Fehlanreize im deutschen Krankenversicherungssystem: Eine gesundheitsökonomische Analyse
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2. Das deutsche Krankenversicherungssystem
2.1. Grundelemente der Gesetzlichen Krankenversicherung
Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ist eine der fünf Säulen des Systems der sozialen Sicherung.[1] Ihren Ursprung hat diese in der Gründung der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKs) im Zuge der Bismarck’schen Reformen im Jahre 1883. Arbeiter erhielten einen gesetzlichen Anspruch auf Unterstützung bei Krankheit und Erwerbsunfähigkeit.[2]
Heute sind circa 70 Millionen Menschen in der GKV versichert.[3] Es besteht eine Versicherungspflicht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis zu einer Versicherungspflichtgrenze von aktuell 50850 €[4] im Jahr.[5] Jedes Mitglied zahlt den gleichen Beitragssatz, da auf Grund des Diskriminierungsverbots eine risiko- und mortalitätsabhängige Beitragserhebung nicht zulässig ist.[6] Kinder und nicht erwerbstätige Ehepartner von Beitragszahlern sind unentgeltlich mitversichert.[7]
Die Anzahl der Krankenkassen ist auf Grund von Schließungen und Fusionen, bedingt durch den verstärkten Wettbewerb, deutlich gesunken.[8] Während im Jahr 1994 noch 1152 gesetzliche Krankenkassen waren, sind heute nur noch 145 am Markt vertreten.[9]
Die Versicherten teilen sich nach Krankenkassengruppen gemäß Tabelle 1 folgender Maßen auf:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Versichertenanzahl nach Krankenkassengruppen
Quelle: Daten entnommen aus: Bundesministerium für Gesundheit (2012a), S. 34, eigene Darstellung
Die GKV beruht auf dem Solidarprinzip, welches die Umverteilung der Mittel von finanziell starken Versicherten innerhalb einer Solidargemeinschaft hinzu finanziell schwachen Versicherten vorsieht. Daraus ableiten lässt sich das Bedarfs- und Leistungsfähigkeitsprinzip.
Das Bedarfsprinzip besagt, dass Leistungen nach dem medizinischen Bedarf und unabhängig von der Höhe des entrichteten Beitrags gewährt werden.[10] Die gewährten Leistungen müssen nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein“.[11] Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen ist zu 95 % gesetzlich vorgeschrieben, so dass keine großen Unterschiede im Leistungsangebot bestehen.[12] Dieser Leistungskatalog kann durch den Gemeinsamen Bundesausschuss[13] sowie per Gesetzgebung verändert werden.[14]
Die Finanzierung in der GKV beruht auf dem Umlageverfahren. Die Ausgaben einer Periode werden durch die Einnahmen derselben Periode gedeckt. Die Mitglieder der Generation der Erwerbstätigen finanzieren die beitragsfrei Mitversicherten und die Generation der Rentner.[15] Das Leistungsfähigkeitsprinzip findet Anwendung in der Beitragserhebung in der Form, dass der Beitrag bis zur Beitragsbemessungsgrenze proportional zum Einkommen erhoben wird. Die Beiträge werden nahe zu paritätisch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer entrichtet.[16]
Seit der Einführung des Gesundheitsfonds im Jahre 2009 im Rahmen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gibt es einen bundeseinheitlichen Beitragssatz (2012: 15,5 %) für alle gesetzlichen Krankenkassen.[17] Somit ist ein bedeutender Wettbewerbsfaktor zwischen den Krankenkassen in Form der Beitragshöhe entfallen.[18]
Die Krankenkassenbeiträge werden zunächst über die Krankenkassen in den Gesundheitsfonds eingezahlt und danach adjustiert an die Krankenkassen ausgeschüttet. Die Adjustierung erfolgt über den Risikostrukturausgleich. Die unterschiedlichen Risikostrukturen der Krankenkassen bezüglich der Morbidität ihrer Versicherten sollen so aufgefangen werden, um zu verhindern, dass Effizienz und Qualität unter der Fokussierung auf „gute“ Risiken und die damit verbundenen, geringeren Ausgaben, leiden.[19] Ohne einen Risikostrukturausgleich würde ein Ungleichgewicht unter den gesetzlichen Krankenkassen entstehen. Auf der einen Seite wären Krankenkassen, die auf Grund vieler junger, einkommensstarker Versicherter eine geringe Risikostruktur und sowohl hohe Beitragseinnahmen als auch eine niedrige Leistungsausgaben vorweisen. Auf der anderen Seite gäbe es Krankenkassen mit gegensätzlicher Versichertenstruktur.
Gemäß dem Sachleistungsprinzip erfolgt keine Erstattung der Kosten, sondern der Patient erhält die Berechtigung zur Inanspruchnahme von Behandlungsleistungen. Der Patient erhält auf Grund dessen keine Rechnung über die erbrachte Behandlungsleistung. Somit besteht kein privatrechtliches Vertragsverhältnis zwischen Leistungserbringer und Versichertem.[20] Die Vergütung der Leistungserbringer erfolgt im Klinikbereich direkt durch die gesetzlichen Krankenkassen, bei den niedergelassenen Ärzten über die Kassenärztlichen Vereinigungen.
Es besteht seitens der Versicherten Wahlfreiheit bezüglich ihrer Krankenkassen, wohingegen die Krankenkassen einem Kontrahierungszwang unterliegen, d.h. sie dürfen kein potenzielles Mitglied den Versicherungsschutz verwehren.[21]
2.2. Grundzüge der privaten Krankenversicherung
In der privaten Krankenversicherung wird grundsätzlich zwischen zwei Versicherungsprodukten unterschieden. Die Krankheitskostenvollversicherung kann von Personen beansprucht werden, wenn diese nicht der Versicherungspflicht der GKV unterliegen. Außerdem gibt es Zusatzversicherungen, die für Versicherte der GKV angeboten werden, um ihre verfügbaren Versicherungsleistungen zu erweitern, z.B. in Form von Chefarztbehandlung oder Einzelzimmer im Fall einer stationären Behandlung.[22] Die PKV kann von Arbeitnehmern in Anspruch genommen werden, deren Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze liegt, sowie von Beamten und Selbstständigen. Das Vertragsverhältnis beruht beiderseits auf Freiwilligkeit, so dass die Leistungen der PKV individuell vereinbart werden. In diesem privatwirtschaftlichen Rechtsverhältnis werden die Prämien nach dem Äquivalenzprinzip erhoben, d.h. dass auf der Grundlage von medizinischen Untersuchungsergebnissen eine Morbiditätsprognose des Anwärters erstellt wird. Man spricht hier von einer risikoäquivalenten Prämie.[23] Diese Prämien entsprechen den erwarteten Krankheitskosten. Die zu zahlenden Beiträge hängen nicht von der Höhe des Einkommens des Versicherten ab. Eine Einkommensumverteilung findet somit in der PKV nicht statt. Auf den im Versicherungsvertrag vereinbarten Leistungskatalog hat der Versicherte einen lebenslangen Rechtsanspruch.[24] Nach dem Kostenerstattungsprinzip zahlt der Versicherte zunächst die in Anspruch genommene Leistung selbst und reicht dann die Rechnung bei seiner Versicherung ein, um die Kosten voll oder teilweise erstattet zu bekommen. Im Gegensatz zur GKV sind Ehepartner und Kinder nicht beitragsfrei mitversichert. Für sie müssen eigene Versicherungsverträge abgeschlossen werden.[25]
Die Finanzierung in der PKV basiert auf dem Kapitaldeckungsverfahren. Während des Erwerbslebens eines Versicherten werden Altersrückstellungen gebildet. In jüngeren Jahren zahlt der Versicherte einer PKV höhere Prämie als die zu erwarteten Krankheitskosten, damit davon Rückstellungen gebildet werden können, um die hohen Ausgaben im Alter zu finanzieren. Eine Beitragssteigerung im Alter soll damit ausgeschlossen werden.[26] Die Realität sieht anders aus. Die Leistungsausgaben je Versicherter steigen bei der PKV stärker an als bei der GKV. Um diese zu finanzieren, reichen die Altersrückstellungen vielfach nicht aus, so dass Beitragssteigerungen erforderlich werden.[27] Außerdem ist auf Grund der Altersrückstellungen ein Wechsel des PKV-Unternehmens trotz Gesetzesreformen schwierig, da die Rückstellungen nur sehr schwer portabel sind, weil sich die Zuordnung zu einem einzelnen Versicherten schwierig gestaltet.[28] Der Versicherte müsste bei seiner neuen PKV über einen kürzeren Zeitraum Rückstellungen bilden. Dies hätte höhere Prämien zur Folge.[29]
3. Handlungsnotwendigkeit auf Grund der in den nächsten Jahren zu erwartenden Ausgabenentwicklung im Gesundheitssektor
3.1 Demographischer Wandel
Die demographische Entwicklung in Deutschland in Richtung einer Überalterung der Gesellschaft begründet sich durch die seit Jahren sehr niedrige Fertilitätsrate[30] von 1,3 sowie durch die zunehmende Lebenserwartung.[31]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbbildung 1: Lebenserwartung bei Geburt
Quelle: Daten entnommen aus: The World Bank (2012), [URL: http://data.worldbank.org], eigene Darstellung
Das Statistische Bundesamt prognostiziert für das Jahr 2060 eine Lebenserwartung bei Geburt von 85 – 87,7 Jahren bei Männer und 89,2 – 91,2 bei Frauen.[32]
Dieser Prozess hat zur Folge, dass der Anteil der Erwerbstätigen und somit auch die Einnahmen des Krankenversicherungssystems bei konstantem Beitragssatz sinken.
Somit scheint die Finanzierung ohne einen weiteren Anstieg der Beitrags-sätze nicht möglich. Besonders in der GKV führt das Umlageverfahren zu einer stärkeren finanziellen Belastung der Erwerbstätigen gegenüber der Rentnergeneration. So müssen Erwerbstätige bereits im Jahr 2012 24,145 Mrd. € zusätzlich in die GKV einzahlen, um die Ausgaben der Rentnergeneration mitzufinanzieren.[33]
Auf Grund dessen, dass ältere Menschen öfter krank sind als jüngere führt die Entwicklung zu einem Anstieg der Krankheitshäufigkeit und einem damit verbundenen Kostenanstieg im Gesundheitswesen. In welchem Ausmaß die steigende Lebenserwartung sich auf die Pro-Kopf-Ausgaben auswirkt, wird in der Theorie unterschiedlich bewertet.
Die Kompressions-These sieht den Zusammenhang zwischen der Höhe der Gesundheitsausgaben eines Menschen und seiner zeitlichen Nähe zum Tod. Somit führt eine höhere Lebenserwartung lediglich zu einer Aufschiebung der Ausgaben in Richtung des späteren Todeszeitpunkts.[34]
Die Status-quo-These besagt, dass die heutigen Ausgaben je Altersgruppe sich auf die zukünftige Altersverteilung übertragen lassen. Somit liegt der Status-quo-These die Annahme zugrunde, dass die Ausgaben konstant steigen werden.
Die Medikalisierungs-These geht von einer stärkeren Ausgabenentwicklung im Vergleich zur Status-quo-These aus. Kern der Theorie ist die Annahme, dass die Lebenserwartung steigt, aber eine Multimorbidität älterer Menschen vorliegt und die Wiederherstellung der Gesundheit selten erreicht wird. Es verlängert sich somit der Lebensabschnitt, in dem die Menschen medizinische Behandlung in hohem Maße in Anspruch nehmen.[35]
Um die Handlungsnotwendigkeit im Hinblick auf eine Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen zu verdeutlichen, ist eine Betrachtung der Prognose der Beitragssatzentwicklung unter Einbeziehung des technischen Fortschritts unerlässlich. Im Jahre 2050 wird der Beitragssatz nach der Kompressionsthese 26,5 %, nach der Status-quo-These 27,0 % und nach der Medikalisierungs-These 30 % betragen.[36]
Die Entwicklung steigender Beitragssätze hat Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, da die Arbeitgeberbeiträge als Teil der Lohnnebenkosten ebenfalls ansteigen werden. Mit dem Finanzierungsgesetz der Gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2010 wurde der Versuch unternommen, die Entwicklung der Beitragserhöhungen zur Finanzierung der GKV zu durchbrechen, um den Arbeitsmarkt zu entlasten. Der Beitragssatz wird seit dem von der Politik festgeschrieben und nicht mehr von den Krankenkassen bestimmt. Die Möglichkeit der Krankenkassen, von ihren Mitgliedern Zusatzbeiträge zu erheben, soll die steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen finanzieren.[37] Die Vorteile liegen darin, dass stabile Beiträge für Arbeitgeber eine Planungssicherheit bedeuten und die Konkurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb stärken, wenn die Lohnnebenkosten nicht steigen. Außerdem wirken sich Konjunkturschwankungen nicht mehr so stark auf die Einnahmen der GKV aus, wenn diese nicht mehr nur noch von der Anzahl der Erwerbstätigen abhängen.[38] Der Wettbewerbsdruck auf die Krankenkassen effizienter zu wirtschaften wird erhöht, entlastet aber auch die Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer. Außerdem ist fraglich ob dieser Lösungsansatz auf Dauer steigende Beitragssätze verhindert, denn die Zusatzbeiträge werden auf lange Sicht zur Finanzierung der Ausgaben nicht ausreichen. Wenn das Ziel der Beitragsstabilität weiterhin aufrechterhalten werden soll, dann müsste die Finanzierung aus Steuermitteln erfolgen. Bereits jetzt fließen geschätzte 13,841 Mrd. € im Jahr 2012 aus Bundeszuschüssen in den Gesundheitsfond.[39] Eine Finanzierung der GKV durch Steuermittel bedeutet, dass jeder Steuerzahler dieses System mit finanziert auch wenn dieser, wie Mitglieder der PKV, gar nicht Nutznießer dieses Systems sind. Außerdem ist zu erwarten, dass steigende Ausgaben nicht steuer- sondern kreditfinanziert werden, da dies politisch, wie die Vergangenheit zeigt, meist einfacher durchzusetzten ist.
3.2 Medizinisch-technischer Fortschritt
Der medizinisch-technische Fortschritt ist ein angebotsinduzierter Einflussfaktor für steigende Ausgaben im Gesundheitswesen. Bei Fortschritt in Sinne von Innovationen wird dabei unterschieden zwischen Produkt- und Prozessinnovationen.
Unter Produktinnovationen versteht man unter anderem pharmakologische Fortschritte, wie z.B. neue hochwirksame Antibiotika, medizinische Fortschritte, wie z.B. Organtransplantationen und medizinisch-technische Fortschritte, wie z.B. die Entwicklung und Implantierung künstlicher Organe.
Dem Bereich der Prozessinnovationen werden unter anderem effizientere Analyseverfahren wie z.B. verbesserte Bluttests und organisatorische Weiterentwicklungen wie z.B. EDV-gestützte Dokumentation zugeordnet. Grundsätzlich haben Produktinnovationen steigende Ausgaben zur Folge, weil diese meistens zusätzlich zu bereits vorhandenen Produkten eingesetzt werden, anstatt ältere Verfahren zu ersetzen. Macht spricht in diesem Zusammenhang von „Add-on-Technologien“[40]. Prozessinnovationen hingegen haben einen eher ausgabenmindernden Effekt auf Grund von geringerem Ressourceneinsatz in Verbindung mit höherer Produktivität.[41] Insgesamt überwiegen im Bereich des Gesundheitswesens Produktinnovationen, so dass der medizinisch-technische Fortschritt für steigende Ausgaben mitverantwortlich ist.[42]
4. Kritische Analyse des Verhaltens ausgewählter Akteure des Gesundheitswesen im Hinblick auf deren Kostenbewusstsein
4.1 Patient
Der Patient als Konsument von Leistungen des Gesundheitswesens ist Akteur auf einem Markt, auf dem seine Konsumentensouveränität nur sehr eingeschränkt ausgestaltet ist. Im Vergleich zu anderen Märkten ist es für den medizinischen Laien schwer, Qualität, Nutzen und Preis einer Leistung auf Grund mangelnder medizinischer Kenntnisse sachgerecht zu beurteilen. Außerdem ist die subjektive Urteilsfähigkeit eingeschränkt, wenn die eigene Gesundheit gefährdet oder in Mitleidenschaft gezogen ist. Im Falle lebensbedrohlicher Situationen, Ohnmacht oder Demenz ist die subjektive Urteilsfähigkeit gar nicht gegeben.[43]
Als GKV-Versicherter besteht darüber hinaus keine ökonomische Notwendigkeit, eine medizinische Behandlung unter Kosten-Nutzen-Aspekten zu beurteilen, da die Leistungen bedarfsabhängig gewährt und die Kosten auf die Solidargemeinschaft umgelegt werden. Der Patient handelt somit kurzfristig nutzenmaximierend, wenn er die Inanspruchnahme von Leistungen maximiert anstatt kostenminimale Behandlungsmethoden in Betracht zu ziehen.[44] In Deutschland besteht für GKV-Versicherte nahezu ein Vollversicherungsschutz, wenn man die zahnmedizinische Versorgung einmal außer Betracht lässt. Eine Überinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in Deutschland im internationalen Vergleicht ist die Folge, wie aus Abbildung 2 ersichtlich ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Arztbesuche pro Versicherter im Jahr
Quelle: Daten entnommen aus: OECD Health Data (2012), [URL: http://stats.oecd.org], eigene Darstellung
Die Erhebungsmethode der OECD betrachtet lediglich den ersten Behandlungsfall pro Quartal. Die reale Anzahl der Arztbesuche ist in Deutschland laut dem Zentralinstitut für die Kassenärztlichen Vereinigung mit 17,7 wesentlich höher.[45]
Kurzfristig besteht kein Interesse für Patienten kostenorientiert zu handeln, weil sie nicht unmittelbar an den Behandlungskosten beteiligt werden. Langfristig hat dieses Verhalten für jedes Mitglied höhere Beitragszahlung zur Folge.
In der Beziehung zwischen Versichertem und Krankenkasse ergibt sich eine Moral-Hazard-Problematik[46] auf Grund der Trennung von Beitragszahlungen und Leistungen. Der Versicherte kann nach Abschluss des Versicherungsvertrages durch sein Verhalten zu Lasten der Krankenversicherung agieren. Hier gilt es zwischen ex-ante und ex-post Moral-Hazard zu unterscheiden. Ex-ante Moral-Hazard ist ausgestaltet in der Problematik, dass der Versicherer keine Kenntnis über die Risikoeinstellung des Versicherten hat. So kann dieser durch einen risikoaffinen Lebensstil seine Krankheitswahrscheinlichkeit erhöhen. Dies kann in Form von ungesunder Ernährung, extremem Bewegungsmangel, Ausüben von Risikosportarten, Rauchen und übermäßigem Alkoholkonsum ausgestaltet sein. Ex-post Moral-Hazard besteht darin, dass der Versicherte nach Eintritt einer Krankheit die Inanspruchnahme von Leistungen und somit die Kosten der Behandlung steuern kann. Dies zeigt sich z.B. in dem Verhalten des Patienten, Mehrfachkonsultationen von verschiedenen Ärzten in Anspruch zu nehmen oder bei nicht behandlungsnotwendigen Beschwerden einen Arzt auf zu suchen.[47]
4.1.1 Patientenquittung
Um die Fehlanreize einzudämmen, gibt es verschiedene Maßnahmen, die im Krankenversicherungssystem implementiert sind. Der Patient hat in der Regel keine Kenntnisse über die Höhe seiner Behandlungskosten, da das Sachleistungsprinzip angewendet wird. Um das Kostenbewusstsein der Patienten zu stärken, gibt es einen ersten transparenzfördernden Ansatz in Form der Patientenquittung.[48] Dieser Ansatz sollte insofern weiterentwickelt werden, als jeder Patient unaufgefordert direkt im Anschluss an seine Behandlung eine Kostenübersicht ausgehändigt bekommt.
Zu prüfen wäre, ob nicht auch der GKV-Versicherte die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen zunächst selbst bezahlen sollte, um im Anschluss daran durch die Krankenkasse eine Kostenerstattung zu erhalten.[49] Für eine derart tiefgreifende Strukturveränderung der GKV dürften zumindest derzeit die politischen Mehrheiten fehlen.
4.1.2 Selbstbehalte
Um die Nachfrage der Patienten nach Gesundheitsleistungen zu steuern und um zusätzliche Einnahmen zu generieren, sind verschiedene Formen der Selbstbeteiligung bereits heute in geringem Ausmaß im Krankenversicherungssystem integriert. Die bekannteste Ausgestaltungsvariante der Selbstbehalte ist die Praxisgebühr. Seit 2004 muss der gesetzlich Versicherte bei dem ersten Arztkontakt pro Quartal 10 € entrichten. Die Erfahrung mit der Praxisgebühr in der bisherigen Form und Höhe zeigt jedoch, dass von ihr kein oder nur ein sehr geringer Einfluss auf das Nachfrageverhalten der Patienten ausgeht.[50] 10 € stellen für den Großteil der Bevölkerung keinen Anreiz dar, ihr Nachfrageverhalten zu verändern und Menschen mit geringen finanziellen Möglichkeiten, bei denen 10 € eine Verhaltensänderung erzwingen würden, sind meist davon befreit.[51] Außerdem sind die Grenzkosten nach dem ersten Arztbesuch des Quartals wieder gleich null, d.h. dass die Gebühr ab diesem Zeitpunkt keinen Einspareffekt mehr hat.
Um die Behandlung von Bagatellerkrankungen zurückzudrängen, wäre eine Gebühr in Höhe von beispielsweise 5 € pro Arztbesuch zielführender. Zentrales Ziel der Praxisgebühr ist die Nachfrageentscheidung der Patienten zu minimieren. Dieser Anreizmechanismus nach Einschätzung der Gesellschaft für Gesundheitsökonomie einen Rückgang der Arztbesuche von ca. 10 % zur Folge. Gleichzeitig könnte als Kompensation die Zuzahlung von 10 € pro Tag bei Krankenhausaufenthalten entfallen, weil hier die Entscheidung bezüglich der Einweisung ins Krankenhaus vom Arzt und nicht vom Patienten getroffen wird.[52] Die Summe der finanziellen Belastungen der Versicherten mit 2,4 Mrd. € wäre nur minimal höher als die aktuellen Einnahmen von 2,2 Mrd. €.[53]
Es gilt in Zukunft die Eigenverantwortung der Patienten zu stärken, um Anreize zu schaffen, die eigene Gesundheit zu fördern. Ein stärkeres Kostenbewusstsein des Versicherten fördert den Anreiz, sich seiner Verantwortung als Teil der Solidargemeinschaft bezüglich einer Kostensenkung bewusst zu werden und aktiv daran mitzuwirken.[54]
4.2 Gesetzliche Krankenkassen
4.2.1 Kundenorientierte Beratung und Prävention
Der Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen ist durch den Gesetzgeber, sowohl bezüglich des Produktes (wie bereits in Kapitel 2.1 erwähnt) als auch durch den Preis in Form des einheitlichen Beitragssatzes stark reguliert. Der Preismechanismus ist hier nur ausgestaltet in der Möglichkeit der Krankenkassen, Zusatzbeiträge zu erheben.[55] Somit besteht für gesetzliche Krankenkassen auf der einen Seite der ökonomische Anreiz darin, ihre internen Strukturen effizienter auszugestalten in Form von Kostensenkungen in den Verwaltungsstrukturen, um keine Zusatzbeiträge zur Finanzierung der Ausgaben von ihren Mitglieder erheben zu müssen.[56] Allerdings können diese Einsparungen zu Lasten der kosten- und personalintensiven Beratungsqualität gehen, die für Versicherte neben dem Umfang der Leistungsgewährung einen hohen Stellenwert hat.[57] Seitens der Krankenkassen besteht ein signifikantes Interesse mit patientenorientierten Informationsangeboten wie z.B. medizinischen Callcentern sich im Qualitätswettbewerb hervorzuheben. Dies steigert zum einen die Kundenzufriedenheit und damit die Kundenbindung und ist zum andern förderlich für die Akquise von Neu-Mitgliedern.[58]
Ein intensives Beratungs- und Informationsangebot dient der Unterstützung des Patienten bezüglich einer gesundheitsbewussten Lebensführung.[59] Dies bietet enormes Potential für die Krankenkassen, da sich durch einen gesunden Lebensstil das Krankheitsrisiko und somit die Kosten für die Krankenkassen signifikant senken lassen. Bislang sind die Anreizmechanismen bezüglich Präventivmaßnahmen von Seiten der Krankenkassen zu wenig ausgestaltet. Das Kosteneinsparungspotential, das Präventivuntersuchungen und Präventionsprogramme bieten, um kostenintensive Behandlungen zu vermeiden, ist unbestritten. Es lässt sich an Hand der Ausgaben für Prävention aufzeigen, dass diese Maßnahmen im deutschen Krankenversicherungssystem im Vergleich zu den Gesamtausgaben nur einen geringen Teil ausmachen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Anteil der Gesundheitsausgaben nach Leistungsarten
Quellen: Daten entnommen aus: Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2012), [www.gbe-bund.de], eigene Darstellung
Erste Ansätze wie die Befreiung von der Praxisgebühr und Prämiensysteme für Patienten, die Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig wahrnehmen, gilt es auszubauen.[60] In diesem Zusammenhang sind auch Strukturreformen nötig, da Investitionen in diesem Bereich momentan nicht unterstützt werden. Eine Krankenkasse, die ihre Präventionsangebote ausweitet und zur Finanzierung Zusatzbeiträge erhebt, wird von ihren Versicherten abgestraft, weil die Preiskomponente für Versicherte der Hauptgrund für einen Wechsel ist. Die Möglichkeit im Falle der Erhebung von Zusatzbeiträgen ein Sonderkündigungsrecht in Anspruch zu nehmen fördert dieses Verhalten unmittelbar.[61] Die Ausgaben für Prävention heute führen zu Ersparnissen morgen. Dieses Bewusstsein gilt es gegenüber den Versicherten und den Kassen selbst zu vermitteln. Ein möglicher Lösungsansatz wäre eine gesetzliche Regelung, wie von der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention gefordert, die einen Anteil der Präventionsausgaben von 10-15 % als angemessen ansieht.[62]
Eine Solidargemeinschaft muss ihre Mitglieder, sowohl fördern als auch fordern. In diesem Kontext sollten Krankenkassen ihrer Beratungsfunktion gerecht werden und darüber hinaus Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiter honorieren. Auf der anderen Seite muss der Gesetzgeber den nötigen Handlungsspielraum für die Krankenversicherungen schaffen z.B. die Möglichkeit Zusatzbeiträge nur von bestimmten Gruppen von Mitgliedern erheben zu können die ihrer Gesundheitsvorsorge nur unzureichend erfüllen. Dies sind zum einen Personengruppen die angebotene Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrnehmen und Risikogruppen wie Raucher und Übergewichtige.[63]
[...]
[1] Die fünf Säulen des sozialen Sicherungssystems in Deutschland sind die gesetzliche Kranken-, Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Pflegeversicherung
[2] Vgl. v. d. Beek/v. d. Beek (2011), S. 132
[3] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (2012a), S. 44
[4] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (2011)
[5] Vgl. v. d. Beek/v. d. Beek (2011), S. 133
[6] Vgl. Wimmer (2008), S. 55
[7] Vgl. v. d. Beek/v. d. Beek (2011), S. 134
[8] Vgl. Hajen/Paetow/Schumacher (2010), S. 115
[9] Vgl. GKV-Spitzenverband (2012), [URL: www.gkv-spitzenverband.de]
[10] Vgl. Lauterbach/Stock/Brunner (2009), S. 112
[11] § 12 Abs. 1 SGB V
[12] Vgl. Hajen/Paetow/Schumacher (2010), S. 120
[13] Der Gemeinsame Bundesausschuss setzt sich zusammen aus Vertretern von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen. Als oberstes Beschlussgremium entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss, welche medizinischen Leistungen von der GKV erbracht werden müssen.
[14] Vgl. Drabinski (2012), S. 6
[15] Vgl. Graf v. d. Schulenburg (2007), S. 32
[16] Vgl. Lauterbach/Stock/Brunner (2009), S. 110
Für Zahnersatz und Krankengeld entrichten Versicherte einen zusätzlichen Beitrag in Höhe von derzeit 0,9 %
[17] Vgl. Lauterbach/Stock/Brunner (2009), S. 127
[18] Vgl. Hajen/Paetow/Schumacher (2010), S.120
[19] Vgl. Oberender/Zerth (2009), S. 331
[20] Vgl. Lauterbach/Stock/Brunner (2009), S. 112
[21] Vgl. Wimmer (2008), S. 55f
[22] Vgl. Wimmer (2008), S. 63f
[23] Vgl. Lauterbach/Stock/Brunner (2009), S. 117
[24] Vgl. Drabinski (2012), S. 6
[25] Vgl. Wimmer (2008), S. 63
[26] Vgl. Wimmer (2008), S. 69
[27] Vgl. o. V. (2010a), [URL: www.spiegel.de]
[28] Vgl. Nell/Rosenbrock (2008), S. 175
[29] Vgl. Drabinski (2012), S. 6
[30] Eine Fertilitätsrate von 2,1 ist notwendig um die Bevölkerungszahl konstant zu halten.
[31] Vgl. v. d. Beek/ v. d. Beek (2011), S. 182
[32] Vgl. o. V. (2009a), S. 31
[33] Vgl. Drabinski (2012), S. 6
[34] Vgl. Oberender/Zerth (2006), S. 412
[35] Vgl. von Troschke/Mühlbacher (2005), S. 114f
[36] Vgl. Fetzer (2006), S. 99f
[37] Vgl. Augurzky (2010), S. 4
[38] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit (2012b), [URL: www.bundesgesundheitsministerium.de]
[39] Vgl. Bundesversicherungsamt (2011), S. 2
[40] Ulrich (2003), S.12
[41] Vgl. Mardorf/Böhm (2009), S. 255
[42] Vgl. Lauterbach/Stock/Brunner (2009), S. 121
[43] Vgl. Marckmann (2007), S. 3
[44] Vgl. Hemken/Schusterschitz/Thöni (2011), S. 172
[45] Vgl. Riens/Erhart/Mangiapane (2012), S. 2
[46] Moral-Hazard beschreibt die Ausnutzung von Informationsvorteilen nach Vertragsabschluss auf Grund asymmetrischer Informationsverteilung der Vertragspartner.
[47] Vgl. Eling/Parnitzke (2006), S. 11
[48] Die Patientenquittung ist eine Aufstellung aller erbrachten Leistungen und Kosten. Der Patient kann diese auf Wunsch vom behandelten Arzt oder seiner Krankenkasse ausgestellt bekommen.
[49] Vgl. Mörsch (2002), S. 157
[50] Vgl. Graf v. d. Schulenburg (2007), S. 132
[51] Versicherte sind von Selbstbehalten befreit, wenn diese 2% des Bruttoeinkommens übersteigen. Bei chronisch Kranken beträgt die Grenze 1%. Des Weiteren sind Personen unter 18 Jahren von Selbstbehalten befreit.
[52] Vgl. Ulrich/Breyer/Wasem/Felder (2012)
[53] Vgl. Neumann (2012), [URL: www.welt.de]
[54] Vgl. Micklitz (2008), S. 27
[55] Vgl. Henke (2007), S. 9
[56] Vgl. Pfister (2009), S. 41f
[57] Vgl. Zok (1999), S. 12
[58] Vgl. Dierks/Schwartz (2001), S. 800
[59] Vgl. Wöllenstein (2004), S. 943
[60] Vgl. Holst (2008), S. 59
[61] Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2012), S. 134
[62] Vgl. o. V. (2010b), [URL: www.aerztezeitung.de]
[63] Vgl. Böcking/Lenz/Trojanus/Kirch (2007), S. 2220
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783955498092
- ISBN (Paperback)
- 9783955493097
- Dateigröße
- 982 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Münster
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 2
- Schlagworte
- Gesundheitsökonomik Gesundheitspolitik Gesundheitswesen Gesundheitssektor Finanzierung