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Das 'Heimat-Moment' in Zeiten der Globalisierung: Eine Identitätssuche zwischen Raum, Gefühl und Struktur

©2012 Bachelorarbeit 57 Seiten

Zusammenfassung

In spätmodernen Zeiten sehen wir uns mit globalen Prozessen der Fragmentierung, Beschleunigung und Pluralisierung konfrontiert. Die Welt ist komplex und schnell geworden. Das Individuum wird vor die Aufgabe gestellt, sich mit diesen Entwicklungen auseinanderzusetzen und sich innerhalb dieser zu positionieren. Dabei gerät auch die persönliche Identität in Fluss, sie wird fluide, brüchig und instabil. Es wird der Bedarf nach einem stabilisierenden Moment deutlich. Die These lautet an diesem Punkt, dass es in Zeiten der Globalisierung zu einer Wiederentdeckung der Heimat als Reaktion auf die beschleunigte Lebenswelt kommt - dem ‚Heimat-Moment’.
Heimat wirkt innerhalb des Beschleunigungsstrudels wie eine Brechung, ein Reflex des Festhaltens, ein Orientierungsversuch. Die Haltlosigkeit, mit denen sich das spätmoderne Individuum innerhalb seiner Selbstkonstitution konfrontiert sieht, fördern die Bindung zur Heimat im Sinne einer Konstanzerfahrung.
Die gegenwärtig zu beobachtende Renaissance von Heimat wird als Ausgangspunkt genommen, um nach Ursachen und Ausprägungen der spätmodernen Identitätssuche zu fragen. Der Heimat-Begriff wird dabei als Teil der persönlichen Identitätsfindung begriffen, denn die Frage nach der Heimat ist immer auch eine Frage nach der persönlichen Identität. Das hier entwickelte Heimat-Konzept bewegt sich in deinem Spannungsfeld von Raum, Gefühl und Struktur.
Wer bin ich, woher komme ich und wo will ich hin - auch oder gerade in Zeiten der Globalisierung haben diese grundlegenden Existenzfragen eine besondere Relevanz.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3 Heimat als raumbezogene Identität

Die „offensichtliche Renaissance raumbezogener Identität“[1] wird in diesem Kapitel zum Anlass genommen, die Prozesse und Funktionen, die damit einhergehen, genauer zu betrachten. Gerade in der Spätmoderne lässt sich die Bedeutungszunahme von territorialen Bindung im lokalen und regionalen Kontext aufgrund von Krisen in der personalen oder Ich-Identität beobachten.[2] Diese Krisen sind einleitend durch das Fluiditätsmoment beschrieben worden und veräußern sich im Prozess des persönlichen Suchens.

Die erste Assoziation mit dem Begriff Heimat ist für die meisten Menschen ein bestimmter Ort. 51 Prozent der Befragten in der aktuellen Spiegel-Umfrage vom März 2012 gaben an, Heimat mit dem Geburts- oder Wohnort zu verbinden.[3] Es besteht also kein Zweifel daran, dass der Heimatbegriff offensichtlich mit einer räumlichen Komponente in Zusammenhang gebracht wird. Das soziologische Lexikon definiert Heimat u.a. als „die Landschaft und Siedlungsform, in der der Mensch zur Persönlichkeit heranwächst und seine ersten entscheidenden sozialen Beziehungen und Bindungen anknüpft“[4]. Hier spielen der Herkunftsgedanke und die Sozialisation mit, die an einen materiellen Ort gebunden sind. „Heimat war stets die Region der eigenen Kindheit“[5], sagt Bernd Hüppauf, für den die räumliche Beschränkung auf einen konkreten Ort unabdingbar für die Entstehung von Heimat ist. Und auch Weichhart spricht bei der Heimat von der „Gesamtheit sozio-territorialer Bindungen an den engeren Lebensraum“[6]. Heimat soll hier als an den Raum gebundene Komponente verstanden werden und ein Lokalisierungsvorhaben einschließen. Dieser Aneignungscharakter ist bei Benno Werlens Verwendung des Begriffs der Regionalisierung zu finden, denn für ihn ist Heimat ein „besonderer Typus subjektspezifisch symbolischer Regionalisierung mit vielfältigen regionalen Identitäts- und Wahrzeichenbezügen“[7].

Was ist raumbezogene Identität? Was ist Raum? Und in welcher Weise ist Heimat auf den Raum angewiesen? Es soll untersucht werden, ob eine Wiederentdeckung der Heimat zu einem kausal-logischen Schluss der Wiederentdeckung des Raumes als materieller Ort führt, oder sich das Konzept der Heimat auch autopoietisch verändern und weiterentwickeln kann, ebenso wie das Konzept des Raumes. Und letztlich welche Rolle die Heimat für die räumliche Verankerung der Identität spielt.

3.1 Identität und Raum

Das Identitätsmoment als Raumkategorie ist in Definitionsversuchen der Heimat bereits deutlich geworden. Werlen spricht von regionalen Identitätsbezügen, Karl-Heinz Hillmann bezieht sich auf die Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz und Weichhart stützt sich auf die persönlichen Raumbindungen. Wie genau funktioniert jedoch die Verknüpfung von Identität und Raum? Gerade in der Soziologie wird der räumliche Aspekt bei der Identitätskonstitution vernachlässigt. Das Individuum wird in Interaktion mit anderen als Bestandteil eines sozialen Systems oder im Hinblick auf seine Sozialisationsentwicklung betrachtet. Seine Verortung im Raum als materielles Umfeld spielt bei der Identitätsforschung meist keine Rolle.

Dabei kann Identität ohne irgendeinen Raumbezug nicht funktionieren, positionieren wir uns doch zwangsläufig, ob bewusst oder unbewusst, an einem Ort. Schon 1975, auf dem Kieler Volkskunde-Kongress, stellte Hermann Bausinger deutlich heraus, dass Identität räumlicher Fixpunkte bedarf. Sie ist zwar primär ein persönlicher Balanceakt, aber dennoch nicht im abstrakten Raum realisierbar. Sie braucht den materiellen Raum und die Umgebung als Haltepunkt.[8] Und auch wenn wir gerade die personale Identität, also die Selbst-Erfahrung, in den Blick nehmen, bedarf die Identität zusätzlich zwangsläufig einer von der Außenwelt vorgenommenen Verortung.[9] Die Funktion des Raumes in der Identitätskonstitution kann als „Identitätsanker“[10] bezeichnet werden, der für Sicherheit, Halt und Stabilität sorgt. Orte und Räume sind wichtige Medien, um Identität herzustellen, zu interpretieren, zu kontrollieren, aber auch um sie zu verändern. Letztlich wird Identität im Raum erst sichtbar und trägt somit zur Identitätsvergewisserung bei.[11] Der Raum wirkt als Bühne des menschlichen Handelns und Schauplatz für das Ich, also für die Darstellung und Veräußerung der eigenen Identität.[12]

Der Zusammenhang von Identität und Raum lässt sich auch bei Marc Augé finden, der als viel zitierter Theoretiker der ‚Nicht-Orte’ gilt. Zwar muss man im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit nach der Identitätskonstitution von Individuen vorsichtig an Augés Konzept heran gehen, da er seine Überlegungen vom Raum aus denkt. Dennoch ist es interessant, wie er die duale Trennung von Orten und Nicht-Orten einführt. Er bettet diese in einen soziokulturellen Hintergrund ein, bei dem letztlich auch der Identität eine tragende Rolle zukommt. Nicht-Orte sind durch ihr Funktionalität geprägt und beinhalten infra-strukturelle, ‚praktische’, also für die ausführende Praxis vorgesehene Einrichtungen. Gemeint sind damit Flughäfen, Autobahnkreuze oder Einkaufszentren, die weder eine eigene Identität aufweisen, noch Identität produzieren. Nicht-Orte sind also identitätslose Orte. Daraus könnte man im Umkehrschluss schließen, dass es Identitäts-Orte gibt. Augé definiert in diesem Sinne Orte als anthropologische Orte, die Identität, Relation und Geschichte beinhalten. Ihnen kommt dabei eine identitätsstiftende Funktion zu. Es ist also möglich über einen Raum als Ort seine Identität zu konstituieren. Damit könnte man die Vermutung aufstellen, dass Heimat als fester Ort gegeben sein muss, wenn sie Einfluss auf die persönliche Identität haben soll.[13]

Wir können und sollten diesen Zusammenhang aber auch vom Individuum, also der Identitätsseite her betrachten, denn bei dieser Beziehung gehen wir natürlich auch von einer gewissen Dialektik aus. Die personale Identität ist eine hochgradig selbstreflexive Bewusst-seinsleistung, bei der man sich innerhalb seines Umfeldes zu positionieren versucht. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Die eigene Existenz wird in Form von Selbstbeschreibungen und -erfahrungen konstruiert. Diese Erfahrungen sind an verschiedene Dimensionen gekoppelt, die es wiederum erst ermöglichen, sich beschreibbar zu machen, z.B. durch die Zugehörigkeit zu einer Nation, den eigenen Beruf, die persönliche Weltanschauung, aber auch durch den umgebenden Raum: „Für die Beschreibung des eigenen Selbst kann das Individuum unter anderem also auch Merkmale heranziehen, die sich aus seiner Position im physischen Raum ergeben: Gebürtigkeit, Wohnstandort, räumliche Schwerpunkte der sozialen Interaktionen [...].“[14]

Davon ausgehend hat Weichhart sein Konzept der raumbezogenen Identität entwickelt, welches für diese Arbeit eine willkommene theoretische Fundierung liefert. Es beschäftigt sich mit der Verknüpfung von Identität und Raum unter Einbezug einer emotionalen Komponente.[15] Raumbezogene Identität meint grundlegend die persönliche und emotionale Bindung an einen bestimmten Raumausschnitt. In nachfolgender Betrachtung ist dabei besonders die so genannte Ortsbezogenheit wichtig. Der Mensch bezieht sich in seiner Identitätskonstitution auf einen Ort. Für Weichhart ist diese Idee ein Phänomen, das die Heimat als Konzept beschreibt und, seiner Meinung nach, eine fundierte Erklärung und Einordnung erlaubt. Heimat ist demnach raumbezogene Identität, ist, extrem vereinfacht gesagt, die Kopplung der Persönlichkeit an einen Ort. Dies passiert auf kognitiv-emotionaler Ebene in Form von persönlichen Bewusstseinsströmen oder, wie es Weichhart et al nennen, von „wissens- und gefühlsbezogene[n] Denkoperationen“[16]. Wichtig dabei ist, dass diese Denkleistungen im Zuge der Persönlichkeitsentwicklung stattfinden und dadurch eine direkte Verknüpfung zur Identität aufweisen. Raumbezogene Identität hat maßgeblichen Einfluss auf die „Entwicklung und Aufrechterhaltung der personalen Einheit, Geschlossenheit und Selbstidentität des Individuums“[17]. Den Identifikationsprozess durch räumliche Bezüge stellt Weichart, ausgehend von C.F. Graumanns Konzept der multiplen Identität, anhand dreier Stufen dar: identification of, being identified und identification with.[18]

Identification of meint die aktive, gedankliche Erfassung eines Objektes durch ein Subjekt, d.h. im Sinne der raumbezogenen Identität, dass eine kognitiv-emotionale Repräsentation von räumlichen Objekten (Orten) im Bewusstsein des Individuums hergestellt wird: „Ich identifiziere Jena als Hochschulort.“

Being identified beschreibt einen passiven Prozess des Identifiziertwerdens, in dem das Subjekt durch andere Subjekte beschrieben und verortet wird, d.h. dass eine gedankliche Repräsentation eines Subjektes im Bewusstsein anderer stattfindet, wobei die Eigenschaften des identifizierten Subjektes vom Raum abhängen: „Ich werde von anderen Personen als Jenaer Studentin identifiziert.“

Identification with bedeutet die Identifikation eines Subjektes mit seinem räumlichen Umfeld, indem das betreffende Objekt auf die eigene Ich-Identität bezogen wird, in Form einer gewissen Aneignung und Einverleibung. Der direkte Zusammenhang von personaler Identität und Raumobjekt wird deutlich: „Ich identifiziere Jena in einer persönlichen Denkleistung als meinen Studien- und momentanen Lebensort.“

Die Leistungen der raumbezogenen Identität sind dabei vielfältig und wirken in verschiedenste Dimensionen ein. Erstens steht sie für Sicherheit und das Streben des Menschen nach Ankerpunkten und Einfachheit auf Basis der Bedürfnistheorie. Diesem Theorieansatz wird auch zweitens mit Aktivität und Stimulation gefolgt, welche durch autonome Handlungsfreiheit, die an einem bestimmten Ort empfunden wird, erzeugt werden. Drittens ist die soziale Interaktion und Symbolik zu nennen, in dem materielle Raumstrukturen oder Raumobjekte als Träger sozialer Botschaften wirken. Viertens wirkt eine stabilisierende Leistung auf das Selbst und seine Identitätsbildung und Individuation dadurch ein, dass Raumattribute als Symbole des Selbst herangezogen werden. Als wichtigster Punkt ist fünftens der Einfluss auf die Systeme in Form von sozialer Kohäsion und Gemeinschaftsbindung zu beobachten. Raumbezogene Identität fördert das Selbstverständnis des sozialen Umgangs mit anderen Bewohnern des gleichen Raumes im Sinne einer Kontex-ualisierung. Soziale Phänomene werden dabei als sozialräumliche Phänomene betrachtet.[19]

Auf Kritik an seinem Konzept versuchte Weichhart mit Widerlegungen zu antworten und bedauerte gleichzeitig stets die schwache Thematisierung raumbezogener Aspekte in der Identitätskonstitution. Schon 1990 diagnostizierte er eine zunehmend größer werdende Relevanz im Zuge der gegenwärtigen sozialen Entwicklung. Dass er den Raum in das Identitätskonzept hereingeholt hat und dieses Vorgehen seit Jahrzehnten stark vertritt, kann als großer Verdienst angesehen werden, aber nicht über berechtigte Kritik hinwegtäuschen. Gerhard Hard formulierte diese folgendermaßen: Raumbezug könne nur traditionellen Gesellschaftsformen zugeschrieben werden; Soziale Strukturen seien ortsunabhängig; Regionalbewusstsein sei nicht natürlich gegeben sondern ein Instrumentarium; Kommunikation sei a-räumlich und in globaler Homogenität verankert und letztlich sei Weichhart einen geographischer Denkfehler unterlaufen, indem er räumliche Codes zur Erklärung sozialer Phänomene herangezogen habe.[20]

Aus dieser Kritikformulierung können wir gut die unterschiedlichen Sichtweisen der Geographie und Soziologie ableiten. Hard, seines Zeichens Geograph, geht mit einer starken sozialwissenschaftlichen Denkweise an Weichharts Konzept heran und könnte plakativ als starrer Vorzeige-Soziologe gehandelt werden. Seine Kritik eröffnet den Blick auf die grundlegende Frage was Raum eigentlich ist. Die geographische und soziologische Sichtweise darauf unterscheiden sich eklatant, indem sie zwar den selben Forschungsgegenstand (Raum) haben aber von zwei verschiedenen Blickrichtungen ausgehen. Der Soziologie könnte man des Weiteren unterstellen, dass sie nicht einmal den Raum im Interessefeld behandle, sondern ihn als notwendiges Übel, in dem eben soziales Handeln stattfindet, ansehe.

Um diesen Diskurs etwas aufzulösen, soll im Nachfolgenden der Versuch einer transdisziplinären (im Sinne einer positiven Verknüpfung der geographischen und soziologischen Sichtweise) Analyse unternommen werden, um nach der grundlegenden Definition von Raum und seinen paradigmatischen Umbrüchen zu fragen.

3.2 Bedeutungswandel Raum

In der Globalisierung ist eine Bedeutungszunahme territorialer Bindungen zu beobachten, sagt Weichhart. Ist das wirklich so? Bernhard Waldenfels folgend, müssen wir uns bei der Wieder-kehr des Raumes auch fragen, was da genau wiederkehrt oder auch nicht wiederkehrt.[21] Kommt es tatsächlich zu einer Wiederentdeckung des Raumes als physisch-materiellem Territorium? Oder handelt es sich zwar um eine Wiederentdeckung des Raumes, aber in einem abstrakteren Sinne, in dem Raum nicht (mehr) an Materie gebunden ist, in dem Raum offen, imaginär, medial, relational wird?

Weichhart vertritt nur eine Strömung innerhalb dieses Diskurses. Ganz anders Andreas Huber, der nach differenzierter Gegenstandsbetrachtung so weit geht, zu fragen: „Wird der Raum ebenso von neuen Technologien abgeschafft, wie auch zunehmend die Zeit abgeschafft wird?“[22] und stellt die Abschaffung bzw. das Verschwinden des Raumes in der Spätmoderne zur Diskussion. Diesem Gedankengang folgt auch Asta Vonderau, in dem sie die Relativierung des Raumes im sozialwissenschaftlichen Diskurs diagnostiziert:

„Territorialität wird also als Prinzip einer in einem Nationalstaat verkörperten Gesellschaftsordnung relativiert und verliert in der sozialwissenschaftlichen Diskussion an Bedeutung. Thematisiert werden stattdessen die Entstehung neuer Formen des Lokalen wie auch die Verschiebung der räumlichen Dimensionen von Außen und Innen, von Hier und Dort, von Eigen und Fremd, die die Tatsache des Wandels beobachtbar und, aus der Perspektive vieler Sozialwissenschaftler, offensichtlich machen.“[23]

Es kommt zu einer Verschiebung vom ‚Raum als Prinzip’ zum ‚Raum als Kategorie’, die vor allem die Kognition des Individuums anspricht. Das bedeutet, dass eine veränderte Raumwahrnehmung seitens der Menschen gefordert ist bzw. stattfindet. Wie sehen diese räumlichen und kognitiven Verschiebungen genau aus? Immer wieder tauchen in der gegenwärtigen Zeit ‚neu entdeckte’ Räume auf. Plötzlich spricht man von einer Dualität des lokalen und globalen Raumes oder vom virtuellen Raum. Daraus können wir schlussfolgern, dass Raum ein Konstrukt ist und erst in der Raumwahrnehmung des Menschen entsteht. Doch wie hat sich dieses Raumverständnis und der Bedeutungswandel des Mediums Raum gebildet? Was ist mit dem natürlich gegebenen Naturraum passiert? Und wie ist der Raum in Zeiten der Globalisierung aufzufassen?

3.2.1 Was ist Raum?

Die Frage nach dem Raum an sich, stellt sich hier in dem Kontext des besseren Verständ-nisses von Raum als Kategorie, im speziellen als Heimat-Kategorie. Um Raum als heimat-konstituierend einordnen zu können, muss zunächst klar sein, was Raum eigentlich meint. Folgen wir Doreen Massey, können wir dieses Kapitel damit begründen, dass im Raum-Identitäts-Verhältnis die personale Identität bereits zu Genüge untersucht wurde, der Raum jedoch weitestgehend ausgelassen wurde.[24] Nachfolgend unternehmen wir daher eine historische, disziplingeschichtliche Reise, um verschiedene Raumverständnisse (natürlich nur skizzenhaft) kennen zu lernen.

Das traditionelle Raumverständnis geht seit der Antike vom Raum als natürlich gegebenen Landschaftsausschnitt aus und sieht ihn in einer geodeterministischen Denkart als festen Container und unveränderbaren Behälter an. Räume werden identifiziert und als handlungsbestimmend charakterisiert. Erst zur Mitte des letzen Jahrhunderts kam es in der Geographie zu einem eklatanten Umbruch des Raumverständnisses, der einen Wandel von der reinen Landschaftskunde zur Raumwissenschaft aufzeichnet. Im Zuge des Kieler Geographentages 1969 wurde die Abkehr von starren und vereinfachten landschaftsgeo-graphischen Erdbeschreibungen hin zu einer komplexen, problemorientierten Wissenschafts-disziplin gefordert. Mit Dietrich Bartels, der den raumwissenschaftlichen Ansatz vorantrieb, kann ein wichtiger Paradigmenwechsel für die Geographie als Wissenschaft und den Raum als Forschungsgegenstand beschrieben werden. Mit dieser raumkritischen Wende wurde der Raum nun nicht mehr als objektive Gegebenheit angenommen, sondern als Konzeption, die es ermöglichte, Dinge dreidimensional zu charakterisieren, zu ordnen und in Beziehung zueinander zu setzen. Der Raum wird als Beziehungsgefüge verstanden und mit Raumgesetzen und Lagebeziehungen versehen. Es wird nach Bedeutungszuschreibungen gefragt, nicht mehr nach dem Wesen, womit die hier verwendete Kapitelüberschrift ‚Was ist Raum?’[25] eigentlich überholt wäre. Im Zuge einer kognitiven Wende, mit Wolfgang Hartke als Vorreiter, verschob sich das Raumverständnis von einem raumwissenschaftlichen zu einem verhaltenstheoretischen. Nicht die objektiv, metrischen Raumrelationen, sondern die individuelle Wahrnehmung, Bewusstseinsleistung und Verhaltensweise rückten in den Mittelpunkt. Theoretisch wurde dies mit Reiz-Reaktions-Schemata im Sinne des Behaviorismus begründet. Individuelle Raumbilder und persönliche Erlebnisräume gingen mit einer verstärkten Zentrierung des Menschen im Raum einher. Dass der Mensch letztlich im Mittelpunkt steht und nun gänzlich unabhängig von Naturgegebenheiten seinen eigenen Raum kreiert, ist die These des neuerlichsten Raumverständnisses in der Geographie, dem handlungszentrierten Ansatz. Hier wird das Handeln des Menschen im Raum untersucht, wobei Raum eine Reduktion zur Dimension des Handelns erfährt. Raum ist also Ergebnis sozialer Beziehungen und Konstruktionen, er ist relational geworden. Die handlungszentrierte Raumwissenschaft versucht zu verstehen, wie Raumkonzeptionen stattfinden und in welcher Weise Menschen ‚Geographie machen’, z.B. durch alltägliche Regionalisierung (vgl. dazu Werlen).[26]

In der Soziologie hat das geodeterministische Raumbild länger Bestand gehabt und wurde nie wirklich durch ein neues forschungsrelevantes Verständnis abgelöst, sondern eher unter den Tisch fallen gelassen. Regina Bormann diagnostiziert den Raum in der soziologischen Moderne als Residualkategorie zugunsten der Zeit. Erst ab den 1970ern findet eine Aufwertung des Raumes statt, was eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem Raum als Gegenstand und Forschungsfeld mit sich bringt. Dieser Wandel der Hinwendung zum Raum, der mitunter als ‚spatial turn’ bezeichnet wird, und die Postmoderne als „Epoche des Raumes“[27] charakterisiert, kann auf vier Prozesse zurückgeführt werden. Zum einen rückt durch die Dekonstruktion der Moderne der vernachlässigte Raum gegenüber der Zeit zwangsläufig wieder ins Bewusstsein. Daneben produziert die Globalisierung neue Raum-ordnungen, in welchen auf wissenssoziologischer Ebene der Raum als neue Leitkategorie gehandelt wird (dagegen wird in Anbetracht des physisch-materiellen Raumverständnisses der Raum als Verschwindendes gesehen). In der Postmoderne ist außerdem eine Kulturalisierung der Soziologie zu verzeichnen, was bedeutet, dass eine Hinwendung zur subjektiven Mikroebene stattfindet und alltagsweltliche Orte und Territorien ins Blickfeld rücken. Und letztlich weisen Globalisierungsprozesse auf Interdependenzen von lokalen und globalen Veränderungen hin, in welchen der lokale Raum keine Residualkategorie mehr ist, sondern auf globale Makroprozesse übertragen werden kann.[28]

Der Raum hat theoriegeschichtlich eine Wandlung von einer naturräumlich gegebenen Landschaft hin zu einem individuellen Raumkonstrukt gemacht. Da dies auf verschiedenste paradigmatische Brillen und Forschungsbetrachtungen verweist, ist hoffentlich deutlich geworden, dass es unmöglich ist, den Raum mit einer festen Definition zu versehen. Auch für die Untersuchung des Raumes in der Wiederkehr der Heimat ist es daher von Nöten, sich die Paradigmenvielfalt vor Augen zu führen.

Was dennoch nicht passieren darf und gerade in der soziologischen Tradition viel zu oft verfolgt wird bzw. unhinterfragt bleibt, ist die Klammerung an den Container-Raum im Sinne eines „vulgärräumlichen Denkens“, da dieses „sich tatsächlich nicht wesentlich von den raumdeterministischen Ansätzen des frühen 20. Jahrhunderts unterscheidet, wenn der Raum nun ungebrochen zum Anlass und Gegenstand jeglicher Beschäftigung erhoben wird“[29]. Tatsächlich spielt der Raum vor allem in Zeiten der Globalisierung eine unangefochten wichtige Rolle, geht es doch immer um räumliche Anordnungsmuster sozialer Beziehungen. Dennoch warnt Helmuth Berking vor einer allzu unreflektierten Betrachtungsweise und einem zwanghaften Denkverhalten im Sinne der naiven Containertheorie. Daher fordert und beobachtet er eine „Renaissance raumtheoretischer Reflexion“[30], die zusammen mit dem Bewusstsein vom Sozialen als sozialräumliche Vergesellschaftung daherkommt. Raum kann in diesem Sinne nun nicht mehr als starre Kategorie angenommen werden, sondern ist als dynamischer Prozess zu begreifen. Wir folgen daher der „Prämisse [...], daß Raum weder gegeben noch bloßes Wahrnehmungsphänomen ist, sondern durch Bewegung und durch Wahrnehmung sowie durch soziales und symbolisches Handeln von Menschen hervorge-bracht wird“[31].

In Zeiten der Globalisierung findet eine extreme Häufung von verschiedenen Raumparadigmen und Diskussionsbeiträgen statt. Diese differenzierten Raumverständnisse gehen mit einer veränderten Realwelt einher. Soziale Prozesse sind immer auch räumlicher Art. Ebenso zeigen sich individuelle Selbstverhältnisse in räumlichen Anordnungsmustern und umgekehrt. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit, das fluide gewordene Identitätskonzept des Menschen, hat Auswirkungen auf dessen räumliche Seinsweise und steht ebenso unter dem Einfluss globaler Raumverhältnisse. Raum und Identität können zusammen gedacht werden, wenn die jeweiligen Konzepte angepasst werden. Massey geht z.B. von einem relationalen Raum- sowie Identitätsverständnis aus. Identitäten konstituieren sich demnach durch Beziehungen zu anderen. Ebenso ist der Raum nicht Produkt von Beziehungen, sondern entsteht durch globale wie lokale Interaktionen.[32]

3.2.2 Das Raum-Paradoxon

Innerhalb dieser spätmodernen Paradigmenvielfalt fallen zwei gegensätzliche Entwicklungs-linien auf, die ein Paradox vom Bedeutungsgewinn und -verlust des Raumes beschreiben. Vonderau erkennt hier zum einen das Motiv des (Ver-)Schwindens, zum anderen das Motiv der Entstehung von Räumen.[33] Markus Schroer beschreibt diese Beobachtung als Grenz-verschiebung, in dem er die „Verschränkung von Enträumlichungs- und Verräumlichungs-prozessen, mit Entgrenzung und Begrenzung, Deterritorialisierung und Reterritorial-isierung“[34] erkennt und letztlich eine Krise der Raumvorstellungen ausmacht.

An dieser Stelle wird von der Enträumlichungs-These[35] ausgegangen, im Sinne einer „new, disturbing placelessness“[36]. Grundgedanke ist dabei, die Globalisierung als ein medi-ales Zeitalter mit neuen Vernetzungstechniken zu sehen, durch welche der Raum zum relationalen Konstrukt wird und seine Bedeutung als Gegenstand verliert. Die Raum-soziologin Martina Löw bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt, wenn sie fragt, ob eine „Substitution realweltlicher Handlungsfelder durch eine zunehmende Virtualisierung“[37] stattfindet.

Begeben wir uns dafür auf eine Indiziensuche. Zunächst zeigt sich eine Enträumlichungstendenz in den strukturellen Lebensformen der Menschen in Zeiten der Globalisierung, was in Werlens Konzept der Lebensformen deutlich wird. Er stellte traditionelle und spätmoderne Lebensformen gegenüber, indem er diese in räumlicher und zeitlicher Dimension untersuchte. Traditionell fand das Leben in nicht diskursiven, stabilen Regelungen in Form lokaler Dorfgemeinschaften statt. Face-to-Face-Interaktionen und eine geringe interregionale Kommunikation förderten die räumliche Verankerung. In der Spätmoderne bricht diese Stabilität in eine diskursive Lebensbegründung in Form von neuen Routinen, Stilen und Generationenkulturen auf. In räumlicher Hinsicht dominieren Beziehungen und Interaktionen über Distanzen hinweg, der dörfliche Lebenskontext wird zu einem globalen Erfahrungskontext mit weltweiten Kommunikationssystemen. Werlen diagnostiziert für die Spätmoderne eine, wie er es nennt, räumliche Entankerung bzw. einen Verlust zentraler Verankerungsmechanismen.[38] Als zweites Indiz kann die Neubildung transnationaler Räume und die Aufhebung von Grenzen dienen. Wir befinden uns gegenwärtig in einer Zeit, in der wir uns ganz selbstverständlich im Raum bewegen können. Am Beispiel des Reisens wird deutlich, dass bereits die direkten Generationen vor uns, nicht die (finanzielle, politische, technische,..) Möglichkeit hatten über Kontinente hinweg zu jetten. David Harvey bezeichnet diese neuerliche Verdichtung von Raum und Zeit als time-space-compression und erkennt dadurch einen Bedeutungsverlust räumlicher Barrieren. Durch aufgehobene Grenzen sind Räume in der Globalisierung nicht mehr klar definiert; es ist zu einer Enträumlichung gekommen. Als letztes Beispiel richten wir den Blick auf die globale Stadtstruktur, also die Weltstädte. Das System der Global Cities nach Saskia Sassen stellt eine Triade aus New York, London und Tokio dar, die gemeinsame Steuerungsfunktionen über nationale Grenzen hinweg teilen. Die Städte bilden einen vernetzten Raum, der über die Einordnung in lokal und global hinausgeht und somit unabhängig von Lokalitäten oder Nationalitäten besteht. Der Raum ist somit zum Konstrukt oder gar Artefakt geworden.[39]

Raum spielt in diesen Beispielen als Objekt keine gewichtige Rolle mehr, indem sich über ihn hinweggesetzt wird. Diese Entwicklungen auf struktureller Ebene zeigen sich auch in anderer Form, zum Beispiel am Handeln. Grundlage der Handlungstheorie ist die Annahme vom wechselseitigen Verhältnis von Handeln und Raum. Ohne Raum ist kein Handeln bzw. soziale Ordnung möglich und ohne Handeln ist ebenso wenig Raum möglich. Jede Gesellschaft hat räumliche Organisationsformen, d.h. dass neue räumliche Bedingungen zu neuen Gesellschaftsformen führen (Raum-Moment). Raum ist dabei Ergebnis der Aneignung und Bedeutungszuschreibung durch den Menschen (Handlungs-Moment). Diese Theorie findet man u.a. in Anthony Giddens Theorie der Lokalisierung von Handeln, in welcher er annimmt, dass Handlungen im Raum lokalisiert sind. Sie sind nicht zwangsläufig für die Raumkonstitution zuständig, Raum wird aber dennoch erst über das Soziale definiert. Auch Werlen beobachtet diesen Zusammenhang verstärkt in der Globalisierung und geht einen Schritt weiter, wenn er von der Regionalisierung von Handeln spricht. Durch alltägliches Geographie-Machen, das eine aktive Einwirkung des Menschen beschreibt, wird Raum durch Handeln produziert. Ebenso ist das Handeln durch Raumstrukturen bestimmt. Löw geht auch von diesem reziproken Verhältnis aus. In ihrer Dualität von Räumen erkennt sie die Raumkonstitution auf zwei Ebenen, einerseits durch Spacing (im Sinne von Errichten, Bauen, Positionieren), anderseits durch eine Syntheseleistung, in welcher Güter oder Menschen mit dem Raum verknüpft werden.[40]

Diese kurz angerissenen Theorien zeigen, dass es in der Globalisierung zu einer Verstärkung und Intensivierung der Dynamik zwischen Raum und Handeln kommt. Auf die beobachtbare Enträumlichung folgt im Umkehrschluss ein Bedeutungsgewinn des Handelns, im Sinne von relationalem Handeln, Netzwerkbildung, Interaktion. Nur durch Vernetzung und in Kontakt bleiben kann letztlich der Raum gehalten werden. Belege für diese Reaktion sind überall im Alltagsleben zu finden. Zum Beispiel auf partnerschaftlicher Ebene mit dem ‚Trend’ der Fernbeziehung, in welcher die raumzeitliche Entkoppelung der Liebe eine starke Interaktionsbereitschaft der Partner erfordert. Ebenso sind Freundschaften weltweit über Kontinente hinweg möglich, aber nur durch aktives Vernetzen im ‚world wide web’. Auch auf politischer Ebene finden Kooperationsbestrebungen statt, z.B. bringt die Ausdehnung der Europäischen Union eine Zunahme an Beziehungen mit sich. Und in der Wirtschaft kommt den informellen Beziehungen und dem ‚Netzwerken’ eine immer größere Bedeutung zu. Für Manuell Castells münden diese neuzeitlichen Entwicklungen in einem ‚Raum der Ströme’ und einer Netzwerkgesellschaft. In erdballumspannenden Austausch-prozessen zählen Flexibilität und Vernetzung, Austausch und Wechselwirkungen. Raum wird bei Castells nur noch gefestigt durch eine digitale Einbettung und Schaltstellen wie Global Cities, die von Eliten der Macht, den Innovationsmilieus, gesteuert werden.[41]

Trotz dieser teils fundiert logisch, teils radikal anmutenden Theorien zur Enträumlichung bleibt die Skepsis an der Auflösung des Räumlichen. Wohin soll diese Entwicklung gehen? Befinden wir uns bald in einem luftleeren Zustand ohne Anker, ohne ‚Boden unter den Füßen’? Genau an diesem Punkt greift das ‚Heimat-Moment’, das als Gegenreaktion eingeordnet werden kann. Der theoretische Vorlauf zur Enträumlichung zeigt uns nun, wo und in welcher Weise die Heimat wirkt.

3.3 Heimat zwischen Wiederverankerung und Loslösung

Vorangegangene Überlegungen lassen es zu, die These zu bilden, dass in Zeiten der Globalisierung der Raum verloren gegangen ist, was sich als Enträumlichung darstellt. Da das Individuum mit einer fluiden und daher problematischen Identitätskonstitution zu kämpfen hat, braucht es Orientierungshilfen, z.B. in Form einer lokalen Territorialität. Es setzt sich also über die makrostrukturellen Enträumlichungstendenzen hinweg und versucht sich wieder an einer räumlichen, gewohnten, stabilen Ordnungen festzuhalten. Für viele Menschen findet sich diese Stabilität im Heimatgedanken wieder. Ein gesamtgesellschaftliches Heimat-Moment ist zu beobachten. So hat der eigentlich verursachende Faktor der Enträumlichung den Gegenprozess der Wieder-Verankerung bedingt. Dieser Begriff wurde bereits von Werlen geprägt und als Reaktion auf die spätmodernen Entankerungsmechanismen diagnostiziert. Letztlich bringen gerade die Enträumlichungsprozesse eine neue Form der Ortsbindung und Wiederverankerung im Raum hervor, die sich als Heimat-Moment beschreiben lassen. Nachfolgende Übersicht, von links nach rechts zu lesen, fasst die Argumentation und Ergebnisse noch einmal auf einen Blick zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Schematische Darstellung der Argumentation zur Dimension Raum

Die Hinwendung zum Raum wird in der Wissenschaft auch als Form der Abwehr und des Kompensationsmechanismus gegen spätmoderne Prozesse der Beschleunigung, Univer-salisierung oder Vereinheitlichung verstanden. Heimatbestrebungen resultieren also aus makrosozialen Prozessen und Rahmenbedingungen, aber auch, und vor allem, aus individuellen Sinn- und Identitätskrisen. Daher lässt sich auf mikrosozialer Ebene die These finden, dass der Mensch seinem Wunsch nach überschaubarer räumlicher wie sozialer Zuordnung nachgeht. Diese Stabilisierungsversuche sollen vor allem der eigenen Orientierung behilflich sein.[42]

Am Ende dieses Kapitels ist deutlich geworden, dass in der Heimat ein enger Zusammenhang von Raum und Identität besteht. „Heimat-Territorien sind also Orte, an denen Ich-Identität besonders nachdrücklich stabilisiert werden kann“[43], so Weichhart. Folglich sind sie somit ein prädestiniertes Mittel zur Lösung des fluide gewordenen Identitätskonzepts. Heimat ist der beste Ort Ich-Identität zu entwickeln, zu verstärken und sich selbst ständig aufs Neue zu bestätigen. Auf der anderen Seite hilft sie auch dabei sich in der Welt zu positionieren und eine Haltung zur Umwelt einzunehmen, also eine ‚Ich-Welt-Kongruenz’ herzustellen. Diese braucht man letztlich, um das eigene Handlungspotenzial zu entfalten.

Wichtig ist dabei aber auch, Heimat im Sinne der zuvor behandelten Raumdiskussion und Enträumlichungsthese auf neue Art zu verstehen, denn sie ist in der Spätmoderne, Rosa folgend, immer weniger an geographische Räume gebunden, sondern vielmehr an ein global reproduziertes Ambiente, d.h. sie beschreibt nun nicht mehr unmittelbar einen festen materiellen Raumausschnitt, sondern eine Umgebung oder Raum-Atmosphäre.[44] Im wissenschaftlichen Diskurs lassen sich einige Ansätze finden, die zu einem Umdenken der Raum- und folglich der Heimatkategorie aufrufen. Eine extreme Form ist dabei, der Tendenz der neu entstehenden virtuellen Räume folgend, die Heimat ebenso als virtuelle Größe ohne materiellen Raumbezug zu denken. Orte, die identitätsstiftend seien (wie die Heimat einer ist), fielen immer seltener mit den wirklichen Lebensräumen zusammen, sondern würden sich auf eine virtuelle und imaginäre Welt verschieben.[45]

Diese Beispiele zeigen, dass sich im Zuge des sich verändernden Raumverständnisses und der Reorganisation des Raumes auch die Raumaneignung und letztlich das Heimat-verständnis wandeln. Gerade der ‚spatial turn’ als Wiederentdecken des Raumes in der Spätmoderne muss kritisch-reflexiv aufgenommen werden. Waldenfels bringt es auf den Punkt: „Wiederkehr des Raumes besagt nicht, daß wir in den Raum zurückkehren wie in eine wiedergefundene Heimat, in der alles und wir selbst einen sicheren Platz hätten.“[46] Der Raum weise stattdessen gewisse Risse und Spalten, Verwerfungen und Verzweigungen auf, die das Raumbild gänzlich neu darstellen. Diese Vorstellung ist auf die Heimat als Raumdimension übertragbar. Gerade ihre Wiederkehr macht sichtbar, dass wir gegenwärtig in einer Zeit spannungsreicher und pluraler Raum- und Zeiterfahrungen stecken.[47] Dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn wir Heimat als materiellen Ort annehmen wollen. In Zeiten der Globalisierung löst sich diese Annahme auf. Man kann sagen, die Heimat ist von einer (räumlichen) Loslösung begriffen.

Eine kritisch-resignative Reflexion dieser Grundidee unternimmt Beate Binder, indem sie feststellt, dass Heimat „noch immer“ als „territorialisierte Essenz ge- und verhandelt [wird, T.O.], als an einem Ort statt finde[nd]“[48]. ‚Noch immer’ verweist dabei auf Stagnation, also auf die Kenntnis von der Ortsbindung und gleichzeitig auf den Wunsch nach Veränderung. Gerade die Rede von der Heimat trage zur Verankerung von Lokalitäten und Ortsbezogenheiten bei. Der von vielen Autoren geforderte Prozesscharakter bleibt eine leere Hülle, indem die Ortsgebundenheit noch nicht überwunden ist. Mit Robertson kritisiert sie, dass die Abhängigkeit zwischen der Möglichkeit Heimat direkt und indirekt zu bestimmen und der kontingenten Konstruktion und Organisation der Kategorien Raum und Zeit nicht berücksichtigt wird.[49] Diese Neuformation der Heimat fordert vom Individuum eine besondere Aktivität. Es muss bewusst den Heimatgedanken als Aneignungsprozess anerkennen. Binder beschäftigt sich in ihrer Forschungsarbeit z.B. mit Praxen der Beheimatung und fragt danach wie Heimat hergestellt und aufrechterhalten wird.[50] Auch bei Werlen lässt sich der Auftrag an das Individuum herauslesen, denn er spricht von der Heimat als subjektzentriertem Anwendungsmechanismus. Im Sinne seiner Theorie der alltäglichen Regionalisierung sieht er in der Heimat einen besonderen Typus symbolischer Regional-isierung, womit er den Prozess einer aktiven Aneignung meint.[51] Es bleibt die Erkenntnis, dass Heimat früher einfach da war (bedingt durch einen festen Ort) und nun neu gemacht werden muss.

[...]


[1] Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung, Widersprüche oder komplementäre Motivkonstellationen menschlichen Handelns?, in: Geographie Heute 100/1992, S 33.

[2] vgl. Weichhart, Peter: Raumbezogene Identität als Problemstellung der Regionalentwicklung, in: ARL: Beiträge zur theoretischen Grundlegung der Raumentwicklung, Hannover, Nr. 254, 2000, S 53.

[3] Der Spiegel, Nr. 15/2012, S 63.

[4] Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie, a.a.O., S 333.

[5] Hüppauf, Bernd: Heimat- die Wiederkehr eines verpönten Wortes, a.a.O., S 112.

[6] Weichhart, Peter: Raumbezogene Identität: Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation. Stuttgart: Steiner Verlag, 1990, S 27.

[7] Werlen, Benno: Globalisierung, Region und Regionalisierung. Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierung, Band 2, Stuttgart: Steiner Verlag, 2007, S 379.

[8] vgl. Bausinger, Hermann: Heimat und Identität, in: Köstlin, K. / Bausinger, H. (Hg.): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. 22. Deutscher Volkskunde-Kongreß in Kiel vom 16. bis 21. Juni 1979, Neumünster, 1980, S 22.

[9] vgl. Frey, Hans-Peter / Haußer, Karl: Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, a.a.O., S 4.

[10] Pott, Andreas: Identität und Raum. Perspektiven nach dem Cultural Turn, in: Berndt, C. / Pütz, R. (Hg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld: Transcript, 2007, S 30.

[11] vgl. Pott, Andreas: Identität und Raum. Perspektiven nach dem Cultural Turn, a.a.O., S 30.

[12] vgl. Weichhart et al: Place Identity und Images. Das Beispiel Eisenhüttenstadt, a.a.O., S 35.

[13] vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: Fischer, 1994, S 40ff, S 92ff.

[14] Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung, a.a.O., S 31.

[15] Dies soll nicht im Widerspruch mit nachfolgendem Kapitel stehen, das sich um das raumunabhängige Gefühlserleben dreht. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass die Trennung in die drei Dimensionen Raum, Gefühl und Struktur durch Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen gekennzeichnet ist.

[16] Weichhart et al: Place Identity und Images. Das Beispiel Eisenhüttenstadt, a.a.O., S 32.

[17] ebd., S 61.

[18] vgl. ebd., S 32ff.

[19] vgl. Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung, a.a.O., S 32f.

[20] vgl. Weichhart, Peter: Raumbezogene Identität: Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, a.a.O., S 6f.

[21] vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie der Lebenswelt, in: Günzel, S. /Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: Transcript, 2007, S 69.

[22] Huber, Andreas: Heimat in der Postmoderne, a.a.O., S 81.

[23] Vonderau, Asta: Geographie sozialer Beziehungen. Ortserfahrungen in der mobilen Welt, Münster: Lit-Verlag, 2003, S 10.

[24] vgl. Massey, Doreen: Space, Place and Gender, Cambridge: Polity Press, 1994, S 167.

[25] Mit diesem Wissen im Hinterkopf und der Warnung vor einer Reifikation (Vergegenständlichung) des Raumbegriffs, wird diese Frage lediglich als Aufruf zu einem reflektierten Kategorisierungsversuch verstanden.

[26] vgl. Werlen, Benno: Sozialgeographie. Eine Einführung, Berne: Haupt, 3. Auflage, 2008, S 188ff, 192ff, 239ff, 278ff.

[27] Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortung kulturelle Prozesse, Opladen: Leske+Budrich, 2001, S 239.

[28] vgl. Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortung kultureller Prozesse, a.a.O., S 236, 239f.

[29] Günzel, Stephan: Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen, in: Döring, J. / Thielmann, T. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: Transcript, 2008, S 220.

[30] Berking, Helmuth: Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs, in: Berking, H. (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2006, S 7f.

[31] Lehnert, Gertrud: Raum und Gefühl, in: Lehnert, G. (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: Transcript, 2011, S 10.

[32] vgl. Massey, Doreen: Keine Entlastung für das Lokale, in: Berking, H. (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2006, S 25.

[33] vgl. Vonderau, Asta: Geographie sozialer Beziehungen. Ortserfahrungen in der mobilen Welt, a.a.O., S 10.

[34] vgl. Schroer, Markus: Grenzverschiebungen. Zur Neukonfiguration sozialer Räume im Globalisierungsprozess, in: Würmann, C. / Schuegraf, M. / Smykalla, S. / Poppitz, A. (Hg.): Welt.Raum.Körper. Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum, Bielefeld: Transcript, 2007, S 15.

[35] Hier wird der Begriff ‚Enträumlichung’ verwendet, im wissenschaftlichen Diskurs sind aber auch Begriffe wie ‘Entterritorialisierung’, ‚Ortsungebundenheit’, ‚Entankerung’ (Werlen), etc. üblich.

[36] Massey, Doreen: Space, Place and Gender, a.a.O., S 164.

[37] Löw, Martina / Steets, Silke / Stoetzer, Sergej: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Opladen / Farmington Hills: Barbara Budrich, 2. Auflage, 2008, S 81.

[38] vgl. Werlen, Benno: Sozialgeographie, a.a.O., S 30f; vgl. Werlen, Benno: Raum, Körper und Identität. Traditionelle Denkfiguren in sozialgeographischer Reinterpretation, in Steiner, D. (Hg.): Mensch und Lebensraum. Fragen zu Identität und Wissen, Opladen: Westedeutscher Verlag, 1997, S 149ff.

[39] vgl. Löw et al: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, a.a.O., S 57f, 112f.

[40] vgl. Löw et al: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, a.a.O., S 58ff.

[41] vgl. Löw et al: Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, a.a.O., S 71f.

[42] vgl. Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortung kulturelle Prozesse, a.a.O., S 238.

[43] Weichhart et al: Place Identity und Images. Das Beispiel Eisenhüttenstadt, a.a.O., S 71.

[44] vgl. Rosa, Hartmut: Heimat im Zeitalter der Globalisierung, in: der blaue reiter, Journal für Philosophie, Nr. 23, 1/2007, S 17.

[45] vgl. Götz, Irene: Nationale und regionale Identitäten. Zur Bedeutung von territorialen Verortungen in der Zweiten Moderne, in: Seifert, M. (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ‚Heimat’ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig: Universitätsverlag, 2010, S 207.

[46] Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, S 95.

[47] vgl. Hüppauf, Bernd: Heimat - die Wiederkehr eines verpönten Wortes, a.a.O., S 115.

[48] Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit, in: Seifert, Manfred (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ‚Heimat’ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig: Universitätsverlag, 2010, S 197.

[49] vgl. ebd. S 197.

[50] vgl. ebd. S 190.

[51] vgl. Werlen, Benno: Globalisierung, Region und Regionalisierung, a.a.O., S 379f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783955497040
ISBN (Paperback)
9783955492045
Dateigröße
375 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,1
Schlagworte
Enträumlichung Emotionalisierung Spätmoderne raumbezogene Identität Identität

Autor

Theresa Sophie Obermaier, B.A, wurde 1988 in Landshut geboren. 2012 schloss sie ihr Studium der Soziologie und Humangeographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. Derzeit absolviert sie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster das Masterstudium M.Sc. Humangeographie. Die bayerische Herkunft, die verbrachte Studienzeit in Thüringen, der derzeitige Lebensort in Nordrhein-Westfalen und die damit verbundene Suche nach der eigenen Heimat trieben die Autorin dazu an, sich mit dem Heimat-Konzept auch auf wissenschaftlicher Ebene auseinanderzusetzen.
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Titel: Das 'Heimat-Moment' in Zeiten der Globalisierung: Eine Identitätssuche zwischen Raum, Gefühl und Struktur
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