Risiko Einsamkeit: Gesellschaftliche Bedingungen eines problematischen Gefühlszustands
©2011
Examensarbeit
51 Seiten
Zusammenfassung
Einsamkeit wird häufig als Ausdruck sozialer Inkompetenz verstanden, die mit Gefühlen des Schams, des Unbehagens, des Wegblickens und Leugnens verbunden ist. Auch in den wissenschaftlichen Disziplinen ist dieser ‘Turn-away-Effekt’ zu vernehmen, sodass ‘Einsamkeit’ bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften weitgehend ignoriert worden ist.
Wie abhängig Individuen von einem sozialen Beziehungsgefüge sind, in dem sie Anerkennung finden und Unterstützung erfahren, zeigen die in der Geschichte wiederholt aufgetretenen Fälle von Wolfskindern oder mutwillig isolierten Kindern.
Ob Psammetich - ein ägyptischer Pharao - oder Kaiser Friedrich II., immer wieder gab es Versuche, Kinder in völliger Isolation aufwachsen zu lassen ohne jegliche menschliche Nähe. Aus der Einsamkeit der Kinder resultierten neben großen Sprachdefiziten auch Bindungsunfähigkeit und geistige Fehlbildungen.
Ein anderes Beispiel aus den Vereinigten Staaten zeigt, dass Frühgeborene im Brutkasten ihren durch Isolierung herbeigeführten, kognitiven Rückstand schneller durch physischen Kontakt aufholen. In der Tierwelt gibt es ähnliche Beobachtungen: Sobald es Neugeborenen an Berührung mangelt, fahren sie ihren Stoffwechsel zurück und hören auf zu wachsen.
Einsamkeitserfahrungen, also die Ablehnung durch andere Menschen, entsprechen der Gefühlslage einer physischen Verletzung. Zu diesem Ergebnis sind die Wissenschaftler der Bowling Green State University in Ohio gekommen.
Dass Einsamkeit eine besondere Aufmerksamkeit verdient, zeigt sich ebenfalls durch gesellschaftliche und innerfamiliäre Sanktionstechniken, die als Strafe den Entzug der Freiheit des Individuums einfordern. Einsamkeitsstrafen gehören sogar zu den zentralen Sozialtechniken.
In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich zunächst mit dem Oberbegriff ‘Emotionen’ auseinandersetzen, um schließlich auf die Einsamkeit im Speziellen zu kommen. Über eine historische Wandelbarkeit des Begriffs ‘Einsamkeit’ kommt die Autorin zur Abgrenzung des Begriffs gegenüber dem ‘Alleinsein’ und der ‘Sozialen Isolation’. Daran soll eine entsprechende Definition von ‘Einsamkeit’ folgen und die begriffliche Verwendung im Englischen betrachtet werden. Abschließend wird auf die verschiedenen Arten der Einsamkeit eingegangen.
Wie abhängig Individuen von einem sozialen Beziehungsgefüge sind, in dem sie Anerkennung finden und Unterstützung erfahren, zeigen die in der Geschichte wiederholt aufgetretenen Fälle von Wolfskindern oder mutwillig isolierten Kindern.
Ob Psammetich - ein ägyptischer Pharao - oder Kaiser Friedrich II., immer wieder gab es Versuche, Kinder in völliger Isolation aufwachsen zu lassen ohne jegliche menschliche Nähe. Aus der Einsamkeit der Kinder resultierten neben großen Sprachdefiziten auch Bindungsunfähigkeit und geistige Fehlbildungen.
Ein anderes Beispiel aus den Vereinigten Staaten zeigt, dass Frühgeborene im Brutkasten ihren durch Isolierung herbeigeführten, kognitiven Rückstand schneller durch physischen Kontakt aufholen. In der Tierwelt gibt es ähnliche Beobachtungen: Sobald es Neugeborenen an Berührung mangelt, fahren sie ihren Stoffwechsel zurück und hören auf zu wachsen.
Einsamkeitserfahrungen, also die Ablehnung durch andere Menschen, entsprechen der Gefühlslage einer physischen Verletzung. Zu diesem Ergebnis sind die Wissenschaftler der Bowling Green State University in Ohio gekommen.
Dass Einsamkeit eine besondere Aufmerksamkeit verdient, zeigt sich ebenfalls durch gesellschaftliche und innerfamiliäre Sanktionstechniken, die als Strafe den Entzug der Freiheit des Individuums einfordern. Einsamkeitsstrafen gehören sogar zu den zentralen Sozialtechniken.
In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich zunächst mit dem Oberbegriff ‘Emotionen’ auseinandersetzen, um schließlich auf die Einsamkeit im Speziellen zu kommen. Über eine historische Wandelbarkeit des Begriffs ‘Einsamkeit’ kommt die Autorin zur Abgrenzung des Begriffs gegenüber dem ‘Alleinsein’ und der ‘Sozialen Isolation’. Daran soll eine entsprechende Definition von ‘Einsamkeit’ folgen und die begriffliche Verwendung im Englischen betrachtet werden. Abschließend wird auf die verschiedenen Arten der Einsamkeit eingegangen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einsamkeit kann als Hölle oder aber auch als Tor zur Weisheit begriffen werden.
Gerade die positive Hinwendung ist unserer westlichen Kultur nicht fremd.
In einer Studie der TNS Infratest Sozialforschung, die 19684 Teilnehmer untersuch-
te, kam man auf die Frage ,,Wie sehr stimmen sie persönlich der Aussage: ,Ich fühle
mich oft einsam?' zu dem Ergebnis, dass sich jeder fünfte Deutsche einsam fühlt.
Folgende Grafik soll diese Tatsache verdeutlichen:
Abbildung 1: Sozioökonomisches Panel
3
Bestimmte Lebensphasen rufen mehr Einsamkeit hervor als andere. Dieses Gefühl
durchzieht alle Schichten und Altersklassen.
In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich zunächst mit dem Oberbegriff ,,Emotio-
nen" auseinandersetzen, um schließlich auf die Einsamkeit im Speziellen zu kom-
men. Über eine historische Wandelbarkeit des Begriffs ,,Einsamkeit", komme ich zur
Abgrenzung des Begriffs gegenüber dem ,,Alleinsein" und der ,,Sozialen Isolation".
Daran soll eine entsprechende Definition von ,,Einsamkeit" folgen und auf die begriff-
liche Verwendung im Englischen eingegangen werden. Abschließend wird auf die
verschiedenen Arten der Einsamkeit eingegangen.
Der Hauptteil der Staatsarbeit beschäftigt sich mit den sozialen Determinanten im
Hinblick auf das Phänomen der Einsamkeit. Anhand des sozialen Wandels werden
3
vgl. Sozioökonimisches Panel 2008
4
drei Kategorien herausgestellt, die wiederum spezielle Bedingungen für das Einsam-
keitsempfinden darstellen. Schließlich endet die Ausarbeitung mit einer Schlussbe-
trachtung.
2. Einsamkeit als Emotion
Einsamkeit ist eines der tiefgreifendsten Gefühle des Menschen. Sie ist von Beginn
an Teil unseres Lebens. Wir kommen alleine auf die Welt und im scheidenden Mo-
ment des letzten Atemzugs sind wir ebenfalls auf uns allein gestellt.
Einsamkeit lässt sich neben anderen Gefühlslagen unter dem Oberbegriff ,,Emotio-
nen" fassen. Emotionen haben die Funktion, zwischenmenschliche Beziehungen zu
ermöglichen, das Gruppenverhalten zu synchronisieren oder Informationen weiter-
zugeben.
Im 17. Jahrhundert wurde das Wort ,,Emotion" aus dem Französischen entlehnt und
geht ursprünglich auf das Lateinische mov re, bedeutet ,,herausbewegen", zurück.
4
Das ,,Herausbewegen" kommt in der folgenden Definition von Emotionen besonders
zur Geltung: ,,...eine subjektive Gefühlslage, die als Antwort auf eine Interpretation
und Bewertung einer Situation entsteht, mit einer physiologischen Aktivierung ein-
hergehen können, und in Form von Emotionsexpressionen zum Ausdruck gebracht
werden können."
5
Diese Definition verdeutlicht ebenfalls die Ausgangslage von Emo-
tionen, nämlich den jeweiligen interpretierenden und bewertenden Aktanten.
In der Soziologie wurde den Emotionen zunächst keine große Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Zunächst standen sie fast ausschließlich im Fokus der Psychologie, der
Theologie und der Philosophie. Erste Annäherungsversuche wurden in den 1970er
Jahren in den USA unternommen, wie beispielsweise der austauschtheoretische
Ansatz von Theodore D. Kemper oder das symbolisch interaktionistische Konzept
von Arlie Hochschild.
6
Emotionen sind für unser tägliches Miteinander, für unsere
Kommunikation und als Schutzmechanismus von entscheidender Bedeutung. Sie
4
vgl. Wikipedia: Emotion 2011
5
vgl. Gerhards, Jürgen 1988, S.50
6
vgl. Gerhards, Jürgen 1998a, S.188
5
strukturieren und steuern unser soziales Handeln und dienen als Antrieb und zur
Orientierung. Somit werden sie zwar subjektiv empfunden, sind jedoch nicht aus-
schließlich Privatangelegenheit eines Menschen, sondern müssen in Interaktion mit
der Umwelt und dem wechselseitigen Handeln gedeutet werden.
Nach dem Emotionsmodell von Jürgen Gerhards entstehen Emotion als eine positi-
ve oder negative Erlebnisart eines Subjektes im Zusammenspiel der folgenden vier
Subsysteme: Persönlichkeit, Organismus, Sozialstruktur und Kultur, die sich wieder-
um den Ebenen Psychologie, Physiologie und Soziologie zuordnen lassen.
7
Persönlichkeit referiert auf den bereits erwähnten Ausgangspunkt für Emotionen.
Letztlich ergeben sich Emotionen nicht aus dem Nichts oder reflexartig. Lediglich der
Akteur kann durch seine wahrnehmende Bewertung Emotionen entstehen lassen.
Der Organismus stellt die physiologischen Parameter dar. Beide Subsysteme sind
für eine soziologische Analyse jedoch weniger von Bedeutung. Aus Sicht der Sozio-
logie interessieren die Sozialstruktur und die Kultur bei der Emotionsentstehung, da
Gefühle trotz der subjektiven Interpretation nicht beliebig, sondern in verschiedene
Muster und Normen gebettet sind.
In Bezug auf die Sozialstruktur bedient sich Gerhards der sozialstrukturellen Theorie
Kempers, die zwei fundamentale Aspekte in den Vordergrund der Sozialstruktur
rückt: Macht und Status. Beide Dimensionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer
Freiwilligkeit und der Unfreiwilligkeit bei der Umsetzung der Ideen anderer. Diese
Dyade wird im Modell in vier Teilbereiche unterschieden (Macht Egos, Macht Alters,
Status Ego und Status Alters), die nach Kempers durch ihre verschiedenen Kombi-
nationsmöglichkeiten schließlich alle Emotionen bestimmen lassen. Allerdings ist
dieses Modell nicht hinreichend, denn Emotionen ergeben sich nicht automatisch als
Reaktion auf sozialstrukturelle Stimuli, sondern sind das Ergebnis von Interpretation
und Bewertung der handelnden Akteure.
8
Hiermit kommt dem vierten Teilsystem
eine entsprechende Bedeutung zu. Im Rahmen der Kultur werden, den in ihr leben-
den Menschen, Regeln und Normen vermittelt, so dass entsprechende Deutungs-
muster nicht subjektiv und damit spontan und beliebig umgesetzt werden können.
,,Gefühlsregeln sind Deutungsmuster, meist über die Sozialisation vermittelt und über
Formen der sozialen Kontrolle stabilisiert, die festlegen, was und wie in welcher Si-
7
vgl. Gerhards, Jürgen 1998a, S.188
8
vgl. Gerhards, Jürgen 1986, S.764
6
tuationen gefühlt und zum Ausdruck gebracht werden soll."
9
Nach Arlie Hochschild
benannte ,,feeling-rules" bestimmen somit in welchen Situationen Emotionen zu er-
warten sind, wie stark diese Emotionen ausgeprägt sein dürfen und wie lange sie
anhalten können. Die Gefühlsnormen unterlaufen einem ständigen Prozess des
Produzierens und der Kontrolle durch die Mitmenschen. Somit sind die Gefühlsre-
geln nach Gesellschaft oder Milieu je unterschiedlich und gehen aus der jeweiligen
Soziologie hervor.
Der Einfluss des Sozialen in den Bereich der Emotionen besteht demnach zum ei-
nen aus dem Sozialsystem, der wechselseitigen Kommunikation und des sozialen
Handelns untereinander, und zum anderen aus der durch die Kultur vermittelten
normativen Deutungskonstrukte der jeweiligen Gemeinschaften.
,,Die vier Subsysteme konstituieren nicht an sich schon Emotionen, sondern erst
durch die Konstruktionsleistungen und Interpretation der vier Ebenen durch die han-
delnden Subjekte."
10
Emotionen sind ferner durch folgende Charakteristika bestimmt: Das Individuum ist
sich in der Regel über seine Gefühle bewusst, sie wirken sich auf seinen körperli-
chen Zustand aus, stehen im Zusammenhang mit spezifischen neurophysiologi-
schen Aktivitäten und gehen mit verschiedenen Verhaltensweisen einher.
11
3. Einsamkeit
Seit dem Spätmittelalter wird das Wort ,,einsam" verwendet und bezeichnete damals
denjenigen als einsam, der mit sich selbst eins ist.
12
Anhand dieses Beispiels zeigt
sich, dass der Begriff einen historischen Wandel durchlaufen hat, der im Folgenden
Abschnitt, neben der Begriffsspezifizierung hin zur Definition, aufgezeigt werden soll.
9
vgl. Gerhards, Jürgen 1998a, S.194-195
10
vgl. Gerhards, Jürgen 1998a, S.199
11
vgl. Silbereisen, Rainer / Pinquart, Martin 2008, S.56
12
vgl. Poschardt, Ulf 2007, S.89/90
7
3.1. Historische Einordnung des Begriffs
Um einen umfassenden Einblick über den Begriff ,,Einsamkeit" zu erhalten, ist es
wichtig, sich mit der historischen Einordnung und dem Begriffswandel auseinander-
zusetzen, um schließlich die Einsamkeit unserer heutigen Gesellschaft näher zu be-
leuchten.
Grundsätzlich lässt sich schon einmal vorab sagen, dass der Einsamkeit entweder
eine schöpferisch produktive Kraft zugesprochen oder diese als eine quälend leidvol-
le Erfahrung beschrieben und empfunden wurde und wird.
Einsamkeit wurde zunächst im Zusammenhang mit religiösen und mystischen As-
pekten als ein Ort des Rückzuges und eine Möglichkeit des schöpferischen Genus-
ses im Einklang mit Gott verstanden. In Zeiten der Aufklärung wurde diese Sichtwei-
se abgelöst durch eine Hinwendung des Individuums zu sich selbst; die religiöse
Einsamkeit wird demnach abgelehnt und eine Zurückgezogenheit mit dem Ziel per-
sönlicher Vervollkommnung zur schöpferischen Tätigkeit und Geistesarbeit wird be-
grüßt.
13
Durch den gesamtgesellschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Fort-
schritt steht nun das schöpferische Individuum im Vordergrund. Dieses Lebensgefühl
kommt auch in literarischen Werken wie Gothes ,,Die Leiden des jungen Werthers"
zum Ausdruck.
Im kulturgeschichtlichen Zeitalter der Romantik erfährt die Einsamkeit eher eine pro-
grammatische Bedeutung. In der Einsamkeit findet das Individuum sowohl trösten-
den Schutz als auch die Option auf sich allein gestellt zu sein. Werke des Künstlers
Caspar David Friedrich verdeutlichen die romantische Sehnsucht nach Einsamkeit,
das eins sein mit der Natur und die damit verbundene schöpferische oder auch
zerstörerische Kraft des Gefühls einer ganzen Epoche.
In der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung bis ins 19. Jahrhundert hat sich Ein-
samkeit zusehends als Form echter Freiheit verbunden mit dem Gefühl der Ausge-
schlossenheit entwickelt. Dies zeigt sich beispielsweise auf künstlerischer Ebene in
den Werken von Vincent van Gogh. Van Gogh beschreibt sehr treffend: ,,Mancher
Mensch hat ein großes Feuer in der Seele, und niemand kommt, um sich daran zu
wärmen." Schopenhauer empfindet Einsamkeit als ausschließliche Möglichkeit des
Selbstseins und der Freiheit und somit als ,,Los aller hervorragenden Geister".
14
13
vgl. Bohn, Caroline 2008, S.21
14
vgl. Poschardt, Ulf 2007, S.15
8
Auch Nietzsche beschäftigt sich mit der Emotion Einsamkeit, indem er diese zum
einen den großen Philosophen als Wesensmerkmal zuschreibt, zum anderen jedoch
auch die qualvolle Gefahr der Vereinsamung erkennt.
15
Im Zeitalter des ausgeprägten Individualismus des 20./21. Jahrhunderts gilt Einsam-
keit in unserer heutigen Konsumgesellschaft eher als Makel und ist entsprechend
unerwünscht. Individualisierung und das Streben nach dieser sind ein fester Be-
standteil unserer Welt und beinhalten Einsamkeit als Versagensgefühl.
Dennoch ist Einsamkeit ein Kennzeichnen moderner Gesellschaften wie David
Riesman bereits 1950 in seiner Veröffentlichung ,,The Lonely Crowd" über die Ein-
same Masse feststellt
16
, in der er den amerikanischen Charakter in Abhängigkeit von
verschiedenen Sozialstrukturen darstellt, wobei der Begriff ,,Einsamkeit" konkret an
keiner Stelle erwähnt wird.
Riesman beschreibt vorausahnend die Entwicklung des sozialen Wandels zu Beginn
unseres Jahrhunderts. Er postulierte, dass die anstehende Bevölkerungsschrump-
fung nicht nur ökonomische Konsequenzen haben würde, sondern auch Verände-
rungen im Bereich Familie, soziales Umfeld und der Gesamtgesellschaft nach sich
ziehen wird. Er leitete drei Sozialcharaktere ab, die er den Traditionsgeleiteten, den
Innengeleiteten und den Außengeleiteten nennt. Jeder Typus steht für eine bestimm-
te Phase des gesellschaftlichen Wandels. Der Traditionsgeleitete ist durch Rituale
und komplizierte Systeme der Ehre und Moral an seinem gesellschaftlichen Platz
infolge von Geburt und Familie gehalten. Diesen Typus verankert er im Mittelalter, in
dem Einsamkeit als friedliches Beisammensein gedeutet wurde.
Ein höherer Bevölkerungsumsatz, ein sprunghaftes Bevölkerungswachstum und ei-
ne umfassende Nahrungsverfügbarkeit führen schließlich dazu, dass mehr Individu-
en ein reproduktives Alter erreichen. Diese Veränderungen bringen den Innengelei-
teten Charakter hervor. Durch eine größere Nachkommenschaft können nicht mehr
alle Kinder in die Fußstapfen der Eltern treten. Sie suchen sich eine Beschäftigung
außerhalb der Primärgruppe.
Erreicht die Bevölkerung nun ihr Maximum, tritt nach Riesman eine Bevölkerungs-
schrumpfung ein, die durch niedrige Geburtenraten ausgelöst wird. Damit einherge-
hend minimieren sich auch die Sterberaten. Das wiederum führt zu massiven Um-
15
vgl. Bohn, Caroline 2008, S.22
16
vgl. Riesman, David 1953
9
stellungen in den Einsamkeitsregime moderner Industriestaaten. Nach Riesman ist
dieser Außengeleitete Charakter, ein Typus unserer aktuellen Gesellschaft, in seiner
Orientierung vollkommen abhängig von anderen Individuen, deren soziale Sankti-
onsordnungen Verhaltenskonformität hervorrufen. Der Außengeleitete befindet sich
nie im radikalen Selbstbezug, sondern ist immer abhängig von seiner Primärgruppe.
Die Sozialwissenschaft näherte sich der Thematik Einsamkeit erst sehr spät. Aus-
schlaggebend war vornehmlich die Veröffentlichung von Robert Weiss 1973, der
erstmals Einsamkeitstheorien entwickelte. Weiss geht in seinem Werk ,,Loneliness:
The Experience of Emotional and Social Isolation" davon aus, dass das Individuum
mit zwei sozialen Bedürfnissen ausgestattet ist, nämlich das Bedürfnis nach enger
Bindung einerseits und das Bedürfnis nach sozialer Integration andererseits. Weist
das Individuum jedoch ein Defizit in Hinblick auf diese Bedürfnissen auf, führt dies
nach Weiss zur Einsamkeit. Er unterscheidet die ,,soziale und die emotionale Isolati-
on. Während soziale Isolation durch fehlende Freunde oder mangelnder Geselligkeit
ausgelöst wird, ist es bei der emotionalen Isolation vor allem das Fehlen einer
vetrauten Person, der man sich zugehörig empfindet."
17
Gerade in der Kunst und auf musikalischem Terrain wird dieses Einsamkeitsgefühl
thematisiert, wie beispielsweise durch Werke von Jean-Michaek Basquiat oder Jack-
son Pollock. Lieder wie ,,Lonesome me" von Neil Young, ,,Kein Schwein ruft mich an"
von den Comedian Harmonists, ,,With or without you" von U2 oder ,,You´re frozen"
von Madonna sind Indizien dafür, wie sich das Gefühl der Einsamkeit in unserer
Wohlstandsgesellschaft etabliert hat.
In der Soziologie wird Einsamkeit als Ergebnis normativer gesellschaftlicher Aufla-
gen und der Wirkung soziokultureller Rahmenfaktoren aufgefasst, die in der vorlie-
genden Arbeit partiell abgearbeitet werden sollen.
Einsamkeit hat sich in der historischen Entwicklung einem Wandel unterzogen und
es bestehen unterschiedlichste Blickwinkel diese zu betrachten. Es wird sie immer
geben und in unserer heutigen Zeit hat sie eine besondere Qualität.
17
vgl. Buba, H.P. / Weiß, H. 2003, S.15
10
3.2. Einsamkeit vs. Alleinsein
Um dem Begriff ,,Einsamkeit" näher zu kommen, soll zunächst eine Abgrenzung zu
dem Begriff ,,Alleinsein" vorgenommen werden. Diese Abgrenzung findet im tägli-
chen Sprachgebrauch, im Verständnis von Laien, in populärwissenschaftlichen und
zum Teil auch wissenschaftlichen Texten nämlich nur unzureichend statt. Dass Ein-
samsein nicht mit Alleinsein gleichzusetzen ist, nicht synonym verwendet werden
kann, soll im Folgenden verdeutlicht werden.
,,Alleinsein" meint einen Zustand oder den Tatbestand, der objektiv wahrgenommen
wird. Es handelt sich um einen sozialstatistischen Befund des physischen Getrennt-
seins von einer bestimmten Person oder einer Gruppe, der messbar ist, eben die
Zeit, die ein Individuum faktisch alleine verbringt. Ein Individuum, welches allein ist,
hat somit ein Kontaktdefizit, welches keiner Bewertung unterläuft. Somit fühlt sich
nicht jeder, der allein ist, gleich einsam. Erst die belastende, unerträgliche und un-
gewünschte Form des Alleinseins führt schließlich in die Einsamkeit. Mit Kontaktde-
fizit ist nach Townsend das Ausbleiben von arrangierten Treffen mit anderen Perso-
nen gemeint und beinhaltet somit mehr als der gelegentliche Austausch von Grü-
ßen.
18
Auf Townsend ist auch die Differenzierung der Begriffe ,,Alleinsein" und ,,Einsamsein"
zurückzuführen. So unterschied er 1957 in einer Studie die beiden Begriffe wie folgt:
,,To be socialy isolated is to have few contacts with family and community; to be
lonely is to have an unwelcome feeling of luck or loss of companionship. The one is
objective, the other subjective and, as we shall see, the two do not coincide."
19
,,Einsamsein" ist somit ein subjektives als unangenehm betrachtetes Gefühl, welches
somit lediglich das einsame Individuum wahrnehmen kann. Es entspricht einer psy-
chischen Befindlichkeit, die vom Individuum wahrgenommen und verarbeitet werden
muss. Sie kann, muss aber nicht unbedingt objektiv sichtbar oder messbar sein. Das
Individuum kann sich lediglich kommunikativ über diese Gefühlslage mitteilen. Es
empfindet einen sozialen Mangel an Kommunikation und Interaktion, dabei ist es
unerheblich, ob diese Tatsache auch der Wirklichkeit entspricht. Auf der anderen
Seite kann es sich somit auch in einer Gesellschaft, unter anderen Personen einsam
fühlen. Das ,,Einsamsein" ist schließlich nicht an physisches Alleinsein gebunden.
18
vgl. Bungard, Walter 1975, S.15
11
In Abgrenzung zum ,,Alleinsein" definiert Caroline Bohn wie folgt: ,,Einsamkeit wird
hingegen als subjektives Erleben von Verlassenheit dem Empfinden von Leere,
Traurigkeit, Verzweifelung und Sehnsüchten, Verlangen nach Kontakt, Nähe und
Bindung bezeichnet. Das Gefühl der Einsamkeit ist jedoch unabhängig davon, ob
man tatsächlich allein ist oder sich in Gemeinschaft befindet."
20
3.3. Einsamkeit vs. Soziale Isolation
Einsamkeit wird häufig unter dem Aspekt der Einbindung von Individuen in Sozial-
kontakte gemessen. Konkret wird hier der Frage nachgegangen: Wie viele Kontakte
hat ein Individuum und wie eng sind diese Kontakte.
Diese ,,soziale Isolation" kann in verschiedenen Formen auftreten und auf unter-
schiedlichen Ebenen greifen. Einschneidende Ereignisse im Leben können soziale
Isolation verursachen und das Bedürfnis nach Unterstützung und Bestätigung stei-
gern.
Mit dem Begriff ,,Soziale Isolation" ist kein einheitliches Konzept verbunden; es muss
jeweils geschaut werden, in welchem Zusammenhang soziale Isolation betrachtet
wird.
Dreitzel beschreibt vier typische Fälle von Kontaktverlust: die Unterprivilegierung im
Herkunftsmilieu, Diskriminierung, Stigmatisierung und den Verlust des eigenen
Gruppenmilieus.
21
Diese Isolationen sind nicht immer gleich stark ausgeprägt. Hübinger unterscheidet
beispielsweise drei unterschiedliche Grade sozialer Isolation.
22
Die vollkommene
Isolation, die Isolationsgefährdung und die minimale Eingebundenheit.
Einsamkeit kann mit einer sozialen Isolation einhergehen, muss dies aber nicht. An-
dererseits kann sich jemand auch einsam fühlen, der sozialen eingebunden ist. Nach
Poschardt: ,,Wie erlebte der Mensch sich einsamer als in Anwesenheit eines ande-
ren: in einer vermeintlich sozialen Situation."
23
19
vgl. Bungard, Walter 1975, S.94
20
vgl. Bohn, Caroline 2008, S.29
21
vgl. Dreitzel, Hans Peter 1972, S.295
22
vgl. Hübinger, Werner 1996, S.115
23
vgl. Poschardt, Ulf 2007, S.92
12
Als Folge sozialer Isolation von der Primärgruppe kann sie zur Orientierungslosigkeit
und zu Identifikationsproblemen führen, denn Sozialbeziehungen dienen dazu, Ver-
gleichswerte zu erfahren und somit Problemlagen zu bewältigen. Soziale Isolation
kann das Individuum zu mangelnder Sozialstabilität führen oder wie Pierre Bourdieu
es beschreiben würde, zu einer Verminderung des Sozialkapitals.
3.4. Definition
Da Einsamkeit ein subjektiv erfahrbares Gefühl ist und sie zudem eine Emotion dar-
stellt, die eher versteckt, verborgen und verschwiegen werden will, ist es äußerst
schwierig eine ansprechende Definition ausfindig zu machen.
Die Einsamkeit ist auch deshalb so schwer auszumachen, da sie oft im Zusammen-
hang mit anderen Gefühlen auftreten kann, diese miteinander korrelieren oder die
Einsamkeit verbergen können. Folgende Begleiterscheinungen sind nahe der Ein-
samkeit auszumachen: Sehnsucht, Langeweile, Schüchternheit, Trauer, Depressio-
nen oder auch körperliche Beschwerden und eine Änderung des Verhaltens.
Somit kann man nicht von dem Einsamkeitsgefühl per se sprechen, welches für je-
des Individuum und jede Lebenslage angemessen erscheint. Einsamkeit ist nicht in
allen seinen Dimensionen vollständig erfassbar.
Einsamkeit wird in den unterschiedlichen Wissenschaften von verschiedenen Blick-
winkeln her bestimmt. Alle Ansätze sind sich jedoch in drei Punkten einig:
1.) Einsamkeit hängt mit einem Defizit an sozialen Beziehen und Kontakten des
Individuums zusammen.
2.) Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl und ist somit nicht mit Alleinsein oder
objektiver Isolation gleichzusetzen.
3.) Einsamkeit ist unangenehm, belastend und bedrückend.
24
Allgemein hat sich der kognitions- und attributionstheoretische Ansatz durchgesetzt.
Demzufolge wird Einsamkeit ,,als Folge eines subjektiv wahrgenommenen Defizits
zwischen erwünschtem und erreichtem Niveau sozialer Bindungen und Kontakte
begriffen."
25
Somit gilt Einsamkeit als Diskrepanz zwischen dem Ist- und Soll-Wert,
24
vgl. Linnemann, Marco 1995, S.22/23
25
vgl. Elbing, Eberhard 1991, S.61
13
den gewünschten und realen Beziehungen. Einsamkeit resultiert nach diesem An-
satz aus einer negativen Bewertung der qualitativen, meint Zufriedenheit, Verbun-
denheit und Vertrauen, und quantitativen Beziehungen, die Anzahl der Beziehungen,
Kontakthäufigkeit und Kontaktdauer, eines Individuums.
Bezug nehmend auf den vordergründig soziologischen Fokus in Hinblick auf Ein-
samkeit und seinen Entstehungsfaktoren möchte ich an dieser Stelle eine Definition
von Bohn anführen, die der weiteren Ausarbeitung zugrunde liegen soll: ,,Einsamkeit
gilt als Existenzerfahrung von der Abgeschiedenheit des Individuums von seiner
Umwelt. Soziologisch betrachtet beschreibt Einsamkeit daher die soziale Situation
eines Menschen, die durch eine permanente, zeitlich befristete oder aus bestimmten
sozialen Lagen sich ergebende Reduktion der Aktivitäten und der sozialen Interakti-
onen gekennzeichnet ist. Einsamkeit wird auch als sozialpathologische Erscheinung
anonymer, vereinzelnder, moderner Gesellschaften analysiert."
26
Die Individualisierungstendenzen unserer heutigen Gesellschaft spielen in Bezug auf
die Einsamkeit eine enorme Rolle, aber auch andere Determinanten wie beispiels-
weise Lebensform, gesellschaftliche Position, Wohnsituation, Alter oder gesellschaft-
liche Gruppen nehmen einen hohen Stellenwert ein, auf den ich in den nächsten Ka-
piteln eingehen werde.
3.4.1. Verwendung des Begriffs ,,Einsamkeit" im Englischen
Die begriffliche Verwendung der Termini ,,Einsamsein", ,,Alleinsein" und ,,Soziale Iso-
lation" ist im Deutschen recht unbefriedigend und wenig konkret.
Im direkten Sprachvergleich der Verwendung der Begrifflichkeiten mit dem Engli-
schen schneidet letzteres treffender ab. In der englischen Sprache wird zwischen
,,solitude", ,,loneliness" und ,,lonesomeness" unterschieden.
,,Solitude" meint eine positiv erfüllende Einsamkeit, die durch Freiheits- und Autono-
mieerlebnisse, vor allem in und mit der Natur, gekennzeichnet ist.
27
,,Loneniness" und ,,lonesomeness" beschreiben hingegen die emotional negativ be-
setze Seite. Während ,,loneliness" das Abgeschiedensein von Familie und Freunden
26
vgl. Bohn, Caroline 2008, S.28
27
vgl. Elbing, Eberhard 1991, S.7
14
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2011
- ISBN (PDF)
- 9783955497248
- ISBN (Paperback)
- 9783955492243
- Dateigröße
- 1000 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Technische Universität Dortmund
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,7
- Schlagworte
- Globalisierung Arbeitslosigkeit Armut Urbanisierung Alter