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Agrartreibstoffe in Brasilien: Was bedeutet dies für das dialektische Verhältnis von Gesellschaft und Natur?

©2012 Bachelorarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

Heutzutage stammt mehr als 80 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs aus fossilen Rohstoffen, doch die Begrenztheit dieser Energiequellen stellt die heutige Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Mit dem Aufkommen der ökologischen Krise in den 80er Jahren erkannte man, dass die globalen Aneignungsformen über die Natur verbunden mit der kapitalistischen Ausbeutung der fossilen Rohstoffe nicht auf Dauer weitergehen konnten. Ein strukturelles Umdenken in der Energienutzung war deswegen dringend erforderlich.
Eine Folge der ökologischen Krise war das exponentielle Ansteigen der Ölpreise. Dadurch entstand ein weltweiter Boom für die Agrartreibstoffindustrie. Doch längst ist klar, dass Agrartreibstoffe alleine den Klimawandel nicht aufhalten können und auch keinesfalls das fossile Benzin komplett substituieren können. Die aktuelle Dürre in den USA, Russland oder Indien ist ein gutes Beispiel für die Probleme der Agrartreibstoffproduktion.
Da Brasilien der zweitgrößte Ethanolhersteller für nachwachsende Rohstoffen ist und das Land auf eine fast vierzigjährige Erfahrung in der Agrartreibstoffproduktion zurückblickt, bietet es gute Voraussetzungen, um einen möglichen Wandel der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auf Grund der expandierenden Agrartreibstoffproduktion zu analysieren. Deswegen soll in der vorliegenden Studie insbesondere die These erörtert werden, ob es einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Expansion der Agrartreibstoffindustrie und dem Verhältnis von Gesellschaft und Natur gibt. Außerdem soll gezeigt werden, dass ökologische Ziele, wie Klimaschutz oder Erhalt der Biodiversität den ökonomischen Zielen der Agrartreibstoffindustrie untergeordnet sind. Dabei ist auch zu hinterfragen, ob sich Brasilien inzwischen das postfordistische Regulierungsmodell angeeignet hat, oder ob noch immer die grenzenlose Ausbeutung der Natur, wie es im Fordismus der Fall war, praktiziert wird. Weiter soll geklärt werden, welche Bevölkerungsgruppen von den Folgen der Agrartreibstoffexpansion betroffen sind.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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produktion. Es werden Einbußen von bis zu 17 Prozent bei Grundnahrungsmitteln
erwartet, was die Lebensmittelpreise an sich schon steigen lässt.
6
Hinzu kommt, dass
beispielsweise in den USA bis zu vierzig Prozent der Maisernte für die Agrartreibstoff-
produktion gedacht ist, was den Nahrungsmittelengpass weiter zuspitzen und die Preise
noch weiter steigen lassen würde, wenn diese Ziele umgesetzt werden. Hieran erkennt
man deutlich, dass der pflanzliche Treibstoff kein verlässliches Substitutionsprodukt für
fossile Energiequellen ist.
Damit die Energie- und Lebensmittelsicherheit langfristig gewährleistet ist, muss
folglich das Produktionsvolumen gesteigert werden. Dies kann durch eine Expansion
der Kultivierungsflächen geschehen, oder durch eine Ertragsmaximierung durch
technologischen Fortschritt. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Prozess auf
eine nachhaltige Art und Weise möglich ist, so dass die Balance zwischen Natur und
Gesellschaft ausgeglichen bleibt, oder ob dies zur Lasten der Natur geht. Ziel dieser
Arbeit ist es die sozialökologischen Folgen der Agrartreibstoffproduktion unter dem
Aspekt der Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur zu analysieren. Dazu bietet das
Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse einen guten Orientierungsrahmen, da
es versucht den historischen Dualismus von Naturwissenschaften und Gesellschaftswis-
senschaften zu überwinden, um daraus die neue Wissenschaft der Sozialen Ökologie zu
bilden. Demnach ist nicht nur die Gesellschaft abhängig von der Natur, sondern die
Natur auch abhängig von der Gesellschaft.
7
Da Brasilien der zweitgrößte Ethanolhersteller für nachwachsende Rohstoffen ist und
das Land schon auf eine fast vierzigjährige Erfahrung in der Agrartreibstoffproduktion
zurückblickt, bietet das Land gute Voraussetzungen, um einen möglichen Wandel der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse auf Grund der expandierenden Agrartreibstoffpro-
duktion zu analysieren. Deswegen soll im Folgenden insbesondere die These erörtert
6
Vgl. Liebrich, Silvia: ,,Dürre in Indien, Russland und den USA ­ Furcht vor Hungerrevolten",
Süddeutsche Zeitung vom 14.08.2012.
[online].
7
Vgl. Brand, Ulrich/Görg, Christoph: ,,Postfordistische Naturverhältnisse ­ Konflikte um genetische
Ressourcen und die Internationalisierung des Staates", Münster 2003, S. 17.

5
werden, ob es einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Expansion der
Agrartreibstoffindustrie und dem Verhältnis von Gesellschaft und Natur gibt. Außerdem
soll gezeigt werden, dass ökologische Ziele, wie Klimaschutz oder Erhalt der
Biodiversität den ökonomischen Zielen der Agrartreibstoffindustrie untergeordnet sind.
Dabei ist auch zu hinterfragen, ob sich Brasilien inzwischen das postfordistische
Regulierungsmodell angeeignet hat, oder ob noch immer die grenzenlose Ausbeutung
der Natur, wie es im Fordismus der Fall war, praktiziert wird. Weiter soll geklärt
werden, welche Bevölkerungsgruppen von den Folgen der Agrartreibstoffexpansion
betroffen sind.
Der Hauptteil dieser Arbeit gliedert sich in drei Blöcke. Zunächst wird in Kapitel II das
Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse vorgestellt, welches den theoretischen
Rahmen bilden soll. Im dritten Kapitel wird die historische Entwicklung der
Agrartreibstoffproduktion in Brasilien dargestellt. Sowohl das nationale Programm zur
Alkoholherstellung von 1975 wird thematisiert, als auch die neuere Entwicklung der
Dieselproduktion aus ölhaltigen Agrarpflanzen, wie Soja, Rizinus oder Sonnenblumen.
Daran angeknüpft werden im nächsten Block (Kapitel IV) die sozialökologischen
Folgen debattiert. Hierbei soll besonderes Augenmerk auf einen Wandel der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse gelegt werden.

6
II. Theoretischer Hintergrund: Die Wissenschaft der Sozialen
Ökologie
Als theoretischer Rahmen und Bezugspunkt dieser Arbeit soll die vom Frankfurter
Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) weiterentwickelte Wissenschaft der
Sozialen Ökologie mit ihrem epistemischen Objekt der gesellschaftlichen Naturverhält-
nisse dienen. Grundlage für den neueren Forschungsansatz spielt das aus der Kritischen
Theorie stammende Werk von Max Horkheimer und Theodor Adorno Dialektik der
Aufklärung. Weiterführend ist es in den 90er Jahren Egon Becker und Thomas Jahn zu
verdanken, dass sich die Soziale Ökologie als eigenständige und transdisziplinäre
Wissenschaft etablierte, indem sie eine Verbindung zwischen Naturwissenschaften und
den Sozialwissenschaften zu schaffen versuchten. Auch Christoph Görg und Markus
Wissen prägten diese Theorie ausschlaggebend; besonders bezogen auf die Regulation
gesellschaftlicher Naturverhältnisse in modernen, kapitalistischen Ökonomien und die
daraus entstehenden lokalen und globalen Krisen und Probleme.
1. Entstehung einer neuen Wissenschaft
Wie die Natur begrifflich in den verschiedenen Wissenschaften definiert wird, ist sehr
unterschiedlich. Spätestens in den 70er Jahren ­ mit dem Aufkommen der sogenannten
ökologischen Krise ­ erkannte man, dass Gesellschaft und Natur in einem dialektischen
Verhältnis zueinander stehen müssen:
,,Jeder Versuch, die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu
begreifen, zwingt dazu, das Verhältnis von Gesellschaft und Natur zum
Thema zu machen. Wissenschaftlich ist das aber nur noch möglich durch
eine Kritik des methodischen Dualismus, der dieses Verhältnis als
Dualität begreift und nicht als ein komplexes Muster von Beziehungen. Je

7
stärker das Gesellschaftsverständnis kulturalisiert wird, umso eindeutiger
wird daraus der klassische Dualismus von Natur und Kultur, mit dem
dann institutionell die Abgrenzung zwischen Natur- und
Technikwissenschaften einerseits, Sozial- und Geisteswissenschaften
andererseits legitimiert wird."
8
Es entstand also eine Debatte, um diesen Dualismus von Naturwissenschaften und
Gesellschaftswissenschaften zu überwinden. Die zentrale Ausgangsfrage ist dabei, ob
Natur objektive Realität (Naturalismus) sei, oder ob sie sozial konstruiert (Kulturalis-
mus) ist.
Der Naturalismus plädiert dabei für eine Einheit zwischen Natur und Gesellschaft. Der
Mensch ist dabei Teil einer umfassenden Natur, mit der die Gesellschaft im
Gleichgewicht stehen sollte. Die Natur ist daher das Allumfassende und der
Ausgangspunkt jeglichen menschlichen Handelns. Bei dieser naturalistischen bzw.
realistischen Denkweise ist es die Natur, die der Gesellschaft feste Grenzen aufzeigt,
worauf diese ihr Verhältnis zur Natur ausrichten muss. Kritisiert wird dabei allerdings
die fehlende Integration sozialer Prozesse in eine ,,stofflich-materielle Umwelt".
9
Den Gegenpol in dieser Debatte bildet der Kulturalismus bzw. Konstruktivismus.
Hierbei wird davon ausgegangen, dass die Natur mittels eines diskursiven Umgangs
definiert wird. Die Natur ist dabei nichts real Fassbares, sondern entsteht erst, wenn in
der Gesellschaft über sie kommuniziert wird und ihr dadurch eine symbolische
Bedeutung zugewiesen wird. So können innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche
Naturvorstellungen existieren, welche sich situativ und von ihrem Kontext abhängig
konstruieren. Genau hieraus entstehen dann Konfliktsituationen, da verschiedene
Interessensgruppen die Natur unterschiedlich konstruieren und ihr Verhältnis zum
Menschen anders deuten. Dabei wird die Natur auf eine rein diskursive Ebene reduziert
8
Becker, Egon/Jahn, Thomas: ,,Soziale Ökologie ­ Grundzüge einer Wissenschaft von den
gesellschaftlichen Naturverhältnissen", Frankfurt/Main 2006, S. 181f.
9
Vgl. Görg, Christoph: ,,Regulation der Naturverhältnisse ­ Zu einer kritischen Regulation der
ökologischen Krise", Münster 2003a, S. 16.

8
und die Eigenwirkung der Natur ­ wie sie im Naturalismus beschrieben wird ­
vernachlässigt.
10
Die Soziale Ökologie versucht nun mit dem Konzept der gesellschaftlichen
Naturverhältnisse diese beiden Pole miteinander zu verbinden und eine wechselseitige
Verbindung zwischen Natur und Gesellschaft herzustellen. Sie ,,plädiert für eine
Balance von Kultur und Natur, d.h. für eine Kulturalisierung von Natur bei
gleichzeitiger Naturalisierung der Kultur."
11
Becker und Jahn bezeichnen dies auch als
,,doppelseitige Kritik" ­ zum einen die Kritik am Naturalismus und zum anderen die
Kritik am Kulturalismus.
12
Somit steht die ,,neue" Wissenschaft der Sozialen Ökologie
ganz in der traditionellen Linie der kritischen Theorie, welche nach einem wechselseiti-
gen, dialektischen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur strebt.
13
Mit dem
Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse versucht sie die wichtigsten Aspekte
beider Pole zu verbinden, indem sie die Eigenwirkung der Natur berücksichtigt, aber
dennoch die gesellschaftlichen, kulturellen Konstruktionen beachtet.
,,Weder kann demnach Gesellschaft unabhängig von Natur thematisiert
werden, da der soziale Prozess konstitutiv mit Natur vermittelt ist, noch
zielt der geschichtete Prozess auf eine umfassendere Kontrolle der Na-
tur."
14
Weiter betonten Brand und Görg die Wichtigkeit der wechselseitigen Beziehung für die
Natur: ,,Die Vermittlung von Natur und Gesellschaft ist jedoch nicht nur für die eine
Seite, die Gesellschaft, zentral, sondern berührt umgekehrt auch die Seite der Natur."
15
Praktisch heißt dies auch, dass dieses Konzept ein Versuch ist, die Natur- mit den
Sozialwissenschaften zu verbinden, um dadurch sozialökologische Themen
umfassender bearbeiten zu können.
10
Vgl. Becker/Jahn 2006, S. 131f.
11
Hassenpflug, Dieter: ,,Sozialökologie ­ Ein Paradigma", Opladen 1993, S. 67.
12
Vgl. Becker/Jahn 2006, S. 23.
13
Ebd. S. 132.
14
Brand/Görg 2003, S. 17.
15
Ebd.

9
Während des ökologischen Krisendiskurs in den 70er und 80er Jahren spitze sich nicht
nur die Naturalismus-Realismus-Debatte wieder zu, sondern es fand auch ein
öffentlicher Mobilisationsprozess für einen nachhaltigeren Umgang mit der Natur statt.
Somit wurde die ,,Natur" auch zu einer politischen Kategorie transformiert, und
etablierte sich auf die Agenden der politischen Parteien. Spätestens mit der UN-
Konferenz zu Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro wurden längerfristige
Handlungsstrategien für ökologische, ökonomische, politische und soziale Probleme
entwickelt.
16
Damit war auch die Soziale Ökologie im wissenschaftlichen Diskurs
etabliert.
2. Die Nichtidentität der Natur
Die theoretischen Wurzeln des Konzeptes der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
findet sich in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule ­ insbesondere in den
Werken von Theodor Adorno. Zentral sind dabei zwei Begrifflichkeiten: die
Nichtidentität der Natur und die Naturbeherrschung (Kap. II.3.), die später von
Christoph Görg wieder aufgenommen wurden, der die Schriften Adornos neu
rezipierte.
17
Ausgangspunkt des nichtidentischen Moments der Natur ist wiederum der im
vorangegangenen Kapitel beschriebene Dualismus zwischen Natur und Gesellschaft.
Adorno selbst geht zunächst davon aus, dass die Natur prinzipiell ein Konstrukt
gesellschaftlichen Handelns ist. Gleichzeitig distanziert er sich von der Kulturalismus-
these, indem er die vermeintliche Autonomie der Gesellschaft in Frage stellt.
18
Somit
16
Vgl. Brand/Görg 2003, S. 57.
17
Vgl. Görg, Christoph: ,,Gesellschaftliche Naturverhältnisse ­ Einstiege", Münster 2003, Kap. 5.2., S.
114 ­ 133 oder Görg, Christoph: ,,Nichtidentität und Kritik ­ Zum Problem der Gestaltung der
Naturverhältnisse", München 2003b, S. 116ff.
18
Vgl. Görg 2003b, S. 119.

10
stellt er die These auf, dass die Natur immer in einer Beziehung zur Gesellschaft stehen
würde, und das obwohl sie gesellschaftlich konstruiert sei:
,,Der gesellschaftliche Prozess ist weder bloß Gesellschaft noch bloß
Natur, sondern Stoffwechsel der Menschen mit dieser, die permanente
Vermittlung beider Momente"
19
Gesellschaft und Natur sind also immer dialektisch miteinander verbunden und keines
kann ohne das andere bestehen.
Die paradoxe Aussage von einer dialektischen Verbindung von Gesellschaft und Natur
und dass sie trotzdem gesellschaftlich konstruiert sei, versucht Adorno mit der Idee des
Eigensinns der Natur zu erklären. Dieser Eigensinn zeigt der Gesellschaft ihre Grenzen,
die von der Gesellschaft respektiert werden können, oder auch nicht, was dann bis zur
vollkommenen Destruktion der Gesellschaft führen kann.
20
Der Naturbegriff wird in
dieser Theorie gleichzeitig auch deutlich vom Gesellschaftsbegriff abgegrenzt, indem er
als das Andere, das Verschiedene oder das Entgegengesetzte bezeichnet wird. Die Natur
ist daher grundsätzlich nur im Verhältnis zu dem zu begreifen, ,,von dem es zugleich
unterschieden"
21
wird.
Und genau diesen Eigensinn der Natur, die trotzdem weiterhin konstruiert bleibt, indem
sie sich deutlich vom Gesellschaftsbegriff distanziert und deswegen nie als Teil der
Gesellschaft angesehen werden kann, wird von Görg ­ in Anlehnung an Adorno - als
,,Nichtidentität" der Natur bezeichnet:
"Einerseits wird unter Natur eine praktische wie begriffliche Konstrukti-
on verstanden, die allein von der Gesellschaft und ihren (symbolisch-
sprachlichen wie praktisch-technischen) Konstruktionsprozessen her zu
verstehen ist. Andererseits wird jedoch auf ,Natur' als etwas von Gesell-
schaft grundsätzlich Verschiedenem mit eigenen Gesetzmäßigkeiten
verwiesen, deren Aneignung oder Transformation zu menschlichen Zwe-
cken nicht beliebig möglich ist, sondern dass von uns in irgendeiner
19
Adorno, Theodor W.: "Soziologische Schriften I" Frankfurt 1980, S. 221.
20
Vgl. Brand/Görg 2003, S. 18.
21
Görg 2003b, S. 121.

11
Weise respektiert werden muss. Konstruktion und Realität mit eigenen
Gesetzen gleichzeitig ­ in diesem Widerspruch ist die Nichtidentität ange-
siedelt."
22
Die Erfahrung dieser Nichtidentität der Natur ist jedoch in den meisten Fällen den
Menschen blockiert, da der direkte Kontakt zur Natur meist nur wenigen Menschen
vorbehalten ist ­ den Naturwissenschaftlern. So wird diese nicht-spezifische Identität
der Natur meist nur im Moment des Scheiterns erkennbar.
23
Das will heißen, dass der
Eigensinn der Natur nur dann erkennbar wird, wenn die Natur der Gesellschaft ihre
Grenzen aufzeigt. Beispielsweise könnte dies in Form von Umweltkatastrophen sein,
wie die nukleare Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011, das Erkennen von einem Ende
der natürlichen Ressourcen oder der anthropogene Klimawandel. In diesen Fällen
wurden die Grenzen der Natur für die Allgemeinheit sichtbar, was aber nicht zwingend
heißen muss, dass die Grenzen verstanden werden und daraufhin ein Umdenken
stattfindet.
Für das sozialökologische Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse heißt das
Nichtidentische der Natur eine Respektierung ihrer ,,natürlichen" Grenzen - also des
Eigensinns der Natur ­ und eine Überwindung des Dualismus von Gesellschaft und
Natur, indem eine interdisziplinäre Forschung betrieben wird ­ vor allem in Verbindung
von Sozial- und Naturwissenschaften ­ so dass das ,,Erkennen" des Nichtidentischen für
die Gesellschaft möglich sein kann.
3. Naturbeherrschung
Der Begriff der Naturbeherrschung geht ebenso wie die Nichtidentität der Natur auf
Adorno zurück und drückt gleichzeitig eine Kritik an der grenzenlosen Ausbeutung
22
Görg 2003b, S. 119. Die Einklammerung erfolgt im Original.
23
Vgl. ebd., S. 123.

12
natürlicher Ressourcen durch kapitalistische Aneignungsformen aus. Genauer gesagt
kann man die Naturbeherrschung als ,,eine Verleugnung und Unterdrückung der
Nichtidentität der Natur"
24
definieren.
Historischer Ausgangspunkt der Naturbeherrschung bildet dabei das Erforschen der
Naturgesetze, welches die ,,Grundlage für die Ausbeutung der Natur als Ressource
kapitalistischer Akkumulation"
25
war ­ so Bauhardt ­ sowie ,,die dichotome
Gegenüberstellung von Natur und Kultur."
26
Der Prozess der Moderne mit der
industriellen Revolution und der unaufhaltsame Wandel zu kapitalistischen
Wirtschaftssystemen führten dabei immanent zu einer Steigerung der Naturbeherr-
schung. Nach Brand und Görg führt dieser Prozess allerdings nicht automatisch auch zu
einer größeren Kontrolle über die Natur, sondern vielmehr zu desaströsen Folge- und
Nebenwirkungen, beispielsweise in Form von ökologischen Krisen oder Naturkatastro-
phen, die vom Menschen nicht zu kontrollieren sind.
27
Folglich beschreibt die
Naturbeherrschung in diesem Sinne mehr als nur die gnadenlose Aneignung natürlicher
Ressourcen. Sie ist vielmehr als Kritik an den gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen
zu verstehen, die auf ökonomischem Denken basieren.
,,Naturbeherrschung meint dabei keineswegs unterschiedslos jede Form
der Aneignung der Natur (dann wäre gesellschaftliche Entwicklung ohne
Naturbeherrschung gar nicht denkbar), sondern eine solche, die Natur
völlig ihren Zwecksetzungen unterwirft und jeglichen Eigensinn, jede
Nichtidentität der Natur ignoriert."
28
Wie wichtig die Berücksichtigung dieser Kritik an einer Herrschaft über die Natur ist,
lässt sich am Beispiel der ökologischen Krise erkennen. Anhand des fortlaufenden
Prozesses einer immer größer werdenden Vergesellschaftung der Natur durch
kapitalistische Aneignungsformen erkannte man, dass die Ressourcen der Natur
24
Görg 2003b, S. 128.
25
Bauhardt, Christine: ,,Ökologiekritik: Das Mensch-Natur-Verhältnis aus der Geschlechterperspektive",
Wiesbaden 2010, S. 316.
26
Ebd.
27
Vgl. Brand/Görg 2003, S. 17.
28
Brand/Görg 2003, S.18. Die Einklammerung erfolgt im Original.

13
begrenzt sind und die Ausbeutung nicht permanent in dieser Weise weitergehen kann.
Deswegen spricht man in diesem Fall auch von einer Krise der gesellschaftlichen
Naturverhältnisse, da das dialektische Verhältnis von Gesellschaft und Natur nicht mehr
im Gleichgewicht zu sein scheint. Man erkannte, dass das ökonomische Wachstum
immer mehr an ökologische Grenzen stößt und dass ein ,,unbegrenzter Fortschritt durch
wissenschaftliche und technische Naturbeherrschung nicht möglich ist."
29
Für das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse bedeutet die Naturbeherr-
schung ­ sowie sie in der heutigen Form definiert wird - eine rein konstruktivistische
Denkweise. Die geforderte Verbindung von Naturalismus und Kulturalismus spielt
hierbei keine entscheidende Rolle mehr, was man auch an der Vernachlässigung des
nichtidentischen Moments der Natur erkennen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass die
Soziale Ökologie gegen jegliche Art von Naturbeherrschung ist, denn sonst wäre ein
Leben in der heutigen Zivilisation auch gar nicht mehr vorstellbar, sondern nur, dass die
Gesellschaft versuchen muss die Naturverhältnisse so zu regulieren, dass die
Waagschale von Natur und Gesellschaft ausbalanciert ist; und dies würde nur mit der
Berücksichtigung des naturalistischen Eigensinns der Natur funktionieren.
30
4. Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse
Nachdem nun die desaströsen Auswirkungen einer absoluten Naturbeherrschung
thematisiert worden sind, wie es während der fordistischen Phase kapitalistischer
Naturverhältnisse bis zur ökologischen Krise in den 70er Jahren der Fall war, stellt sich
die Frage, wie die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse aussehen könnte und
wie sie heutzutage aussieht.
29
Becker/Jahn 2006, S. 54.
30
Vgl. Görg 2003a, S. 11ff.

14
,,Eine erste Bestimmung ergibt sich durch die These, dass diese Verhält-
nisse in jeder Gesellschaft so reguliert werden müssen, dass der
gesellschaftliche Lebensprozess intergenerativ fortsetzbar ist; andernfalls
bricht sie zusammen."
31
Das primäre Ziel der Regulation von gesellschaftlichen Naturverhältnissen ist es
zunächst die Reproduktions- und Entwicklungsfähigkeiten einer Gesellschaft so
fortzuführen, dass die basalen Lebensgrundlagen der jetzigen und der zukünftigen
Generationen erhalten bleiben können und somit der menschliche Fortbestand gesichert
ist.
32
Dabei spielt die Erfahrung des Scheiterns der ökologischen Krise eine zentrale Rolle, da
sie zu einer Art Erwachen der Gesellschaft führte und einen Wandel der Regulations-
verhältnisse zwischen Gesellschaft und Natur eingeläutet hat. Es ,,wurde die Idee einer
völligen Kontrolle der Natur weitgehend aufgegeben.
[...] Die Verwertung der Natur
wird daher zunehmend von den Bemühungen begleitet, ihre destruktiven Folgen
präventiv abzumildern oder reaktiv zu beseitigen ­ eben Natur- und Umweltschutz zu
betreiben."
33
Bei dieser Idee würde der Eigensinn der Natur, also die Nichtidentität der
Natur berücksichtigt werden, da die nachhaltige Entwicklung mit dem Umgang der
Natur im Mittelpunkt stehen würde. Allerdings führte diese Erfahrung der Natur in der
ökologischen Krise in Wirklichkeit keineswegs zu einer grundsätzlichen Änderung der
Naturbeherrschung, sondern lediglich zu einem reflexiven Umgang mit der Natur, was
im Prinzip nur eine andere Art der Naturbeherrschung bedeutete. Die ökologischen
Probleme wurden in die neue Regulationsmethode integriert; in die des Postfordismus.
Es wurde versucht die ökologischen Probleme durch technologische Innovationen oder
durch die Erschließung neuer Verwertungsstrategien, wie beispielsweise der
Gentechnologie, zu lösen und die Grenzen der Natur weiter auszudehnen bzw. neu zu
definieren. Görg beschreibt diesen Prozess auch als ökologische Modernisierung.
34
In
zugespitzter Form bedeutet dies, dass die ,,neuen", also postfordistischen Naturverhält-
31
Beker/Jahn 2003, S. 101; vgl. auch Becker/Jahn 2006, S. 192.
32
Vgl. Becker/Jahn 2006, S. 260.
33
Brand/Görg 2003, S. 19.
34
Vgl. Görg 2003a, S. 140.

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Erstausgabe
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2012
ISBN (PDF)
9783955496500
ISBN (Paperback)
9783955491505
Dateigröße
342 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
soziale Ökologie Agrardiesel Ethanol Zuckerrohr Monokultur Biodiversität
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing
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