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Strukturelle Ursachen der Jugendproteste 2011 in Spanien: Zusammenhänge und Hintergründe

©2011 Bachelorarbeit 67 Seiten

Zusammenfassung

„Wir sind normale Menschen. Wir sind wie du.“
So beginnt die Selbsterklärung der jungen Menschen, die im Jahr 2011 in ganz Spanien protestierten und öffentliche Plätze besetzten. Ihre Forderung war: „¡Democracia real ya!“ - „Echte Demokratie jetzt!“ Sie nannten sich „Die Empörten“ in Anlehnung an den Essay „Empört euch“ von Stéphane Hessel, welcher sich 2011 millionenfach verkaufte.
In der Arbeit werden die strukturellen Ursachen und Hintergründe für die „Empörung“ untersucht. Wie gezeigt wird, sind eine Vielzahl von Faktoren für die Situation in Spanien 2011 verantwortlich. Um zu erklären, was die Motive und Ziele der „Empörten“ waren, werden die strukturelle, kulturelle und ökonomische Ausgangslage in dem südeuropäischen Land beleuchtet. Die Analyse erklärt, warum die Wirtschaftskrise in Zusammenhang mit Arbeitsmarktstrukturen und sozialen Veränderungen dazu führte, dass von jungen Spaniern als einer „Verlorenen Generation“ gesprochen wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.3 Religiosität, Politik und Toleranz

Insgesamt gibt es starke Anzeichen, dass sich neben diesen offensichtlichem Wandel auch subtile Veränderungen in den Einstellungen der Menschen eingestellt haben. So zeigen Spanier in Befragungen zum einen Ausländern gegenüber große Toleranz[1] als auch Homosexuellen:[2] Vor allem Letzteres zeugt von den Veränderungen in dem traditionell katholischen Land und ist auch eng mit dem Wandel der religiösen Praxis verknüpft.

Denn, obwohl sich noch immer ca. 77 % der Spanier als Katholiken definieren,[3] besuchen von diesen nur noch ein Drittel den Gottesdienst regelmäßig, womit Spanien unter dem EU-Durchschnitt liegt.[4] Auch wird der Kirche selbst großes Misstrauen von den Spaniern entgegengebracht[5] und Religion hat bei Befragungen den vorletzten Platz unter den Interessenssphären.[6]

Vallespín zieht hieraus den Schluss: „Spanien ist ein katholisches, aber kein religiöses Land. Der Katholizismus gehört zur „spanischen Seele, aber mehr als Teil der kulturellen Identität denn aufgrund tiefempfundener Religiosität.“[7] Wichtig ist aber festzuhalten, dass die katholische Kirche dennoch großen Einfluss ausübt und noch immer Massen für Demonstrationen mobilisieren kann.[8] Ein deutliches Zeichen für den Wandel in der Einstellung zur Kirche bieten die Proteste, die im August gegen den Papstbesuch in Spanien stattfanden. Hierbei wurde zwar nicht gegen den Papst an sich protestiert, sondern gegen die Kosten, welche der Besuch verursacht. Trotzdem spricht es eine deutliche Sprache, dass es in der einstigen Hochburg der katholischen Kirche zu derartigen Protesten kommt.[9] In diesem Fall zeigt sich auch ein weiterer Grund für die Empörung: Die Demonstranten werden als „Parasiten“ bezeichnet, man macht sie pauschal zu einer Randgruppe.[10]

Zum Verständnis der Jugendproteste im Jahr 2011 muss man außer diesen Faktoren noch berücksichtigen, dass die Spanier nicht sehr politikbegeistert sind. Bei einer Umfrage 2007 sollen die Befragten zwei Gefühle nennen, welche sie mit Politik verbinden. Dabei zeigte sich, dass die Mehrheit der Spanier der Politik mit Langeweile (ca. 15/ 17 %) und Gleichgültigkeit (ca. 18/ 11 %) bzw. Misstrauen (ca. 30/ 24 %) oder gar Verunsicherung (ca. 9/ 16 %) begegnen. Damit haben ca. 73% als erstes Gefühl und ca. 68% als zweites Gefühl ein negatives angegeben.[11]

Dasselbe gilt auch für die Mitgliedschaft in Vereinen. Laut dem European Social Survey sind nur ein Drittel aller Spanier in einen Verein Mitglied und nur ein Viertel nimmt aktiv am Vereinsleben teil, was weit unter EU-Durchschnitt ist.[12] Allerdings räumen die Spanier insgesamt der Teilnahme in Vereinen eine große Bedeutung ein, so gehören die Hälfte der Menschen mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium einem Verein an. Die meisten Mitglieder sind zwischen 35 und 54 Jahren alt, die Jüngeren sind aber besonders aktiv beteiligt. Relevant ist hierbei auch, dass vor allem junge Leute oft sehr engagiert sind, wenn es um Geldspenden und freiwillige soziale Arbeit geht.[13]

Demgegenüber steht aber, dass „Laut dem European Social Surveys … Spanien das Land [ist, H.H.] in dem die größte Zahl von Personen angibt, in den letzten 12 Monaten an einer genehmigten Demonstration teilgenommen zu haben (34%) …“.[14]

Dies legt den Schluss nahe, dass die Spanier eher ihrer politischen Klasse misstrauen, als dass sie tatsächlich uninteressiert an den eigentlichen Vorgängen sind. Dies wird später im Zusammenhang mit den Jugendprotesten noch einmal aufgegriffen werden.

3. Die Wirtschaft Spaniens

3.1 Vor der Krise

Während das Land unter der Franco-Diktatur wirtschaftlich einigermaßen unbedeutend war, entwickelte sich Spanien ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu einem der großen Boom-Länder der Welt. So lag das BIP bei 1,08 Billionen Euro, womit das hispanische Land die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt und die fünftgrößte Europas hatte.[15]

Wie die Grafik 1 noch einmal verdeutlicht, gehört Spanien – auch nach der Weltwirtschaftskrise noch – zu den wichtigsten Wirtschaftsmächten Europas. Die linke Grafik zeigt, dass Spanien mit 8,7 % den fünftgrößten Anteil am Gesamt-BIP der EU-27 hat.

Die obere Grafik zeigt, dass das Land, was den Börsenwert der größten nationalen Unternehmen angeht, sogar an vierter Stelle in der EU steht, noch vor Italien.

Grafik 1. Global Player von der Iberischen Halbinsel[16]

In Spanien wurden in den letzten Jahren sieben Millionen Jobs geschaffen und die Wirtschaft wuchs um fast 4 %.[17] Auch Haushalte erfuhren eine Wohlstandssteigerung um das Dreifache.[18] Der Boom kam also bei großen Teilen der Bevölkerung an.

Vor allem zwei Branchen prosperierten in hohem Maße: Der Tourismussektor und der Bausektor. Speziell in Letzterem schrieben sich Superlative: Die Hauspreise stiegen um 220% in der Zeit von 1997 bis 2007. Gleichzeitig wuchs der Wohnungsbestand um 30 % bzw. sieben Millionen Einheiten.[19] Das sind mehr Wohnungen als in Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammengenommen.[20]

Während der Boom zum Großteil auf dem Tourismus und mehr noch auf dem Bausektor gründete, wuchsen auch andere Sektoren, wenngleich nicht so gravierend:

„Das Baskenland und Navarra haben eine moderne Metallverarbeitungs-, Maschinen- und Fahrzeugbauindustrie, das benachbarte Rioja und mehrere Mittelmeerregionen haben sich erfolgreich auf den Export von Nahrungsmitteln und Getränken spezialisiert. In Valencia hat sich ein starker Pharmaindustriecluster entwickelt, Zara und Mango sind nur die bekanntesten Marken einer blühenden Bekleidungsindustrie, und die Banken und Versicherungen sind zu potenten global players geworden. Auch einige ehemals staatliche Energie- und Telekommunikationsunternehmen haben sich erfolgreich internationalisiert und kontrollieren große Teile des lateinamerikanischen Marktes.“[21]

Übersicht über die Wirtschaftsstruktur Spaniens:

Grafik 2. Anzahl der Unternehmen in Spanien (absolute Zahlen)[22]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eurostat

Die meisten Unternehmen sind, wie zu sehen ist, Handelsunternehmen der ein oder anderen Art. Danach kommen Bau und Grundstücks- und Wohnungswesen, gefolgt von Beherbungs- und Gaststätten. Nahe beieinander liegt die Anzahl Unternehmen, welche in Energie- und Wasserversorgung, sowie dem verarbeitenden Gewerbe tätig sind. Sehr gering sind die Menge an Unternehmen, welche Verkehr- und Nachrichtenübermittlung und Bergbau und Gewinnung von Steinen betreiben.

Deutlich fällt in der Tabelle auf, dass die beiden mit Immobilien verbunden Bereiche – Bau und Grundstücks- und Wohnungswesen – im Verlauf des letzten Jahrzehntes ein kontinuier­liches Wachstum durchlaufen haben, während die anderen Bereiche dagegen eher konstant blieben. Genauso klar ist zu erkennen, dass diese beiden Wachstumsbereiche einen gravierenden Knick 2008 aufweisen, im Gegensatz zu den anderen Bereichen. Der Immobilienmarkt war also unmittelbar und sofort von der Wirtschaftskrise betroffen.

Zweifellos ist der Wohnungsbau für die spanische Wirtschaft der wichtigste Sektor gewesen: Er machte 2007 ganze 10 % des BIP in Spanien aus[23] und hat „mithin eine doppelt so hohe Bedeutung im Durchschnitt des gesamten Euro-Raumes und eine dreimal so starke Bedeutung wie in Deutschland.“[24] Auch für Investitionen ist dieser Sektor besonders wichtig: „In Spanien entfielen 2006 auf das Baugewerbe 18 % aller Bruttoanlageinvestitionen, im gesamten Euro- Raum lediglich 12 % und in Deutschland sogar nur 9 %.“[25]

Auch an den Umsatzzahlen der Einzelnen Sektoren lässt sich dies erkennen:

Grafik 3. Umsatz nach Sektoren (in absoluten Zahlen)[26]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eurostat

Wie man sehen kann, unterscheiden sich die Umsatzzahlen ein wenig von der Zahl der Unternehmen. Weit vorne liegt der Handel, gefolgt von der Herstellung von Waren. Danach erst kommen Bau und Grundstücks- und Wohnungswesen. Verkehr und Nachrichten­übermittlung liegen noch vor Beherbergungs- und Gaststätten, etwa gleichauf mit der Energie- und Wasserversorgung. Auch erkennen kann man hier, dass ein allgemeiner Wachstumstrend in den umsatzstärkeren Bereichen zu erkennen ist. Auch hier kann man den Effekt der Weltwirtschaftskrise ablesen, 2008 gibt es einen deutlichen Knick in dem sonst kontinuierlichen Anstieg.

Noch ein etwas anderes Bild ergibt sich bei der Zahl der Beschäftigten:

Grafik 4. Beschäftigte nach Sektoren (in absoluten Zahlen)[27]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eurostat

Hier fällt vor allem auf, dass im Bereich der Herstellung von Waren in den letzten Jahren ein Rückgang zu beobachten ist. Das Verschwinden von Unternehmen in der Baubranche 2008 zeigt sich deutlich in dem plötzlichen rapiden Abfallen der Beschäftigtenzahlen in der Branche. Von 2005 bis 2007 war diese die beschäftigungsstärkste, doch 2008 ist sie nur noch viertstärkster Sektor.

Auch die Arbeitslosigkeit ist im Wachstumsjahrzehnt stark zurückgegangen (siehe Grafik 5). Wie man sehen kann, ist die Quote der Arbeitslosen ab Mitte der neunziger Jahre beständig gesunken. Auch die Frauen- und Jugendarbeitslosigkeit sank stark, obwohl sie immer noch bedeutend höher ist als die allgemeine Arbeitslosenquote. Auffällig ist aber, dass gleichzeitig die Zahl der befristeten Verträge angestiegen ist. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Spanien damit noch immer eine der höheren Arbeitslosenquoten der EU hat.

Grafik 5. Die Entwicklung der Arbeitslogikeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Köhler, Holm-Detlev: Wirtschaft und Arbeit im Spanien des 21. Jahrhunderts. In: Bernecker, Walther L.; Kügler, Clementine (2008): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. 5., vollständig neu bearbearbeitet Aufl. Frankfurt am Main: Vervuert (Bibliotheca ibero-americana, 125), S. 225. Anzumerken ist dabei aber, dass die Arbeitslosigkeit teilweise zurückging, weil die Arbeitslosigkeit anders definiert wurde, womit einige Personen aus der Statistik rausfielen. Befristete Verträge werden erst ab 1986 als Kategorie erfasst, die Daten der Jugendarbeitslosigkeit 2007 fehlen.

Dies Daten werden später noch einmal aufgegriffen werden, vor allem die Frage nach den befristeten Verträgen. Festzuhalten bleibt zunächst aber einmal, dass schon lange vor der Weltwirtschaftskrise die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien dramatisch höher war, als die allgemeine Erwerbslosenquote.

3.2 Soziale Sicherung in Spanien

„Das postautoritäre Wohlfahrtsstaatsmodell reflektiert den Umstand, dass der junge spanische Wohlfahrtsstaat in die Krise geraten ist, bevor es ihn überhaupt richtig gegeben hat.“[28]

Um die Entwicklungen in Spanien zu verstehen und insbesondere auch die Bedeutung, welche die Krise hat, muss man sich die Sicherungssysteme in Spanien vergegenwärtigen. Der Typus des postautoritären Wohlfahrtsstaates, nach Lessenich, ist eine Weiterentwicklung des Modells von Esping-Anderson und eine Abwandlung des „rudimentären Wohl­fahrts­staats“ nach Leibfried.[29] Definiert ist dieser als System, bei dem „die soziale Sicherung nur partiell entwickelt und der Anspruch auf Wohlfahrt … rechtlich nicht verankert [ist, H.H.]; es existieren aber noch traditionelle, nicht-staatliche Formen der sozialen Unterstützung (Kirchengemeinde, Familie).“[30] Dieser Typus ist allerdings auf „weniger industrialisierte, strukturschwache und arme Länder“[31] ausgelegt, welche „nur relativ geringe Einkommen am Markt“[32] erzielen. Da diese Kriterien auf Spanien nicht zutreffen, ist das Modell ausgeweitet worden auf den Begriff des „Postautoritären Wohlfahrtsstaates.“

Zu den grundlegenden Kennzeichen gehört, dass:

a. Das sozialpolitische Regime ist rudimentär.
b. Die zentrale regulative Idee ist „Modernität“.
c. Das primäre Muster ist sozialpolitische Deregulierung der Beschäftigungsform.
d. Der politische Hauptdualismus des Arbeitsmarktes ist stabile versus prekäre Beschäftigte.
e. Der zentrale Aspekt der arbeitsmarktinternen Ungleichheit ist die selektive Prekarisierung.[33]

„Als Merkmal dieser besonderen wohlfahrtsstaatlichen Problemkonstellation nennt Lessenich den halb erzwungen, halb selbstgewählten Bruch mit althergebrachten, institutionalisierten Regulierungstraditionen, die Ungleichzeitigkeit arbeits­markt­politischer De-Regulierungen und sozialpolitischer Re-Regulierungen sowie gesellschaftliche Implikationen dieses regulativen Missverhältnisses.“[34]

Auch wenn dies eine stark schematische Darstellung des Wohlfahrtsstaates ist, so erklärt sie doch in hohem Maße, warum die Krise besonders negativ für die Spanier war. Der spanische Staat hat gleichzeitig mit wirtschaftlicher Liberalisierung einen sozialen Wohlfahrtsstaat aufgebaut. Die Sicherungssysteme sind aber stark fragmentiert und durch den welt­wirt­schaftlichen Druck in der Krise besonders unzuverlässig geworden.[35] Damit erklärt sich auch das Zitat oben: Das System an sich ist „krisenanfällig“ in seiner Struktur. Hinzu kommt der oben genannte rudimentäre Charakter des Wohlfahrtssystems:

„Spanien rangiert bezüglich seiner Sozialausgaben pro Kopf gemeinsam mit Portugal auf den hintersten Plätzen der EU-15: 2005 betrug das BIP pro Kopf beinahe 86% des EU-15-Durchschnitts, die Ausgaben für soziale Sicherung (u.a. inklusive Renten, Wohnwesen, Familienhilfe oder Gesundheit) erreichte dagegen nur 62,5%. Zwischen dem erreichten Niveau der Wirtschaftsentwicklung und den öffentlichen Ausgaben für soziale Sicherheit besteht also ein deutlicher Unterschied. Dies dürfte auf der im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr begrenzten öffentlichen Tätigkeit im Sozialbereich beruhen, sowie dem daraus resultierenden niedrigen Entwicklungsgrad des Wohlfahrtssystems.“[36]

Die Diskrepanz zwischen der Entwicklung des Wirtschaft- und des Sozialsystems ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Krise in Spanien nicht nur durch die Weltwirtschaftskrise ausgelöst wurde, sondern bereits vorher in den eigenen Strukturen des Landes angelegt gewesen war.

Die Fragmentiertheit des Wohlfahrtssystems zeigt sich auch in der Versichertenstruktur der sozialen Sicherung. So sind „nahezu alle beschäftigten Spanier integriert worden.“[37] Während Selbstständige sich freiwillig versichern können, gibt es für verschiedene Berufsgruppen noch immer eigene Sicherungssysteme. Obwohl diese ins allgemeine System überführt werden sollen, gibt es aufgrund der unterschiedlichen Strukturen dabei große Probleme.[38]

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine weitere Typisierung, welche Schmid vornimmt, die etliche Problem erklärt.

Und zwar enthält das „südeuropäische Modell“, folgende Merkmale:

1. Familie ist der primäre Ort der Solidarität, sowohl sozial, wie auch wirtschaftlich.
2. Der männliche Brotverdiener genießt hohe Arbeitssicherheit und –stabilität, andere gesellschaftliche Gruppen wie Frauen, Jugendliche und Migranten arbeiten oft in prekären Verhältnissen.
3. Die Sozialversicherung orientiert sich am Status der Berufsgruppe und ist entsprechend um den männlichen Hauptverdiener und das entsprechend Familienmodell herum organisiert.
4. Sozialhilfe ist residual, da sie auf Personen ausgerichtet ist, welche ohne eine übliche Berufskarriere für sich und ihre Familie sorgen müssen.
5. Pflegedienste werden zumeist unbezahlt von Familienmitgliedern d.h. insbesondere von Frauen durchgeführt.
6. Der Arbeitsmarkt ist stark segmentiert und erzeugt dadurch große Unterschiede bei Beschäftigung, Bezahlung und Sozialschutz.
7. Das Arbeitslosengeld und die Systeme der Berufsausbildung sind stark unterentwickelt.
8. Arbeit im öffentlichen Sektor wird durch Klientelismus und Patronage selektiv verteilt.
9. Die Institutionen des Wohlfahrtsstaates sind ineffizient.[39]

Einige dieser Punkte des „südeuropäischen Modells“ sind besonders interessant zu beachten, wenn man nach den Ursachen der Proteste 2011 sucht. Besonders relevant erscheint es zunächst einmal festzuhalten, dass auch in Spanien das Modell des „männlichen Brotverdieners“ nicht mehr das Einzige ist.[40] Auch wenn die Arbeitslosigkeit von Frauen noch immer höher ist, als die von Männern, sind doch ihre Erwerbsquote und ihr Bildungsstand gewachsen. Sowohl in dem Modell des „südeuropäischen Typus“, wie in dem anderen des „postautoritären Typus“, wird das Problem der Prekarisierung von gewissen Gruppen angesprochen. Wichtig sind auch die letzten drei Punkte, in denen die ungenügende Weiterbildung von Jugendlichen angesprochen wird, sowie die mangelnden Strukturen der staatlichen Institutionen.

Wie später noch einmal geklärt wird, sind diese Strukturen einer der Hauptpunkte, an denen die Protestierenden Verbesserungen fordern.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der Arbeitsplatzschutz Spaniens und die jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich: Ursprünglich gilt in Spanien, dass bei einer Kündigung aus „gerechtfertigten“ Gründen eine Entschädigung über das Gehalt von 20 Tagen pro Jahr in dem Unternehmen gezahlt wird, dies ist leicht unter dem OECD- Durchschnitt. Sollte die Kündigung aber „ungerechtfertigt“ sein, so muss der Arbeitgeber 45 Tage Gehalt pro Jahr zahlen. In Praxis wurden Kündigungen in der überwiegenden Zahl der Fälle von Gerichten als „ungerechtfertigt“ bestimmt. Da die Arbeitgeber dann noch zusätzlich die Gerichtskosten hatten, wurde in der Vergangenheit zumeist von vorneherein von einer „ungerechtfertigten“ Kündigung ausgegangen.[41] Die Arbeitsmarktreform 2010 zielt allerdings darauf ab, die Kündigung leichter als „gerechtfertigt“ einstufen zu können. Gleichzeitig wurden die Bedingungen, unter welchen ein Vertrag abgeschlossen werden kann, welcher von vorneherein nur 33 Tage Gehalt pro Jahr als Entschädigung zugesteht, signifikant erweitert.[42] Sinn dieser Maßnahmen war es, Firmen zum Wiedereinstellen zu bewegen und die Zahl der befristeten Verträge in Spanien zu verringern. Ob dies von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt abzuwarten, Fakt ist aber, dass die Rechte und der Schutz der Arbeitnehmer in unsicheren Zeiten weiter eingeschränkt wurde. Dies gilt vor allem für jene, die derzeit arbeitslos sind und die in Zukunft unter anderen Bedienungen eingestellt werden können.

3.4 Die Weltwirtschaftskrise

Die Weltwirtschaftskrise traf Spanien hart. Während des letzten Jahres stand Spanien einige Male kurz vor dem Bankrott, so wie zuvor schon Griechenland, Irland und Portugal.[43]

Deutlich sieht man dies an den Zahlen der Arbeitslosen:

Grafik 6. Arbeitslose in Spanien[44]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eurostat

Wie man sieht, sind die Arbeitslosenzahlen 2008 sprunghaft explodiert. Diese entsprechen einem Anstieg von 119% in zwei Jahren.[45] Durch die Krise ging die Industrieproduktion um 7,1 % im Jahr 2008 und um 15,8 % im Jahr 2009 zurück.[46]

Wie auch schon oben in den Tabellen zu Anzahl der Unternehmen, Beschäftigten und Umsatz gezeigt, war der Bausektor am unmittelbarsten von der Krise betroffen. Als Reaktion auf die Krise führte die Regierung dann 2009 den „ Plan Espanol para el Estímulo de la Economía y el Empleo“[47] ein. Kernaspekte dieses Paketes waren: Familien, Unternehmen, Beschäftigung, Finanzen und Staatshaushalt sowie die Modernisierung der Wirtschaft. Dabei sollen durch Stimulierung 300.000 Arbeitsplätze geschaffen werden.[48] Die Regierung Zapatero hat sich vorgenommen, bis 2013 das Haushaltsdefizit auf unter 3% zu drücken. Damit würde der Haushalt wieder den Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entsprechen. Hierzu wurde bereits 2010 ein Sparprogramm über 50 Milliarden Euro verabschiedet, 2011 sollen noch einmal 15 Milliarden eingespart werden.[49]

Ein Aspekt, der die Wirkung der Krise in Spanien vielleicht besonders deutlich macht, ist der, dass die Bevölkerung des Landes des „ mañana“ zum ersten Mal deutlich spart:

Grafik 7. Sparquote privater Haushalte in Spanien:[50]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eurostat

Wie die Grafik 7 zeigt, ist die sonst eher niedrige Sparquote in Spanien 2008 mit einem Mal rasant angestiegen und hat sogar die Deutschlands überholt, einem Land, was traditionell eine hohe Sparquote hat. Dies ist nicht zuletzt auf das Platzen der Bauboom-Blase zurückzuführen und die damit zusammenhängende hohe Verschuldung der privaten Haushalte.[51] Im Blick behalten sollte man dabei aber, dass dieser Spar-Anstieg natürlich mit einer Züglung des Konsums einhergeht, welcher die schlechte Lage der Wirtschaft Spaniens noch verstärkte.

Bereits vor der Krise waren aber die verschiedensten Teile der Wirtschaft Spaniens in einem kritischen Zustand. Im Folgenden sollen verschieden Aspekte, welche besonders dafür besonders wichtig sind, näher beleuchtet werden.

[...]


[1] Vgl. Vallespín, Fernando (2008): Gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre a.a.O., S. 276-282.

[2] Vgl. Ebd. S. 285-287.

[3] Vgl. Vallespín, Fernando (2008): Gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre a.a.O., S. 288.

[4] Vgl. Ebd. S. 289.

[5] Vgl. Ebd. S. 290.

[6] Vgl. Ebd. S. 291. Hinter der Religion kommt nur noch die Politik. An erster Stelle kommt die Familie.

[7] Ebd. S. 290.

[8] Vgl. hierzu zum Beispiel die jährlichen Proteste von Katholiken gegen Abtreibungen. Dabei kann die Kirche immer einige Tausend Demonstranten mobilisieren. Siehe hierzu: Bedoya, Juan G. (2011): Miles de católicos piden al PP que derogue la ley del aborto. In: El País, 27.01.2011, S. 44. (“Tausende von Katholiken fordern von der PP, dass sie das Gesetz zur Abtreibung aufhebt”)

[9] Vgl. z.B. Quesada, J. D.; Pérez, M. (2011): Los indignados se preparan para la visita del Papa a Madrid. In: ElPaís.com, 07.08.2011. Online verfügbar unter http://www.elpais.com/articulo/espana/indignados/preparan/visita/Papa/Madrid/elpepuesp/20110807elpepunac_1/Tes, zuletzt geprüft am 28.08.2011. („Die Empörten bereiten sich auf den Besuch des Papstes in Madrid vor“).

[10] Lavárez, Pilar (2011): Iglesia, Comunidad y PP critican la marcha laica que pasa por Sol. In: El País Madrid, 13.08.2011, S. 1. („Kirche, Kommunen und PP kritisieren den Marsch der Laizisten, der an der [Plaza del] Sol vorbeigeht“). Auffällig ist aber dass die Demonstranten wahlweise als „Laizisten“ oder als „Empörte“ bezeichnet werden. Während die Bewegung der M-15 bzw. „¡Democracia real ya!“ etliche Aktionen gegen den Besuch plante, ist unklar, in wieweit tatsächlich diese Gruppe mit den „Anti-Papstbesuch-Aktivisten“ deckungsgleich sind. Übringens gab es auch Pro-Papstbesuch Demonstrationen, auch von jungen Menschen (s.z.B. Pascual, Rosa (2011): ‘ Via crucis’ laico por el centro de Valencia contra la visita del Papa. Los manifestantes mantuvieron una refriega verbal con un grupo de católicos. In: El País, 18.08.2011, S. 2. („“Kreuzweg“ der Laizisten gegen den Papstbesuch lag im Zentrum von Valencia. Die Demonstranten hatten ein verbales Gefecht mit einer Gruppe Katholiken“))

[11] Vgl. Vallespín, Fernando (2008): Gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre. a.a.O., S. 294. Die erste Zahl steht für den Prozentsatz der Leute, die dies als erstes Gefühl genannt haben, die zweite für jenen der dies als zweites Gefühl genannt hatte.

[12] Vgl. Ebd. S.297.

[13] Vgl. Ebd. S. 297.

[14] Ebd. S. 299.

[15] Köhler, Holm-Detlev (2010): Spanien in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise: BPB (Aus Politik und Zeitgeschichte, 36-37). Online verfügbar unter http://www.bpb.de/files/1LK6BN.pdf, zuletzt geprüft am 21.05.2011, S.7.

[16] Grafik entnommen aus: García Schmidt, Armando (2010): Spanien und das Ende europäischer Illusionen. Bertelsmann Stiftung. (spotlight europe, 2010/06), S.2. Online verfügbar unter http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-01357874-482C7125/bst/DE_spotlight_europe_Spanien_KLEIN.pdf, zuletzt geprüft am 23.08.2011.

[17] López, Isidoro; Rodríguez, Emmanuel (2011): The Spanisch Model. In: New Left Review, H. 69, S. 5. Online verfügbar unter http://newleftreview.org/?page=article&view=2895, zuletzt geprüft am 30.07.2011.

[18] Ebd. S. 5.

[19] Vgl. López, Isidoro; Rodríguez, Emmanuel (2011): The Spanisch Model. a.a.O., S. 5

[20] Kreiß, Christian (August 2008): Spanien vor Finanzkrise. Universität Aalen, Online verfügbar unter http://www.htw-aalen.de/img/downloads/1741_Spanien_vor_Finanzkrise.pdf. Bzw. Deutschland, Frankreich und Italien, wie der Autor aus mehren Quellen zur Verdeutlichung zitiert, S.1.

[21] Köhler, Holm-Detlev (2010): Spanien in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise: Bpb (Aus Politik und Zeitgeschichte, 36-37), S. 7. Online verfügbar unter http://www.bpb.de/files/1LK6BN.pdf, zuletzt geprüft am 21.05.2011.

[22] Zugehörige Tabelle im Anhang. Tabelle1.Anzahl der Unternehmen in Spanien (absolute Zahlen). Alle Daten von Eurostat online verfügbar unter: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/search_database, zuletzt geprüft 31.08.2011.

[23] López, Isidoro; Rodríguez, Emmanuel (2011): The Spanisch Model. a.a.O., S. 5

[24] Kreiß, Christian (August 2008): Spanien vor Finanzkrise. a.a.O.,, S. 6.

[25] Ebd. S. 6.

[26] Zugehörige Tabelle im Anhang: Tabelle 2.Umsatz nach Sektoren (in absoluten Zahlen)

[27] Zugehörige Tabelle im Anhang: Tabelle 3.. Beschäftigte nach Sektoren (in absoluten Zahlen)

[28] Schmid, Josef (2010): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, a.a.O., S. 247.

[29] Vgl. Schmid, Josef (2010): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, a.a.O., S. 107.

[30] Ebd. S. 107.

[31] Ebd. S. 107.

[32] Ebd. S. 107.

[33] Vgl. Ebd. S.246.

[34] Ebd. S.247.

[35] Vgl. Ebd. S. 247.

[36] Villota Gil-Escoin, Paloma; Váquez, Susana: Work in Progress: Das spanische Wohlfahrtssystem. In:Schubert, Klaus; Bazant, Ursula; Hegelich, Simon (2008): Europäische Wohlfahrtssysteme. 1. Aufl. s.l.: VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV).

[37] Schmid, Josef (2010): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, a.a.O., S. 245.

[38] Vgl. Ebd. S. 245.

[39] Vgl. Schmid, Josef (2010): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, a.a.O., S. 249.

[40] Siehe hierzu den Abschnitt: “Die Rolle der Frau“

[41] Vgl. Wölfl, Anita; Mora-Sanguinetti, Juan S.: Reforming the Labour Market in Spain. OECD. (OECD Economics Department Working Papers, 845), S.11- 12. Online verfügbar unter http://dx.doi.org/10.1787/5kghtchh277h-en, zuletzt geprüft am 21.05.2011. Insgesamt stuft die OECD 2008 Spanien als eins der Länder mit dem am meisten regulierten Arbeitsschutz ein. Siehe hierzu: http://www.oecd.org/document/11/0,3746,en_2649_37457_42695243_1_1_1_37457,00.html. Zuletzt geprüft: 10.09.11.

[42] Vgl. Wölfl, Anita; Mora-Sanguinetti, Juan S.: Reforming the Labour Market in Spain. a.a.O., S. 14. Vor allem bezieht sich diese Reglung auf derzeit Arbeitslose.

[43] López, Isidoro; Rodríguez, Emmanuel (2011): The Spanisch Model. a.a.O., S.5.

[44] Zugehörige Tabelle im Anhang: Tabelle 4. Arbeitslose in Spanien.

[45] Spanien. Fallstudie zur Krise (2011). Internationale Vereinigung für soziale Sicherheit, S. 2. Online verfügbar unter http://www.issa.int/content/download/145304/2914832/file/4Spain.pdf, zuletzt geprüft am 22.08.2011.

[46] Spanien. Fallstudie zur Krise (2011). a.a.O., S. 2.

[47] =„Plan Spaniens zur Stimulierung der Wirtschaft und der Arbeit“

[48] Vgl. Ebd. S. 2.

[49] García Schmidt, Armando (2010): Spanien und das Ende europäischer Illusionen, a.a.O., S.5.

[50] Eurostat: Die Bruttosparquote der privaten Haushalte ist definiert als das Bruttosparen (ESA95 code: B8G) dividiert durch das verfügbare Bruttoeinkommen (B6G). Das letztere wird um die Zunahme betrieblicher Versorgungsansprüche (Änderung des Nettovermögens von Haushalten in Pensionsfondsreserven) bereinigt (D8net). Bruttosparen umfasst den Teil des verfügbaren Bruttoeinkommens, der nicht in Form von Konsumausgaben verbraucht wird. Ausführliche Daten und Hinweise zur Methodik sind der Website http://ec.europa.eu/eurostat/sectoraccounts zu entnehmen. Zugehörige Tabelle im Anhang: Tabelle 5. Sparquote privater Haushalte.

[51] Dazu siehe Abschnitt „Der Bauboom“

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2011
ISBN (PDF)
9783955497149
ISBN (Paperback)
9783955492144
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Protestkultur Stéphane Hessel Empört euch Wirtschaftskrise Wirtschaftsstruktur
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Henrike Francesca Höpker, B.A., wurde 1988 in Darmstadt geboren. Ihr Studium der Soziologie und Wirtschaftswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena schloss die Autorin im Jahre 2011 mit dem akademischen Grad des Bachlor of Arts erfolgreich ab. Danach begann die Autorin das Studium der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung an der Universität Augsburg, in welchem sie den akademischen Grad Maser of Arts anstrebt. Die Autorin vertieft hierbei ihr Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung von Konflikten unterschiedlichster Art. Durch einen einjährigen Schüleraustausch in Mexiko und ein Praktikum in Paraguay sowie ein Auslandssemester in Norwegen sammelte die Autorin insbesondere Erfahrung im interkulturellen Bereich.
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