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Das Problem des kulturellen Vergessens: Das Beispiel der Bücherverbrennung des 10. Mai 1933

©2012 Bachelorarbeit 43 Seiten

Zusammenfassung

Wie entsteht ein kulturelles Gedächtnis? Wer bestimmt, was in dieses aufgenommen wird? Und kann das Gedächtnis manipuliert werden? Schon Aristoteles und Platon haben sich mit den Phänomenen Erinnern und Vergessen auseinandergesetzt und auch heute noch sind Menschen von diesen fasziniert.
Immer wieder hat es in der Geschichte bewusste Akte der symbolischen Löschung gegeben. So brennen beispielsweise am 10. Mai 1933 in ganz Deutschland Bücher. Studentische Nationalsozialisten wollen unzählige Schriften - u.a die von Karl Marx, Walter Benjamin und Sigmund Freud - aus dem kulturellen Gedächtnis tilgen. Doch ihre Aktion ist nicht erfolgreich, die Löschung der kulturellen Erinnerung ist nicht restlos und die Autoren sind auch heute noch Teil der kulturellen Identität, nehmen in dieser sogar eine Sonderstellung ein. Die verbrannten Autoren machen deutlich, dass ein Eingriff in die kulturelle Erinnerung immer seine Spuren hinterlässt und somit auch eine Löschung niemals vollständig sein kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.1 Entstehung Kulturellen Gedächtnisses oder das Problem des Vergessens

Das Ehepaar Jan und Aleida Assmann gehört in Deutschland zu den führenden Kulturwissenschaftlern. Beide knüpfen mit ihren Theorien zur Entstehung des kulturellen Gedächtnisses an die Erkenntnisse von Maurice Halbwachs an. Demnach ist das kulturelle Gedächtnis eine Form des Kollektiven und entsteht immer dort, wo eine Gemeinschaft Mittel und Wege sucht, um Erinnerungen und Erfahrungen langfristig zu bewahren.[1]

Anders als Begriffe wie Tradition oder Überlieferung bezeichnet das kulturelle Gedächtnis zwei verschiedene Formen des Gedächtnisses, das Erinnern und das Vergessen. Das kulturelle Gedächtnis ist nicht nur durch das, was erinnert wird, sondern auch durch das was nicht erinnert wird, geprägt. Das nicht erinnern von Ereignissen kann sowohl aktiv als auch passiv von statten gehen. Beim aktiven Vergessen werden bestimmte Informationen bewusst aussortiert, beispielsweise durch Zensur. Das passive Vergessen, ist wie beim einzelnen Individuum auch, ein unbewusster Vorgang und kann eher als Verlegen, denn als Vergessen bezeichnet werden. Dabei ist davon auszugehen, dass verlorene kulturelle Erinnerungen, ebenso analog zum einzelnen Individuum, durch bestimmte Schlüsselreize oder Zufälle „wiedergefunden“ werden können.[2]

Im Wesentlichen funktioniert kollektive Erinnerung - und mit ihr das kulturelle Gedächtnis - ähnlich wie individuelle. Der einzelne Mensch sammelt im Laufe seines Lebens immer mehr Erinnerungen, Erfahrungen und Eindrücke, welche im Gedächtnis gespeichert werden. Dieses Gedächtnis wird auch das Speichergedächtnis genannt. Es bewahrt Erinnerungen auf, welche momentan nicht gebraucht werden, hält sie aber für eine eventuelle Abrufung zu einem späteren Zeitpunkt bereit.[3] Deutlich wird dies in der Psychoanalyse. Diese geht davon aus, dass durch die Therapie verborgene und verdrängte Erinnerungen wieder hervorgerufen und dann neu konfiguriert werden können. Auf die Reaktivierung von Erinnerung wird noch genauer in Kapitel 3 eingegangen.

Daraus lässt sich folgern, dass sich das bewusste Gedächtnis verändern lässt, sobald neue Elemente aus dem Hintergrund auftauchen. Aber auch, dass nicht jede Erinnerung, die verloren scheint, auch für immer verloren sein muss. Genauso wie beim Individuum in Freuds Psychoanalyse, können kulturelle Artefakte wiedergefunden werden. Die entlegenen Speicherorte der Erinnerung bezeichnet Aleida Assmann als das Speichergedächtnis. Das Speichergedächtnis ist für sie der Hintergrund, auf dessen Basis sich das Funktionsgedächtnis bildet. Das Funktionsgedächtnis ist stark selektiv und aktualisiert sich fortwährend - durch die auftauchenden Erinnerungen aus dem Hintergrund des Speichergedächtnisses oder aber auch durch die Entstehung ganz neuer Erinnerung. Es zeigt also immer nur einen kleinen Bestandteil der Erinnerungsmenge des Speichergedächtnisses. Speicher- und Funktionsgedächtnis sind somit keine Gegensätze, sondern eher ist das Erste Bedingung und Voraussetzung für das Zweite.[4]

In lateralen Kulturen bilden Archive, Bibliotheken und Museen das Speichergedächtnis. In oralen Kulturen sind Speicher- und Funktionsgedächtnis hingegen deckungsgleich. Erst durch die Erfindung der Schrift war es möglich, Funktions- und Speichergedächtnis voneinander zu trennen. Erst ab diesem Punkt war es für Kulturen möglich geworden, mehr aufzuzeichnen, als zu erinnern. Dadurch konnte Platz in der individuellen Erinnerung für Neuerungen geschaffen werden, ohne befürchten zu müssen kulturelle Errungenschaften für immer zu verlieren. Das individuelle Gedächtnis musste nun nicht mehr dafür genutzt werden, die kulturelle Identität zu bewahren. Diese konnte mit Hilfe der Schrift fortan ausgelagert werden.[5]

Das Speichergedächtnis einer Kultur ist also eine Ansammlung von zukünftigen Funktionsgedächtnissen, welche sich aus dem Speichergedächtnis generieren könnten. Das Speicher-, genauso wie das Funktionsgedächtnis, entsteht nicht natürlich und selbstständig, sondern wird durch entsprechende Institutionen gestützt. Beispielsweise können Akten eines bestimmten Vorfalls ein späteres Funktionsgedächtnis nur dann beeinflussen, wenn diese Akten in Archiven verwahrt und nicht etwa Opfer der Kassation wurden. Um zu verhindern, dass nicht gewollte, mögliche Funktionsgedächtnisse entstehen greifen vor allem totalitäre Staaten oftmals zur Kontrolle oder Abschaffung des Speichergedächtnisses, etwa durch Zensur oder Akten- und Büchervernichtung. Dadurch wird erreicht, dass das Gedächtnis in seinem momentanen Zustand erstarrt und es zu keiner Umstrukturierung der kulturellen Identität kommen kann.[6]

Die kulturelle Identität definiert sich über das jeweilige Funktionsgedächtnis und wird auf drei unterschiedliche Arten gebraucht. Erstens zur Legitimation der bestehenden Herrschaftsformen. Um ein offizielles politisches Gedächtnis zu schaffen, bedarf es einer genealogischen Erinnerung, zum Beispiel die Betonung der germanischen Wurzeln der Nationalsozialisten. Andersherum dient das Funktionsgedächtnis aber auch der Delegitimation der bestehenden Herrschaftsform. Da Geschichte nicht nur von den Siegern gemacht, sondern auch vergessen wird, kann das Funktionsgedächtnis auch dazu genutzt werden, um die von der herrschenden Macht unterdrückte Opposition zu erinnern. Diese Gebrauchsform des Funktionsgedächtnisses hat klar eine auf die Zukunft gerichtete Funktion mit einer Hoffnung auf Veränderung. So gab es auch während des Nationalsozialismus Oppositionsgruppen wie die Weiße Rose, welche die damals bestehende Herrschaftsordnung delegitimieren wollten. Die dritte Gebrauchsform des Funktionsgedächtnisses ist die Distinktion, was die Inszenierung gemeinsamer Partizipation und Geschichte bezeichnet und somit der Schaffung eines nationalen Bewusstseins dient.[7] Ein Beispiel hierfür ist die Einführung des 1. Mai als Tag der Arbeit durch die Nationalsozialisten 1933. Für diesen hatten Arbeiter bereits lange Zeit gekämpft und durch die Anerkennung sollten sie sich mit dem neuen Staat verbunden fühlen.[8]

Speicher- und Funktionsgedächtnis bedingen einander also, denn nur was gespeichert wurde, kann an einem Punkt der Vergangenheit erneut erinnert werden. Andersherum wird jedoch auch nur das gespeichert, was zu einem späteren Zeitpunkt einmal erinnert werden soll. Dies wiederum bedeutet, dass durch das Funktionsgedächtnis einer Kultur immer die selektiven Interessen dieser gesteuert und deswegen immer mit kulturellem Vergessen einhergeht.[9]

2.2 Gedächtnismetaphern

Wie jede Metapher stellen auch die Gedächtnismetaphern die übertragene Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks dar und sollen dadurch helfen, die Funktionsweisen des Gedächtnisses aufzuzeigen. Im Wesentlichen werden zwei Formen der Gedächtnismetaphern unterschieden; Magazin- und Wachstafelmetaphern. Magazinmetaphern verstehen das Gedächtnis als einen Komplex, beispielsweise ein Haus oder ein Archiv. Die Wachstafelmetaphern sind in der Regel Schriftmetaphern und finden ihren Ursprung in Platons Überlegungen zur Schrift.[10]

Mit der Erfindung der Schrift - und somit gleichzeitig mit der Trennung von Funktions- und Speichergedächtnis – setzen auch die ersten Gedächtnismetaphern ein. Es scheint den Menschen nicht möglich, den Vorgang des Erinnerns ohne Metaphern zu beschreiben. Der Wechsel der Metaphern bietet dabei in der Regel mehr Auskunft über das technische Wissen der jeweiligen Zeit als über die tatsächliche Funktionsweise des Gedächtnisses. Bereits Platon und Aristoteles griffen auf Metaphern für das Gedächtnis zurück. Platon beschrieb dies als Wachstafel, auf welche die Erinnerungen eingeschrieben werden. Aristoteles wiederum benutzte die Metapher des Siegels und versuchte dadurch außerdem zu verdeutlichen, warum Menschen zu Beginn ihres Lebens und zum Ende hin ein schlechtes Gedächtnis haben; wie beim Siegel, sind sie zu diesen Zeitpunkten in einer fließenden Phase.[11]

Auch in der griechischen Mythologie und bei den alten Ägyptern spielt das Vergessen in Bezug auf das Erinnern eine wichtige Rolle. Symbolisch dargestellt ist dies im Unterweltfluss Lethe der griechischen Mythologie. In diesem werden die gestorbenen Seelen von den Erinnerungen ihres Lebens reingewaschen und somit für die Wiedergeburt vorbereitet. Lethe ist gleichzeitig auch die Göttin des Vergessens, welche zusammen mit Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses, ein Gegensatzpaar bildet. Die beiden sind in der Mythologie eng miteinander verbunden. Dieser Umstand zeigt, dass bereits im antiken Griechenland Erinnerung und Vergessen als sich bedingende Vorgänge verstanden wurden.[12]

Bei den Ägyptern wacht der Gott Thoth über die Bibliotheken und wird dort als Erfinder der Schrift und damit der Erinnerungskünste verehrt. Thoth nahm eine Doppelfunktion im Glauben der altägyptischen Gesellschaft ein. Er war außerdem Herr der Zeitrechnung und somit des Schicksals, welches den Tod des Einzelnen bestimmt. Der älteste Bibliotheksgott vereint also symbolisch sowohl die Erinnerung als auch das Vergessen, denn der Übergang zur Schrift wird – durch die Auslagerung der individuellen Erinnerung in die Schrift - als erster Übergang zum Vergessen verstanden.[13]

Platon wiederum sieht das Vergessen als eine Art Lücke im Text, welche nur durch eigene Denkanstrengungen wieder gefüllt werden kann.[14] Er ist deswegen, wie die alten Ägypter, der Ansicht, dass eine externe Speicherung dem Gedächtnis schade, da dieses durch die Auslagerung im geschriebenen Wort verkümmere und leistungsschwächer werde. Durch den Leistungsverlust könnten die „Lücken im Text“ schwerer geschlossen werden. Zudem wird das Wissen entpersonalisiert und dadurch der freien und vor allem willkürlichen Interpretation dargeboten. Es kann nicht mehr sichergestellt werden kann, dass ein Text so verstanden wird, wie der Verfasser es intendiert hatte.[15] Die Schrift kann also den Ungelehrten nicht klüger machen - also keine echte Weisheit liefern – und somit lediglich eine materielle Stütze für die eigene Erinnerung bieten. Für Platon übertrifft die Schrift zwar die Speicherfunktion des Menschen, jedoch nicht die Erinnerungsfunktion des menschlichen Gedächtnisses.[16] Bei Platon wird deutlich, dass Wissen stark von der jeweiligen Interpretation abhängt.

Die Ansichten der Ägyptern und Platons gehen über in eine Art Friedhofsmetapher, in welcher die Bibliothek sowohl Leben als auch Tod, Vergessen und Erinnern bewahrt. All das was die aktuelle Kultur nicht erinnert – das Tote was Aleida Assmann als Speichergedächtnis definierte – wird dort bewahrt und kann zu einem späterem Zeitpunkt wiederbelebt werden. Jede Wiederbelebung von totem Wissen bringt jedoch eine Modifizierung und Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten mit sich. Im Mittelalter werden die Klosterbibliotheken nicht nur zu symbolischen Friedhöfen, sondern sollen ketzerische Bücher für immer begraben,[17] etwa die Schriften des Aristoteles, wie es Umberto Eco in seinem Roman „Der Name der Rose“ anschaulich beschrieben hat.[18]

Die Friedhofsmetapher ist ähnlich der Dachbodenmetapher. Der Dachboden wird dabei als Ort der Rationalität verstanden, der Klarheit und eine Verbindung zum Himmel symbolisiert. In diesem Gedankenkonstrukt wird das Gedächtnis als Haus gesehen Der Dachboden ist der höchste Ort und der Keller sein Gegenstück, in dem die Ängste und Sorgen beherbergt sind. Alles was dazwischen liegt, ist das bewusst Erinnerte.[19]

Im 16. Jahrhundert versteht der englische Dramatiker Shakespeare die Rolle der Schrift ganz anders als Platon. Für ihn hat die Schrift zwar auch eine Stützfunktion, aber eine für die eigenen Erinnerungen und ist somit externer Aufbewahrungsort der inneren, geistigen Vorgänge. Dadurch ist für Shakespeare die Schrift ein Medium für die Kommunikation mit dem eigenem Gedächtnis. Durch dieses Gedankenkonstrukt wird Schrift anders als in vielen anderen Theorien – beispielsweise denen von Husserl und Saussure – nicht als etwas Starres und Festgefahrenes verstanden, sondern als Schaffens- und Wachstumsprozess.[20]

1924 verfasst der österreichische Arzt Sigmund Freud seine „Notiz über den Wunderblock“. Darin thematisiert er das Gedächtnis in seiner materialisierten Form der Schrift. Für ihn bildet die Verbindung von Tinte und Schrift eine dauerhafte Verbindung, wohingegen die von Tafel und Kreide eine kurzfristige ist. Die damals neue Erfindung der Wachstafel siedelt er dazwischen an, denn die darauf als kurzfristig angelegte Speicherung bleibt dauerhaft auf dem unterliegenden Wachstuch, erhalten. Im Wesentlichen funktioniert für ihn auch das menschliche Gedächtnis so. Scheinbar nur kurzfristig verfügbare Informationen werden an einem tieferliegenden Ort langfristig gespeichert.[21] Freuds Psychoanalyse wird einige Zeit später viele Theorien der Erinnerung und des Vergessens beeinflussen, unter anderem die des Franzosen Jacques Derrida, welche in Kapitel 3 näher beschrieben wird.

Genauso wie es Techniken und Metaphern für das Erinnern geben muss, muss es diese auch für das gewollte Vergessen geben. Davon geht zumindest der Italiener Umberto Eco aus. Da alle Erinnerungskünste, nicht nur die Individuellen, eng an die Schrift geknüpft sind, wodurch Erinnerungsketten geschaffen und reproduziert werden, kann der gleiche Vorgang rein theoretisch nicht auch noch dafür genutzt werden, um etwas zu vergessen. Es scheint also logisch, dass Erinnerungsketten nicht auf die gleiche Weise entknüpft werden können, wie sie gemacht worden sind. So bleibt als einzige Lösung für das willentliche Vergessen nur noch die Verwirrung, welche objektiv betrachtet mit Vergessen gleichzusetzen ist. Für Eco kann es kein Vergessen, sondern nur Verwirrung und dadurch Unfähigkeit zur Auffindung der Erinnerung geben. Denn auch eine verwirrte Erinnerung kann nicht mehr auf die richtigen Zeichen verweisen und hat somit vergessen, auf was sie zeigen sollte.[22] Seiner Meinung nach kann kulturelles Vergessen also nur über Verwirrung entstehen.

Durch den Fortschritt der Hirnforschung im 20. Jahrhundert hat sich der Vorgang umgekehrt und das Gedächtnis selbst ist zur Metapher geworden. Vorgänge am Computer werden anhand des Gedächtnisses beschrieben, um die Speicher- und Abruffunktionen dieser zu verbessern. Der größte Fehler der Computer scheint bisweilen noch die Unfähigkeit der Assoziation zu sein.[23]

Alle Gedächtnismetaphern zeigen, dass es keine vollständige Löschung von Erinnerung geben kann. Überreste von Erinnerungen werden in Friedhöfen und Dachböden aufbewahrt. Erinnerungen können also höchstens unzugänglich sein, aber nicht gelöscht. Diese Ansicht wurde unter anderem vom Philosophen Jacques Derrida weiter zu einer Theorie des Archivs ausgeführt.

3. Theorien des Archivs

Spätestens mit der Erfindung des Buchdrucks im 18. Jahrhundert stieg die Menge des zur Verfügung stehenden Wissens enorm an und übersteigt seit dem die Gedächtniskapazitäten des Einzelnen. Auch die Bibliotheken und Archive können die Masse an zu verwaltenden Dokumenten nicht mehr erfassen. So sind auch diese mehr als bereits zuvor darauf angewiesen, auszusortieren, bewusst zu selektieren und zu vergessen. Im Archiv wird dieser Vorgang Kassation genannt und bezeichnet die gezielte Aussonderung und Vernichtung von Archivmaterial, um Raum und Platz für neues Material zu schaffen. Genau bei der Aussonderung stellt sich die Frage, was mit dem ausgesonderten Material geschieht, ob es für immer gelöscht wird oder nur verlegt, verschoben oder umsortiert.[24] Damit stellt sich zwangsläufig auch die Frage, was mit dem weggeworfenen und aussortierten Wissen geschieht und ob dieses Wissen wirklich für immer gelöscht ist. Der argentinische Bibliothekar Jorge Borges verarbeitet diese Überlegung literarisch in seiner Erzählung „Die Bibliothek von Babel“.[25] In dieser ziehen sich die Magazinreihen in einer scheinbar endlosen Bibliothek hin. Die Bibliothek ist das Universum, in dem sich die Menschen bewegen. In diesem Universum existieren alle denkbaren und auch undenkbaren Bücher, manche von ihnen sind lediglich scheinbar wahllos aneinandergereihte Buchstabenketten. Das Wissen steht den Menschen also zur Verfügung, sie müssen dieses nur finden und entziffern. Selbst die Kassation einer aufkommenden Sekte kann der Bibliothek nicht schaden. Da die Bibliothek total ist, besteht alles vernichtete Material irgendwo in einer anderen Form stets fort.[26] Borges zeigt also, dass das menschliche, kulturelle Erbe nicht durch das Eingreifen einzelner Bibliothekare – denn nichts anderes sind die Personen in seiner Erzählung – geschädigt werden kann.

Auf diesem Gedanken aufbauend, entwickelt der französische Philosoph Michel Foucault in den 1960er und 70er Jahren seine Theorie über das Archiv. Für ihn ist das Archiv das Gesetz dessen, was gesagt werden kann. Dies führt dazu, dass das Archiv einer Gesellschaft nie vollständig beschrieben werden kann und - da wir innerhalb des eigenen Archivs agieren – ist es außerdem unmöglich, dieses zu beschreiben. Da genau wie in Borges Erzählung die Grenzen des Archivs nicht bekannt sind. Das Archiv begrenzt uns also außerhalb von uns selbst und ist somit der Hintergrund unseres Seins: Unser Speichergedächtnis. Das Archiv ist für Foucault ein historisches Apriori, welches in den verschiedenen Diskursen kommuniziert wird. Daraus folgert er, dass Diskurse nicht nur einen Sinn, beziehungsweise Wahrheit besitzen, sondern immer auch eine Geschichte, welche die Gesamtheit der Diskursregeln charakterisiert.[27]

Sein Schüler und späterer Konkurrent Jacques Derrida ist zwar ebenso wie Foucault der Meinung, dass ein Ereignis, dadurch dass es immer wieder neu interpretiert und ausgelegt wird, nie abschließend stattgefunden hat, dennoch entbrannte ein Streit zwischen den beiden über diese Frage. Für Derrida steht für das Historische eher der Moment der Rückfrage im Zentrum. Demnach besteht die Vergangenheit aus Schichten, so genannten Spuren, welche sich über das eigentliche Ereignis gelegt haben und sich nur durch eine Rückfrage an die Vergangenheit entfernen lassen. Im Wesentlichen unterscheiden sich ihre Methoden einfach durch ihre verschiedenen Blickwinkel: Foucault guckt von der Vergangenheit aus auf die Zukunft und Derrida andersherum.[28]

[...]


[1] Pethes: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, S. 59-64.

[2] Assmann, Aleida: Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hrsg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 168-169.

[3] Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 2010 [im Folgendem zitiert als: Assmann: Erinnerungsräume], S. 134-136.

[4] Assmann: Erinnerungsräume, S. 134-136.

[5] Assmann: Erinnerungsräume, S. 137.

[6] Assmann: Erinnerungsräume, S. 140.

[7] Assmann: Erinnerungsräume, S. 138-139.

[8] Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung, Stuttgart: Reclam Verlag 2004, S. 116-118.

[9] Pethes: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, S. 71-73.

[10] Pethes, Nicolas: Gedächtnismetapher, in: Nicolas Pethes und Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001 [im Folgendem zitiert als: Pethes: Gedächtnismetaphern] S. 196-199.

[11] Assmann: Erinnerungsräume, S. 149-150.

[12] Weinrich, Harald: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München: C.H. Beck 2005 [im Folgendem zitiert als: Weinrich: Lethe], S. 18.

[13] Rieger, Dietmar: Bibliotheken und Vergessen – vergessene Bibliotheken, in: Günter Butzer und Manuela Günter (Hrsg.): Kulturelles Vergessen: Medien – Rituale – Orte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [im Folgendem zitiert als: Rieger: Bibliotheken und Vergessen], S. 17-19.

[14] Weinrich: Lethe, S. 18.

[15] Pethes: Gedächtnistheorien, S. 116-118.

[16] Assmann: Erinnerungsräume, S. 185-186.

[17] Rieger: Bibliotheken und Vergessen, S. 20-23.

[18] Eco, Umberto: Der Name der Rose, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1986 [im Folgendem zitiert als: Eco: Der Name der Rose].

[19] Hesper, Stefan: Dachboden, in: Nicolas Pethes und Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001, S. 108-109.

[20] Assmann, Erinnerungsräume, S. 189.

[21] Weinrich: Lethe, S. 168-174.

[22] Eco, Umberto: An Ars Oblivionalis? Forget It!, in: PMLA [103/3] (1988), S. 254-260.

[23] Pethes: Gedächtnismetapher, S. 198-199.

[24] Pethes: Gedächtnistheorien, S. 77-81.

[25] Weinrich: Lethe, S. 257-260.

[26] Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel, in: Jorge Luis Borges Gesammelte Werke Erzählungen 1. 1935-1944, Bd. 3, München: Carl Hanser Verlag 1981, S. 145-154.

[27] Foucault, Michel: Das historische Apriori und das Archiv, in: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hrsg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos Kulturverlag 2009 [im Folgendem zitiert als: Foucault: Apriori und das Archiv], S. 108-112.

[28] Bunz, Mercedes: Wann findet das Ereignis statt? Geschichte und der Streit zwischen Michel Foucault und Jacques Derrida [http://www.mercedes-bunz.de/theorie/] (abgerufen am 12.12.2011 um 13:50) [im Folgendem zitiert als: Bunz: Wann findet das Ereignis statt?], S. 1-15.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783955498979
ISBN (Paperback)
9783955493974
Dateigröße
952 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,3
Schlagworte
Erinnerungsmetapher Erinnerungstradition Archiv Assmann Derrida Freud Salzmann-Sammlung

Autor

Laura Rademacher wurde 1987 in Essen geboren. Ihr Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaft an der Ruhr-Universität-Bochum schloss die Autorin 2012 mit dem akademischen Abschluss Bachelor of Arts erfolgreich ab. Zurzeit absolviert sie ein Masterstudium der Germanistik an der Universität Potsdam. Bereits während des Bachelorstudiums befasste sich die Autorin umfassend mit den diversen Theorien der kulturellen und individuellen Erinnerungs- und Identitätsbildung. In ihrem Masterstudiums vertieft sie derzeit dieses Wissen.
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