen 2 und 10, der Median lag bei 5 Kontakten (Milgram, 1967, S. 65).

In neueren Studien wurde die Zahl sechs bis sieben bestätigt (Heidemann, 2010. o. S.). Leskovec und Horvitz analysierten 240 Millionen Instant Messenger Accounts und kamen zu dem Ergebnis, dass jeder jeden über 6,6 Ecken kennt (Leskovec & Horvitz, 2007, S. 23). Diese geringe Zahl ist dadurch zu erklären, dass bei „sozialen Netzwerken […] die Verbindungen nicht gleich über alle Knoten verteilt sind“ (Heidemann, 2010, o. S.). Es existieren einzelne stark vernetzte Akteure, in Abbildung 1 der Knoten C, sowie viele wenig vernetzte Akteure, in Abbildung 1 Knoten I (ebd.).

Für soziale Online-Netzwerke wie Facebook bedeutet das, dass der einzelne Nutzer über wenige Ecken mit sehr vielen Menschen aus der ganzen Welt Kontakt aufnehmen kann, selbst wenn er diese nicht persönlich kennt. Analog zu dem in Milgram´s Experiment verschickten Briefen kann es sich im Internet-Zeitalter beispielsweise auch um Informationen bezüglich eines gesellschaftlichen Konfliktes handeln. Durch soziale Online-Netzwerke können solche Informationen schnell die Aufmerksamkeit von sehr vielen, auch geografisch weit entfernten Menschen erregen.

4.1.2 Stärke schwacher Bindungen

Die Beziehungen der einzelnen Menschen in einem Netzwerk können in Anlehnung an Granovetter (1973) in schwache und starke Beziehungen (strong ties und weak ties) aufgeteilt werden.

Kennzeichen starker Beziehungen (strong ties) sind häufige Kontaktaufnahme, Intimität, Stabilität und emotional intensive Verbindung (Döring, 2003, S. 407). Diese Personengruppe ist uns in der Regel ähnlich und kennt sich meist auch untereinander (Schilliger, 2010, S. 17). Schwache Beziehungen (weak ties) beschränken sich meist auf gemeinsame Interessen oder Aktivitäten und sind weniger emotional und intim (ebd.). Bei weak ties sollte das Prinzip des Gebens und Nehmens rasch ausgeglichen werden, „da ein Fortbestand der Beziehung unsicher ist (z.B. würde man guten Freunden eher größere Geldsummen leihen als Urlaubsbekanntschaften)“ (Döring, 2003, S. 407).

In Granovetters Studie (1973) zur Suche eines Arbeitsplatzes im System der Erwerbstätigkeit, wurden diejenigen befragt, die über informelle Kontakte zu ihrem neuen Job kamen (Bögenhold & Marschall, 2007, S. 18). Es stellte sich dabei heraus, dass der Kontakt zum neuen Arbeitgeber oft über Personen lief, „die nicht zum engeren Kreis des Befragten gehörten“ (ebd.). Granovetter erklärt dies folgendermaßen:

„Those to whom we are weakly tied are more likely to move in circles different from our own and will thus have access to information different from that which we receive“ (Granovetter, 1973, S. 1371).

Weak ties sind deswegen von großer Bedeutung, weil sie für den Einzelnen eine „Brückenfunktion“ übernehmen (Müller & Gronau, 2010, S. 5). Diese schwachen Bindungen können „Informationen und Ressourcen außerhalb des eigenen sozialen Kreises“ (ebd.) generieren und sind vor allem dann vorteilhaft, wenn dabei „besonders unterschiedliche soziale Bereiche verb[unden]“ (ebd.) werden.

Auf soziale Online-Netzwerke bezogen bedeutet das, dass gerade die schwächeren Beziehungen (z. B. Freundesfreunde) Zugang zu neuen Informationen (z. B. offene Arbeitsplätze, andere Sichtweisen zu bestimmten Sachlagen) bieten (Heidemann, 2010, o. S.). Dadurch können einzelne Gruppen nicht gänzlich isoliert sein. Sobald schwache Beziehungen zu Nichtmitgliedern der eigenen Gruppe bestehen, werden bewusst oder unbewusst neue Informationen und Ansichten in die Gruppe eingebracht. Auch eine bereits vorherrschende Meinung innerhalb einer Gruppe wird durch Informationen und Sichtweisen von Externen verändert und weiterentwickelt. So ist es zudem möglich, dass bestimmte Informationen auch Menschen erreichen, die sie normalerweise nicht erfahren würden. Lokale Ereignisse können globale Reaktionen auslösen, wie geschehen im Fall der Anti-FARC Bewegung auf Facebook.

4.1.3 Sozialkapital und soziale Online-Netzwerke

Netzwerkarbeit bedeutet Beziehungsarbeit, also das Knüpfen von Verbindungen, um das eigene Netzwerk zu erweitern (Penkler, 2008, S. 114). Aus Sicht der Einzelperson bildet das sie umgebende Netzwerk an Kontakten das Sozialkapital (Müller & Gronau, 2010, S. 6). Eine engere Definition versteht darunter „die Ressourcen [..], auf die Individuen durch ihre Zugehörigkeit zu Netzwerken zugreifen können“ (Franzen & Pointner, o. J., S. 21). Bei weiter gefassten Definitionen zählt auch „das generalisierte Vertrauen in Personen und Institutionen“ (ebd., S. 6) sowie „allgemeine Normen, wie die Fairness- oder Reziprozitätsnorm“ (ebd.) zum Sozialkapital. Die folgende Abbildung zeigt die verschiedenen Dimensionen des Sozialkapitals:

Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere die netzwerkbasierten Ressourcen wichtig, da diese über soziale Online-Netzwerke sehr gut gepflegt werden können.

Für Bourdieu (1983) ist Sozialkapital die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes […] von Bezieh­ungen […] verbunden sind“ (Bourdieu, 1983, S. 191). Damit stehen nicht die Personen an sich im Vordergrund, sondern die Beziehungen zwischen ihnen. Die Menge des Sozialkapitals für den Einzelnen hängt einerseits von der „Ausdehnung des Netzes von Beziehungen“ (ebd., S. 192) und andererseits vom „Umfang des Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht“ (ebd.), ab.

Sozialkapital erlaubt es einer Person auf die Ressourcen anderer Mitglieder ihres Netzwerkes zugreifen zu können (Ellison et al., 2007, S. 1145). Die Prämisse von Sozialkapital ist dabei recht einfach und unkompliziert: „investment in social relations with expected returns“ (Lin, 1999, S. 30).

Dass die Nutzung von sozialen Online-Netzwerken positive Auswirkungen auf das Sozialkapital einer Person hat, haben Ellison et al. (2007) in einer Studie heraus­gefunden: „[T]here is a positive relationship between certain kinds of Facebook use and the maintenance and creation of social capital“ (Ellison et al., 2007, S. 1161). Zu diesen positiven Auswirkungen zählt, dass latent vorhandene Beziehungen, die praktisch möglich, aber sozial noch nicht aktiviert sind, in schwache Beziehungen umgewandelt werden können (ebd., S. 1162). Den Nutzern von sozialen Online-Netzwerken fällt es leichter, Bekanntschaften und Freundschaften aufrecht zu erhalten und in Kontakt zu bleiben, auch wenn das reale Leben dies beispielsweise durch den Umzug in eine andere Stadt erschwert (ebd., S. 1165).

Man kann Bourdieus Begriff des Sozialkapitals mit Granovetters Theorie der star­ken und schwachen Beziehungen mit folgendem Ergebnis verbinden: Bei starken Beziehungen steigt das soziale Kapital mit der Intensität der Beziehungen. Bei den schwachen Beziehungen – und damit für die Nutzer sozialer Online-Netzwerke – steigt hingegen das Sozialkapital, je mehr Kontakte der Einzelne zu anderen Netzwerkteilnehmern hat, die untereinander nicht verbunden sind.

Wenn das Geflecht persönlicher Beziehungen, welches das soziale Netzwerk darstellt, auch im virtuellen Raum (Internet) besteht bzw. sich dort entwickelt, dann spricht man von Virtual Communities.

4.2 Virtual Community

Der Ausdruck „virtual community“ wurde erstmals von Howard Rheingold (1994) beschrieben. Er stellt dabei den Menschen als Träger der computervermittelten Kommunikationstechnologie in den Vordergrund (Bühl, 2000, S. 35).

Seine Definition stützt sich auf „WELL“ (Whole Earth ´Lectronic Link, weltweiter elektronischer Zusammenschluss), ein 1985 gegründeter Dienst für Computerkonferenzen, welcher die Möglichkeit zur Unterhaltung und zum Email-Versand bietet und als früher Vorgänger von heutigen sozialen Netzwerken im Internet (z. B. Facebook, StudiVZ, Wer-kennt-wen) gelten kann.

Das „Netz“ ist für Rheingold ein „nicht näher definierter Begriff, um die lose miteinander verbundenen Computernetze zu bezeichnen, die die CMC-Technologie[1] verwenden, um Menschen auf der ganzen Welt zu öffentlichen Diskussionsrunden zusammenzuschließen“ (Rheingold, 1994, S. 16). Virtuelle Gemeinschaften stellen für ihn „soziale Zusammenschlüsse [dar], die dann im Netz entstehen, wenn genug Leute diese öffentlichen Diskussionen lange genug führen und dabei ihre Gefühle einbringen, so daß im Cyberspace ein Geflecht persönlicher Beziehungen“ (ebd.) entsteht. Und er fügt hinzu: „Wo auch immer Menschen Zugang zu CMC-Technologie erhalten, sie damit unweigerlich virtuelle Gemeinschaften gründen“ (ebd., S. 17).

Rheingold sieht diese Entwicklung als eine positive soziale Errungenschaft an. Die Grundlage virtueller Gemeinschaften sind nicht „verwandtschaftliche Verhältnisse oder räumliche Nachbarschaft, sondern allein gemeinsame Interessen im Netz“ (Bühl, 2000, S. 36). Dadurch entsteht ein enormes Kommunikationspotential, das über nationale und ideologische Grenzen hinweg besteht.

4.2.1 Merkmale virtueller Communities

Für Rheingold war 1994 die Grundlage für die Bildung virtueller Communities eine lang genug geführte Diskussion und die Einbringung persönlicher Gefühle. Die neueren Definitionen von Deterding (2008) und Döring (2001) ersetzen die persönlichen Gefühle mit dem gemeinsamen Interesse, welches neben der Kontinuität der Interaktion die Basis für die Bildung virtueller Communities darstellt.

Die Zeit- und Ortsunabhängigkeit als besondere Merkmale virtueller Gemeinschaften ermöglicht den Mitgliedern maximale Flexibilität – „not tied to time, place and other physical or material circumstances, other than those of the people and media enable them” (van Dijk, 1999, S. 199, zittiert nach Kneidinger, 2010, S. 45). Durch den nicht notwendigen face-to-face Kontakt der Mitglieder haben virtuelle Communities „ein breites Einzugsgebiet“ (Winkler & Mandl, 2004, S. 3) und in der Folge die Tendenz zu einer „großen Mitgliederzahl“ (ebd.).

Ein weiteres Kennzeichen von virtuellen Communities ist die Anonymität der Nutzer. Nach Winkler und Mandl (ebd., S. 5f.) besteht diese aus der möglichen „Verschleierung von Identitätsmerkmalen“. Die Teilnehmer können ihre Identitätsmerkmale, wie Name oder Alter beliebig und nach Bedarf ändern. Oft werden auch Fantasienamen, sogenannte Nicknames, verwendet um die eigene Identität zu verbergen.

Die gemeinsamen Interessen sowie die Zeit- und Ortsunabhängigkeit waren die Basis für die in Punkt 2 geschilderte Geschichte der Anti-FARC Bewegung. Weiterhin wirkt sich die Möglichkeit, erst einmal anonym bleiben zu können, positiv auf das Entstehen einer größeren Bewegung aus. Solange die Gruppe noch klein und überschaubar ist, können die Teilnehmer unter falschen Namen partizipieren. Die direkte reale Konfrontation findet durch den virtuellen Raum nicht statt und der Einzelne muss negative Folgen seines Engagements weniger fürchten. Ist eine bestimmte Gruppengröße erreicht, bietet schon allein die Masse Schutz und Selbstvertrauen. Ab dieser Phase war es für die Menschen in Kolumbien möglich, die virtuelle Welt des Internets zu verlassen und zu Demonstrationen auf die Straße zu gehen und für ihre Belange zu kämpfen.

4.2.2 Kritik an Virtual Communities

Ein Kritikpunkt der ursprüngliche Definition ist das „Othering“ (Deterding, 2008, S. 117): Es gibt nicht nur das eine oder das andere (online vs. offline) Leben. Räume, Bekanntschaften oder Beziehungen sind nicht nur real oder virtuell, sondern beides gleichzeitig. Durch das Internet werden andere Kommunikationsformen nicht verdrängt. Zum Beispiel werden „Beziehungen [..] online und offline gleichzeitig geführt“ (ebd.). Die Geschichte der Anti-FARC-Bewegung in Kolumbien ist ein Beispiel dafür, dass eine zunächst rein virtuelle, nur im Internet existierende Gruppe zu einer realen Bewegung auf der Straße wurde, im Internet aber parallel weiterexistierte.

Eine weitere Schwäche von Rheingolds Definition ist eine ungerechtfertigte Vereinfachung, da es nicht DIE virtuellen Communities gibt. Diese unterscheiden sich von ihren Eigenschaften und Wirkungen, je nach dem ob sie geschlossen oder für jeden frei zugänglich sind. Auch die Gründe für deren Bildung sind verschieden – vom multikulturellen Informationssaustausch über dem Einsatz für einen bestimmten Zweck (z. B. Tierschutz) bis hin zu terroristischen rechts- und linksradikalen Netzwerken (ebd.).

Weiter fehlt der ursprünglichen Definition von Rheingold die Emergenz (ebd., S. 118). Virtuelle Gesellschaften sind im Gegensatz zu realen Gesellschaften sehr dynamisch und flexibel, da sie keine direkte reale Interaktion und keine realen Kontakte benötigen. Die Mitglieder können eine bestehende Gemeinschaft ohne großen Aufwand und eventuelle soziale Schuldgefühle verlassen (vgl. Kneidinger, 2010, S. 45).

Deterdings Definition von Virtual Community ist folgende:

„Virtual Community bezeichnet die (1) um ein geteiltes Interesse organisierte (2) anhaltende Interaktion von Menschen (3) über einen oder mehrere mediale Knoten im Web, aus der (4) ein soziales Netzwerk aus Beziehungen und Identitäten mit (5) einer geteilten Kultur aus Normen, Regeln, Praxen und Wissensvorräten emergiert“ (Deterding, 2008, S. 118).

Eine weitere Definition stammt von Döring:

„Eine virtuelle Gemeinschaft ist ein Zusammenschluss von Menschen mit gemeinsamen Interessen, die untereinander mit gewisser Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit auf computervermitteltem Wege Informationen austauschen und Kontakte knüpfen“ (Döring, 2001, o. S.).

Für das Entstehen einer virtuellen Gemeinschaft muss jedes einzelne Gemeinschaftsmitglied über die notwendigen technischen Geräte verfügen bzw. Zugang zu diesen besitzen sowie die Möglichkeit haben, sich mit dem Internet zu verbinden. Weiter braucht eine virtuelle Gemeinschaft einen gemeinsamen Ort, an dem sie sich treffen und Informationen austauschen kann. Social Network Sites (SNS), die im folgenden näher dargestellt werden, bieten die technische Plattform für virtuelle Gemeinschaften. Mit ihrer Hilfe kann der Austausch zwischen den einzelnen Teilnehmern erfolgen.

4.3 Social Network Sites (SNS)

Die erste Online-Community im Internet war „The Well“. Dieser Dienst war noch nicht vergleichbar mit den heutigen Social Network Sites (SNS). Nach Boyd und Ellison (2007) sind die Unterschiede zwischen früheren und heutigen Communities folgende:

„Early public online communities […] were structured by topics or according to topical hierarchies, but social network sites are structured as personal (or "egocentric") networks, with the individual at the center of their own community“ (Boyd & Ellison, 2007, o. S.).

In den Communities der Anfangszeiten waren demnach die Grundlagen einer Community im Internet ein gemeinsames Thema. Die aktuellen SNS sind eher egozentriert, daher steht das Individuum im Mittelpunkt des Interesses.

Beschreiben kann man SNS als web-basierte Dienste, welche deren Benutzern die Möglichkeit geben, eigene Inhalte zu erstellen und diese mit anderen Nutzern zu teilen. Diese Inhalte werden „User Generated Content“ genannt. Der Begriff stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum und ist ein Sammelbegriff für „alle von einem Internetnutzer erzeugten medialen Web-Inhalte“ (Bauer, 2011, S. 7). User Generated Content markiert auch den „Ausgangspunkt für den grundlegenden Wandel des Internets“ (ebd., S. 8), weg vom „rein statischen „Informations-Web“, […] auch „Web 1.0“ genannt“ (ebd.), hinzu zum heutigen sogenannten „Web 2.0“, bei dem der Fokus darauf liegt, die „Anwendungen für die Nutzer interaktiver und damit noch interessanter zu gestalten“ (ebd.).

Bei den SNS handelt es sich um „eine besondere Form von Gemeinschaft“ (Heidemann, 2010, o. S.), bei der „die Interaktion und Kommunikation […] durch eine technische Plattform und die Infrastruktur des Internets unterstützt“ (ebd.) wird und ein „gemeinsames Ziel, Interesse oder Bedürfnis [ein] verbindendes Element“ darstellt (ebd.).

Boyd und Ellison (2007) verstehen SNS folgendermaßen:

„We define social network sites as web-based services that allow individuals to (1) construct a public or semi-public profile within a bounded system, (2) articulate a list of other users with whom they share a connection, and (3) view and traverse their list of connections and those made by others within the system.” (Boyd & Ellison, 2007, o. S.).

SNS können in die Kategorien themenbezogen, austauschbezogen, transaktionsbezogen und unterhaltungsbezogen unterteilt werden (vgl. Röll, 2010, S. 209). Weiter können „Freundesnetzwerke (wie Facebook oder Myspace) und professionelle Netzwerke (z. B. Xing oder LinkedIn)” unterschieden werden (ebd.; Heidemann, 2010, o. S.).

[...]


[1] CMC = Computer Mediated Communication, Computervermittelte Kommunikation

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783955496197
ISBN (Paperback)
9783955491192
Dateigröße
669 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule München
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Machttheorie Virtual Community Hannah Arendt Heinrich Popitz FARC

Autor

Martin Sopko, B.A., wurde 1981 in der Slowakei geboren. Er studierte Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut und Hochschule München. Dieses Studium schloss er im Jahr 2012 mit dem akademischen Grad Bachelor of Arts erfolgreich ab. Der Autor ist seit mehreren Jahren Facebook-Nutzer und beobachtet interessiert dessen Entwicklung und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Veränderungen.
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