Ethnische Differenzierung in der deutschen Grundschule: Die institutionelle Diskriminierung von Migrantenkindern
Zusammenfassung
Erklärungen für die schulischen Problemlagen von Migrantenkindern werden in der öffentlichen Diskussion bevorzugt in den Defiziten der Betroffenen und in ihrem familiären und kulturellen Milieu gesucht. Im vorliegenden Buch wird ihre prekäre Bildungssituation aus einer anderen Sichtweise beleuchtet und die Institution Schule als Verursacher von ethnischer Differenz in den Fokus gestellt.
Die deutsche Grundschule wird auf ihre Funktionsweise und ihre strukturellen und organisatorischen Handlungsabläufe untersucht, welche ethnische Selektionsprozesse einleiten, legitimieren und aufrechterhalten.
Es werden gängige Mechanismen und Praktiken institutioneller Diskriminierung und ihre schädigende Wirkung auf die wichtigen Entscheidungsstufen der Grundschule herausgearbeitet, analysiert und bewertet.
Abschließend zeigt der Autor bildungspolitische und pädagogische Handlungsalternativen auf.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
3. Ethnische Differenzierung in der deutschen Grundschule
3.1 Ursachen ethnischer Differenzierung
3.1.1 Individuelle Ursachen
Ursachen ethnischer Bildungsungleichheit sind bis heute nur bruchstückartig erforscht. Gründe für die Differenz von Bildungsverläufen zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund können in analytisch verschiedenen Dimensionen gesucht werden.
Die aktuelle Literatur entwirft ein Konglomerat an verschiedenen Konzepten, Ursachensträngen, Bedingungsgefügen und Forschungsansätzen, welche in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und nationalen Kontexten entwickelt wurden. Nachfolgend stelle ich einige gängige Argumentationen dar, ohne diese tiefergehend zu analysieren.
Die deutsche Bildungsforschung liegt bislang stark in der Tradition individualistischer Erklärungstheorien. Diese zentrieren ihren Ursachenblick auf die Eigenschaften und Bildungsvoraussetzungen der Kinder sowie ihre familiären Ressourcen und den Einfluss ihres sozialen Milieus. Übliche Betrachtungsmuster orientieren sich an der Herkunftskultur bzw. den besonderen Erfordernissen der Migrationssituation (migrationsspezifischer Strang) sowie der schichtspezifischen Kultur (schichtspezifischer Strang).
Entlang des migrationsspezifischen Strangs werden Erklärungen mit kulturellen Attributen wie verschiedenen Sprachen, ein unterschiedliches Bildungssystem, ein differentes Norm- und Wertesystem oder einem Minderheitenstatus begründet. Frank Olaf Radke beschreibt diese Sichtweise als Kapitalien- bzw. Werterwartungsansatz.[1]
Der eigene kulturelle Habitus und die personellen und materiellen Ressourcen der Familie bilden in diesem Denkraster wichtige Einflussfaktoren für den Schul- und Bildungserfolg eines Kindes. Bildungsbenachteiligungen entstehen folgerichtig aus der von den Schülern sozialisierten differenten Lern- und Herkunftskultur, welche mit den Anforderungen der deutschen Schule nicht übereinkommt.[2]
Es wird davon ausgegangen, dass ein Kind mit der Enkulturation in der Kernfamilie seine Basispersönlichkeit entwickelt. Diese ist kulturell determiniert und später kaum noch zu modifizieren. Mit einer anderen Lernkultur konfroniert, kommt es zu schulischen Konflikten, die eigene Basispersönlichkeit erscheint nicht kompatibel zu dieser.[3]
Variablen wie Sprache, der Bildungs- und Assimilationsgrad der Eltern, familiärer Erziehungsstil, Wertschätzung von Leistungen, die allgemeine Anerkennung des Schulbesuchs, traditionelle Haltungen und Ansichten oder Unkenntnis über das deutsche Schulsystem sind verbreitete Indikatoren für die Erklärung schulischer Problemlagen.[4]
Veranschaulichen lassen sich diese z.B. durch die Iglu Studie 2006 in der es heißt: „Die im Rahmen von IGLU 2006 durchgeführten Mehrebenenanalysen weisen nach, dass der Migrationshintergrund von Kindern {...} einen signifikant negativen Effekt auf das Leseverständnis hat. {…} Der heimische Sprachgebrauch der Kinder erweist sich zudem {...} als eine bedeutende Erklärungsvariable für die gefundenen Unterschiede in der Lesekompetenz. Soziokulturelle und sozioökonomische Rahmenbedingen weisen sowohl bei der Betrachtung von Unterschieden zwischen Kindern innerhalb der Klassen als auch – zusammengefasst als Klassenmerkmal – bei der Erklärung von Unterschieden zwischen den Klassen einen deutlichen Effekt auf.“[5]
Argumentiert man weiter entlang des migrationsspezifischen Strangs besitzen Schüler mit Migrationsbiographie ein zu geringes Humankapital. Als dieses werden i.d.R alle materiellen und immateriellen Investitionen in die Erziehung und Ausbildung eines Menschen gesehen. Die Anhäufung erfolgt zum größten Teil durch die familiäre Sozialisation und speist sich aus dem Humankapital der Eltern (Bildungsabschlüsse, finanzielle Ressourcen, Zeit, Anstrengungen etc.).[6]
Das Konzept des kulturellen Kapitals von Bourdieu in Ergänzung von Willis reiht sich in die Riege der kulturellen Passungsthesen ein. Darauf basierend sind unterschiedliche Leistungserfolge in der Schule nicht (nur) auf individuelle Leistungen und Begabungen zurückzuführen sondern auch auf das spezifisch verteilte kulturelle Kapital.
Das Bildungssystem produziert und bestätigt eine bestimmte Kultureinstellung und dadurch eine Weitervererbung des kulturellen Kapitals. Dieses wird bei Schülern mit Migrationshintergrund durch Anpassungserfordernisse an die dominante Schulkultur und damit einhergehende Entwertungsprozesse herkunftsspezifischer kultureller Kapitalien nachteilig generiert. Schüler mit Migrationshintergrund unterliegen aufgrund des starken Anspruchscharakters der vorherrschenden ziellandspezifischen Kultur einem dauerhaften Risiko, sich den Kernaspekten ihrer soziokulturellen Herkunft zu entfremden, diese zu verlieren bzw. dieser entwertet zu werden.[7] Migrantenkinder haben demnach aufgrund ihrer (augenscheinlichen) defizitären Kapitalausstattung Startnachteile. Ihr Kapital wird in der Schule nicht vollends anerkannt und der Investitionsprozess so erschwert, dass Rückstände nur schwer aufzuholen scheinen.
Der schichtspezifische Strang begründet die schulischen Nachteile ebenfalls mit der mangelnden Passung von Familien- und Schulstruktur, rückt aber die sozialstrukturelle Position in den Vordergrund. Es wird anhand eines „Sozialcharakters“ argumentiert. Kinder und Familien mit Migrationshintergrund haben ergo oft einen niedrigen sozialen Status, Deutschland ist tendenziell durch Migranten unterschichtet.[8]
Grundlage vieler Ausführungen ist die von Raymond Boudon erstellte Analyse zu ungleichen Bildungs- und Sozialchancen.
Bestandteil des Ansatzes ist die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Effekten der Schichtzugehörigkeit. Primäre Effekte beziehen sich dabei auf schichtspezifische Unterschiede im kulturellen Hintergrund und deren Auswirkungen auf schulische Leistungen. Je geringer der soziale Status der Familie ist, umso geringer ist die kulturelle Ausstattung der Kinder und umso begrenzter ist deren Schulerfolg.
Die sekundären Effekte ergeben sich aus der Lage innerhalb des Schichtsystems.
Die primären Effekte schaffen eine Ausgangsverteilung auf der Grundlage des kulturellen Hintergrundes. Die sekundären Effekte lassen das Individuum in Abhängigkeit von ihrer Positionierung im Statussystem unterschiedliche Bildungsentscheidungen treffen.[9]
Der niedrige sozioökonomische Status korreliert bei vielen SchülerInnen oft mit dem Merkmal der Migration und führt zu doppelten Benachteiligungen.
Eine Kerngröße vieler Publikationen und Statistiken ist die Sprache bzw. die Sprachgewohnheiten des Schülers und seiner Familie. Die Beherrschung der Verkehrssprache gilt bis heute als wichtigste Voraussetzung für Schulerfolg. Nicht nur zugezogene Kinder haben Schwierigkeiten mit der Verkehrssprache auch immer mehr in Deutschland geborene Kinder haben verschiedenste sprachliche Unzulänglichkeiten.
Laut Pisa Studie sind mehr als ein Drittel der Leistungsunterschiede zwischen statusgleichen deutschen und Schülern mit Migrationshintergrund, die hier geboren sind, darauf zurückzuführen, dass nur mangelhafte Deutschkenntnisse vorhanden sind.[10]
Probleme mit der deutschen Sprache stellen essenzielle Benachteiligungsfaktoren im deutschen Schulsystem dar.
Es gibt eine Vielzahl von weiteren Erklärungsansätzen. Ursachenforschung findet an verschiedenen Differenzlinien statt, die sich noch schwer miteinander vereinbaren lassen.
Ein einheitlicher, zusammenfassender Argumentationshaushalt ist bisher nicht möglich.
3.1.2 Strukturelle Ursachen
Neben den individuellen, auf die Eigenschaften der Schüler und Familien bezogenen Erklärungsansätzen gibt es jene, die sich mit den Kontextmerkmalen des Bildungsraumes beschäftigen, d.h. mit institutionellen, strukturellen, politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen von Lernprozessen.
Der Fokus liegt hierbei auf der Funktionsweise des Schulsystems, d.h. Benachteiligungen gehen u.a. aus der Organisation und Ausstattung der Schule, der Unterrichtsdidaktik und deren Umsetzung hervor. Auch hier gibt es verschieden gelagerte Erklärungsansätze.
Das Augenmerk meiner Argumentation bezieht sich in diesem Kapitel auf die allgemeine strukturelle Ausrichtung des deutschen (Grund)schulsystems und daraus resultierende Benachteiligungen (besonders für Schüler mit Migrationsstatus).
Viele Schulen sind, eingebettet in breitere soziale und politische Kräftefelder, mit ihren geschichtlich gewachsenen Strukturen, Programmen und Problemlösungsverfahren an der Konstruktion und Rekonstruktion sozialer Unterschiede im hohen Maße beteiligt.[11]
Das deutsche Schulwesen ist in seinem Aufbau und seiner Funktion überaus selektiv.
Viele strukturelle Rahmenbedingungen sorgen dafür, dass eine soziale Auslese in besonders hohem Maße stattfinden kann.
In Bezug auf die Eingliederung von Schülern mit Migrationsstatus stehen die deutschen Schulen in einer homogenisierten und nationalstaatlich ausgerichteten bildungspolitischen Tradition. Über Jahre hinweg wurde in der deutschen Bildungspolitik wenig Rücksicht auf die schulische Integration von Migrantenkindern genommen. Erst in den 70er Jahren begann die Wanderbewegung in Deutschland Einfluss auf die Schulen zu nehmen (Durch den Verbleib vieler angeworbener Arbeiter und Familiennachzug). Während die Frage nach der Beschulung ausländischer Kinder in der ehemaligen DDR faktisch keine Rolle spielte, wurden in der Bundesrepublik nach und nach Beschlüsse und Verordnungen verabschiedet, die schulische Situation zu regeln.
Der steigenden Anzahl von ausländischen Schülern wurde anfangs stark mit von der Ausländerpädagogik beeinflussten schulpädagogischen und didaktischen Ansätzen begegnet. (Vorbereitungsklassen, sprach- und nationalhomogene Ausländerklassen).
Schulstrukturelle und bildungspolitische Maßnahmen wurden lange Zeit nur auf einzelne Zielgruppen mit unterschiedlichem Augenmerk angelegt und behielten den Anstrich von Zusatzmaßnahmen und Notlösungen. Diese Tradition führt trotz einiger Veränderungen bis heute zu einer entsprechenden Pfadabhängigkeit der Schulen.
Ein gravierendes Umdenken im Bezug auf schulische Entwicklungen fand erst im Laufe der 90er Jahre statt. Beschlüsse der KMK wie die „Empfehlung Interkulturelle Bildung und Erziehung“ von 1996 oder der 2003 verabschiedete „Beschluss zum vertiefenden Pisa Bericht“ zeigen bildungspolitische Bemühungen zur Verbesserung der Situation.
Die größtenteils monokulturelle und monolinguale Ausrichtung des deutschen Schulsystems stellt jedoch bis heute ein Hindernis für Schüler mit Migrationshintergrund dar.
In fast allen Familien mit Einwanderungsgeschichte spielen neben der deutschen Sprache mindestens eine oder mehrere andere Sprachen eine bedeutende Rolle für die Kommunikation und Sozialisation. In der deutschen Grundschule findet die Landessprache dieser Schüler im Unterricht kaum Anerkennung, was sich in einer mangelnden curricularen Verankerungen bemerkbar macht. Das Konzept der früheren „Volksschule“ wirkt bis zum heutigen Tage nach.
Marianne Krüger Portraz resümiert, dass in über 40 Jahren Bildungspolitik mit der Tradition der Ausgrenzung gebrochen wurde, jedoch die gefestigten schulischen Eingliederungshilfen und Fördermaßnahmen nicht als Maßnahmen zur Anerkennung und zum Erhalt sprachlich-kultureller Pluralität gesehen werden können. Bildungspolitische Maßnahmen in Deutschland stehen „in einer Traditionslinie von Regelungen, die im Nationalstaat zur Generierung von sprachlich-kultureller und ethnischer Homogenität und damit zur Ausgrenzung des Fremden entwickelt worden sind“.[12]
Das für mich gravierendste Attribut der deutschen Unterrichtslogik hinsichtlich Selektion und Segregation ist und bleibt das zentrale Strukturprinzip der Homogenität.
Der Begriff ist vielseitig diskutiert kann zusammengefasst werden als Klassifizierung und Sortierung von Schülergruppen entlang relevanter Merkmale wie. z.B. Alter, Leistungsresultaten- und Erwartungen oder deutsche Sprachkenntnisse.[13]
Scheinbar objektive Voraussetzungen wie z.B. Lehrmittel, LehrerInnen, räumliche Bedingungen, Schulbeginn und das Alter implizieren eine generelle Chancengleichheit.
Diese ist jedoch nur formal gegeben. Unterricht wird zum größten Teil auf ein fiktives mittleres Niveau ausgerichtet. Heterogenität wird institutionell begrenzt und am unteren Ende des Leistungsspektrums beschnitten.[14] Das Prinzip der Homogenisierung trägt dazu bei, dass die deutsche Grundschule bis heute als Mittelschichtinstitution fungiert, die einen Habitus begünstigt, der vorzugsweise in Mittelschichtfamilien vorkommt.
Organisatorisch legitimierte Instrumentarien wie Zurückstellung, Klassenwiederholung, Förderschulüberweisung oder Schulentlassungen dienen der Aufrechterhaltung der homogenen Klasse.
Die geschichtlich zementierte Schul- und Klassenstruktur in Deutschland trägt daher massiv zur Auslese einzelner Schülergruppen bei.
Die Schule in Deutschland tritt als Normalisierungsmacht auf, die Prozesse der Homogenisierung nicht nur einleitet sondern auch aufrechterhält.[15]
3.2 Institutionelle Diskriminierung
3.2.1 Begriff und Gegenstand der Forschung
„Da viele Diskriminierungseffekte den Organisationen selber verschlossen bleiben und aus der ihnen zugrunde liegenden Logik und Struktur entstehen, ist ein zentraler Untersuchungsgegenstand das „Ungewußte“ oder „Unausgesprochene“ einer Organisation auf seine Entscheidungswirkung unter Aspekten der Gerechtigkeit zu prüfen.“[16]
Anknüpfend an meine allgemeinen Erläuterungen über die Merkmale und Nachwirkungen des deutschen (Grund)schulsystems verdichte ich meine Ausführungen hinsichtlich des Phänomens der institutionellen Diskriminierung.
Diskriminierung im allgemeinen Sprachgebrauch heißt, soziale Unterschiede zu machen und zu bewerten, mit eindeutigen Nachteilen für die betroffenen Personen. Institutionelle Diskriminierung ist ebenfalls ein Ergebnis sozialer Prozesse. Der Terminus „institutionell“ richtet die Ursachen dabei auf das organisatorische Handeln im Netzwerk zentraler gesellschaftlicher Institutionen, d.h. Bildungsbenachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund sind Folge der hiesigen Schulstruktur. Unterschiede in den Bildungsverläufen werden nicht auf Eigenschaften einzelner SchülerInnen und ihr Umfeld zurückgeführt, sondern als Effekte von Vorurteilen, Stereotypien, Traditionen, Programmen, Regeln und Routinen in den Organisationen gesehen.
Das Selektions- und Entscheidungsverhalten der Schulinstanzen und ihr Anteil bei der Reproduktion von Ungleichheit steht im Fokus.
Die Theorie der institutionellen Diskriminierung nimmt also mit systemtheoretischen Mitteln das Verhältnis der Organisation Schule zur sozialen Umwelt unter die Lupe.
„Die Milieu- und Umweltabhängigkeit des Schulerfolgs wird auf Unterscheidungen der Schule zurückgeführt und als Herstellungsvorgang von Differenz reformuliert“.[17]
Der Ansatz bewegt sich somit konträr zu gängigen (individualistischen) Erklärungsansatz- der Bildungsforschung.
Frank Olaf Radke und Mechthild Gomolla sind bekannte Vertreter der Theorie im deutschsprachigen Raum. In ihrem Buch „Institutionelle Diskriminierung“ stellen sie die Ergebnisse ihrer einschlägigen Schulstudie vor. In dieser analysieren sie anhand von Interviews mit Lehrerinnen, Schulleitern, Sonderpädagogen und anderweitigem Personal im Schuldienst sowie Auswertung von Sonderschulgutachten die Entscheidungspraktiken einzelner Schulen eines lokalen Schulsystems (Stadt Bielefeld). Zusätzlich wurden die Rahmenbedingungen der Selektionsentscheidungen erfasst (demographische Situation, lokale bildungspolitische Verordnungen, Muster der örtltchen Schulstruktur).
Gegenstand der Untersuchung waren die schulischen Logiken, Handlung- und Entscheidungsweisen, Legitimation (Semantiken und Begründungshaushalte) und deren diskriminierende und schädigende Auswirkungen für viele Schüler.
Aus den Argumentationshaushalten wurden abstrahierte geläufige Handlungs- und Selektionsmuster rekonstruiert und als gängige Mechanismen institutioneller Diskriminierung typisierend und verallgemeinernd herausgearbeitet.
3.2.2 Mechanismen institutioneller Diskriminierung
Es werden direkte und indirekte Mechanismen institutionalisierter Diskriminierung unterschieden.
„Die allermeisten Möglichkeiten der Diskriminierung von Migranten sind als formale Rechte, bewährte Strukturen, eingeschliffene Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellungen und erprobten Handlungsmaximen in der Mitte der Gesellschaft institutionalisiert, wobei solche Institutionen zumeist in Organisationen (Behörden, Betrieben, Anstalten) ihren Platz finden.“[18] Direkte Diskriminierung fußt auf normativen Regeln, die auf eine gewollte Unterscheidung und Ungleichbehandlung von Schülern abzielen (unmittelbare Diskriminierung). Mechanismen dieser Art sind alle Prozesse, die eine Sonderbehandlung der Personengruppe forcieren (in so genannter fördernder Absicht).[19]
Indirekte Diskriminierung entsteht durch formelle und informelle Regeln und Handlungsmuster, die universell für die gesamte Schülerschaft angewendet werden (mittelbare Benachteiligung).
Schulisch- institutionelle Diskriminierung ergibt sich folglich als Effekt aus Formen der Gleichbehandlung von Schülern mit Migrationshintergrund unter (vermeintlich) neutralen Leistungs- und Bewertungskriterien als auch aus Formen der unmittelbaren Ungleichbehandlung, jeweils im Vergleich mit den Mitschülern und mit eindeutig widriger Auswirkung.
3.3 Die Grundschule als diskriminierende Organisation
3.3.1 Schulische Bestandsinteressen und sozialräumliche Verteilungsmuster
Migrationsprozesse beeinflussen nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Struktur und Zusammensetzung der jeweiligen Population, die eine Bildungsorganisation besucht. Die migrationsspezifische Konzentration auf bestimmte Schultypen ist dabei ein beachtenswerter Effekt.
Es ist zu untersuchen, inwieweit Schüler mit Migrationshintergrund lokalen Konstellationen von Ungleichheit ausgesetzt sind. Im Fokus steht dabei das (mehr oder weniger schwach koordinierte) Zusammenspiel mehrerer Handelnder in unterschiedlichen sozialräumlichen Strukturen innerhalb verschiedener Organisationskontexten. Faktoren wie z.B. die lokale Schulangebotsstruktur, die Nachfrage, das Schulwahlverfahren der Eltern und besonders das Angebotsprofil bzw. die Aufnahme- Versetzungs- und Empfehlungspraxen einzelner Schulen, haben maßgeblichen Einfluss auf die Bildungskarriere eines Kindes.[20]
Aus der Summe der Entscheidungen der Akteure ergeben sich Effekte, die eine Bevor- oder Benachteiligung für den Schüler oder die Schülerin haben können.
In unserem Kontext muss also die (statistisch belegte) migrationsspezifische Konzentration auf bestimmte Schultypen als Ergebnis diffiziler struktureller Vorgänge gesehen werden.
Mit Augenmerk auf die Grundschule ist festzustellen, dass sich die Wahl sich bis heute in aller Regel aus dem jeweiligen Einzugsgebiet ergibt. Dennoch können aus verschiedenen Gründen Änderungen vorgenommen werden (z.B. Schulschließung und Schulöffnungen aufgrund sich verschiebender Bewohnerzahlen eines Einzugsgebietes, Erweiterung bzw. Begrenzung von Schuleinzugsbezirken).
Frank Olaf Radke entwirft die Annahme, dass die sozialräumliche Verteilung von bestimmten (ethnischen) Schülergruppen an bestimmte Schulen organisatorisch gelenkt und bewusst als Exklusionsmöglichkeit genutzt wird. Andere Schulen werden dadurch von ihrer Integrationsaufgabe entlastet. Es ist anzunehmen, dass über Jahre hinweg ähnliche Verteilungs- und Übergangsmuster zum Nachteil von Migrantenkindern produziert werden. Erwartbare Schülerströme stellen für die abgebenden und aufnehmenden Institutionen dabei eine Planungssicherheit dar. Es bilden sich stabile Konstellationen zwischen Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen heraus, die flexibel bei der Interpretation von Leistungen und im Interesse der Vermeidung von Planungsrisiken wiederkehrende Übergangsmuster in höhere Bildungsgänge hervorbringen.[21]
Ethnische Differenzierung und Diskriminierung sind deshalb das Ergebnis des Zusammenspiels von Stadtentwicklung, Wohnraumbewirtschaftung, Schulentwicklungsplanung und dem Aufnahmeverhalten einzelner Schulen.[22]
3.3.2 Das organisatorische System der Grundschule
Ohne tiefer auf verschiedene Systemtheorien einzugehen, illustriere ich nachfolgend einige organisatorische Charakteristika der Grundschule, die mir im Zusammenhang mit dem Thema relevant erscheinen.
Die strukturelle Macht der Schule, hervorgehend aus den dort institutionalisierten Routinen, Rahmungen, Regeln, Gewohnheiten und Konzepten (d.h. den internen Logiken, operativen Codes und Programmen für die Strukturierung sozialen Handelns), ist für die Lernenden immens. In ihr interagieren verschiedene Individuuen, die in hierarchischen, sich ergänzenden Leistungs- und Klientenrollen (in die sie durch zeitweilige Mitgliedschaft eintreten) für die Interaktion in Anspruch genommen werden.[23]
Mitgliedschaft bildet den institutionellen Kern der Schule. Durch sie wird die Zugehörigkeit zum System reglementiert. Die Mitgliedschaftsrolle ist an eine Reihe von normativen Handlungs- Verhaltens- und Aufgabenerwartungen gekoppelt. Die Erfüllung der Mitgliedschaft bewegt sich in einem Rahmen des Erwartbaren, um Ungewissheit und Nichtplanbarkeit organisatorisch handhabbar zu machen.[24] Die Beteiligten stehen in starker struktureller und zeitlicher Kopplung zur Einrichtung.
Über die Entsprechung der Mitgliedschaftserwartungen wird von der Schule in einer kontinuierlichen zeitlichen Abfolge anhand organisationsinterner Verfahren entschieden.[25]
Um die Leistungen der Schülerschaft komprimiert einschätzen zu können, hat sie ein festes Instrumentarium. Notenvergabe und schriftliche Einschätzung dienen zur Leistungsklassifikation. Die vielschichtige Lernwirklichkeit wird damit auf einen generalisierten Code herunter gebrochen. Bestärkung/Tadel, Ja/Nein- Entscheidungen und die formelle sechsstufige Notenskala stellen eine zeitliche Kontinuität her, begrenzen soziale Anschlüsse und verleihen den einzelnen Beurteilungsverläufen sachliche Substanz.[26]
Richtet man den Blick auf den Einfluss einer Organisation, so wird die Bedeutung der in und an ihr beteiligten Personen, ihrer Motive und ihres Wahlverhaltens hingegen relativiert. Dem individuellen Handeln prägt sich die Rationalität der Organisation.[27]
Unter Rationalität vesteht man in diesem Kontext die kulturelle Standardisierung von Problemlösungen. Die Schule kann als ein lose gekoppeltes Kommunikationssystem (loosely- coupled system) betrachtet werden, in dem die Interaktionsebenen Unterricht, die Entscheidungsebene (Selektion und Allokation) und die Begründungsebene eben nur locker miteinander verknüpft sind. Das System bietet daher ständig Gelegenheiten für formale Entschlüsse und legt fest, wer an Entscheidungsprozessen teilnehmen kann.[28]
Charakteristisch ist, dass diese in aleatorischen Konstellationen und unter schwer überschaubarer internen und externen Bedingungen zustande kommen.
Hauptmerkmal ist die begrenzte und zerstreute Verantwortlichkeit der getroffenen Entscheidungen.[29] Die Ebene der Interaktion, d.h. wie im Unterricht in der Autonomie des pädagogischen Personals situationsabhängig gehandelt wird, bleibt weitgehend unkontrolliert. Handlungs- und Entscheidungsabläufe im System Schule sind alterprobt und bewegen sich, im strukturell vorgegebenen Raster, relativ ungesteuert, arbiträr, und mit hohem eigendynamischen Potenzial.
Zur Legitimation der Beschlüsse stellt die Schule bewährte Problemlösungsmuster bereit, die eine Fortsetzbarkeit der Verfahren und den Erhalt der Organisation gewährleisten sollen.
[...]
[1] Vgl. Gomolla/Radke 2007, S. 10
[2] Vgl. Diefenbach 2007, S. 89
[3] Vgl. Diefenbach zit. nach Claessens, 2007, S. 90
[4] Vgl. u.a. Diefenbach 2007, S. 91
[5] Zit. IgluE 2006, S. 29
[6] Vgl. Diefenbach 2007, S. 101
[7] Vgl. Jobst/Skrobanek 2009, S. 104ff.
[8] Vgl. Geißler/Weber-Menges 2009, S. 41
[9] Vgl. Kristen 1999, S. 22
[10] Vgl. Baumert/Schümer 2001, S. 374
[11] Vgl. Gomolla/Fürstenau 2009, S. 15
[12] Vgl. Krüger-Portratz 2005, S. 68ff.
[13] Vgl. Gomolla 2009, S. 23
[14] Vgl. Tillmann 2007, S. 25
[15] Vgl. Leiprecht/Lutz 2005, S. 218
[16] Zit. Gomolla/Radke 2007, S. 19
[17] Vgl. Gomolla/Radke 2007, S. 10ff.
[18] Zit. Gomolla/Radke 2007, S. 18
[19] Vgl. Gomolla/Radke 2007, S. 278
[20] Vgl. Radke 2004, S. 163
[21] ebd.
[22] ebd.
[23] Vgl. Radke 2004, S. 154ff.
[24] Vgl. Gomolla/Radke 2007, S. 265
[25] ebd.
[26] Vgl. Deimann 2004, S. 15
[27] Vgl. Radke 2004, S. 153
[28] ebd.
[29] ebd.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783955496982
- ISBN (Paperback)
- 9783955491987
- Dateigröße
- 186 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,8
- Schlagworte
- Bildungsungleichheit Schulentwicklung Migration Chancengleichheit Schulsystem Diskriminierung