Das Sturzrisiko von zu Hause lebenden älteren Menschen: Entwicklung eines Sturzrisikoinstrumentes zur Einbindung in eine elektronische mobile Patientenakte
©2012
Bachelorarbeit
63 Seiten
Zusammenfassung
Infolge des demographischen Wandels zeigt sich zunehmend eine Verdichtung der Gruppe der Älteren und Hochbetagten und eine erhöhte Anzahl an pflegebedürftigen Menschen in ländlichen Regionen. Gleichzeitig ist durch einen drohenden Ärztemangel in diesen Regionen die medizinische Versorgung gefährdet. Der Ärztemangel und finanzielle Einsparmaßnahmen in der Gesundheits- und Sozialpolitik erfordern ein hohes Maß an Prävention und Prophylaxe sowie die Erschaffung neuer Versorgungsformen und eine zeitgemäße Infrastruktur, basierend auf einer zukunftsorientierten Informations- und Kommunikationstechnologie, die Zeit- und Kostenaspekten gerecht wird und die alltägliche Arbeit am Patienten unterstützt.
Die Integration einer Sturzrisikoerhebung in eine digitale Patientenakte bedeutet also nicht nur die lückenlose Dokumentation von Stürzen, sondern gerade auch eine Verbesserung in der Ermittlung des individuellen Sturzrisikos und damit ein schnelleres Einleiten gezielter Maßnahmen im Sinne der Prävention.
Die Hauptfragestellungen für die vorliegende Arbeit sind: Welche Ursachen und Umstände führen zu einem Sturz? Welche Indikatoren eines Sturzrisikos sind aus vorliegenden Studien bekannt?
Und welche Aspekte erlauben eine Vorhersage von Stürzen bei älteren Menschen, die zu Hause leben?
Die Integration einer Sturzrisikoerhebung in eine digitale Patientenakte bedeutet also nicht nur die lückenlose Dokumentation von Stürzen, sondern gerade auch eine Verbesserung in der Ermittlung des individuellen Sturzrisikos und damit ein schnelleres Einleiten gezielter Maßnahmen im Sinne der Prävention.
Die Hauptfragestellungen für die vorliegende Arbeit sind: Welche Ursachen und Umstände führen zu einem Sturz? Welche Indikatoren eines Sturzrisikos sind aus vorliegenden Studien bekannt?
Und welche Aspekte erlauben eine Vorhersage von Stürzen bei älteren Menschen, die zu Hause leben?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
ADL/ iAdl
Activities of daily living/ instrumental activities of daily living
AGS
American Geriatrics Society
AOK
Allgemeine Ortskrankenkasse
App
(eine Software für einen Tabletcomputer)
ATL
Aktivitäten des täglichen Lebens
BGS
British Geriatrics Society
Bspw.
Beispielsweise
BVPG
Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
d.h.
Das heißt
DDR
Deutsche Demokratische Republik (1949-1990)
DEGAM
Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
DEGAM
Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin
DIMDI
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
DNQP
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
et.al.
et altera
etc.
Et cetera
FICSIT
Frailty and Injuries: Cooperative Studies of Intervention Tech-
niques
ggf.
gegebenenfalls
GI
Gastrointestinal
Hrsg.
Herausgeber
HTA
Health Technology Assessment: Systematische Bewertung
gesundheitsrelevanter Prozesse und Verfahren
i.d.R.
in der Regel
IT
Informationstechnologie
KELLOG
Kellog International Work Group on the Prevention of Falls by the
Elderly
KVBB
Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg
mind.
mindestens
MS
Multiple Sklerose
OR
Odds ratio
PROFANE
Prevention of Falls Network Europe
S.
Seite(n)
SGB IX
Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) - Rehabilitation und
Teilhabe behinderter Menschen - (Artikel 1 des Gesetzes v.
19.6.2001, BGBl. I S. 1046)
SGB XI
Sozialgesetzbuch (SGB) - Elftes Buch (XI) - Soziale Pflegeversi-
cherung (Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994, BGBl. I S.
1014)
sog.
sogenannte(n)
TIA
Transitorische ischämische Attacke
u. a.
unter anderem
u.U.
unter Umständen
Vgl.
Vergleiche
vs.
versus
WHO
World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation)
z.B.
zum Beispiel
Glossar
Konfidenzintervall: Vertrauensbereich
Likelihhood: statistische Wahrscheinlichkeitsfunktion; ,,der Likelihoodquotient
oder Likelihood Ratio (LR) gibt an, wie sich das Resultat eines diagnostischen
Tests auf die Chance für das Vorliegen einer Krankheit auswirkt." (medistat,
o.J.)
Multiple Sklerose (MS): chron. entzündliche Erkrankung des zentralen Nerven-
systems (De Gruyter, 2002)
Odds ratio (OR): OR= Quotenverhältnis, Chancenverhältnis; meint hier: ,,zwei
verschiedenen Chancen, die ins Verhältnis zueinander gestellt werden [...]
Chance, zu erkranken (oder zu sterben) unter Exposition, und die Chance, zu
erkranken unter Nicht-Exposition." (Held, 2010, S.634)
Orthostatische Hypotension: Blutdruckabfall beim Übergang vom Liegen zum
Stehen (De Gruyter, 2002)
Prävention:
,,sucht [...] eine gesundheitliche Schädigung durch gezielte Aktivi-
täten zu verhindern, weniger wahrscheinlich zu machen oder zu verzögern."
(Walter et al., 2003, S.189)
Transitorische ischämische Attacke (TIA): ,,zerebrale Zirkulationsstörung mit
lokalisationsabhängiger neurologischer Symptomatik, die sich spätestens inner-
halb von 24 Std. zurückbildet. Ungefähr 40% der Pat. erleiden innerhalb von
5 Jahren einen Schlaganfall." (Urban & Fischer, 2003, ,,TIA")
In diesem Text wird der Einfachheit halber nur die männliche Form verwen-
det. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.
1 Einleitung
Die Folgen des demografischen Wandels, der durch einen Rückgang der Gebur-
ten und einer steigenden Alterserwartung eine Verschiebung der Altersstruktur
mit sich bringt, werden in den nächsten Jahren weiter sichtbar. Hinzu kommen
eine Singularisierung der Haushalte (Faltermaier et al., 2002, S.17) und eine Ab-
wanderung vor allem jüngerer Menschen aus ländlichen Regionen in die Städte
und Stadtstaaten (Kröhnert et al., 2011, S.18). Dadurch kommt es zu einer Ver-
dichtung der Gruppe der Älteren und Hochbetagten und einer erhöhten Anzahl
an pflegebedürftigen Menschen in ländlichen Regionen. Gleichzeitig ist durch ei-
nen drohenden Ärztemangel in diesen Regionen die medizinische Versorgung
gefährdet. So sind laut einer Expertise im Auftrag des Brandenburgischen Land-
tags ca. 170 Hausarzt- und 20 Facharztpraxen im Land Brandenburg unbesetzt
(Weber et al., 2007, S.12).
Der drohende Ärztemangel und finanzielle Einsparmaßnahmen in der Gesund-
heits- und Sozialpolitik erfordern ein hohes Maß an Prävention und Prophylaxe
sowie die Erschaffung neuer Versorgungsformen. Eine dieser neuen Versor-
gungsformen orientiert sich an der DDR-Serie ,,Schwester Agnes" (Zutz, 2012).
Als Gemeindeschwester übernahm sie die pflegerische Versorgung aller Bedürf-
tigen in der Gemeinde. Daran anknüpfend wurde 2005 von der Universität
Greifswald und der AOK Nordost das Modell AGnES entwickelt, das ab 2011 als
agnes
zwei
weiter einwickelt wurde. In agnes
zwei
führt eine speziell ausgebildete
Arzthelferin oder Krankenschwester als verlängerter Arm des Arztes Hausbesu-
che durch, sie überwacht die medizinische Therapie und übernimmt delegations-
fähige Leistungen. Besonders in Regionen mit einem hohen Versorgungsradius
durch die Hausärzte, stellt dieses Modell eine Entlastung der Hausärzte dar. Die
genannte Weiterentwicklung des AGnES-Projekts erfolgte durch die Zusammen-
arbeit der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB) und der AOK
Nordost. Unter dem Namen agnes
zwei
wurden neben den rechtlichen Rahmenbe-
dingungen Finanzierungsmodelle und Anstellungsverhältnisse koordiniert. Auch
gehört zu der Weiterentwicklung die Patientenbetreuung durch ein individuelles
Fall- und Schnittstellenmanagement. agnes
zwei
bildet eine Schnittstelle zu behan-
delnden und nachbehandelnden Ärzten durch eine medizinische Fachkraft. Dies
wird unterstützt durch die Schaffung einer Infrastruktur, basierend auf einer aktu-
ellen und zukunftsorientierten Informations- und Kommunikationstechnologie, die
Zeit- und Kostenaspekten gerecht wird und die alltägliche Arbeit am Patienten
unterstützt. Dabei ist es das Ziel, durch die Nutzung neuartiger mobiler Geräte In-
1
formationen zwischen der Arztpraxis und den agnes
zwei
- Fachkräften zeitnah aus-
zutauschen und dezentral zu verwalten (Ahrndt et al., 2012, S.2). Dies verdeut-
licht auch das verwendetet Akronym, dessen Bedeutung in Abbildung 1 darge-
stellt wird. Hier wird auf die Idee, die Ziele und die Umsetzung der neuen Versor-
gungsform, unter Verwendung der wesentlichen Inhalte hingewiesen.
Abbildung 1: Das Akronym agnes
zwei
und dessen Bedeutung (eigene Darstellung)
1.1 Motivation
Eine moderne IT- Infrastruktur, insbesondere die mobile Erfassungsmöglichkeit
von Patienteninformationen, soll der Fachkraft ein leicht handhabbares System
zur Verfügung stellen. Dabei kann das zentrale Zusammenführen unterschiedli-
cher Daten eines Patienten zur Generierung verschiedener Mehrwerte führen,
vor allem im Bereich der Früherkennung und Prävention. Die Wichtigkeit und der
Vorrang der Prävention sind u.a. in den Sozialgesetzbüchern IX (vgl. §3 SGB IX
Vorrang von Prävention) und XI (vgl. §5 SGB XI Vorrang von Prävention und
medizinischer Rehabilitation) festgelegt.
Dass die Prävention von Stürzen eine wichtige Aufgabe in der Behandlung und
Betreuung von älteren Menschen ist, liegt nicht zuletzt an den immensen volks-
wirtschaftlichen Kosten, welche durch Stürze entstehen. So führen alleine die
Behandlungskosten für sturzbedingte Hüftfrakturen zu direkten Kosten von 2,77
Milliarden Euro pro Jahr (Weyler & Gandjour, 2007, S.601).
Schätzungsweise sind den versorgenden Hausärzten weniger als 30% der Stür-
ze bekannt (Becker & Rapp, 2011, S.940). Die Verwendung von mobilen Anwen-
2
dungen kann genutzt werden, um vor Ort sturzrelevante Informationen zeitnah zu
erfassen, z.B. in Form einer Sturzanamnese oder eines Sturzprotokolls. Damit
soll ein frühzeitiges Erkennen eines erhöhten Risikos für Stürze möglich werden.
Die Integration einer Sturzrisikoerhebung in die digitale Patientenakte bedeutet
also nicht nur die lückenlose Dokumentation von Stürzen, sondern gerade auch
eine Verbesserung in der Ermittlung des individuellen Sturzrisikos und damit ein
schnelleres Einleiten gezielter Maßnahmen im Sinne der Prävention. Im Vorhi-
nein muss jedoch festgestellt werden, welche Daten zu erfassen sind und wie
sich diese auf das individuelle Sturzrisiko eines Patienten oder einer Patientin
auswirken.
1.2 Zielsetzung der Arbeit und Fragestellung
In dieser Arbeit sollen Faktoren identifiziert werden, welche Einfluss auf das
Sturzrisiko älterer zu Hause lebender Menschen haben. Die Arbeit ist in einen
Reviewprozess, eingebunden. Im Rahmen der Entwicklung der agnes
zwei
App
(Ahrndt et al., 2012, S.1) wird unter Rückgriff auf diese Daten eine Software er-
stellt, die das individuelle Sturzrisiko einschätzen helfen soll und damit letztend-
lich einen Beitrag zur Sturzprophylaxe liefert. Dabei muss auf Benutzerfreund-
lichkeit geachtet werden, um den begrenzten zeitlichen Ressourcen der
agnes
zwei
- Fachkräfte gerecht zu werden. Nach den bisherigen Planungen sollen
innerhalb von fünf Stunden ca. 6-10 Patienten betreut werden, einschließlich der
Fahrzeiten. Die Sturzproblematik ist nur eine von mehreren Aufgabenstellungen
während des Hausbesuchs der agnes
zwei
- Fachkraft. Der Fokus liegt auf der
Feststellung von Sturzrisikofaktoren mit Hilfe von Prädiktoren zur Einschätzung
des individuellen Risikos, das den Patienten/ die Patientin gegebenenfalls in ein
Interventionsprogramm einschleust (Screening) sowie eine Verlaufskontrolle er-
möglicht.
Hauptfragestellungen für die vorliegende Arbeit sind:
1. Welche Ursachen und Umstände führen zu einem Sturz?
2. Welche Indikatoren (Prädiktoren oder Risikofaktoren) eines Sturzrisi-
kos sind aus vorliegenden Studien bekannt? (Reviewfrage)
3. Welche Aspekte erlauben eine Vorhersage von Stürzen bei älteren
Menschen die zu Hause leben (und werden möglicherweise als Rou-
tinedaten in der ambulanten Versorgung bereits erhoben?)
Das Thema Sturz ist in der Literatur auch wegen seiner hohen Bedeutung für den
Einzelnen und die Gesellschaft schon sehr stark bearbeitet. Abgeleitet aus zahl-
3
reichen empirischen Studien und Metaanalysen existieren bereits Leitlinien von
Fachgesellschaften und Handlungsempfehlungen zum Sturzmanagement und
zur Sturzprävention. Ebenso gibt es zahlreiche etablierte Instrumente und Test-
verfahren zur Abschätzung des individuellen Risikos. Sie werden in Arztpraxen,
Krankenhäusern und physiotherapeutischen Praxen eingesetzt. Nicht alle sind
für den häuslichen Bereich einsetzbar oder speziell dafür entwickelt.
1.3 Wahl des Untersuchungsdesigns
In dieser Arbeit erfolgt keine eigene Erhebung, zum Beispiel im Sinne einer Fall-
Kontroll-Studie oder einer anderen Querschnittstudie. Dies könnte auch nur auf
Basis einer kleinen Stichprobe beruhen, weswegen dieses Vorgehen hier nicht in
Frage kommt. Da schon eine erste vorläufige Literaturrecherche in deutsch- und
englischsprachigen Quellen eine Fülle von Einzelstudien hervorbrachte, bietet
sich die Bearbeitung des Themas auf der Basis einer systematischen Literatur-
analyse (Review) an.
Eine Übersichtsarbeit in Form eines systematischen Reviews fasst wissenschaft-
liche Erkenntnisse aus verschiedenen einzelnen Untersuchungen zusammen
und bildet so die Evidenz zu einem bestimmten Thema ab (Kunz et al., 2009,
S.2). Systematisch bedeutet dabei:
1. Reviewfrage formulieren
2. Relevante Literatur identifizieren
3. Qualität der Literatur bewerten
4. Evidenz zusammenfassen
5. Ergebnisse interpretieren (Kunz et al., 2009, S.3).
Eine Anlehnung an dieses Untersuchungsdesign stellt ein adäquates Design dar
um die zweite Frage nach den Sturzrisikofaktoren zu beantworten.
4
1.4 Gestaltung der Arbeit
Die Klärung medizinischer und statistischer Fachbegriffe wird im Glossar vorge-
nommen.
In den einleitenden Kapiteln wird neben der Problem- und Fragestellung die prä-
ventive Ausrichtung des Themas erörtert und die Verbindung zum eigentlichen
Projekt beschrieben.
Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich entsprechend der Fragestellung in drei Tei-
le:
x Kapitel 2 umreißt die Epidemiologie eines Sturzes unter dem Hauptau-
genmerk älterer zu Hause lebender Menschen. Um die Relevanz des
Themas zu beschreiben, werden im Anschluss Ursachen und Umstände
des Sturzgeschehens aufgezeigt und die finanziellen, gesellschaftlichen
und persönlichen Konsequenzen eines Sturzes erläutert.
x Die methodische Vorgehensweise der systematischen Literaturrecherche
wird in Kapitel 3 erläutert.
x Kapitel 4 beschreibt die Ergebnisse und Analyse der systematischen Lite-
raturrecherche und die Bedeutung der gefundenen Risikofaktoren für eine
Sturzrisikoerhebung.
Auf dieser Grundlage ist es möglich, eine Sturzrisikoerfassung zu erstellen, die
die relevanten Risikofaktoren älterer zu Hause lebender Menschen enthält. Ab-
schließend wird die Umsetzung und Implementierung der Ergebnisse in eine
Software in Kapitel 5.
Die Arbeit schließt mit Überlegungen zum weiteren Verlauf dieses Projektes ab.
2 Stürze und deren Bedeutung
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich die Sturzgefährdung mit zuneh-
mendem Alter erhöht. Während in der Altersgruppe der 20-45 Jährigen nur ca.
18% stürzen, stürzen ca. 35% der über 65 Jährigen (Talbot et al., 2005, S.2). In
der Entwicklungspsychologie wird das Erwachsenenleben üblicherweise in frü-
hes, mittleres und spätes Erwachsenenalter eingeteilt (Faltermaier et al., 2002,
S.13). Während demnach das späte Erwachsenenalter mit über 60 Jahren be-
ginnt, weisen Lord et al. (2007) darauf hin, dass in den überwiegenden Arbeiten
der Sturzforschung Menschen ab 65 Jahren als ,,ältere Menschen" gelten (Lord et
al., 2007, S.5). Im Alter steigt nicht nur das Sturzrisiko, sondern auch das Risiko
Verletzungsfolgen davon zu erhalten (Hartmann, 2008, S.4). Die Folgen von
5
Stürzen älterer Menschen bestimmen maßgeblich deren Lebenserwartung,
Gesundheitserwartung und Lebensqualität.
2.1 Definition eines Sturzes
Derzeit ist ein Sturz in der Literatur nicht einheitlich definiert. Die Vielzahl an vor-
herrschenden Definitionen erschwert nicht nur die Vergleichbarkeit wissenschaft-
licher Studien, sondern führt auch zu Problemen in der statistischen Erfassung
von Stürzen und der Dokumentation des Sturzgeschehens. Die Analyse von ein-
schlägigen Definitionen zeigt vor allem eine Uneinigkeit in den Umständen, die zu
einem Sturz führen. Folgend werden die gängigsten Definitionen vorgestellt und
ihre Unterschiede und Schwächen erläutert.
Gibson et al. (1987) definieren einen Sturz als ,,Unintentionally coming to the
ground or some lower level and other than as a consequence of sustaining a vio-
lent blow, loss of consciousness, sudden onset of paralysis as in stroke or an epi-
leptic seizure." (Gibson, 1987, S.4) Diese Definition wurde von Tinetti et al.
(1997) überarbeitet, blieb vom Sinn jedoch gleich: "A fall is a sudden, uninten-
tional change in position causing an individual to land at a lower level, on an ob-
ject, the floor, or the ground, other than as a consequence of a sudden onset of
paralysis, epileptic seizure, or overwhelming external force" (VGHI, 2011, zitiert
nach: Tinetti, 1997).
Auch im nationalen Expertenstandard ,,Sturzprophylaxe in der Pflege" des Deut-
schen Netzwerkes für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP, 2006) ist der
erste Teil dieser Definition wiederzufinden: ,,Ein Sturz ist jedes Ereignis, in des-
sen Folge eine Person unbeabsichtigt auf dem Boden oder auf einer tieferen
Ebene zu liegen kommt." (DNQP, 2006, S.23) Auf den zweiten Teil der Gibson-
Definition wird hier jedoch verzichtet. Das ProFaNe- Netzwerk (Prevention of
Falls Network Europe), eine europäische Organisation zur Sturzprävention älterer
Menschen, hat bereits versucht eine einheitliche Definition eines Sturzes festzu-
legen. Die Mitglieder dieses Forschungsnetzwerkes verstehen unter einem Sturz
,,an unexpected event in which the participants come to rest on the ground, floor,
or lower level." (Lamb et al, 2005, S.1619)
Während Gibson et al. und Tinetti et al. einen Sturz, der aufgrund eines bestimm-
ten Ereignisses, wie z.B. Schlaganfall geschieht, als definitionsgemäßen Sturz
ausschließen, bleibt dieser Einfluss in der ProFane- Definition unklar.
Die World Health Organization (WHO) (WHO, 2007) definiert einen Sturz als: "In-
advertently coming to rest on the ground, floor or other lower level, excluding in-
6
tentional change in positions to rest in furniture, wall or other objects" (WHO,
2007, S.1).
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
berücksichtigt als einzige von den aufgeführten Definitionen ein Stolpern und
Beinahesturz. In ihrer Leitlinie ,,Ältere Sturzpatienten" (Zeitler & Gulich, 2004)
liegt folgende Ansicht eines Sturzes zugrunde: ,,ein unfreiwilliges, plötzliches, un-
kontrolliertes Herunterfallen oder -gleiten des Körpers auf eine tiefere Ebene aus
dem Stehen, Sitzen oder Liegen. Als Sturz bzw. Beinahe-Sturz ist auch zu ver-
stehen, wenn ein solches Ereignis nur durch ungewöhnliche Umstände, die nicht
im Patienten selbst begründet sind, verhindert wird, z.B. durch das Auffangen
durch eine andere Person" (Zeitler & Gulich, 2004, S.7).
Ein gemeinsames Merkmal aller aufgeführten Definitionen liegt in der nicht be-
wussten Herbeiführung des Sturzes. Als Ergebnis wird in allen Definitionen das
zum Liegen kommen auf dem Boden oder einer tiefen Ebene genannt. Der Her-
gang des Sturzes, die Umstände und der Einfluss von Faktoren sind jedoch ver-
schieden. Hierzu untersuchten Hauer et al. (2006) 90 Studien zum Thema Sturz-
prävention und überprüften diese hinsichtlich der zugrundeliegenden Definition.
Etwa die Hälfte legte im Vorhinein gar keine Definition fest, die am häufigsten zi-
tierte Definition war die weiter oben aufgeführte von Gibson et al. (1987) und der
FICSIT (The Frailty and Injuries: Cooperative Studies of Intervention
Techniques)
1
oder Definitionen, die an diese angelehnt wurden (Hauer et al.,
2006, S.6). Die Tragweite der Problematik dieser verschiedenen Definitionen
zeigt eine Übersichtsarbeit der Atlanta FICSIT Group. In ihrer Studie zu Tai-Chi
Intervention als Sturzprophylaxe wurden je nach Anwendung einer anderen Defi-
nition erheblich unterschiedliche Signifikanzen zur Wirksamkeit festgestellt (Ma-
sud & Morris, 2001, S.3). Hauer et al. fordern deswegen eine einheitliche Defini-
tion für Forschungszwecke (Hauer et al., 2006, S.7).
In diesem Zusammenhang weisen auch Zecevic et al. (2006) auf die methodi-
sche Problematik im Zusammenhang mit der Sturzforschung hin (Zecevic et al.,
2006, S.367). Ein typisches Forschungsdesign in der Erfassung von Stürzen und
Sturzursachen ist die Fall- Kontroll- Studie (Gestürzte vs. nicht Gestürzte). Be-
fragt man Senioren in diesem Forschungsdesign nach einem erfolgten Sturz,
werden diese aufgrund unterschiedlicher Auffassungen diese Frage verschieden
1
"unintentionally coming to rest on the ground, floor or other level." (Masud & Morris,
2001, S.3, zitiert nach: Ory et al., 1993)
7
beantworten. Ebenso sieht es mit der Definition von sturzbedingten Verletzungen
aus (Schwenk, 2012, S.3).
Eine kleine Abwandlung in Definitionen kann also die Studienergebnisse erheb-
lich beeinflussen und verändern. Die Problematik liegt nicht nur in den unter-
schiedlichen Ergebnissen und Studienschwerpunkten, sondern auch darin, wie
und wann ein Sturz erfasst wird. Die Definition des Expertenstandards ist sehr of-
fen gehalten; aufgrund der Verbindlichkeit in Deutschland wird diese Definition
den Ausführungen dieser Arbeit zugrunde gelegt werden.
2.2 Prävalenz von Stürzen
Die Prävalenz gibt die (relative) Krankheitshäufigkeit zu einem bestimmten Zeit-
punkt oder in einer bestimmten Zeitperiode an (Urban & Fischer, 2003). Die in
der Literatur gefundene Sturzhäufigkeit im ambulanten Sektor variiert erheblich.
Jedoch lässt sich feststellen, dass mehr als ein Drittel der 65-jährigen und älteren
einmal pro Jahr stürzt und jeder zweite der über 80-jährigen zu Hause lebenden
(Stamm, 2006, S.514). Eine niederländische Studie mit 1469 selbstständig Le-
benden in der Altersgruppe 65 Jahre und älter, zeigt, dass 32% der Teilnehmer in
einem Jahr mindestens einmal gestürzt sind; 15% fielen zweimal oder öfter
(Tromp et al., 1998, S.1932).
Eine repräsentative Haushaltsbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin (BAuA, 2002) stellt fest, dass rund 734.000 Unfälle in Heim und
Freizeit, die einen Arztbesuch erforderten auf die Altersgruppe 65 Jahre und älter
zutrafen. Dabei waren zu rund 2/3 Frauen betroffen (weiblich 68,6%, männlich
31,4%). Als Tätigkeit wurde mit 54,7% das Fortbewegen in der Ebene genannt
bzw. unter dem Punkt Unfallart gaben 44,8% einen Sturz auf gleicher Ebene an
(BAuA, 2002).
Stürze sind somit die häufigsten Unfallursachen älterer Menschen. Die meisten
Stürze geschehen tagsüber (Zeit der meisten Aktivität) (Klett, 2011) und in der
eigenen häuslichen Umgebung (Nikolaus, 2008, S.114). Das bestätigen auch
Berg et. al. (1997), die Umstände und Konsequenzen von Stürzen zu Hause le-
bender selbstständiger Senioren untersucht haben. Sie stellten fest, dass 82%
der Teilnehmer tagsüber gestürzt sind, vor allem am Nachmittag, gefolgt von
morgens und abends. Nachts waren es nur ca. 4% (Berg et al., 1997, S.236).
Zunächst kann ein Sturz jedem Menschen, in jeder Altersklasse und ohne be-
stimmte Einflussfaktoren und Risikofaktoren passieren. Bei Kindern wird dem
Sturz nur eine geringe Bedeutung und Aufmerksamkeit zugeschrieben. Sind sie
8
doch auch in der Lage ein Stolpern und Ausrutschen zu kompensieren und sollte
es tatsächlich zu einem Sturz kommen, besitzen sie die Fähigkeit sich abzurollen
und wieder aufzustehen, ohne weitere Folgen oder dass dem eine Bedeutung
zugemessen wird. Oft stellt ein Sturz von älteren Menschen den ersten Indikator
eines akuten Problems oder einer fortgeschrittenen chronischen Erkrankung dar
(Steidl & Nigg, 2008, S.71). Deswegen muss Stürzen bei älteren Menschen er-
höhte Aufmerksamkeit beigemessen werden und deren Ursachen untersucht
werden.
2.3 Sturzgeschehen
In einem Modellprojekt haben Zeller et al. (2009) Wechselwirkungen und Prozes-
se, die zu einem Sturz führen, untersucht und die Sturzdynamik beschrieben.
Demnach gehören grundsätzlich zwei Voraussetzungen zu einem Sturz: Zum ei-
nen kommt es zum Sturz, wenn der Mensch sich bewegt oder es versucht, zum
zweiten übersteigen die Anforderungen der räumlichen Situation in diesem Mo-
ment die Fähigkeiten desjenigen. Folglich kommt es zu einem Sturz immer dann,
wenn die Anforderungen an die Gehfähigkeit das individuelle Vermögen über-
steigen (Zeller et al., 2009, S.17). So liegt den Stürzen von Kindern häufig eine,
der Situation nicht ausreichendend entwickelte Fortbewegungsfähigkeit zugrun-
de, den älteren Erwachsenen eine Funktionseinschränkung in Verbindung ver-
schiedener anderer altersbedingten Merkmale (Pierobon & Funk, 2007, S.5).
Aufgrund des physiologischen altersbedingten Rückgangs der körperlichen Leis-
tungsfähigkeit und einer tendenziellen Zunahme von Krankheiten stürzen ältere
Menschen häufiger. Rubenstein (2006) führt dies darauf zurück, dass das Sturz-
geschehen bei Älteren aus einer Kombination verschiedener physiologischer
Faktoren erfolgt. Beispielsweise treten häufig verschiedene Erkrankungen und
physiologische Veränderungen auf, die eine sturzbedingte Verletzung fördern
(z.B. Osteoporose und langsame Reaktion) und einen eigentlich milden Sturz
oder ein Stolpern gefährlich machen (Rubenstein, 2006, S.37-38). Zudem fehlt
älteren Menschen oft das entsprechende Reaktionsvermögen, die Kraft und Kör-
perbeherrschung.
2.4 Folgen eines Sturzes
Die Konsequenzen eines Sturzes sind vielseitig, stehen miteinander in Bezie-
hung und lassen sich auf verschiedenen Dimensionen beschreiben:
x Psychosoziale
Folgen
9
x Medizinisch-pflegerische
Folgen
x Volkswirtschaftliche/
gesellschaftliche
Folgen
Für den Einzelnen ist jeder Sturz ein einschneidendes Ereignis. In der psychoso-
zialen Dimension der Sturzfolgen ist das individuelle Erleben des Sturzes zu be-
trachten. Die Angst vor einem erneuten Sturz beeinflusst wesentlich die Lebens-
qualität und kann selbst wiederum einen weiteren Sturz begünstigen. Der Ge-
stürzte nimmt am gesellschaftlichen und sozialen Leben nicht mehr teil und be-
grenzt seine alltäglichen Aktivitäten (Tromp et al., 1998, S. 1932). Die Ausmaße
sind unterschiedlich. Einige gehen nicht mehr aus dem Haus, da sie sich dort si-
cher fühlen, andere erleiden ein sog. Post- Sturz-Syndrom, das durch Panik, Zö-
gern und stockende Erholung nach einem Sturz charakterisiert wird und das
Gangbild erheblich einschränkt (Downtown, 1995, S.32). Nahezu jeder fünfte
Sturz von Älteren führt zu einem Post-Sturz-Syndrom (Morisod et al., 2007,
S.2531)
Aus der medizinisch-pflegerischen Sicht sind die Verletzungen nach einem Sturz
zu betrachten. Diese reichen von leichten Verletzungen wie Hämatome, Platz-
und Schürfwunden (Schäfer, 2008, S.153), bis hin zu ernsten Verletzungen wie
Frakturen, Schädelverletzungen oder ernste Weichteilverletzungen (Tinetti, 2003,
S.42). Die meisten schweren Verletzungen bei älteren Menschen, die eine ärztli-
che Versorgung erfordern, sind zu 60% die Folge eines Sturzes (Downtown,
1995, S.29). Zu Hause lebende ältere Menschen stürzen epidemiologischen
Studien zufolge zwar seltener und haben weniger ernsthafte Verletzungen, je-
doch führen ca. 5% der Stürze zu einer Fraktur oder erfordern einen Kranken-
hausaufenthalt (Rubenstein, 2006, S.37). Vor allem die Hüftfraktur bedarf in der
Regel eines langen Krankenhausaufenthalts und oft eine langwierige Erholungs-
phase. Nur weniger als die Hälfte erlangen nach einer Hüftfraktur ihre ursprüngli-
che Mobilität zurück und ein Drittel verbleibt sogar bettlägerig oder auf den Roll-
stuhl angewiesen (Zeller et al., 2009, S.15). Demzufolge haben die Folgen von
Stürzen auch einen hohen Einfluss auf die Pflegebedürftigkeit älterer Menschen.
Entweder ergibt sich diese aus den unmittelbaren Verletzungen des Sturzes oder
indirekt aus den Folgen und Komplikationen nach einem Sturz. Um die 20% wer-
den ständig pflegebedürftig (Icks et al., 2005, S.2150).
Beide aufgeführten Gruppen der Sturzfolgen können also aufgrund ihrer Verlet-
zungsfolgen oder Verhaltensänderung und psychischen Auswirkungen zu Immo-
bilität und Pflegebedürftigkeit führen. Dadurch führen Stürze und sturzbedingte
Verletzungen zu einem erhöhten Aufwand in Versorgung und Kosten im
10
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783955499020
- ISBN (Paperback)
- 9783955494025
- Dateigröße
- 2 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Evangelische Hochschule Berlin
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1
- Schlagworte
- Agnes App Sturzrisikofaktor ambulante Versorgung Ärztemangel