Ansprüche und Problematik kompetenzorientierter Abschlussprüfungen im dualen System der Berufsausbildung: Eine Analyse am Beispiel des Ausbildungsberufes Augenoptiker/in
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2.3 Darstellung zentraler Gütekriterien für berufliche Abschlussprüfungen
Die Bedeutung der Abschlussprüfung und einige problematische Aspekte in ihrem Kontext wurden bereits angesprochen. Daraus, und mit der Fragestellung dieser Arbeit (vgl. Kap. 1.1) stellt sich die Frage, welchen Qualitätsansprüchen die Gestaltung kompetenzorientierter Abschlussprüfungen genügen sollte.
Zunächst sind die traditionell bevorzugten, diagnostischen Gütekriterien zu nennen, die die testtheoretische Güte einer Prüfung ansprechen[1]. Allerdings sind, um Aussagen zur beruflichen Handlungskompetenz des Prüfungsteilnehmers machen zu können, bei der Gestaltung der Abschlussprüfung weitere, konzeptionelle Gütekriterien zu berücksichtigen.
2.3.1 Diagnostische Gütekriterien
Vorrangig werden für Prüfungen drei Hauptgütekriterien genannt. Die Validität, die Reliabilität und die Objektivität sind jene testtheoretisch-diagnostischen Gütekriterien, die für Leistungsmessungen allgemein gelten[2].
Um das Kriterium der Validität (Gültigkeit) zu erfüllen, muss eine Prüfungsaufgabe inhaltlich und formell das treffen, was erfasst werden soll[3]. Dazu ist eine Prüfungsgestaltung erforderlich, die in geeigneter Form wirklich das prüft, was die Prüfungsteilnehmer können sollen. In beruflichen Abschlussprüfungen soll festgestellt werden, „ob der Prüfling die berufliche Handlungsfähigkeit erworben hat“[4], für deren Erreichung die berufliche Handlungskompetenz als Indikator angesehen wird[5]. Damit zeigt sich die Abhängigkeit der Erfüllung des Gütekriteriums der Validität von der in Kap. 2.2 dargestellten grundsätzlichen Problematik der Kompetenzerfassung.
Mit der Zielvorgabe, die berufliche Handlungsfähigkeit zu erfassen, ist die Herausforderung verbunden, hinsichtlich der typischen Anforderungen in der beruflichen Praxis, eine hinreichend repräsentative und ständig aktualisierte Aufgabenauswahl zu treffen[6]. Ebenso wird durch die Orientierung an der aktuellen und realistischen Berufspraxis die prognostische Funktion der Abschlussprüfung (vgl. Kap. 2.1) erfüllt. Darüber hinaus ist die inhaltliche Validität einer Prüfung vom definierten Prüfungsgegenstand in den Ordnungsmitteln der dualen Berufsausbildung (vgl. Übersicht 2.2) abhängig. Dieser Aspekt wird in Kap. 2.4.2 weiter verfolgt.
Die Reliabilität (Zuverlässigkeit) betrifft die Genauigkeit eines Prüfungsinstrumentes und wird entsprechend erfüllt durch die zuverlässige Erfassung dessen, was erfasst wird[7]. Ein Prüfungsergebnis ist als zuverlässig anzusehen, wenn es das Leistungsniveau der Prüfungsteilnehmer weder unter- noch überschätzt, sondern es entsprechend dem aktuell vorliegenden Grad zum Ausdruck bringt[8]. Unterliegt auch das Verständnis der Aufgabe durch die Prüfungsteilnehmer keinen Schwankungen, sondern führt die Prüfung bei wiederholter oder paralleler Anwendung zu gleichen Ergebnissen, ist dies ein weiteres Merkmal für eine reliable Prüfungsgestaltung. Daher ist die verständliche, eindeutige Formulierung der Aufgaben eine entscheidende Anforderung, um den Prüfungsgegenstand zuverlässig erfassen zu können.[9] Dem entspricht auch die Forderung von Prüfungsteilnehmern nach einer „fairen“ Prüfung, indem die Form und die eindeutige Formulierung der Aufgabenstellung klar zum Ausdruck bringen, welche Leistung von den Teilnehmern erwartet wird.
Das Kriterium der Objektivität verlangt eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit der Testergebnisse von situativen Aspekten der Testdurchführung, sowie von individuellen Variationen der Testauswertung und –interpretation[10]. Für eine objektive Leistungserfassung sind daher identische Bedingungen für die Prüfungsteilnehmer, sowie die Unabhängigkeit von subjektiven Einflüssen auf Seiten der Prüfer anzustreben[11].
In der Durchführungsphase kann die Prüfung durch einheitliche Anforderungen unter gleichen Bedingungen für die Prüfungsteilnehmer objektiviert werden. Um die Objektivität der Auswertung zu erhöhen, kann die Einschränkung der Antwortmöglichkeiten für die Prüfungsteilnehmer dienlich sein. Darüber hinaus erhöht ein begrenzter Auswertungsspielraum für die Prüfer, z. B. durch vorherige Festlegung der Punktezahl für jede einzelne Aufgabe, die Interpretationsobjektivität der Prüfung.[12] Allerdings gehen diese Maßnahmen mit einer Vereinheitlichung der Prüfungssituationen und einer hohen Standardisierung der Prüfungsgestaltung einher. Die Frage, inwieweit dies in kompetenzorientierten Prüfungen anzustreben ist, wird in Kap. 2.4.1 behandelt.
Zwischen den dargestellten diagnostischen Gütekriterien bestehen Interdependenzen und Zielkonflikte. Mit der Übersicht 2.2 wird deutlich, dass die Gültigkeit einer Prüfung zahlreichen Abhängigkeiten unterliegt (vgl. Kap. 2.1), und die Zuverlässigkeit und Objektivität der Prüfung zur Voraussetzung hat[13]. Eine Prüfung kann nur so gültig sein, wie sie zuverlässig ist, und so zuverlässig sein, wie sie objektiv ist[14].
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Übersicht 2.2: Systematischer Zusammenhang zwischen den Gütekriterien[15]
Prüfungsaufgaben, die mit engen Lösungs- und Auswertungsspielräumen auf das Wissen der Prüfungsteilnehmer zielen, erfüllen das Kriterium der Objektivität in hohem Masse, allerdings sind sie nicht geeignet, die Fähigkeit, berufliche Anforderungssituationen angemessen zu lösen, zu erfassen[16]. Daraus folgt, dass eine Abschlussprüfung die Kriterien Objektivität und Reliabilität in hohem Masse erfüllen kann, und dabei die Validität verfehlen kann. Aber die Prüfung stellt keinen Selbstzweck dar, sondern kann nur zertifizieren, was sie gültig erfasst hat.[17] Dieser Gedanke wird in Kap. 2.4 weiter verfolgt.
2.3.2 Konzeptionelle Gütekriterien
Mit dem Wandel der Anforderungen in der Berufsausübung und mit der Orientierung der Ausbildung an Arbeits- und Geschäftsprozessen ist eine entsprechende Anpassung der beruflichen Abschlussprüfungen nötig[18]. Ausgehend von der Zielsetzung, jungen Menschen den Erwerb umfassender beruflicher Handlungskompetenz zu ermöglichen, wurde im BBiG der Begriff der ´beruflichen Handlungsfähigkeit` als Prüfungsgegenstand aufgenommen[19] (vgl. Kap. 2.1). Allerdings bietet die derzeitige Literatur keine konkreten Kompetenzerfassungsinstrumente, da auch kaum operationalisierte Vorstellungen von beruflicher Handlungskompetenz zu finden sind[20] (vgl. Kap. 2.2). Daher können die konzeptionellen Gestaltungskriterien Handlungs- bzw. Prozessorientierung, Flexibilisierung, Individualisierung und Authentizität nicht (nur) als zusätzliche Anforderung, sondern auch als Orientierungshilfe zur Gestaltung kompetenzorientierter Prüfungen gesehen werden.
Handlungs- und Prozessorientierung: Das Konzept der Handlungsorientierung, das derzeit in der beruflichen Bildung als ein zentraler Bezugspunkt gilt, stellt sich gegen den traditionellen Dualismus von menschlichem Denken und menschlichem Handeln[21].
Die theoretische Grundlage des Handlungsorientierungskonzeptes bildet die Handlungstheorie Aeblis. Denken, Wissen und Können entwickelt sich nach Aebli kontinuierlich „aus dem praktischen Handeln und dem Wahrnehmen heraus, und Denken, Wissen und Können haben sich wiederum im praktischen Handeln und in der deutenden Wahrnehmung der Welt zu bewähren“[22]. Somit sind Wahrnehmen, Handeln und Denken Formen des Tuns, die einander bedingend, kooperativ in wechselweisen Aufbauprozessen jeweils auf die entsprechende Zielsetzung ausgerichtet werden.[23] Handeln ist daher nicht vom Denken gelöst, sondern erfolgt mit dem Ziel einer Veränderung in Planung, Ablauf und Reflexion anhand der vorherigen gedanklichen Zielsetzung[24]. Handlungen benötigen zielsetzende und zielgerichtet regulierende Denkprozesse.
Mit der Handlungsorientierung wird die Einheit von Handeln und Denken, von Wissen und Tun, von Arbeiten und Lernen[25] als Prinzip für alle Bereiche der beruflichen Bildung postuliert. Daher verlangt das Kriterium Handlungs- und Prozessorientierung entgegen der herkömmlichen Prüfungspraxis in Form einer schriftlichen Kenntnisprüfung und einer praktischen Fertigkeitsprüfung eine Prüfungskonzeption, die die Fähigkeit der Prüfungsteilnehmer zur zielgerichteten Kombination von Wissen, Denken und Handeln abbildet[26]. Dazu ist es nicht ausreichend, die Prüfung inhaltlich auf Prozesse aus der Berufspraxis zu beziehen. Sondern, um berufliche Handlungskompetenz in Prüfungen erfassen zu können, sollten die Aufgaben insbesondere die Prozesshaftigkeit der beruflichen Handlungen widerspiegeln[27]. Aus diesem Grund wird hier auch, gemäß neuerer Literatur[28], die Praxisnähe nicht als eigenständiges Gütekriterium, sondern als Bestandteil der Handlungs- und Prozessorientierung verstanden.
Gemäß dem Begriffsverständnis von Handlungskompetenz als Disposition zum Problemlösen (vgl. Kap. 1.2), ist für berufliche Abschlussprüfungen zu postulieren, dass sie den Prüfungsteilnehmern die Möglichkeit geben, Aufgaben mit Problemgehalt aktiv und reflexiv durch problemlösendes, ´kompetentes` Handeln zu bewältigen, und dadurch ihre individuelle Handlungskompetenz in beruflichen Situationen zu zeigen[29]. Nach Tramm/ Rebmann lässt sich unter Rückgriff auf das Modell der vollständigen Handlung, die Fähigkeit zum gedanklichen und tätigen Problemlösen als Teilkomponente der Handlungskompetenz abbilden[30]. Dieses Verständnis deckt sich mit den Ausführungen Breuers, der selbstständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren im betrieblichen Gesamtzusammenhang als den gemeinsamen Kern im Kompetenzverständnis in den Ordnungsmitteln sieht[31] (vgl. Kap 2.4.2). Das Modell der vollständigen Handlung wird in Kap. 2.4.3 näher behandelt.
Hintergrund für die Forderung nach Flexibilität in der Prüfungsgestaltung sind die sich stetig ändernden Arbeits- und Geschäftsprozesse in den Betrieben und die sich dementsprechend ändernden Qualifikationsprofile. In diesem Bewusstsein und um einem engen Turnus von Neuordnungsverfahren der Ausbildungsordnungen zu entgehen, ist die Forderung zur flexiblen Aufgabengestaltung begründet. Auch die lernfeldorientierten Rahmenlehrpläne, die den Berufsschullehrern mehr Autonomie für eine flexible und somit stetig aktuelle Anpassung des Unterrichtes an die berufliche Praxis und regionale Besonderheiten ermöglichen, zielen auf mehr Flexibilität. Zusätzlich erfordert die zunehmende Spezialisierungstendenz in vielen Berufen eine flexible Auswahl der Prüfungsinhalte, um auch spezielle Geschäftsfelder, in denen der jeweilige Ausbildungsbetrieb agiert, zu berücksichtigen.[32]
Der Anspruch, sowohl auf Veränderungen, als auch auf die spezifischen Gegebenheiten in den jeweiligen Ausbildungsbetrieben flexibel zu reagieren, bezieht sich gleichermaßen auf den Berufsschulunterricht und auf die Gestaltung der Abschlussprüfung. In diesem Sinne kommt eine gewisse Flexibilität in der Prüfungsgestaltung auch dem Anspruch zur Individualisierung entgegen.
Nach dem Gestaltungsgrundsatz der Individualisierung sollten Prüfungsaufgaben die individuellen Lern- und Arbeitserfahrungen der einzelnen Prüfungsteilnehmer berücksichtigen[33], die je nach Größe und Marktpositionierung des Ausbildungsbetriebes, aber auch aufgrund individueller personaler Faktoren der Auszubildenden, sehr unterschiedlich sein können. Der Erwerb von Berufserfahrung gehört zu den Zielen der Berufsausbildung[34], die die Auszubildende im dualen System durch die aktive Auseinandersetzung mit Arbeitsprozessen in der beruflichen Praxis erlangen. Es werden berufliche und soziale Erfahrungen gesammelt, die verbunden mit Erlebnissen und Emotionen[35], eine Grundlage für weitere Entwicklungen und Handlungsmöglichkeiten bilden[36], wodurch in der Folge Haltungen und Einstellungen geprägt werden[37]. Individuelle Erfahrungen in der beruflichen Praxis bilden demnach eine Grundlage für motivationale und metakognitive Fähigkeiten als Teil der internen Bedingungen der Handlungskompetenz gemäß dem hier verwendeten Begriffsverständnis (vgl. Kap. 1.2). Daher kann durch Prüfungsaufgaben, die sich an den individuellen Erfahrungsbereich im Ausbildungsbetrieb orientieren, Handlungskompetenz erfasst werden, die ohne den individuellen Bezug unentdeckt bleiben könnte[38].
Aus einem Verständnis, in dem Handlungskompetenz sich individuell begründet und entwickelt und individuelle Erfahrungen einer der konstituierenden Faktoren für berufliche Handlungskompetenz ist (vgl. Kap. 4), ergeht konsequenterweise die Forderung nach einer Prüfungsgestaltung, die den individuellen Aspekt der Handlungskompetenz berücksichtigt.
Als weiteres Leitbild für kompetenzorientierte Prüfungen gilt die Authentizität einer realen Prüfungsaufgabe unter realen Bedingungen. Authentische Prüfungen im engen Sinn orientieren sich nicht am realen Berufsalltag, sondern sie sind Teil der Realität im Betrieb[39]. Allerdings besteht bei real-authentischen Prüfungsaufgaben die Möglichkeit, die o. g. Individualität zu vernachlässigen oder in besonderem Masse zu erfüllen, je nachdem, ob die einzelnen Prüfungsteilnehmer mit der entsprechenden Aufgabensituation vertraut sind, oder nicht.
In der Diskussion um Lernaufgaben haben authentische Aufgaben, mit dem Ziel, „träges Wissen“ zu vermeiden, seit längerem eine Bedeutung, während die Forderung nach real-authentischen bzw. situiert-authentischen Prüfungsaufgaben relativ neu ist und nach wie vor diskutiert wird[40]. Kernpunkt der Debatte dazu ist das Spannungsfeld zwischen Authentizität und Validität. Die Frage ist, ob eine reale Arbeitssituation per se als authentisch angesehen werden kann und ob sie die valide Erfassung des Prüfungsgegenstandes ermöglicht. Oder besteht, um die anderen Gütekriterien nicht außer Acht zu lassen, die Notwendigkeit, eine situierte Aufgabe mehr oder weniger zu inszenieren? Die Diskussion um „echte“ Situationsaufgaben wird in Kap. 2.4.4 aufgegriffen.
Ergänzende Kriterien: Im Rahmen dieser Arbeit stehen das Gütekriterium der Validität, weil es allgemein als das Wichtigste angesehen wird[41] (vgl. Kap. 2.4.1), und die konzeptionellen Gütekriterien für kompetenzorientierte Prüfungen, entsprechend dem Titel der Arbeit, im Mittelpunkt. Aus Gründen der Vollständigkeit sollen weniger zentrale Gütekriterien genannt, aber nicht vertiefend diskutiert werden.
Die Justiziabilität bezieht sich auf die Erfüllung der rechtlichen Verfahrensregeln. In einer chancengerechten Prüfung entsprechen die Prüfungsaufgaben in Methode und Inhalt den vorangegangen Lernbedingungen.[42] Nach dem Gütekriterium Ökonomie sollten Prüfungen den Nutzen, den sie aufgrund ihrer Funktion zu erbringen haben, mit einem vertretbaren Aufwand erbringen[43]. Ökonomische Gründe werden auch für die lange bestehende Dominanz des Kriteriums der Objektivität und der damit begründeten Bevorzugung programmierter Aufgaben angeführt. Im Prozess der Prüfungsgestaltung dürfte ein expliziter Hinweis auf den ökonomischen Gesichtspunkt nicht nötig sein, da er automatisch ins Blickfeld geraten dürfte. Dennoch sind ökonomische Erwägungen im dualen System nicht unerheblich, da die Abschlussprüfungen bundesweit durch etwa 300 000 ehrenamtliche Prüferinnen und Prüfer durchgeführt werden[44], in deren Interesse der Prüfungsaufwand nicht „ausufern“ sollte.
Im Rahmen des SELUBA[45] -Modellversuchs wurden, aus Schlüsselbegriffen der KMK-Handreichung abgeleitet, weitere Gütekriterien definiert, mit denen sich berufliche Handlungskompetenz abbilden lässt[46]. Mit Zielgerichtetheit wird die methodengeleitete Problemlösefähigkeit bezeichnet[47] und weist damit eine Parallelität zum o. g. konzeptionellen Gütekriterium Handlungsorientierung im hier dargestellten Verständnis auf. Der Selbstbezug bezieht sich auf die kritische Selbsteinschätzung, und die Selbstständigkeit wiederum auf das eigenständige Problemlösen. Die soziale Eingebundenheit wird für Lern- und damit für Prüfungsprozesse ebenso eingefordert, wie der Gegenstandsbezug, der sich auf die Fähigkeit bezieht, Probleme fachgerecht unter Berücksichtigung gängiger Normen und Vorschriften zu lösen,[48] und damit wiederum eine inhaltliche Nähe zur Handlungsorientierung aufweist. Im Überblick wird hier die Affinität zur Problemlösefähigkeit deutlich, die in dem für diese Arbeit verwendeten Begriffsverständnis zentral ist, und zu deren Erfassung eine handlungs- und prozessorientierte Prüfungsgestaltung dienen kann (vgl. Kap. 2.4.3).
Die für kompetenzorientierte Prüfungen formulierten konzeptionellen Gütekriterien sorgen insgesamt für eine stärkere Annäherung an die Realität im Berufshandeln. Damit sind allerdings erhöhte Komplexität und Differenziertheit der Aufgabenstellung verbunden[49], die sich durch wechselseitige Zielkonflikte noch verstärken.
2.4 Diskussion zu Interdependenzen und Abhängigkeiten der zentralen Gütekriterien
Um berufliche Handlungsfähigkeit bzw. –kompetenz erfassen und zertifizieren zu können, sollten sowohl die diagnostischen, als auch die konzeptionellen Qualitätskriterien erfüllt werden. Dabei stellt sich die Problematik, dass die einzelnen Kategorien teilweise gegensätzliche Ansprüche an die Gestaltung von Prüfungen stellen.[50]
In diesem Kapitel werden die zentralen Argumente in der Diskussion um Interdependenzen und Abhängigkeiten der einzelnen Gütekriterien für kompetenzorientierte Prüfungen thematisiert. Im Fokus der Betrachtung liegt dabei die Kernfrage, ob und wie die geforderte berufliche Handlungskompetenz valide erfasst werden kann.
2.4.1 Zum Spannungsfeld zwischen Validität und Objektivität
Das Gütekriterium der Validität verlangt eine Prüfungskonzeption, die geeignet ist, inhaltlich und formell das zu treffen, was erfasst werden soll (vgl. Kap. 2.3.1).
Inhaltlich hat die berufliche Abschlussprüfung spätestens seit der Novelle des BBiG 2005 in erster Linie festzustellen, ob die Prüfungsteilnehmer über die berufliche Handlungskompetenz verfügen[51]. Auch die prognostische Funktion der Abschlussprüfung (vgl. Kap. 2.1), sowie das in Kap. 2.3.2 angesprochene Kriterium der Chancengerechtigkeit, nach der Inhalt und Methode der Abschlussprüfung denen des Lernprozesses entsprechen sollten, erfordern die gültige Erfassung der beruflichen Handlungskompetenz.
Damit stellt sich für die Prüfungsgestaltung die in Kap. 2.2 dargestellte Problematik der Kompetenzerfassung, denn „es existiert zurzeit weder ein einheitlicher, allgemein akzeptierter Kompetenzbegriff, noch gibt es einen ´Königsweg` der Operationalisierung und Messung von Kompetenzen“[52]. Demgegenüber steht bei den diagnostischen Gütekriterien die Testgenauigkeit im Vordergrund und diese Anforderung ist umso leichter erfüllbar, je klarer der Prüfungsgegenstand begrifflich und operational erfassbar ist. Diese Problematik verschärft sich, wenn statt Performanz oder punktuellen Wissens, schwer erfassbare berufliche Qualifikationen das Prüfungsziel darstellen.
Aufgrund dieser Problematik und um der Messgenauigkeit Genüge zu tun, werden in einer Sichtweise, die die Objektivität überbetont, Aufgaben mit eindeutigen Lösungen bevorzugt, sowie häufig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Lösungsspielraum für die Prüfungsteilnehmer einzuengen, z. B. in Form von Multiple-choice Aufgaben[53]. Besonders von Seiten der Berufsverbände wird häufig eine stärkere Standardisierung und Zentralisierung des Prüfungswesens befürwortet[54] und in verengter diagnostischer Sichtweise eine einseitige Abhängigkeit der Validität von der Objektivität betont[55]. Diese Vorgehensweise würde zwar die Objektivität der Prüfung erhöhen, aber es wird mit dieser Standardisierung die valide Erfassung des Prüfungsgegenstandes verfehlt. Denn über die inhaltliche Zielsetzung hinaus, sollten kompetenzorientierte Prüfungen durch die Berücksichtigung der konzeptionellen Gütekriterien (vgl. Kap. 2.3.2) auch in Form und Gestaltung geeignet sein, die berufliche Handlungskompetenz der Prüfungsteilnehmer abzubilden und gültig zu erfassen.
Damit wird deutlich, dass das häufig angeführte Argument, die Prüfung sei so zu gestalten, dass eine hohe Testgenauigkeit ermöglicht werde, zu kurz greift. Es kann nicht darum gehen, im Dienste der objektiven Auswertbarkeit in Abschlussprüfungen geschlossene Aufgaben zu stellen, wenn den erfolgreichen Prüfungsteilnehmern im Anschluss die ´berufliche Handlungsfähigkeit` zertifiziert werden soll. Denn berufliche Abschlussprüfungen stellen keinen Selbstzweck dar, und was nützt eine hohe Testgenauigkeit, wenn die Prüfung nicht erfasst, was erfasst werden soll und die gültige Erfassung des Prüfungsgegenstandes nicht erfüllt. Daher setzt sich zunehmend die Einsicht zur Dominanz der Validität in Berufsabschlussprüfungen[56], statt der behavioristisch begründeten Dominanz der Objektivität[57] durch. Eine gute Möglichkeit, die Validität in kompetenzorientierten Prüfungen positiv zu beeinflussen und gleichzeitig der Objektivität zu genügen[58], können handlungsorientierte Prüfungsaufgaben in authentischen beruflichen Anforderungssituationen sein. Hierzu gibt es in vielen Berufen eine zunehmende Tendenz, so dass schon von einem ´Philosophiewechsel` bei den Prüfungsanforderungen gesprochen wird.[59] Der Aspekt der authentisch situierten Aufgaben wird in Kap. 2.4.4 wieder aufgegriffen.
2.4.2 Validität der Prüfung und curriculare Ausbildungsziele
Im Verlauf dieser Arbeit wird deutlich, dass das Gütekriterium Validität der Objektivität im Zuge kompetenzorientierter Abschlussprüfungen die dominierende Bedeutung abgenommen hat[60]. Im Folgenden steht die Validität der Prüfung mit Blick auf die Formulierung in den Ordnungsmitteln der dualen Berufsausbildung im Fokus.
Denn „das eigentliche Ziel [der Abschlussprüfung] liegt in der Gültigkeit eines Zertifikats im Hinblick auf die vorgegebenen Lehrziele und die beruflichen Anforderungen, die mit dem definierten Bündel von Qualifikationen korrespondieren“[61]. Daher ist die Validität einer Prüfung nicht nur abhängig von ihrer Zuverlässigkeit und Objektivität (vgl. Übersicht 2.2), sondern in gleichem Masse von den Anforderungen in der Berufsausübung (vgl. Kap. 2.1) und den definierten Vorgaben in den Ordnungsmitteln. Das Gütekriterium der Validität wird nur dann erfüllt, wenn die Prüfung inhaltlich, sowie in Form und Gestaltung dem entspricht, was in den Curricula angestrebt wird[62], wenn sie tatsächlich das erfasst, was erfasst werden soll[63]. Dazu steht primär die Frage an, ´was soll erfasst und geprüft werden`, also die Identifizierung der in den Rechtsgrundlagen enthaltenen Ausbildungsziele.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Übersicht 2.2: Systematischer Zusammenhang zwischen den Gütekriterien[64]
Die Durchführung der Abschlussprüfung im dualen System liegt in Händen des paritätisch besetzen Prüfungsausschusses[65], in dem allerdings die Vertreter der betrieblichen Seite die Majorität stellen[66]. Dieser Umstand könnte zu der Vermutung verleiten, die Abschlussprüfung habe sich inhaltlich überwiegend auf die betriebliche Säule zu beziehen. Demgegenüber wird in § 38 BBiG und durch die wechselseitigen Verweise in Rahmenlehrplan und Ausbildungsordnung die Relevanz der Ausbildungsinhalte und –ziele beider Lernorte für die Abschlussprüfung deutlich (vgl. Kap. 2.1). Daher werden zur Klärung der Frage nach den Ausbildungszielen die entsprechenden Vorgaben in den Rechtsgrundlagen für beide Lernortpartner gesichtet.
Die Berufsschule und die Ausbildungsbetriebe erfüllen laut ´Rahmenvereinbarung über die Berufsschule` einen gemeinsamen Bildungsauftrag[67], für den es eines Konsenses im Verständnis des Bildungsauftrages bedarf[68]. Da die Koordinierung auf politisch-administrativer Ebene durch ein komplexes Abstimmungsverfahren erfolgt[69], könnte in den jeweiligen Ordnungsmitteln eine ähnliche Formulierung der Ausbildungsziele erwartet werden. Zur Überprüfung dieser Hypothese werden beispielhaft die Ordnungsmittel des Ausbildungsberufes Augenoptiker/in herangezogen.
Für die Berufsschule hat die KMK ihre Vorstellung von Handlungskompetenz zum Bildungsauftrag erhoben[70], daher gründen auch die Lernziele im lernfeldorientierten Rahmenlehrplan, hier beispielhaft der für die Augenoptiker, explizit im Ansatz der KMK-Handreichung[71].
„Die Lernziele und Lerninhalte des Rahmenlehrplans stellen Mindestanforderungen dar. Mit der Struktur dieses Rahmenlehrplans wird die Absicht verfolgt, durch ein didaktisches und lernorganisatorisches Konzept Handlungskompetenz zu entwickeln.“[72]
Die Entwicklung der beruflichen Handlungskompetenz als Orientierung und Zielvorgabe für den schulischen Lernort wird gemäß der KMK-Handreichung, als „Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“[73], definiert. Sie beschränkt sich nicht auf den Zusammenhang einer qualifizierten Berufsausübung, sondern zielt auf die Bewältigung von Lebensvollzügen durch die berufstätige Person[74].
Auf Seiten des betrieblichen Lernortpartners wird der Kompetenzorientierung der beruflichen Bildung mit der Novelle des BBiG 2005 Rechnung getragen. Die berufliche Handlungsfähigkeit wird zum Leitbild für die Ausbildung und zum Gegenstand der Abschlussprüfung.[75] Laut BBiG hat die Abschlussprüfung auf der Grundlage der Ausbildungsordnung zu erfolgen[76], daher sind das dort dargestellte Ausbildungsberufsbild (vgl. Kap. 3.2) und die Prüfungsanforderungen im Sinne der Validität für die Gestaltung der Abschlussprüfung maßgeblich[77]. Demzufolge ist von Interesse, welches Verständnis vom Ausbildungsziel berufliche Handlungsfähigkeit der Ausbildungsordnung zugrunde liegt. Die Formulierungen zum Ziel der Berufsausbildung in den einzelnen Ausbildungsordnungen sind unterschiedlich.
„Die Fertigkeiten und Kenntnisse nach § 3 sollen so vermittelt werden, daß der Auszubildende zur Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit […] befähigt wird, die insbesondere selbständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren einschließt. Die […] Befähigung ist auch in den Prüfungen […] nachzuweisen.“[78]
Auch die hier zitierte Ausbildungsordnung für den Beruf Augenoptiker/in enthält keine explizite Darstellung der beruflichen Handlungskompetenz, sondern benennt ´Fertigkeiten und Kenntnisse` als Ausbildungsziel. In einigen neugeordneten Ausbildungsordnungen wurde der Begriff der Handlungsfähigkeit bzw. –kompetenz ergänzt, dann aber auch eher mit nachgeordneter Zielsetzung[79].
Durch den Vergleich der Ordnungsmittel beider Säulen der dualen Berufsausbildung werden die Unterschiede in der Terminologie deutlich. Das Verständnis von Handlungskompetenz in den Rahmenlehrplänen erscheint weiter gefasst, denn es schließt die private, berufliche und gesellschaftliche Entwicklung mit ein und betont einen ganzheitlichen Bildungsanspruch. Dagegen fokussiert die betriebliche Seite mit dem Bezug auf die ´Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit` stärker den beruflichen Anwendungszusammenhang[80]. Diese Unterschiede erscheinen im Hinblick auf das Gütekriterium der Validität problematisch, denn die gültige Erfassung dessen, was erfasst werden soll, benötigt klare Begriffe und Kriterien[81] (vgl. Kap. 2.2), um operationalisierbar zu sein.
Inwieweit das Konzept der Handlungskompetenz implizit in den Ausbildungsordnungen enthalten ist, wird unterschiedlich bewertet, abhängig davon, in welchem Verständnis die vorliegenden Formulierungen prozessorientiert bzw. output-orientiert interpretiert werden[82]. Dies ist wiederum abhängig vom Begriffsverständnis der Handlungskompetenz, deren Uneinheitlichkeit in Kap. 1.2 angesprochen wurde. Dennoch können in den unterschiedlichen Formulierungen Gemeinsamkeiten in ihrer Intentionalität ausgemacht werden. Der Terminus ´Befähigung` wird vielfach als Synonym oder zumindest als Kernaspekt von beruflicher Handlungskompetenz angesehen[83], der sowohl in der Kompetenzdefinition der KMK, als auch in der Ausbildungsordnung verwendet wird. Ebenso kann die ´Befähigung zur qualifizierten beruflichen Tätigkeit` unter Rückgriff auf das für diese Arbeit zugrundegelegte Kompetenzverständnis, als ´Disposition, die Personen befähigt, konkrete Anforderungssituationen zu bewältigen´ (vgl. Kap. 1.2) und im Rahmen des für diese Arbeit zugrundegelegte Kompetenzverständnis zumindest als ein Aspekt der beruflichen Handlungskompetenz verstanden werden.
Mit diesem Verständnis kann die, für die Validität relevante Frage nach dem definierten Prüfungsgegenstand in den Ordnungsmitteln, mit beruflicher Handlungskompetenz beantwortet werden. Wenn auch das Kompetenzverständnis der schulischen Säule entsprechend dem schulischen Bildungsauftrag weiter gefasst ist, besteht in Bezug auf die Befähigung zur qualifizierten beruflichen Tätigkeit zwischen beiden Säulen zumindest implizit ein Konsens.
Breuer beschreibt als gemeinsamen Kern der unterschiedlichen Formulierungen ein Kompetenzverständnis, das zur Durchführung komplexer Aufgaben befähigt, und insbesondere selbstständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren einschließt[84]. In diesem Verständnis und mit dem, dieser Arbeit zugrunde gelegten Kompetenzverständnis als ´Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen` (vgl. Kap. 1.2) könnten Aufgabenstellungen mit komplexem Problemgehalt, orientiert am Prinzip der vollständigen Handlung (vgl. Kap. 2.3.2), für die valide Erfassung von beruflicher Handlungskompetenz auf Grundlage der Ordnungsmittel, eine Option sein. Darauf wird in Kap. 2.4.3 Bezug genommen.
2.4.3 Die vollständige Handlung in kompetenzorientierten Prüfungen
Da die Fähigkeit, situationsangepasst aus den Teilelementen Planen, Durchführen und Bewerten selbstständig immer wieder neu Handlungen zu generieren[85] (vgl. Kap 2.3.2), als äußere Wirkung der Handlungskompetenz angesehen wird, wird dem Modell der vollständigen Handlung in den Ordnungsmitteln, sowie in der prüfungsdidaktischen Literatur eine zentrale Funktion zur Erfassung der beruflichen Handlungskompetenz zugewiesen (vgl. Kap. 2.4.2)[86].
Problemlösungsprozesse gehören heute zu den wichtigsten Prozessen in Unternehmen[87], und da sich in der selbstständigen Bewältigung von problemhaltigen, beruflichen Situationen die berufliche Handlungskompetenz zeigt, wird für kompetenzorientierte Abschlussprüfungen postuliert, den Prüfungsteilnehmern zu ermöglichen, berufliche Situationen im Sinne des Problemlösens aktiv und reflexiv zu bewältigen[88]. Aber äußert sich die berufliche Handlungskompetenz in ihrer ganzen Komplexität in der Bewältigung von problemhaltigen Prüfungsaufgaben, bzw. bewährt sich die Handlungskompetenz als personale Disposition in der Befähigung zur Abbildung der vollständigen Handlung?
Das Prinzip der vollständigen Handlung wird analog zu verschiedenen Verständnissen von Handlungskompetenz unterschiedlich interpretiert (vgl. Kap. 1.2). In der dualistischen Sichtweise von Handlungskompetenz wird diese aufgespalten in einen kompetenzanalytischen und einen handlungsanalytischen Ansatz, von dem letzterer sich eng am Prinzip der vollständigen Handlung orientiert[89]. In diesem Verständnis wird die berufliche Handlungsfähigkeit eher mechanistisch interpretiert[90], indem der handlungskompetenten Person die Fähigkeit zugestanden wird, die vollständige Handlung als Handlungsschema zu nutzen und an die jeweilige Handlungssituation anpassen zu können[91]. Damit wird allerdings die Geschäftsprozessorientierung fast völlig ausgeklammert[92], und es werden die Einzeldimensionen der Handlungskompetenz in den kompetenzanalytischen Ansatz ´ausgelagert`.
Trennt man fachbezogene Handlungskompetenz von Problemlösekompetenz (wie in o. g. dualistischer Sichtweise), so übersieht man, dass „jegliches – besonders berufliches – Handeln als zielgerichtetes Tun ´Barrieren` zu überwinden hat“[93]. Demgegenüber wird in dieser Arbeit die Handlungskompetenz als Disposition ganzheitlich verstanden (vgl. Kap. 1.2). Zur Überwindung von Barrieren bzw. zur Problemlösung verfügt die handlungsfähige Person gemäß dem hier verwendeten Verständnis über unterschiedliche Kompetenzdimensionen z. B. Fach- und Sozialkompetenz, als ein Bündel von Eigenschaften, Kenntnissen und Fertigkeiten[94].
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Übersicht 1.1: Merkmale beruflicher Handlungskompetenz[95]
Selbstständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren zur Bewältigung problemhaltiger Aufgaben im beruflichen Kontext erfordert demnach die Summe aller Einzeldimensionen von Handlungskompetenz.
Allerdings kommt der Fachkompetenz für zielorientiertes Problemlösen eine besondere Bedeutung zu (vgl. Kap. 1.2)[96]. Denn prozessbezogenes Handlungswissen ist grundlegend für die Fähigkeit, angemessene Verfahren und Strategien zur fachlichen und fächerübergreifenden Problemlösung einzusetzen[97]. Daher sei mit Dörig die Bedeutung fachlicher Kenntnisse für eine kompetente Berufsausübung, allerdings nicht in Form von Vorratswissen, sondern als Voraussetzung für Können und für kreative Lösungen betont[98].
Damit ist an dieser Stelle festzuhalten, dass zielgerichtete Denkprozesse auf der Grundlage von fachlichem Handlungswissen die Voraussetzung und ein Indikator für die berufliche Handlungskompetenz sind, die sich, motivationale Aspekte vorausgesetzt, in der vollständigen Handlung als strategische Problemlösefähigkeit äußern können.
Versteht man menschliches Handeln nicht als regelgeleitete Performanz, sondern als kognitiv reguliertes, bewusstes und zielorientiertes Tun[99], kann aus einer erfolgten Handlung nicht automatisch auf das Vorliegen von Handlungskompetenz geschlossen werden. Vielmehr macht es Sinn, die kooperative Wirkung von Wahrnehmen, Handeln und Denken und deren Ausrichtung auf die entsprechende Zielsetzung zu erfassen, sowie nach den dahinterliegenden, bzw. in die Handlung eingebetteten Denkprozessen zu fragen.
Unter dieser Fragestellung lässt sich das Modell der vollständigen Handlung nutzen, indem die einzelnen Elemente jeweils das gedanklich vorgefertigte und im Prozess verfolgte Ziel abbilden. Gemäß diesem Verständnis weist die Fähigkeit zur angemessenen Situationswahrnehmung, sowie die gedankliche und tätige Fähigkeit zur schrittweisen, zielgerichteten Problemlösung, auf das Vorliegen von Handlungskompetenz hin.[100] Mit anderen Worten, wenn Denken dem Handeln zugrunde liegt, müssen die Denkprozesse erfasst werden, um auf Handlungskompetenz schließen zu können.
Prüfungsaufgaben sollten daher den Prüfungsteilnehmern die Möglichkeit geben, die Elemente der vollständigen Handlung zur zielgerichteten Kombination von Wissen, Denken und Handeln einzusetzen[101]. Denn, „indem der Mensch Ziele anstrebt oder sich zu orientieren versucht, wendet er sein Wissen, seine verfügbaren inneren Modelle, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten an“[102]. Daher sind zur Erfassung der beruflichen Handlungskompetenz der Problemgehalt und die Geschäftsprozessorientierung einer Aufgabe nicht ausreichend, sondern Prüfungsaufgaben sollten „Denken: das Ordnen des Tuns“[103] umkehren und die das Handeln planenden, regulierenden und reflektierenden Denkprozesse widerspiegeln. Eine Möglichkeit, berufliche Handlungskompetenz anhand des zugrundeliegenden Fachwissens und der praktischen Berufserfahrung erfassen zu können, könnten situierte Aufgaben sein.
2.4.4 Zur Problematik authentisch situierter Aufgaben
Um der prognostischen Funktion der Berufsabschlussprüfung gerecht zu werden, sollten die Prüfungsaufgaben einerseits dem methodischen Zugang während der Ausbildung entsprechen und andererseits in einen einheitlichen Begründungsrahmen im Hinblick auf die Berufstätigkeit eingebunden sein (vgl. Kap. 2.1)[104].
Für den Berufsschulunterricht bilden seit der Einführung lernfeldorientierter Rahmenlehrpläne, ´für die Berufsausübung bedeutsame Situationen` die didaktischen Bezugspunkte für selbstständig geplantes, durchgeführtes und kontrolliertes Lernhandeln[105]. Daher hat die Situationsaufgabe als Lernaufgabe, entsprechend der konstruktivistischen Annahme, dass Wissen immer situiert sei[106], seit längerem eine zentrale Funktion zum Aufbau der Handlungskompetenz erlangt[107]. Mit Blick auf die Berufstätigkeit ist die Orientierung der Prüfungsziele und –aufgaben an die Anforderungen des jeweiligen Berufes[108] und eine reale Anknüpfung an die erlernte berufliche Praxis nötig[109]. Diesen Anforderungen wird die traditionelle dualistische Struktur von jeweils einer Kenntnis- und einer Fertigkeitsprüfung nicht gerecht[110]. Um dem Zusammenhang von Ausbildung, Prüfung und anschließender Berufstätigkeit zu entsprechen, sollte konsequenterweise auf situiertes Lernen, auch situiertes Prüfen folgen[111]. Ebenso sind problemhaltige situierte Aufgaben zur Erfassung von beruflicher Handlungskompetenz in Hinblick auf die Validität der Prüfung positiv zu bewerten. Daher kann auch für Prüfungsaufgaben die relativ neue Forderung nach situierten Aufgaben[112] unterstützt werden.
Im Konzept der Handlungskompetenz und in Abgrenzung zur bisher dominierenden Abfrage von isoliertem Wissen, verstärkt sich derzeit die Tendenz zu Situationsaufgaben[113]. In diesem ´Philosophiewechsel` erfährt das Gütekriterium der Authentizität (vgl. Kap. 2.3.2) eine besondere Betonung[114]. Dazu sollten reale, nicht vereinfachte oder strukturierte Aufgaben in ihrer ganzen Komplexität zur Darstellung des umfassenden Verständnisses der Aufgabensituation dienen[115]. Allerdings geht die Verwirklichung des Leitbildes Authentizität mit einer prüfungsdidaktischen Diskussion um ihre Wechselwirkung mit anderen Gütekriterien einher. So wird die eingeschränkte Vergleichbarkeit betrieblicher Aufgaben, die zulasten der Objektivität gehen kann, kritisch gesehen[116].
Kernpunkt der Debatte ist das Spannungsfeld zwischen Authentizität und Validität. Eine Prüfung gilt als valide, wenn sie erfasst, was sie zu erfassen beabsichtigt (vgl. Kap. 2.3.1). Insofern wird die als authentisch definierte Praxis in den Dienst der Lernziele bzw. des Prüfungsgegenstandes gestellt[117]. Aber kann jedwede reale Arbeitssituation per se als authentisch angesehen werden, und ist jede berufliche Situation unbesehen zur Abbildung der beruflichen Handlungskompetenz geeignet? Zu bedenken ist, dass eine Situationsaufgabe, die für die berufliche Praxis nicht repräsentativ ist, in Überbetonung der Authentizität zur Verfehlung der Validität führen würde. Daher wird hier der These, eine situierte Prüfungsaufgabe müsse, um der Validität zu genügen, mehr oder weniger didaktisch inszeniert werden, gefolgt.
Diese These wird unterstützt durch die Anforderung zur Individualisierung von Prüfungsaufgaben (vgl. Kap. 2.3.2), nach der die individuellen Ausbildungserfahrungen der Prüfungsteilnehmer zu berücksichtigen sind, aber nicht jeder Auszubildende in der betrieblichen Ausbildung mit jeder relevanten Arbeitssituation konfrontiert wird[118]. Aus diesen Gründen wird vorgeschlagen, die Authentizität ´im weiteren Sinne` zu erfüllen, indem reale Vorgänge in der betrieblichen Praxis für Prüfungszwecke aufbereitet und, zumindest ansatzweise, didaktisch in Szene gesetzt werden[119].
In einem Verständnis von Handlungskompetenz als Disposition zur selbstständigen Problemlösung (vgl. Kap. 1.2) liegt es auf der Hand, dass „echte“ Situationsaufgaben als offene Bearbeitungsaufgaben, und nicht mit einer engen vorgegeben Antwort zu gestalten sind. Demgegenüber beschreibt Reetz die Tendenz zu „unechten“ Situationsaufgaben mit verengtem Lösungsweg und eingeschränkten Antwortmöglichkeiten[120], die in zwei Varianten auftreten. Entweder als Situationsaufgabe mit eingeschränkter Komplexität[121], bei der mit dem Ziel die objektive Auswertbarkeit zu erhöhen, die Situation zergliedert und aus den Fragmenten kleinschrittige Einzelfragen formuliert werden[122]. Oder die berufliche Situation wird auf eine Vorgabe als Rahmengebung für geschlossene Aufgaben reduziert[123], die auch ohne Situationsbezug gelöst werden könnten[124]. In beiden Fällen verliert sich die Komplexität, Ganzheitlichkeit und der Problemgehalt der Aufgabe. Als Begründungsrahmen dient ein verkürztes Verständnis von Praxisnähe[125], die in dieser Arbeit als ein Aspekt der Handlungs- und Prozessorientierung verstanden wird (vgl. Kap. 2.3.2), und in diesem Verständnis „echte“ Situationsaufgaben einfordert, die in ihrer Komplexität der beruflichen Praxis nahe kommen und eine verstehende, analysierende und beurteilende Bearbeitung in offener Form verlangen[126].
In diesem Verständnis bietet eine authentisch-situierte, handlungs- und prozessorientierte Aufgabengestaltung die Möglichkeit, die Gütekriterien Individualisierung, Flexibilisierung und Authentizität in angemessenem Umfang zu erfüllen, und damit auch die Perspektive zur validen Kompetenzerfassung.
[...]
[1] Vgl. Reetz 2010: 110
[2] Vgl. Arnold 2001: 118
[3] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 57
[4] BBiG 2005: § 38
[5] Vgl. Haasler/ Rauner 2010: 79
[6] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 58
[7] Vgl. Schelten 2004: 252
[8] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 58
[9] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 57 f
[10] Vgl. Arnold 2001: 118
[11] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 59
[12] Vgl. ebd.: 59 f
[13] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 61
[14] Vgl. Breuer 2001: 27
[15] Breuer 2001: 27
[16] Vgl. Reetz 2010: 112
[17] Vgl. Breuer 2001: 27
[18] Vgl. Borch/ Weißmann 1999: 14
[19] Vgl. Frank 2005: 28
[20] Vgl. Baethge 2010: 24
[21] Vgl. Tramm 1994: 39
[22] Aebli 1980: 18
[23] Vgl. Cycoll 2006: 272
[24] Vgl. Tramm/ Rebmann 1999: 237
[25] Vgl. Czycoll 2006: 271
[26] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 44
[27] Vgl. Breuer 2005: 25
[28] Vgl. Reetz 2010: 110
[29] Vgl. Metzger 2006: 1 und vgl. Dörig 2003: 35
[30] Vgl. Tramm/ Rebmann 1999: 238
[31] Vgl. Breuer 2005: 9 f
[32] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 52 f
[33] Vgl. Reetz 2010: 110
[34] Vgl. BBiG 2005: § 1
[35] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 54
[36] Vgl. Aebli 1980: 61
[37] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 54
[38] Vgl. ebd.
[39] Vgl. Reetz 2010: 110
[40] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 56
[41] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 68
[42] Vgl. ebd.: 68
[43] Vgl. Metzger 2006: 3
[44] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 16
[45] Anmerkung: SELUBA: „Steigerung der Effizienz neuer Lernkonzepte und Unterrichtsmethoden in der dualen Berufsausbildung“, Modellversuch NRW, 01.10.1999 – 30.09.2002
[46] Vgl. Richter 2004: 243 f
[47] Vgl. ebd.: 243
[48] Vgl. Richter 2004: 243 .
[49] Vgl. Reetz 2010: 110
[50] Vgl. ebd.: 111 f
[51] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 61
[52] Baethge 2006: 15
[53] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 60
[54] Vgl. Tramm/ Brand 2005: 1
[55] Vgl. Reetz 2010: 112
[56] Vgl. Reetz 2010: 112
[57] Vgl. ebd.: 105
[58] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 67
[59] Vgl. ebd.: 63
[60] Vgl. Reetz 2010: 112
[61] Breuer 2001: 27 f
[62] Vgl. Metzger 2006: 3
[63] Vgl. Schelten 2004: 252
[64] Breuer 2002: 27
[65] Vgl. BBiG 2005: § 39
[66] Vgl. ebd.: § 40
[67] Vgl. Sekretariat der KMK 1991: 2
[68] Vgl. ebd.: 6
[69] Vgl. Müller/ Bader 2004: 91
[70] Vgl. Breuer 2005: 2
[71] Vgl. Müller/ Bader 2004: 88
[72] Sekretariat der KMK 1996: 2
[73] Sekretariat der KMK 2007: 10
[74] Vgl. Breuer 2005: 11
[75] Vgl. Friede 2006: 413
[76] Vgl. BBiG § 38
[77] Vgl. Breuer 2005: 4
[78] Verordnung 1997: § 4 Abs. 2
[79] Vgl. Hensge et al. 2008: 21
[80] Vgl. Kremer 2010: 51
[81] Vgl. Breuer 2006: 208
[82] Vgl. Lorig/ Schreiber 2010: 119 f
[83] Vgl. Breuer 2005: 14
[84] Vgl. Breuer 2005: 9 f
[85] Vgl. Tramm/ Rebmann 1999: 238
[86] Vgl. Reetz 2010: 104
[87] Vgl. Erpenbeck/ von Rosenstiel 2007: XXI
[88] Vgl. Metzger 2001: 1.
[89] Vgl. Hensgen/ Krechting 1998: 14
[90] Vgl. Reetz 2010: 104
[91] Vgl. Hensgen/ Krechting 1998: 14
[92] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 45 f
[93] Reetz 2010: 109
[94] Vgl. Bohlinger 2007: 121
[95] Frank/ Schreiber 2006: 8
[96] Vgl. Sekretariat der KMK 2007: 11
[97] Vgl. Reetz 2010: 102
[98] Vgl. Dörig 2003: 34
[99] Vgl. Aebli 1980: 18 f
[100] Vgl. Tramm/ Rebmann 1999: 237 f
[101] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 44
[102] Tramm/ Rebmann 1999: 239
[103] Aebli 1980: Titel
[104] Vgl. Breuer 2001: 31
[105] Vgl. Sekretariat der KMK 2007: 12
[106] Vgl. Reetz 2005: 19
[107] Vgl. ebd.: 4
[108] Vgl. Seyfried 1997: 348
[109] Vgl. Reetz 2005: 4 f
[110] Vgl. Seyfried 1997: 347
[111] Vgl. Reetz 2010: 114
[112] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 56
[113] Vgl. ebd.: 47
[114] Vgl. Reetz 2010: 112
[115] Vgl. Breuer 2002: 32 f
[116] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 56
[117] Vgl. ebd.
[118] Vgl. ebd.
[119] Vgl. ebd.: 56 f
[120] Vgl. Reetz 2010: 105
[121] Vgl. Reetz 2005: 21
[122] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 48 f
[123] Vgl. ebd.
[124] Vgl. Reetz 2005: 21
[125] Vgl. Reetz/ Hewlett 2008: 47
[126] Vgl. Reetz 2005: 21
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2010
- ISBN (PDF)
- 9783955497439
- ISBN (Paperback)
- 9783955492434
- Dateigröße
- 22.2 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Osnabrück
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,7
- Schlagworte
- Handlungskompetenz Prozessorientierung Validität Testtheoretisches Gütekriterium Ausbildung Ausbildungsberuf
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing