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Primäre Prävention in der Grundschule zum Thema ‚sexueller Missbrauch‘: Praktische Implikationen des momentanen Wissensstandes

©2011 Bachelorarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

Wer im Rahmen eines Praktikums in einer Psychiatrie eine Vielzahl von Patienten
kennenlernt, die Jahre oder gar Jahrzehnte nach einem sexuellen Missbrauch unter dessen Folgen leiden, stellt sich fast unweigerlich die Frage, wie man Verbrechen dieser Art verhindern kann. Die vorliegende Arbeit liefert einen Lösungsansatz für diese Problematik.
Der Autor verdeutlicht, wie Programme der primären Prävention sexuellen Kindesmissbrauches, die im institutionellen Kontext der Grundschule durchgeführt werden, aufgebaut sein sollten, damit diese erfolgversprechend sind. Dies geschieht vorwiegend auf Grundlage des momentanen Forschungsstandes in diesem Bereich.
Nach einer Bestimmung der Fachtermini erfolgen die Darstellung essenzieller Informationen sowie eine Untersuchung der generellen Wichtigkeit von Programmen der primären Prävention sexuellen Missbrauchs. Auf diesem Erkenntnisstand aufbauend werden ausführlich Kenntnisse und Fähigkeiten herausgearbeitet, welche im Rahmen der primären Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs in ihrer Entwicklung gefördert werden sollten, damit Programme der besagten Art erfolgversprechend sind. Abschließend werden eine Auswahl von didaktischen Methoden erschlossen, die für die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten im Kontext der Arbeit mit potenziellen Opfern, deren Eltern sowie Lehrkräften sinnvoll erscheinen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Auswahl von möglichen Initial- sowie Langzeitfolgen sexuellen Missbrauchs auf
sozialer, psychischer sowie psychosomatischer Ebene erläutert. Aufgrund des limi-
tierten Umfanges dieser Arbeit beschränkt sich diese Selektion lediglich auf Folgen,
die typischerweise bei sexuellem Missbrauch im Grundschulalter auftreten.
Anschließend soll die Frage beantwortet werden, ob Programme der primären Prä-
vention sexuellen Kindesmissbrauchs wichtig sind. Dazu werden aktuelle Daten der
Prävalenz im Hellfeld sowie der Inzidenz im Dunkelfeld dargestellt. Zuvor erfolgt
aber eine kritische Auseinandersetzung mit der Datengrundlage des Hellfeldes, der
polizeilichen Kriminalstatistik.
Weiterführend ist im Sinne dieser Abschlussarbeit die Klärung der Frage essenziell,
ob Programme der primären Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs speziell in der
Grundschule wichtig sind. Die argumentative Beantwortung erfolgt auf Grundlage
aktueller statistischer Daten des Hell- sowie Dunkelfeldes, die sich mit dem Alter
beim Erstmissbrauch befassen.
Anschließend wird diskutiert, ob sich Programme der primären Prävention sexuellen
Kindesmissbrauchs in der Grundschule
3
auf bestimmte Risikogruppen fokussieren
oder einen universellen Charakter hinsichtlich ihrer Adressaten haben sollten. Dazu
erfolgt eine argumentative Auseinandersetzung mit aktuellen statistischen Daten be-
züglich der bedeutendsten Risikofaktoren, die sexuellen Kindesmissbrauch be-
günstigen.
Anschließend rücken die Möglichkeiten der inhaltlich-konzeptionellen Ausrichtung
eines Präventionsprogrammes in den Fokus der Betrachtung. Dabei wird umfassend
abgewogen, ob es sinnvoll ist, Wissen und Fähigkeiten mit dem Ziel zu vermitteln,
Grundschülern die Identifikation von potenziellen Tätern zu erleichtern. Demgegen-
über stehen Kenntnisse und Kompetenzen, damit potenzielle Opfer entsprechende
Gefahrensituationen erkennen und zu ihrem Vorteil lösen können. Um die Argu-
mentation empirisch zu untermauern, werden aktuelle Daten des Hell- und Dunkel-
feldes bezüglich Alter und Geschlecht der Täter sowie deren Bekanntheitsgrad mit
ihrem Opfer vor der Tat dargelegt. Abschließend werden die typischen Komponenten
von Täterstrategien ausführlich beschrieben, welche für die primäre Prävention sexu-
ellen Kindesmissbrauchs von Bedeutung sind.
3
Fortan wird ,Präventionsprogramm` für diesen Terminus synonym verwendet. Ausnahmen sind als
solche im Kontext des Textes deutlich erkennbar.
4

Darauf folgend wird begründet, warum die alleinige Verwendung des direkten An-
satzes der primären Prävention im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs nicht
sinnvoll ist.
Auf dem bisher gewonnen Erkenntnisstand aufbauend, werden ausführlich Kennt-
nisse und Fähigkeiten herausgearbeitet, welche im Rahmen der primären Prävention
sexuellen Kindesmissbrauchs in ihrer Entwicklung gefördert werden sollten, damit
Programme der besagten Art erfolgversprechend sind.
Abschließend werden eine Auswahl von didaktischen Methoden erschlossen, die für
die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten im Kontext der Arbeit mit poten-
ziellen Opfern, deren Eltern sowie Lehrkräften sinnvoll erscheinen.
2
Definitionsversuche des Terminus ,sexueller
Kindesmissbrauch`
Um zu definieren, was unter sexuellem Missbrauch von Kindern zu verstehen ist,
wird ein Begriff benötigt, welcher Delikte dieser Art umfassend und angemessen
verbalisiert. Dieser ist allerdings nicht vorhanden. Stattdessen werden i.d.R. zahlrei-
che Bezeichnungen synonym verwendet, obwohl diese lediglich Teilaspekte des ge-
nannten Problembereiches widerspiegeln. Zu diesen gehören u.a. ,,sexuelle Gewalt,
sexuelle Ausbeutung, sexuelle Misshandlung, Inzest, Seelenmord oder sexueller
Übergriff"
4
. Die im Bereich der Justiz und der öffentlichen Diskussion geläufigsten
Begriffe sind ,sexueller Missbrauch von Kindern` sowie ,sexueller Kindesmiss-
brauch`. Daher werden diese auch in der vorliegenden Abschlussarbeit verwendet.
5
Diese Termini sind allerdings in verschiedener Hinsicht problematisch. Zum einen
implizieren sie, dass es sich bei sexuellem Missbrauch von Kindern um einen Ge-
brauch derselben handele, welcher der schädigenden Verwendung von suchterzeu-
genden Substanzen ähnlich ist. Dadurch werden die Opfer sexuellen Missbrauchs
implizit zu Objekten deklassiert. Zum anderen besteht die Interpretationsmöglichkeit,
dass es auch legitime sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern geben
könne. Daher findet an dieser Stelle eine ausdrückliche Distanzierung von den ge-
nannten Möglichkeiten der Interpretation statt.
4
Hirsch 1999, S. 12.
5
vgl.
ebenda.
5

Zu den bereits genannten Begriffen wird außerdem der Terminus ,sexuelle Grenz-
überschreitung` in der vorliegenden Arbeit Verwendung finden. Die Auswahl ist da-
mit zu begründen, dass dieser Begriff dem Umstand Rechnung trägt, dass sexueller
Missbrauch stets eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Opfers darstellt.
6
Die problematische Begriffsfindung ist ein Grund dafür, dass bis heute keine Einig-
keit bezüglich der Definition sexuellen Missbrauchs von Kindern besteht. Ein weite-
rer ist in den jeweils ,,verschiedenen theoretischen, wissenschaftlichen, ethischen und
weltanschaulichen"
7
Standpunkten der Autoren zu sehen, die sich mit sexuellem
Kindesmissbrauch befassen. Daher ist ein Kanon von Definitionsversuchen in die-
sem Bereich vorhanden.
Trotz dieses Umstandes beruhen alle Definitionen zum Thema ,sexueller Missbrauch
von Kindern` auf dem gesellschaftlichen Konsens, dass einvernehmliche sexuelle
Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen grundsätzlich nicht möglich sind.
8
2.1
Definitionsversuch von ,sexueller Kindesmissbrauch` durch
die Kinder- und Jugendhilfe
In der Kinder- und Jugendhilfe wird bei sexuellem Kindesmissbrauch zwischen der
engen und weiten Definition unterschieden. Unter der Erstgenannten werden jene
Handlungen erfasst, die aufgrund des Körperkontaktes eindeutig als sexueller Miss-
brauch von Kindern gewertet werden müssen. Hierunter zählt z.B. die vaginale oder
anale Penetration. Allerdings werden dadurch nicht jene Handlungen definitorisch
umschlossen, die ebenso auf die sexuelle Befriedigung der ausführenden Personen
ausgerichtet sind, aber ohne Körperkontakt einhergehen.
9
Diese werden durch die weite Definition erfasst. Diese Ausdehnung ist notwendig,
weil die Formen sexueller Übergriffe ohne Körperkontakt, z.B. Exhibitionismus,
ebenso potenziell schädlich für die ganzheitliche Entwicklung eines Kindes sind, wie
jene, die mit direktem Körperkontakt einhergehen. In dessen Resultat deckt die weite
Definition ein größeres Handlungsspektrum ab. Allerdings wird dadurch die Grenze
zu sexuell nicht grenzüberschreitenden Handlungen diffus.
6
vgl. Bange 2004, S. 30.
7
Amann/ Wipplinger 1997, S. 32.
8
vertiefende Informationen: vgl. Bange/ Deegener 1996, S. 96f.
9
vgl. Bange 2004, S. 30f.
6

Daher müssen bei der Verwendung dieser Definition sexuellen Missbrauchs von
Kindern Hilfskriterien verwendet werden, um Grenzfälle eindeutiger zuordnen zu
können. Ein wichtiges stellt in diesem Kontext z.B. der Altersunterschied zwischen
Täter und Opfer dar. So ist, je nach Auslegung, ab einer Altersdifferenz von zwei
oder fünf Jahren zwischen einem Kind und einem Jugendlichen bzw. Erwachsenen
von einem sexuellen Kindesmissbrauch zu sprechen. Allerdings werden dadurch
nicht jene sexuellen Grenzüberschreitungen erfasst, die unter Gleichaltrigen stattfin-
den. In diesen Fällen wird zumeist das Machtgefälle zwischen den involvierten Per-
sonen betrachtet. Das spielt vorwiegend dann eine Rolle, wenn körperliche oder geis-
tige Behinderungen auf Seiten des Opfers vorliegen. Überdies ist z.B. noch der Ein-
satz von physischer sowie psychischer Gewalt zum Zwecke der Erzwingung eines
sexuellen Kontaktes für eine eindeutige Bewertung eines verdächtigen Vorganges
entscheidend.
10
Da die weite Definition der Kinder- und Jugendhilfe ein umfangreiches Spektrum
sexuell motivierter Handlungen im genannten Kontext abdeckt, wird jene die defini-
torische Grundlage für alle Kapitel mit Ausnahme der Hellfeldbetrachtung der Ka-
pitel ,Täter` und ,Opfer` sein.
2.2
Definitionsversuch von ,sexueller Kindesmissbrauch` durch
das StGB
Neben den bereits erläuterten Definitionen gibt es u.a. eine Reihe von normativen
Begriffsbestimmungen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Diese sind charakteri-
siert durch ,,von vornherein vorgenommenen abstrakten Bewertungen von Handlun-
gen"
11
.
In diesem Kontext sind jene der deutschen Rechtsprechung gemäß des Strafgesetz-
buches (StGB) für diese Abschlussarbeit entscheidend. Zu dieser gehören die §§ 174,
176, 176a, 176b sowie 183 StGB. Mit den benannten Paragraphen wird das Ziel ver-
folgt, das Rechtsgut der ungestörten sexuellen Entwicklung von Kindern zu schüt-
zen.
12
10
vgl. Koch/ Kruck 2000, S. 4 f.
11
Glombik 2007, S. 9.
12
vgl. Unterstaller, 2006a, S. 1f.
7

Es wird stets als ein ,,sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen"
13
gewertet, wenn
ein Volljähriger sexuelle Kontakte mit einer Person unterhält, die das 16. Lebensjahr
noch nicht vollendet hat und zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung im Bereich
der Lebensführung anvertraut ist. Überdies ist es strafbar, wenn im institutionellen
Kontext eine volljährige mit einer minderjährigen Person sexuell verkehrt, wenn die-
se z.B. im Rahmen eines Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisses sozial abhängig ist.
Auch ist jeder sexuelle Kontakt zwischen Eltern und minderjährigen leiblichen oder
angenommen Kindern untersagt.
Jede sexuelle Handlung mit einer Person, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet
hat, gilt laut dem StGB für Volljährige als ,,sexueller Missbrauch von Kindern"
14
und
ist somit strafbar. Dies gilt ebenso, wenn das Kind gezwungen wird, Handlungen
dieser Art an einem Dritten durchzuführen bzw. diesem gewährt wird, sexuelle
Handlungen an einem Mitglied der genannten Personengruppe zu tätigen. Außerdem
ist es mit Strafe verbunden, ein Kind mit pornografischem Material zu konfrontieren
und es auf diesem oder verbalem Wege animieren zu wollen, sexuelle Handlungen
an der eigenen oder einer dritten Person durchzuführen.
Es gilt als ,,schwerer sexueller Missbrauch von Kindern"
15
, wenn sexuelle Praktiken
mit einer Person, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, durchgeführt wer-
den, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind. Dies ist bei z.B. analer
oder vaginaler Penetration der Fall. Die selbe juristische Kategorisierung findet statt,
wenn der sexuelle Missbrauch gemeinschaftlich begangen wird. Gleiches gilt, wenn
das Opfer erhebliche physische sowie psychische Schäden als Folge des Missbrauchs
davongetragen hat, aber auch wenn diese billigend durch den Täter in Kauf genom-
men worden sind. Auch werden unter diesem Tatbestand sexuelle Missbräuche zur
Produktion kinderpornografischen Materials gezählt.
Ist das Resultat eines Verbrechens dieser Art der Tod des Opfers, so wird vom ,,se-
xuellen Missbrauch von Kindern mit Todesfolge"
16
gesprochen.
Exhibitionistische Handlungen, z.B. entblößen der Geschlechtsteile vor Kindern zum
Zwecke der Lustbefriedigung, sind ebenfalls unter Strafe gestellt.
17
13
§ 174 StGB.
14
§ 176 StGB.
15
§ 176a StGB.
16
§
176b
StGB.
17
vgl. § 183 StGB.
8

Die Paragraphen des StGB von sexuellem Missbrauch von Kindern stellt die defini-
torische Grundlage bei der Betrachtung des Hellfeldes im Kapitel ,Opfer` und ,Täter`
dar, da die dort verwendete Statistik ebenfalls auf dieser Definition beruht. Dabei
muss aber bedacht werden, dass §174 StGB in diesem Kontext als nur bedingt geeig-
net für diese Abschlussarbeit anzusehen ist. Bei diesem ist das soziale Abhängig-
keitsverhältnis zwischen Täter und Opfer vor der Tat entscheidender als das Alter. In
dessen Folge umschließt dieser Paragraph Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern
und Jugendlichen zugleich.
3
Überblick über ,primäre Prävention sexuellen
Kindesmissbrauchs`
Der Begriff ,Prävention` leitet sich vom lateinischen ,praevenire` ab, welcher über-
setzt ,zuvorkommen` bedeutet. Hierunter werden im Allgemeinen ,,Bemühungen mit
dem Ziel [verstanden], belastende Lebensereignisse oder Krankheitsprozesse bzw.
dysfunktionale Formen menschlichen Erlebens und Verhaltens zu verhindern oder in
ihren Auswirkungen abzumildern"
18
.
Um dieses Ziel zu erreichen, leistet die Präventionswissenschaft die theoretische
Grundlagenarbeit. Es ist legitim, diese als hochgradig interdisziplinär zu bezeichnen.
Dies ist mit der Tatsache zu begründen, dass sie im Schnittfeld zahlreicher wissen-
schaftlicher Disziplinen liegt, z.B. der Kriminologie, auch bekannt als ,,Lehre des
Verbrechens"
19
, Medizin, Psychologie sowie Erziehungswissenschaft.
20
Durch die gewonnenen Forschungsergebnisse in diesem Bereich ist es möglich, Prä-
ventionsprogramme in verschiedenen Problemfeldern, z.B. sexueller Missbrauch von
Kindern, zu konzipieren, zu evaluieren und auf dessen Grundlage weiterzuentwi-
ckeln. Erkenntnisse aus diesem Fachgebiet stellen die wesentliche Informations-
grundlage für die vorliegende Abschlussarbeitsarbeit dar.
Mit primärer Prävention wird im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs das Ziel
verfolgt, gesellschaftliche Gegebenheiten oder Verhaltensweisen, welche Delikte
dieser Art begünstigen, flächendeckend offenzulegen und zu verändern. In dessen
Folge soll sexueller Missbrauch hinsichtlich seines erstmaligen Geschehens bei ei-
18
Kindler/ Schmidt-Ndasi 2011, S. 7.
19
Eisenberg 1990, S. 10.
20
vgl. Barrat 2010, S. 27.
9

nem Kind verhindert werden. Dies findet vorwiegend im institutionellen Rahmen
von Kindergärten, Vor- sowie Grundschulen statt. Die Aufklärungsarbeit wird i.d.R.
von schulexternen Fachkräften von entsprechenden Beratungsstellen oder der ortsan-
sässigen Kriminalpolizei geleistet.
21
Primäre Prävention kann auf dem Prinzip des empowerments erfolgen. Hierunter
wird die Förderung der ,,Selbstbefähigung, Selbstermächtigung, Selbstbemächtigung
oder auch (...) Gewinnung oder Wiedergewinnung von Stärke, Energie und Fantasie
zur Gestaltung eigener Lebensverhältnisse."
22
verstanden
.
Dies bedeutet im Kontext von Programmen der primären Prävention sexuellen Kin-
desmissbrauchs in Grundschulen, dass sie darauf hinauslaufen, die persönlichen Res-
sourcen der Adressaten, z.B. in Form von bereits vorhandenen Kenntnissen sowie
Fähigkeiten, in ihrer Entwicklung zu fördern. In dessen Konsequenz sollen die Ad-
ressaten zur selbständigen Ausführung von schützenden Verhaltensweisen befähigt
werden. Deswegen kann dieser Ansatz hinsichtlich seiner Anwendung im Kontext
dieser Abschlussarbeit als sinnvoll angesehen werden. Dies ist der Grund dafür, dass
das Prinzip des empowerments die methodische Grundlage jener Implikationen dar-
stellt, die sich mit den zu vermittelnden Lehrinhalten sowie Kompetenzen von Prä-
ventionsprogrammen befassen.
Im Bereich der primären Prävention wird zwischen dem direkten sowie indirekten
Ansatz unterschieden. Beim Erstgenannten rücken die potenziellen Opfer in den
Handlungsfokus. Im Bereich der primären Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs
wird gemäß des empowerment-Ansatzes das Ziel verfolgt, ihnen Wissen sowie Fer-
tigkeiten zu vermitteln, damit diese sich selbstständig vor sexuellem Missbrauch
schützen können. In dessen Ausführung ist aber kritisch zu bemerken, dass die Ad-
ressaten zumeist lediglich als potenzielle Opfer angesprochen werden. Die mögliche
Rolle als zukünftige Täter oder untätige Zeugen wird i.d.R. vernachlässigt.
Wie bereits erwähnt, gibt es überdies noch den indirekten Ansatz der primären Prä-
vention. Bei diesem wird das direkte Lebensumfeld der potenziellen Opfer, z.B. in
der Grundschule deren Eltern sowie Lehrer, in den Fokus der Aufklärung genom-
men. Dazu gehört, dass den besagten Personengruppen, gemäß des empowerment-
21
vgl. Barrat 2010, S. 27.
22
Lenz 2002, S. 13.
10

Ansatzes Wissen und Fähigkeiten gelehrt werden, durch welche sie selbstständig als
Multiplikatoren des Präventionseffektes auftreten können.
23
4
Folgen sexuellen Missbrauchs im Grundschulalter
Im Bereich der Folgeerscheinung sexuellen Missbrauchs kann generell zwischen
Initial- sowie Langzeitfolgen unterschieden werden. Erstgenannte sind jene, die bis
zu zwei Jahre nach einem sexuellen Missbrauch auftreten. Können diese Symptome
auch noch nach diesem Zeitraum diagnostiziert werden bzw. treten jene erst danach
auf, so wird von Langzeitfolgen gesprochen. Ob und in welchem Ausmaß, hinsicht-
lich Anzahl, Dauer sowie auch Intensität, die Folgeerscheinung auftreten, ist von
einer Reihe primärer sowie sekundärer Traumatisierungsfaktoren abhängig.
24
Eine überdurchschnittlich häufig auftretende Initialfolge im sozialen Bereich bei se-
xuellem Missbrauch im Grundschulalter ist ein ambivalentes Verhalten gegenüber
Erwachsenen. Dieses drückt sich durch stetige sowie rasche Wechsel zwischen ab-
lehnenden und distanzlosen Verhalten gegenüber dieser Personengruppe aus. Auch
neigen Opfer sexuellen Missbrauchs im besagten Alter dazu, speziell gegenüber kör-
perlich unterlegenen Kindern aggressive Verhaltensweisen anzuwenden. Ebenso
kann aber auch ein sozialer Rückzug erfolgen. Das auffälligste sowie eindeutigste
Symptom ist ein altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten.
25
Eine gehäuft gefundene Langzeitfolge stellt in diesem Kontext z.B. die verminderte
Fähigkeit dar, tragfähige Beziehungen aller Art aufzubauen, da die Tendenz zu stark
devotem oder dominantem Sozialverhalten gegenüber Mitmenschen besteht. Dies
kann z.B. zur Folge haben, dass die betroffene Person in soziale Isolation gerät. Zu-
meist haben Missbrauchsopfer auch Probleme im Bereich des Sexuallebens. So wird
entweder körperliche oder emotionale Nähe gänzlich gemieden oder es wird ein ge-
steigert promiskuitives, also sexuell freizügiges, Verhalten gezeigt.
26
Überdurchschnittlich häufig auftretende Initialfolgen sexuellen Missbrauchs im
Grundschulalter sind im psychischen Bereich starke Ängste, Scham sowie Schuldge-
fühle. Diese führen bereits im besagten Alter zu einem negativen Selbstbild und ge-
23
vgl. Koch/ Kruck 2000, S. 33.
24
vertiefende Informationen: vgl. Unterstaller 2006b, S. 1f.
25
vgl. Heyden/ Jarosch 2006, S. 120f.
26
vgl. ebenda.
11

ringen Selbstwert. Überdies besteht bei sexuell missbrauchten Kindern des besagten
Alterns das signifikant erhöhte Risiko einer Regression der Entwicklung auf emotio-
naler sowie kognitiver Ebene. Dieses drückt sich dadurch aus, dass Verhaltenswei-
sen, wie Bettnässen oder Daumen lutschen, erneut gezeigt werden, obwohl diese
bereits aufgrund der alterstypischen Entwicklung der Person überwunden waren.
Außerdem werden überdurchschnittlich häufig Zwangshandlungen, z.B. übermäßiges
Händewaschen, bei dieser Personengruppe festgestellt.
27
Eine mögliche Langzeitfolge in diesem Bereich stellt, aufgrund eines weiterhin be-
stehenden negativen Selbstbildes sowie Selbstwertes, Depressionen dar. Überdies
werden im verstärkten Maße autoaggressive Verhaltensweisen, z.B. Ritzen, Essstö-
rungen, Alkohol- und Drogensucht sowie Suizide bzw. Suizidversuche, festgestellt.
Eine besondere Vulnerabilität besteht außerdem im Bereich der Entstehung einer
Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Es handelt sich hierbei um ein Krankheitsbild,
welches allgemein charakterisiert ist durch ein überdurchschnittlich hohes Maß an
emotionaler Instabilität des Betroffenen.
28
Zu den charakteristischen psychosomatischen Initialfolgen sexuellen Missbrauchs im
Grundschulalter gehören Sprachstörungen, im Sinne von Kommunikations- und Re-
deflussstörungen, wie Stottern oder Mutismus. Letztgenanntes kann charakterisiert
werden durch eine dauerhafte Stummheit des Betroffenen, obwohl Sprechen orga-
nisch möglich wäre. Ein weiteres überdurchschnittlich häufig gefundenes Symptom
ist überdies eine plötzlich auftretende Legasthenie. Auch werden bei der besagten
Personengruppe im signifikant erhöhtem Maße Unterleibs-, Kopf- oder Bauch-
schmerzen ohne organische Ursache festgestellt. Die beschriebenen Symptome kön-
nen bis in das Erwachsenenalter bestand haben bzw. zu diesem Zeitpunkt erst auf-
treten.
29
Diese überblicksartige Auswahl von typischen Initial- und Langzeitfolgen macht den
potenziell einschneidend negativen Einfluss eines sexuellen Missbrauchs im Grund-
schulalter auf die Entwicklung eines Opfers in nahezu allen Lebensbereichen deut-
lich. Auch wenn die genannten Folgen nicht zwangsläufig auftreten müssen, so un-
terstreicht bereits deren mögliche Schwere die Wichtigkeit von Programmen der
primären Prävention sexuellen Missbrauchs im Generellen. Allerdings kann dies
27
vgl. Brockhaus/ Kolshorn 1997, S. 151f.
28
vertiefende Informationen vgl. Rohde-Dachser 2004, S. 240f.
29
vgl. May 1997, S. 325f.
12

nicht als Beleg der Wichtigkeit für Programme jener Art speziell in der Grundschule
angesehen werden, da die Folgen sexuellen Missbrauchs in früheren oder späteren
Lebensabschnitten, welche an dieser Stelle aufgrund des begrenzten Umfanges der
Arbeit nicht dargelegt werden können, potenziell ähnlich schwerwiegend sind.
5
Opfer
5.1
Prävalenz des Hell- sowie Inzidenz des Dunkelfeldes
Eine Möglichkeit, einen Eindruck über das quantitative Ausmaß sexuellen Miss-
brauchs von Kindern zu gewinnen, stellt die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) dar.
Jene ist allerdings teilweise kritisch zu bewerteten.
Dies ist z.B. damit zu begründen, dass in die PKS nur Vorkommnisse einfließen, die
zur Anzeige gebracht und aufgeklärt worden sind. Deswegen spiegelt diese Statistik
lediglich das Hellfeld wieder. Ebenso kann bemängelt werden, dass in der PKS keine
Angabe über die Inzidenz, also die Anzahl der Erstmissbräuche, zu finden ist. Sie
beschränkt sich lediglich auf die Prävalenz, also auf die Nennung der absoluten Häu-
figkeit von allen Missbrauchsfällen an Kindern im Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland im Zeitraum eines Jahres.
30
Doch erlaubt die zugrundeliegende kontinuierliche Datenerhebung, einen langfristi-
gen Entwicklungstrend bezüglich Täter und Opfer im Kontext sexuellen Kindes-
missbrauchs abzulesen. Überdies stellt das Datenmaterial eine der wenigen Statisti-
ken in diesem Bereich dar, die als validiert angesehen werden können.
Laut der aktuellen PKS wurden 2009 insgesamt rund 49 000 Anzeigen gestellt, die
von der Seite der Justiz als ,,Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung"
31
ge-
wertet worden sind. Davon betrafen 11 319 Fälle die §§ 176, 176a sowie 176b ge-
mäß StGB. Differenziert betrachtet, entfielen 8 852 Anzeigen auf § 176, 2 465 auf
§ 176a und die verbleibenden 2 auf § 176b StGB. Werden dazu noch jene Anzeigen
addiert, die gemäß § 183 StGB bearbeitet wurden, so steigt die Prävalenz auf 20 998.
Zusätzlich wurden noch 1 597 Anzeigen gemäß § 174 StGB gestellt.
32
30
vgl. Bosinki 2009, S. 55f.
31
vgl. PKS 2010a, S. 36.
32
vgl. PKS 2010a, S. 10.
13

Aufgrund der genannten Defizite der PKS muss auch das Dunkelfeld beleuchtet wer-
den, um ein vollständigeres Bild hinsichtlich der Quantität von sexuellem Kindes-
missbrauch zu gewinnen. Unter diesem Terminus wird im Allgemeinen ,,die Diffe-
renz zwischen dem tatsächlich begangenen und den Strafverfolgungsbehörden be-
kannt gewordenen Straftaten, bezogen auf eine bestimmte Region und einem be-
stimmten Zeitraum"
33
verstanden.
Gerade im Bereich des sexuellen Missbrauches von Kindern wird das Dunkelfeld als
überdurchschnittlich groß eingeschätzt, weil gerade Straftaten dieser Art im innerfa-
miliären Kontext überdurchschnittlich häufig nicht zur Anzeige gebracht werden.
Überdies scheuen zahlreich männliche Missbrauchsopfer, Vorfälle dieser Art publik
zu machen, da sie z.B. fürchten, als homosexuell zu gelten.
34
Deswegen wurde 1997 eine retrospektive Umfrage mit einer repräsentativen Stich-
probe durchgeführt, die in ihren methodischen Einzelheiten an dieser Stelle aufgrund
der limitierten Seitenzahl dieser Abschlussarbeit nicht weiter erläutert werden soll.
Sie verfolgte u.a. das Ziel, die Inzidenz des Dunkelfeldes zu beleuchten. In dieser
wurde geschätzt, dass bei einer Geburtenzahl von 700 000 Kindern von einer Inzi-
denz zwischen 70 000 bis 100 000 Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs, bei Verwen-
dung der weiten Definition, pro Jahr ausgegangen werden muss.
35
Zu Beginn dieser Implikation muss kritisch angemerkt werden, dass die vorgestellten
Daten nur bedingt miteinander vergleichbar sind, weil jene des Hellfeldes die Präva-
lenz widerspiegeln und die des Dunkelfeldes die Inzidenz. Auch beruhen die darge-
stellten Erhebungen auf unterschiedlichen definitorischen Grundlagen, die nicht in
vollem Maße deckungsgleich sind. Doch bereits das dargestellte quantitative Aus-
maß der Prävalenz sowie Inzidenz belegen die Wichtigkeit von Programmen der
primären Prävention gegen sexuellen Kindesmissbrauch. Allerdings können die vor-
gestellten Werte nicht als expliziter Beleg für die Wichtigkeit von Programmen der
besagten Art in der Grundschule angesehen werden, da aus diesen nicht eindeutig
ersichtlich wird, in welchem Lebensalter der erste sexuelle Missbrauch durchschnitt-
lich stattfindet.
33
Altmann 1995, S. 112.
34
vgl. Unterstaller 2006b, S. 3.
35
vgl. Bosinki 2000, S. 57.
14

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955499310
ISBN (Paperback)
9783955494315
Dateigröße
689 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Kindesmissbrauch Opfer sexuell grenzüberschreitendes Verhalten präventionsfördernde Erziehung Vergewaltigung
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