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Das unternehmerische Selbst und sein prekäres Gegenstück: Eine gouvernementale Analyse der Hartz-Reform

©2011 Bachelorarbeit 41 Seiten

Zusammenfassung

In der vorliegenden Studie versucht der Autor nachzuvollziehen, was Michel Foucault dazu bewegte, das Subjekt und seine Bildung zur einzigen Konstante seiner langjährigen und vielschichtigen Arbeiten zu machen. Der Autor möchte verstehen, was Foucault meint, wenn er uns sinngemäß dazu drängt, uns nicht auf diese oder jene Weise subjektivieren zu lassen. Foucaults Idee von Freiheit soll dabei verstehbar gemacht werden, wofür der Fokus dieser Studie auf eine Gruppe von Menschen gelegt wurde, deren Freiheit prekär erscheint. Gemeint sind EmpfängerInnen von
Arbeitslosengeld II bzw. von Hartz IV. Die gouvernementale Perspektive soll dabei zur Analyse eines neoliberalen Zeitgeistes dienen, in den sowohl der bedürftige Arbeitslose als auch ein Unternehmer eingebunden sind. In der speziellen Subjektivierungsweise des Unternehmers werden Parallelen zum Arbeitslosen aufgedeckt und in der speziellen prekären Freiheit des Erwerbslosen Parallelen zu unser aller Freiheit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2 D
AS
K
ONZEPT DER
G
OUVERNEMENTALITÄT
Das Konzept der Gouvernementalität präsentierte Michel Foucault
1
1978 und 1979 am
Collège de France im Rahmen einer Vorlesungsreihe über die ,,Genealogie des
modernen Staates" (Vorl. v. 5.4.1978). Im Begriff Gouvernementalität fließen
vorangegangene Forschungen des französischen Philosophen zusammen, wie
beispielsweise
die
Genealogie
von
,,Macht-Wissen-Komplexen"
2
,
die
Souveränitätsmacht, die Disziplinarmacht, die Biomacht, Subjektivierungen und
Technologien des Selbst (vgl. Saar 2007, S.24f.).
Mit dem Konzept der Gouvernementalität gelingt Foucault eine weiterentwickelte Form
Machtbeziehungen zu verstehen. Seine bisherigen Analysen zur ,,Mikrophysik der
Macht" zielten vor allem auf singuläre Herrschaftsmethoden, die der Philosoph anhand
der Disziplinarmacht und der Souveränität des Staates festmachte. Im Konzept der
Gouvernementalität wird eine komplexere Vorstellung von Herrschaftstechniken und
den damit hergestellten Machtbeziehungen entwickelt. Ziel ist eine neue Auffassung
von Regierung, die sich von Kategorien des Rechts oder des Krieges, wie noch in der
Mikrophysik der Macht gleichzeitig abhebt.
3
Die Führungstechniken der Regierung
sollen Aufschluss geben über die Machtbeziehungen zwischen angeblichen Führern und
Geführten (vgl. Lemke 2000, S.7f.).
Der Regierungsbegriff
4
, der Foucaults Analyse unterlegt ist, unterscheidet sich von
,,Regierung in ihrer politischen Form" (Foucault 1987, S.42). Regierung im
Foucaultschen Sinne
5
ist weder mit staatlichen Institutionen verbunden noch in
1
Michel Focault (1926-1984) war Professor des Lehrstuhls für die Geschichte der Denksysteme am
Collège de France in Paris von 1970 bis zu seinem Tod 1986 (vgl. Foucault 2010, S.2).
2
Die wechselseitige Beziehung zwischen Wissen und der Macht schließt eine von politischen Interessen
unabhängige wissenschaftliche Erkenntnis bzw. Wahrheit aus. Wissen und seine Institutionalisierung
legitimieren Herrschaftsbeziehungen oder können sie aufbrechen. Die Institutionalisierung von Wissen ist
in den Diskursen verankert, in denen Machtdispositionen ausgehandelt werden können (vgl. Saar 2007,
S.26ff.).
3
siehe Anmerkungen 6.1
4
Gouvernementalität und Regierung im hier aufgeführten Sinne werden in der Folge der Arbeit als
Synonyme behandelt.
5
Der Regierungsbegriff von Foucault geht zurück auf Vorstellungen von Regierung, die bis zum Ende
des Mittelalters galten.
2

irgendeiner Weise auf das politische System begrenzt, sondern bezieht ,,sich auf die
unterschiedlichsten Formen der Führung von Menschen. Jenseits einer exklusiven
politischen Bedeutung verweist Regierung also auf zahlreiche und unterschiedliche
Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung,
Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen
der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen" (Lemke 2000, S.10).
Die
Innovation
der
Gouvernementalität
schöpft
der
Begriff
aus
seiner
,,Scharnierfunktion" (Lemke 2000, S.8), indem er erstens Regierung als Bindeglied
zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen konzipiert und
damit im Gegensatz zu früheren Arbeiten zwischen Herrschaft und Macht differenziert,
sowie zweitens Regierung zwischen Macht und Subjektivität vermittelt. Auf diese
Weise wird es möglich zu untersuchen, wie Regierungstechniken sich mit Techniken
des Selbst verknüpfen. Drittens bietet er ein wichtiges Analyse-Instrument zur
Untersuchung der von Foucault immer wieder herausgestellten Macht-Wissen-
Komplexe (vgl. ebd., S.9f.)
Der Begriff Gouvernementalität entstammt einer Zusammensetzung von Regieren
(gouverner) und Denkweise (mentalité). Die beiden Komponenten weisen bereits auf
komplexe Wechselwirkungen hin, welche bei einer Analyse einzubeziehen sind (vgl.
Lemke 2000, S.8ff.).
Gouvernementalität vollzieht die Entstehung des modernen Staates nach, ohne einem
naturalistischen Staatsbegriff
6
angehaftet zu bleiben. Der Staat ist demnach die Form
seiner Gouvernementalität. Um die Komplexität des Begriffs zu reduzieren, hilft es ihn
mit Hilfe von drei Dimensionen zu verdeutlichen (vgl. Foucault 2010, S.149).
6
Das Konzept der Gouvernementalität denaturalisiert den Staat und löst ihn in Prozesse des Staats-
werdens auf. Gouvernementalität als historische Betrachtung von Regierungspraktiken hat die
Analysekraft Rationalitäten dieser Regierungspraktiken aufzudecken und die Bindung, die diese seit
Beginn der Moderne mit dem Staatskonstrukt eingehen, nachzuvollziehen (vgl. Foucault 2000, S.68ff).
Staat kann somit nicht als der Gesellschaft entgegenstehendes Gefüge angesehen werden, sondern ist im
Gegenteil ,,nicht viel mehr als eine Kristallisation von Kräfteverhältnissen und ist weder reines Instrument
(in den Händen irgendeiner sozialen Gruppe) noch ein vollständig verselbstständigter bürokratischer
Apparat" (Saar 2007, S.33).
3

1. Staat und seine Institutionen ­ Unterscheidung von Machtbeziehungen und
Herrschaftszuständen
2. Regierungstechniken und ,,Techniken des Selbst"
3. Regierungstechniken und ,,Macht-Wissen-Komplexe"
(vgl. Saar 2007, S.25)
Die drei Dimensionen beziehen sich wechselseitig aufeinander und sind deshalb schwer
voneinander zu trennen. Foucaults Gouvernementalitätsanalysen lassen sich nur sehr
schwer an Begriffen festmachen, die man in Form von analytischen Werkzeugen
gebrauchen könnte. Deshalb hat die Gouvernementalitätsanalyse wenig empirischen
Wert, dies wird sich bedauerlicherweise auch im Fortgang dieser Arbeit widerspiegeln.
Foucaults Herangehensweise ist keine genuin wissenschaftliche, ganz im Gegenteil war
er mit seinen archäologischen Untersuchungen in Die Archäologie des Wissens darum
bemüht objekive Wissensformen zu hinterfragen und letztendlich die Idee der Wahrheit
selbst, als ein von Macht durchdrungenes sich ständig wandelndes Konzept, aufzulösen
(vgl. Foucault 2008, S.1663). Der Verfasser der Arbeit hält aber an dem heuristischen
und zu politischen Engagement bewegenden Wert von Foucaults Herangehensweise
fest. Die drei Dimensionen werden im Fortgang nicht genauer erklärt, jedoch wird in
der Arbeit Bezug auf sie genommen. Sollte es zu Verständnisschwierigkeiten aufgrund
der fehlenden Erläuterung dieser Begriffe kommen, sind im Teil Anmerkungen (6)
Erklärungen zu finden.
4

3 (N
EOLIBERALE
) G
OUVERNEMENTALITÄT DER
G
EGENWART
Die drei Dimensionen sollen bei der Betrachtung der neoliberalen Regierungspraxis
nicht streng voneinander getrennt werden. Es soll lediglich ein Einblick in die aktuelle
Form der Regierung im gouvernementalen Sinne gegeben werden, indem ein kleiner
Abriss über eine Geschichte der Gouvernementalität dargestellt wird. Denn um die
Gouvernementalität der Gegenwart zu verstehen, bedarf es zunächst eines kleinen
Blickes in die ,,Geschichte", wie sie Foucault betreibt.
3.1 Geschichte der Gouvernementalität
Foucaults Staatsverständnis ist im Unterschied zu einem starren förmlich existenten
Apparat eher als eine ,,verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken und
Totalisierungsverfahren" (Foucault 1987, S.248) zu denken. Der Begriff Regierung geht
dabei weit über die politische Dimension hinaus und umfasst ,,zahlreiche und
unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die
Lenkung , Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen
Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung" (Lemke 2000, S. 10).
Foucault begreift den modernen westlichen Staat als ,,Ergebnis einer komplexen
Verbindung ,politischer und ,pastoraler Machtechniken" (ebd.).
In der griechischen und römischen Antike waren Regierungspraktiken zumeist auf das
Territorium und seine Nutzbarmachung beschränkt, währenddessen mit dem
Christentum die Komponente der Regierung der Seelen hinzukommt. Die Beichte und
die damit einhergehenden Geständnispraktiken werden die Besonderheit des
christlichen Pastorats (vgl. ebd., S.11). Sie sollen ,,die Kenntnis der ,inneren Wahrheit
der Individuen und ihre Formierung zu (Begehrens-)Subjekten sicherstellen" (ebd.)
Diese Führungstechniken werden im Laufe des 16./17. Jahrhunderts eine Ausweitung
im Zuge der Säkularisierung erfahren, indem sie zum Teil eines Dispositivs von
Regierungsrationalität werden, das längst nicht mehr auf die eine göttliche Instanz
rekurriert (vgl. Foucault, S.96-104).
Die politische Vernunft wird zum Zweck an sich, in ihr sind Versprechen an Wohlstand
und Glück vereint, für deren Fortentwicklung der Staat Sorge zu tragen hat. Diese erste
Phase von Regierungspraktik bezeichnet Foucault als die der Staatsräson (vgl. Lemke
2000, S.11f.). Mit den Analysen zur Gouvernementalität, de facto die Analyse des
5

modernen Staates, wird folglich seit Beginn der Neuzeit eine Ausweitung der
Regierungskünste beobachtet. Im Zentrum steht nicht mehr bloß der Fürst oder das
Problem der Souveränität, im Gegenteil handelt es sich um eine Art ,,Komplex,
gebildet aus den Menschen und den Dingen" (Foucault 1987, S.51). Dieser neue Form
des Regierungskomplex beinhaltet außerdem die Beziehung der Menschen zu ihren
Bräuchen, Denkweisen, ihre Eigenheiten, dem Klima und auch die Menschen samt ihrer
potenziellen Anfälligkeit für Hungersnöte, Unfälle, Epidemien und Tod (vgl. ebd.). Die
ganze Palette von Regierung über ,,seelische[...] Konflikte[...] bis hin zu militärischen
Manövern, von der Führung der Familie bis hin zu Fragen des Reichtums" (ebd.).
Diese Art der Regierungsrationalität bestimmt über das ,,richtige Verfügen über die
Dinge, derer man sich annimmt, um sie dem angemessenen Zweck zuzuführen".
(Lemke 2000, S.13). Regierung ist in diesem Sinne ,,die Kunst die Macht in der Form
und nach dem Vorbild der Ökonomie auszuüben" (ebd.). Die Leitprämisse ,,die richtige
Anordnung der Dinge zu einem vorteilhaften Ziel" (ebd.) wird Ausgangspunkt für die
Entstehung der Politischen Ökonomie. Diese wird wiederum zum Kontrahenten der
Staatsräson, indem sie Freiheiten gegenüber dem ,,Staat" einfordert. Die liberale
Theorie richtet sich somit gegen die Regierungsrationalität der Staaträson. (vgl. ebd.
S.13f.).
Die Geschichte der Gouvernementalität soll nur aus dem Grund beleuchtet werden, weil
in ihr das Verhältnis zwischen Politik bzw. ,,Staat" und Freiheit bzw. ,,Markt", das
schon seit mehr als 300 Jahren immer wieder neu ausgehandelt werden musste,
verständlich gemacht wird (Foucault 2010, S.132f.).
Wenn mit dem Liberalismus das beginnt, das oft als die Emanzipation des Bürgers
durch die Wahrnehmung seiner Freiheitsrechte bezeichnet wird, dann geht es auf der
Seite des ,,Staates" um die Beschränkung seines Regierungshandelns. Freiheit markiert
in diesem Sinne nicht nur die Grenze des Regierungshandelns, weit darüber hinaus
organisiert der Liberalismus (vgl. Lemke 2000, S.14) ,,vielmehr die Bedingungen, unter
denen die Individuen frei sein können, er ,fabriziert' oder ,produziert' die Freiheit"
(ebd). Mit der liberalen Reflexion entsteht ein problematisches Verhältnis zwischen
,,Freiheit und ihrer permanenten Gefährdung" (ebd.).
6

,,Die liberale Regierungskunst setzt eine Freiheit ein, die fragil und unablässig bedroht ist und damit zur
Grundlage immer neuer Interventionen wird [...]. Das Problem des Liberalismus besteht darin die
,,Produktionskosten" der Freiheit zu bestimmen."
(ebd.)
Jedem ist es erlaubt seinen individuellen Interessen nachzugehen, es sei denn es besteht
durch diese Interessen eine Gefahr für das Allgemeinwohl. Deshalb bedarf die liberale
Konzeption ,,Mechanismen der Sicherheit" (ebd.). Nur mit ihnen kann letztendlich der
Markt, die auf ihm angebotenen Waren und die für ihn nötige Bevölkerung für einen
Liberalismus fähig gemacht werden (vgl. ebd.)
Im Neoliberalismus, sowohl amerikanischer als auch deutscher Prägung, wie er sich
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete, wird das Funktionieren des
Marktes zum allumfassenden Prinzip, vor allem das des Staates. ,,Der Neoliberalismus
ersetzt ein begrenzendes und äußerliches durch ein regulatorisches und inneres Prinzip:
Es ist die Form des Marktes, die als Organisationsprinzip des Staates der Gesellschaft
dient." (vgl. Lemke 2000, S.15).
3.2 (Neoliberale) Gouvernementalität der Gegenwart
In der neoliberalen Regierungspraxis wird die Organisation des Marktes auf die des
Staates übertragen. Der ,,Staat" tritt nicht mehr als ,,unsichtbare Hand" (Adam Smith)
im Hintergrund auf, sondern wird deckungsgleich mit seinem zu kontrollierenden und
zu überwachenden Gegenstand, dem Markt. Folglich hat sich auch die Politik am
ökonomischen Erfolg zu messen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass aus den
klassischen Tauschpartnern, wie in der Ökonomie Adam Smiths beispielsweise,
Unternehmer mit rationalem Eigeninteresse werden; und die natürliche Freiheit des
klassischen Markts wird zu einer ,,künstlich arrangierten Freiheit" (Lemke 2000, S.15).
Wir alle verhielten uns wie Unternehmer am Markt, soweit die These, für Ulrich
Bröckling wird in Anschluss an Foucault daraus das ,,Unternehmerische Selbst", das als
die aktuell dominanteste Form von Subjektivierung gehandelt wird.
Für die Marktfreiheit und die Förderung der Eigeninitiative aller Unternehmer braucht
es ein geringes Maß an Interventionen seitens des ,,Staates".
Lassen wir die Unterschiede des Neoliberalismus amerikanischer oder deutscher
Prägung außen vor, werden von Foucault folgende Thesen, die für eine gegenwärtige
Regierungsrationalität (Gouvernementalität) von Belang sind, aufgestellt.
7

Erstens erfolgt eine Generalisierung der ökonomischen Form. Alle Prozesse in einer
Gesellschaft werden stets durch ein ökonomisches Raster sichtbar, indem das Politische
und Soziale davon überlagert werden (vgl. Lemke 2000, S.16). Zweitens werden
Wettbewerb und rationales Handeln zum Leitgedanken, der sich unmittelbar in die
menschlichen Beziehungen einschreibt.
Durch den Wandel von der fordistischen zur postfordistischen Arbeitsweise kommt es
zur Umgestaltung eines keynesianisch geprägten Wohlfahrtstaates hin zu einem
,,neoliberalen Wettbewerbsstaat" (Hirsch 1995). Im neoliberalen Modell werden
Marktprinzipien zur Logik gesellschaftlichen Zusammenlebens und zur Leitmaxime
staatlicher Regulierungsmaßnahmen. Im Zuge einer Verwischung der Grenzen
zwischen Öffentlichem und Privatem erhöht sich der Druck der Selbstoptimierung der
am Markt teilnehmenden Individuen (vgl. Stövesand 2007, S.281).
,,
Die stattfindenden Transformationen gehen damit einher, dass die Gesellschaft nicht mehr als eine
Quelle von Bedürfnissen Einzelner betrachtet wird, die in ein soziales Ganzes zu integrieren und kollektiv
zu tragen sind, sondern als Ressource, als Quelle von Energien, welche in der Ausübung der Freiheit und
Selbstverantwortlichkeit durch die Individuen enthalten sind." (Stövesand 2007, S.281)
Mit Ende des Zweiten Weltkriegs, als sich die wohlfahrtsstaatliche Organisation der
Wirtschaft in Anlehnung an die Theorie John Meynard Keynes ausgestaltete, entstand
eine Krise, die der Neoliberalismus zu überwinden suchte. In der Entstehung eines
neuen Freiheitsdispositivs
7
liegt wohl die deutlichste Antwort auf diese Krise (vgl.
Foucault 2010, S.164f.).
3.2.1 Das Freiheitsdispositiv innerhalb neoliberaler Regierungsrationalität
Es wurde bereits auf den Unterschied der Freiheitskonzeption des Liberalismus und des
Neoliberalismus eingegangen, der darin besteht, dass es sich bei dem erstgenannten um
eine Art natürliche Freiheit handelt, die mit Hilfe des Rechts gegenüber dem Staat
7
Unter Dispositiv versteht Foucault ,,diskursive und nicht-diskursive Praktiken, die sich aus höchst
heterogenen Elementen ­ wie etwa ,,Diskursen, Institutionen, architekturalen Einrichtungen,
reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen
Aussagen, philosophischen, moralischen oder philanthropischen Lehrsätzen, kurz: Gesagtem ebensowohl,
wie Ungesagtem (...) (Foucault 1978, S.119) ­ zusammensetzen können." (Bührmann 2007, S.61)
8

eingefordert wird, beim letzteren aber um eine ,,künstlich arrangierte" (Lemke 2000,
S.15).
Um eine genauere Beschreibung dieses Wandels von der freien zur arrangierten Freiheit
soll es im folgenden gehen.
Die Annahme ist, dass neoliberale Regierungspraxen zu einer Spaltung in einen
,,abgesicherten" und einen ,,ausgesetzten" (Heiter 2008, S.57) Teil der Bevölkerung
führen und dass diese Spaltung die Bedingung der neoliberalen Freiheit ist. Robert
Castel beschreibt es als einen ,,Prozess der Destabilisierung", der eine
,,Verwundbarkeit" entstehen lässt zwischen einer möglichen Inklusion und einer
Exklusion (vgl.ebd., S.57f.).
Warum sollte man sich diesem Sog zur Marktfreiheit hin nicht entziehen können?
Warum ist es so schwer die Schwelle hin zur Exklusion zu überschreiten um dort ein
anständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen?
Der Grund dafür, dass wir uns so schwer dem Sog des arrangierten Freiheitsdispositivs
entziehen können, liegt in einer Verschiebung des Rechts, die ihre Ursache im Wandel
vom Liberalismus zum Neoliberalismus zu finden scheint. Um diesen Wandel zu
verstehen bedarf es der Unterscheidung zwischen Recht als Form und Recht als
Medium. In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault (vgl. Heiter 2008, S.59) ,,die
allgemeine Rechtsform" als ,,ein System prinzipiell gleicher Rechte", in dem ,,das
repräsentative Regime formell ermöglicht, dass der Wille aller, direkt oder indirekt, mit
oder ohne Vermittlung, die fundamentale Instanz der Souveränität bildet" (Foucault
1976, S.285).
In dem Fall besetzen die Disziplinen die Nischen dieses Rechts, in denen sie als ,,eine
Art Gegenrecht" (ebd.) agieren, ohne selbst ein Subsystem des Rechts zu werden.
Disziplinierende Mechanismen haben demzufolge keinen Bezug zum Recht. An dieser
Stelle vollzieht sich der Wandel von der abstrakten und allgemeingültigen Rechtsform
hin zu einer Verselbstständigung dieser zum Rechtsmedium. Es geht bei dem Recht
nicht mehr um seine allgemeingültige universelle einklagbare Form, obwohl sie
weiterhin vorhanden ist. Das Recht bildet eher die Grundlage einer Normierung der
Gesellschaft, indem es als Medium für den bestmöglichen und angepasstesten Weg
einsteht. Deleuze sieht in dieser rechtlichen Verschiebung die Grundlage für den
Übergang von der Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft. In der Kontrollgesellschaft
9

werden Disziplinar- und Sicherheitstechnologien (vgl.ebd.) im ,,neoliberalen Design in
einem ausufernden Maße mit Hilfe des Rechtsmediums konstruiert" (Heiter 2008,
S.59.).
Die allgemeine Rechtsform legt das Augenmerk ,,auf die Trias aus negativen Frei-
heitsrechten, politischen Teilnahmerechten und sozialen Teilhaberechten" (Heiter 2008,
S.59) die zusammen erst ein Rechtssystem bilden. Wird das Recht zum Medium,
fungiert es als ,,Organisationsmittel für die Steuerung gesellschaftlicher Verhältnisse"
(ebd.). Dabei entfällt der auslegbare Charakter des Rechts, seine ständige Neuaus-
handlung seitens der Gerichte und der politischen Würdenträger und verselbstständigt
sich als ein für alle gültiges Prinzip (vgl. ebd.).
Aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse in einer kapitalistischen Gesellschaft, die
sich in erster Linie entlang des Kapitals ausrichten, kann man von einem höchst
ambivalenten Rechtsmedium ausgehen. Durch die Entkopplung von der Form des
Rechts als Steuerungsmedium innerhalb einer Gesellschaft wird durch eine neoliberale
Gouvernementalität der Schwerpunkt auf die negativen Freiheitsrechte im Inneren der
Gesellschaft gelegt. Der Sog hin zur Norm entsteht dabei durch das Aushebeln dieser
negativen Freiheitsrechte an den Rändern der Gesellschaft (vgl. ebd., S.60-63).
Dieses schematisierte Szenario, in dem durch eine neoliberale Regierungspraxis eine
Zone der ,,Verwundbarkeit" (Castel) zwischen Inklusion und Exklusion entsteht,
interessiert besonders in Bezug auf die Hartz-Reformen. Viele Regelungen im SGB II
8
zielen genau auf diesen Bereich ab.
Die Ironie dieser Marginalisierung einiger Individuen in einen Schwellenbereich
zwischen Inklusion und Exklusion besteht darin, dass nur auf diese Weise die Freiheit
der inkludierten Bevölkerung überhaupt konstruiert werden kann. Damit ist keine neue
Erkenntnis gewonnen, denn zwischen Inklusion und Exklusion herrscht stets der gleiche
Mechanismus, der eines Sogs hin zur Inklusion, die eine Festigung von Identitäten mit
sich führt. Man könnte demnach von einer normalen Inklusionsbewegung hin zur
Freiheit sprechen, die mit den Identitätsbildungen des Eigenverantwortlichen und
autonomen, selbstbestimmten Individuums einhergeht. Die Finesse der neoliberalen
Regierungspraxis besteht aber gerade in dem künstlich hergestellten Sog, realisiert
8
Zweites Sozialgesetzbuch (SGB II)
10

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2011
ISBN (PDF)
9783955498085
ISBN (Paperback)
9783955493080
Dateigröße
907 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Erfurt
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Foucault Gouvernementalität Hartz IV neoliberal Unternehmer Arbeitsloser Erwerbsloser
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Martin Hesse, als Lebenskünstler tätig und Befürworter eines Grundeinkommens, wurde 1987 in Meerane (Sachsen) geboren. Während seines Studiums setzt er sich frühzeitig mit den Schriften Michel Foucaults auseinander. Die Denkweise des französischen Philosophen begleitet ihn bis heute. Durch das Studium der Staatswissenschaften und der Romanistik an der Universität Erfurt verfügt Martin Hesse über ein breit gestreutes Interessengebiet. Zur Zeit befinder sich Hesse im Masterstudium der Geschichtswissenschaften an der Universität Erfurt. Schwerpunkte seines Interesses ist die Entstehung des modernen Subjekts und fernöstliche Meditationstechniken.
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Titel: Das unternehmerische Selbst und sein prekäres Gegenstück: Eine gouvernementale Analyse der Hartz-Reform
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