Bewegung bildet! Eine bildungstheoretische Analyse
Zusammenfassung
Bewegungs- und Sportangebote stehen in direkter Konkurrenz mit den Neuen Medien und kämpfen um das Interesse der Kinder. Diese moderne Lebenswelt der Kinder wirkt sich auf das gesamte Körperkonzept aus, insbesondere auf das Raum- und Zeiterleben. Ein zentraler Aspekt der veränderten Lebensbedingungen ist der Rückgang an Gelegenheiten für eine aktive Weltaneignung und damit der Entzug von unmittelbaren Sinneserfahrungen durch den Körper. Bildung ist jedoch ein selbstbestimmter, nie abgeschlossener und vor allem reflexiver Prozess. Er ist weder planbar noch zu kontrollieren und entzieht sich dadurch dem Einfluss der Erziehenden.
Das aktive Verstehen der Welt mit (Differenz-)Erfahrungen kann besonders durch Bewegungshandlungen erreicht werden.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2 Sportpädagogische Definition und Abgrenzung von Bewegung und Bildung
Bevor nach einer bildungstheoretischen Begründung von Bewegung gesucht werden kann, werden in diesem Kapitel zunächst die Begriffe Bewegung und Bildung aus sportpädagogischer Perspektive definiert. Außerdem wird sowohl der Bildungsbegriff vom Erziehungsbegriff abgegrenzt als auch Bewegung und Sport differenziert erläutert, um beide Begriffe in ihrer Bedeutung besser zu strukturieren.
2.1 Bildung – Ein Definitionsversuch
Eine ständige Aktualisierung des Bildungsbegriffs bezogen auf momentane lebensweltliche Bedürfnisse ist nach Beckers (2001, S. 38 f.) unerlässlich für alle bildungstheoretischen Überlegungen. Ein moderne s und aktuelles Bildungsverständnis sieht den Menschen nicht als einen „ hohen Speicherplatz von Wissen “ , sondern als kompetentes Individuum , das sein Wissen adäquat anwendet , „(...) um sich in der Welt zurechtzufinden“ (Probst, 2006, S. 11). Eng damit verbunden ist die Definition von kognitiven Prozessen, die das Aufnehmen, erkennen und Verarbeiten des ständigen Informationsflusses unserer Umwelt, sowie das V erknüpfen mit schon aufgenommener Information beschreibt . Diese Prozesse unterscheidet Trimmel (2003, S. 64 f.) in die Teilbereiche Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Gedächtnis und Sprache. Jeder dieser Teilbereiche ist individuell stärker oder auch schwächer ausgeprägt. Man kann daher nur schwer beurteilen, in wie weit sich Bewegung auf die einzelnen kognitiven Prozesse auswirkt. Betrachtet man sich allein den Teilbereich Denken, scheint eine einheitliche Definition fast unmöglich, da Denkprozesse in vielen verschiedenen Hirnarealen und darüber hinaus sehr komplex ablaufen (ebd.) .
Schäfer beschreibt Bildung als eine „individuelle Verbindung von Erfahrung und Wissen” (2006, S. 302). Er unterscheidet zwischen Wissen, das durch Erfahrung entstanden ist, und „überliefertem Wissen“, das noch mit keiner Erfahrung verknüpft werden konnte. Um von der Erfahrung zum Wissen oder durch Vorwissen zur Erfahrung zu gelangen, sind Prozesse der „inneren Verarbeitung“ notwendig. Prohl (2006, S. 163) bezeichnet diesen Vorgang als „qualitativ strukturierten“ Erfahrungsprozess und beschreibt damit die Bewegungsbildung im Sinne von „Sachaneignung“. Ein sportpädagogisch definierter Bildungsbegriff beinhaltet somit sowohl die Allgemeinbildung im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung als auch bewegungsbildende Erfahrungsprozesse (ebd., S. 182). Eine bildungstheoretische Verknüpfung zum kategorialen Bildungsbegriff nach Klafki könnte durch eine Verbindung von formalem Bildungsaspekt und der Persönlichkeitsbildung sowie dem materialen Aspekt und der Bewegungsbildung (Sachaneignung) gelingen. Auch Beckers (2001, S. 34) vertritt diesen formalen Aspekt der Bildung und beruft sich dabei auf Pestalozzi (1806, S. 571), der die Entfaltung der menschlichen Kräfte und Anlagen als höchstes Ziel der Erziehung ansah. Erziehung und Bildung dürfen also nicht als Gegensätze behandelt werden, sondern als kohärente Bestandteile pädagogischen Handelns (Beckers, 2001, S. 34). Denn „Bildung ereignet sich auch ohne Erziehung, aber Erziehung ist auf bildungstheoretische Reflexion angewiesen“ (Laging, 2005, S. 277). Schließlich ermöglicht der reflexive Umgang mit den eigenen Erfahrungen und der dabei zunehmende Grad an Selbstverantwortlichkeit, ein selbstständiges und selbstbewusstes Leben zu führen – das letztlich Bildung im eigentlichen Sinn bedeutet (Kolb, 2010, S. 121).
Bildung entsteht folglich durch die ständige aktive und persönliche Auseinandersetzung mit der eig enen Lebenswelt. Durch diesen reflexiven Umgang können die individuellen Perspektiven des „Ich - Welt - Bezugs“ erweitert und ein Bildungsprozess initiiert werden. Die Erziehung ist nach Beckers (2001, S. 34) lediglich die sachbezogene Grundlage dafür.
Die entwicklungstheoretische Definition des Intelligenzbegriffs nach Piaget (vgl. ausführlich Furth, 1972; Scherler, 1975) kann bei einer bildungstheoretisch-sportpädagogischen Diskussion auch herangezogen werden: Piaget sieht als frühste Form der Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt, die gleichzeitig die Grundlage kognitiver Entwicklung und die Voraussetzung logischen Denkens darstellt, das sensomotorische Handeln und aktive Sammeln von Erfahrungen. Die aktive Suche nach Wissen und das Erkennen von Zusammenhängen sowie das Strukturieren von Neuem und bereits Bekanntem, das den Austausch und die aktive Anpassung zwischen Individuum und Umwelt voraussetzt, kann als Intelligenz beschrieben werden. Dieser Anpassungsvorgang wird von Piaget als „Assimilation“ und „Akkommodation“ bezeichnet und definiert zwei gegenläufige Prozesse, die einander ergänzen. Die Assimilation beschreibt den Versuch, jede neue Erfahrung in bereits bestehende kognitive Strukturen einzugliedern und generalisierbare Merkmale einer Handlung zu konstruieren. Diese Abstraktionen helfen, neue Umwelteindrücke in bereits vorhandene Erfahrungen einzuordnen. Es findet demnach eine Anpassung der Umwelt an das Individuum statt (Zimmer, 1981, S. 10 f.).
Unter dem Begriff der Akkommodation versteht man hingegen den Versuch des Individuums, sich selbst an die Bedingungen seiner Umwelt anzupassen, indem es unterschiedliche „Handlungspläne“ testet, um herauszufinden, welches kognitive Schema am besten dem neuen Objekt entspricht (ebd.).
„Ein Kind, das z. B. die Erfahrung gemacht hat, daß ein Ball auf dem Boden prellt, wird dies mit jeder Art von Bällen, die es neu kennenlernt, ausprobieren. So wird es sein ganzes Repertoire an Handlungsplänen auch auf einen Medizinball anwenden und ihn zu prellen, zu werfen oder zu fangen versuchen, obwohl er durch sein Gewicht und seine spezifischen Eigenschaften eine ganz andere Art des Umgangs erfordert“ (ebd., S. 13).
Wird das bisherige Handlungsschema als ungeeignet erkannt, muss es den neuen Bedingungen angepasst werden. Bereits vorhandene kognitive Denkstrukturen werden aufgrund neuer Erfahrungen verändert und an die Forderungen der Umwelt angepasst (ebd., S. 13). Assimilation und Akkommodation sind teilweise nur schwer zu unterscheiden und treten zu dem simultan auf (Gage, 1996, S. 115).
Bei diesen Überlegungen sollte berücksichtigt werden, dass Intelligenz nicht mit Bildung gleichgesetzt werden kann. Gage (1996, S. 115) ist außerdem der Auffassung, dass Piaget die Komplexität der kognitiven Leistungen von Kindern in einer bestimmten Entwicklungsstufe unterschätzt. Denn auch Spitzer (2002, S. 230 f.) bestätigt, dass aus verschiedenen Erkenntnissen der Lernforschung und der Entwicklungspsychologie hervorgeht, dass die Abfolge von Lern- und Entwicklungsstadien und das gezielte Aktivieren der jeweiligen Sinnes- bzw. Lernkanäle nicht unbedingt eingehalten werden müssen, da Kinder bei scheinbar zu komplexen Aufgaben nur das aufnehmen, was sie ihrem Entwicklungsstand entsprechend verarbeiten können. Alle Informationen durchlaufen eine Art „automatischen Filter“, der dem momentanen Entwicklungsstand des Kindes angepasst ist.
Auch wird Piagets Theorie über den Zusammenhang von körperlicher Erfahrung und kognitiver Entwicklung durch Untersuchungen von Gage (1996, S. 116) widerlegt, die keine frühen motorischen Fähigkeiten als Voraussetzung für eine kognitive Entwicklung nachweisen konnten.
Doch eben nicht nur die kognitive Entwicklung ist von Bedeutung, sondern besonders sinnliche, emotionale, soziale, ästhetische und körperliche Bildungspotentiale bedürfen einer speziellen Aufmerksamkeit im Kontext eines umfassenden Bildungsverständnisses (Heim, 2008, S. 25). Denn auffallend häufig wurde von den bisher angeführten Autoren die Erfahrung als ein wesentliches Merkmal von Bildungsprozessen beschrieben. Besonders die ästhetische Erfahrung soll daher in Abschnitt 4. 2. 2näher erläutert werden.
Nach Schäfer ist Bildung „(...) das Können und Wissen, das wir tatsächlich als Werkzeug benutzen, um die Aufgaben zu lösen, die sich in unserem Alltag stellen oder die wir suchen” (2006, S. 291). Noch allgemeiner ausgedrückt kann man Bildung als Instrument sehen, mit dem wir unsere Lebenserfahrungen deuten und zu erklären versuchen. Folglich ist „(...) jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens auf bestimmte Weise gebildet” (Beckers, 2001, S. 34). Auch Lehnerer (1988, S. 42) sieht Bildung im Sinne von bilden als Prozess, der zielgerichtet etwas von einem unvollkommenen und unentwickelten in einen strukturierten und entwickelten Zustand überführt. Bildung bezeichnet folglich sowohl den Prozess als auch das Produkt (Ziel). Doch ein Ziel bzw. Produkt bedeutet gleichzeitig auch das Ende eines Prozesses . Dadurch entsteht ein Widerspruch zu der Vorstellung eines lebenslang gültigen und nie abgeschlossenen Bildungsprozesses (Stern, 2012, S. 229 f.). Der scheinbare Widerspruch könnte mit dem allgemein kohärenten Verhältnis von Ziel und Prozess erklärt werden. Mit anderen Worten: ohne Ziel kein Prozess und ohne Prozess kein Ziel. Folglich entsteht Bildung durch eine reflexive Lebensgestaltung und ist gleichzeitig auch die Voraussetzung dafür.
Doch ohne die Ausbildung der Persönlichkeit ist eine selbstständige und sinnvolle Bewältigung der Herausforderungen einer modernen Lebenswelt kaum möglich (Beckers, 2001, S. 34). Übersetzt man Beckers Argumentation, die den von Pestalozzi geprägten Begriff der „Menschenbildung“ als Grundpfeiler von Bildung beschreibt, in die hier verwendete Begrifflichkeit, ist die Persönlichkeit das zentrale Merkmal von Bildung. Somit gilt es bei einer bildungstheoretischen Begründung zu erörtern, inwieweit Bewegung eine persönlichkeitsbildende Funktion aufweist. Doch zunächst sollen die Unterschiede von Bildung und Erziehung herausgestellt werden um eine m teilweise synonyme n V erständnis zu begegnen.
2.2 Abgrenzung des Begriffs Bildung vo m Begriff Erziehung
Der Bildungsbegriff wird überwiegend dem Erziehungsauftrag untergeordnet, teilweise sogar synonym mit dem Erziehungsbegriff verwendet, ohne dabei eine eigenständige Position einnehmen zu können (Laging, 2005, S. 271). Vor dem Horizont einer bildungstheoretischen Begründung von Bewegung entsteht jedoch ein Bild des Erziehungsbegriffs, das sogar im Widerspruch zu Bildungsprozessen zu stehen scheint. Denn die Begriffe Bildung und Erziehung unterscheiden sich besonders in der Auffassung über die Ziele, Inhalte und Methoden pädagogischer Inte ntion . Besonders in der Perspektive von Herbart wird dieser Widerspruch deutlich, der Bildung als das „ (...) vielseitige Interesse und die auf selbst gewonnenen Urteile gründende kritische Sicht der Welt (...)“ sieht ( Herbart, 1902 z itiert nach: Laging & Prohl, 2005, S. 176 ) .
Der Begriff der Erziehung impliziert die Einwirkung von außen, die sowohl den Prozess als auch das Produkt bestimmt. Es wird teilweise nur wenig Rücksicht auf die Meinung und Bedürfnisse des zu Erziehenden genommen, um möglichst schnell und ohne Umwege die vordefinierten Ziele zu erreichen (Brandstätter, 2004, S. 45). Erziehende Strukturen können dabei durch Institutionen entstehen, aber auch unbewusst durch unterschiedlichste mediale, familiäre und soziale Einflüsse (Grupe, 2007, S. 91 f.).
Im Falle der Bildung kommt der „reflexive Charakter“ des Begriffs zum Tragen und der Lernende bestimmt den Prozess und letztlich das Produkt selbst. Der Pädagoge - hier wurde bewusst auf die Bezeichnung „Erzieher“ verzichtet - kann diesen Prozess initiieren, begleiten und unterstützen und dadurch im Idealfall Bildungsprozesse mitgestalten, allerdings keine Lernprozesse bestimmen (Brandstätter, 2004, S. 46).
Der Bildungsgedanke dient vielmehr als Orientierungsfunktion für Erziehung und dazu, erzieherisches Handeln sinnvoll zu machen. Doch die Vorstellung, dass der Mensch zum „selbstbestimmten Gestalter von Welt“ wird, lässt eine nscheinbar paradoxe n Bildungsauftrag entstehen , der gerade in der erziehenden Institution Schule als bewegungsbezogene „bildende Selbsttätigkeit“ realisiert werden soll (Laging & Prohl, 2005, S. 181). E in bildungstheoretisch begründeter Sportunterricht hat die Aufgabe, diese scheinbar paradoxen Strukturen in der Praxis zu verbinden . Doch (Selbst-) Bildung kann nicht angeordnet werden und ist somit auch nicht durch Erziehung zu erreichen. Brandstätter (2004, S. 46) sieht Bildung als den universelleren Begriff im Vergleich zum Erziehungsbegrif f , der sich allerdings ständig verändert und daher immer wieder neu angepasst werden muss .
2.3 Bewegung – Ein Definitionsversuch
Nach Tamboer (1994, S. 14) existiert auch für den Bewegungsbegriff keine einheitliche und allgemeingültige Definition. Der physikalische Ansatz beschreibt Bewegung als eine Ortsveränderung oder, wie Schäfer (2006, S. 293) es bezeichnet, als eine „Veränderung des Körpers im Raum”. Der Raum ist dabei die Umwelt, die einen umgibt. Bewegung und Umwelt beeinflussen sich gegenseitig und lassen ein Bedeutungsgefüge entstehen, das den Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen bildet (Scherer, 2005, S. 125). Doch wird dieses rein physikalische Verständnis von Bewegung unter philosophischer Perspektive nach Tamboer (1994, S. 14) betrachtet, so wäre der Mensch immer in Bewegung.[1] In diesem Zusammenhang eher provozierend könnte das Beispiel der Ortsveränderung durch einen Lift angeführt werden, in dem man sich offensichtlich nicht bewegt und dennoch eine Veränderung des Ortes erfährt. Aus diesem Grund ist eine philosophische Definition des Bewegungsbegriffs eher ungeeignet für eine bildungstheoretische Begründung von Bewegung. Es bliebe lediglich die Möglichkeit, den Begriff Bewegung in bewusstes und unbewusstes Bewegen zu unterscheiden und Bildungssituationen dem bewussten Bewegungshandeln zuzuordnen.
Weitaus besser eignet sich der sportpädagogische Erklärungsansatz von Prohl (1999, S. 226), der das menschliche Bewegen vom reinen physikalischen Bewegungsbegriff abgrenzt. Er sieht Bewegung als eine bedeutungsvolle Beziehung zwischen Mensch und Umwelt und bezeichnet dies als „Sich-Bewegen“. Die Beziehung zwischen Mensch und seiner Umwelt steht nun im Fokus der Betrachtung. Diese anthropologische Verankerung im „relationalen Körperbild“, wie es Schmidt-Millard (2001, S. 71) beschreibt, könnte auch als Erweiterung des Bewegungsbegriffs gedeutet werden. Denn Bewegung entsteht in relationalem Bezug von Mensch und Welt. Sie ist aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit in ihrem Ausgang offen und nie von absoluter Verlässlichkeit (Scherer, 2005, S. 127). „Die absichtsvolle Handlung des Sportlers verwandelt sich in den absichtslosen Schwung seines Leibes“, formuliert Seel (1995, S. 97) und vielleicht ist gerade dieser offene Ausgang das Faszinierende an Bewegung .
Die Erweiterung bzw. Präzisierung des Bewegungsbegriffs mit dem Fokus des Verhältnisbezugs von Mensch und Welt ist relational begründet und lässt sich als „Bewegungshandeln“ bezeichnen. Es beschreibt das lösungsorientierte Handeln von bewegungsthematisch gebundenen Aufgaben und die Bewältigung und Gestaltung von Bewegungssituationen. Die Bewegung ist dabei von zentraler Bedeutung und ist sowohl Mittel als auch Zweck (Scherer, 2005, S. 126). Der Begriff des Bewegungshandelns ist wesentlich konkreter und stellt eine sinnvolle Erweiterung des teilweise beliebig interpretierbaren Bewegungsbegriffs dar. Dass diese Definition aber auch den Sportbegriff zu ersetzen versucht, wäre eine falsche Schlussfolgerung. Lediglich die Integration sportlichen Handelns „als eine kulturelle Form der Körper- und Bewegungsthematisierung“ ist beabsichtigt. Doch auch weitere kulturelle Bewegungsarten, etwa tänzerische oder akrobatische Bewegungen, aber auch Bewegungsspiele von Kindern werden integriert. Ebenso sind fitness- und gesundheitsorientierte, funktionale Bewegungen und pädagogisch zweckgebundenes Bewegen unter dem Begriff Bewegungshandeln einzuordnen (ebd.), der in diesem Zusammenhang allerdings nicht isoliert, sondern als „Erkenntnis-, Ausdrucks- und Gestaltungsorgan“ betrachtet werden sollte (Hildebrandt-Stramann, 2009b, S. 101).
2. 4 Abgrenzung des Begriffs Sport vom Begriff Bewegung shandeln
Die Begriffe Sport und Bewegung und somit die Unterscheidung von kulturellem und funktionellem Bewegungshandeln werden in der Literatur, wie z. B. bei Grupe (2007), und besonders im allgemeinen Sprachgebrauch teilweise synonym verstanden . Doch ähnlich zu den Begriffen Bildung und Erziehung ist auch hier eine Abg renzung nötig, um eine Überprägung und eine n beliebigen Gebrauch der Begriffe zu verhindern .
Die Inst it ution Sport , die einen k ulturbildenden Charakter besitzt, bedeutet eine „freiwillige Selbsterschwernis unseres Lebens “ (Grupe, 1982, S. 107) oder nach Prohl (2006, S. 189) „ die Erschwerung der selbstverständlichen Bewegungsfähigkeit“ .
In neueren sportphilosophischen Ansätzen wird Sport als „Luxus“ oder „Selbstgenuss“ beschrieben, bei dem der Mensch seine individuellen psychischen und körperlichen Möglichkeiten genießt und es „nicht um die Existenzerhaltung, sondern um die Freude an der unmittelbaren Auslassung der eigenen Kräfte geht“ (Schmidt-Millard, 2001, S. 74; Gerhardt, 1991, S. 133).
Der entscheidende Unterschied liegt also im Zweck des Bewegungshandelns und dem daraus resultierenden Erfolg oder Misserfolg.
Laging (2001, S. 99) sieht einen wesentlichen Unterschied zwischen Sport und Bewegungshandeln darin, dass Sport „ein hohes Maß (...) instrumenteller körperlicher Bewegungsmöglichkeiten“ verlangt. Das Gewinnen in direktem Wettbewerb hat dabei zentrale Bedeutung und führt zu einer ständigen Optimierung von speziellen Bewegungsfertigkeiten und einer Körperdisziplinierung, die den Fokus der Selbstwahrnehmung auf das Produkt legt - weniger auf den Prozess. Doch genau dieser Prozess steht im Fokus von freiem Bewegungshandeln. Folglich könnte man als wesentliche Unterschiede zusammenfassend festhalten, dass Sport produktorientiert und Bewegungshandeln prozessorientiert ist.
3 Bildungstheorien
Kein Weg führt an der menschlichen Bildung vorbei. Schon in der Antike, dem Mittelalter und erst recht in der Moderne, sowohl in der „Postmoderne“ als auch in der „Postpostmoderne“, wurde über Bildungsprozesse diskutiert undwurden Theorien entwickelt über die individuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Relevanz von Bildung.Das Thema Bildung scheint ungeachtet der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung immer aktuell zu sein und dabei gleichzeitig eine stark polarisierende Wirkung auszustrahlen . Die Kontroversen über die „rechte, wahre Bildung“ und die damit verbundene Kritik an den verschieden en Bildungstheorien dauern bis heute an (Meinberg 2010, S. 15) . Wie sich diese Theorien entwickelt haben und welche Merkmale sie besitzen, soll in folgendem Kapitel aufgezeigt werden.
3.1 Entwicklungsgeschichte in Deutschland nach 1945
Der Stellenwert der Bildungstheorie nach demZweiten Weltkrieg spiegelt sich sehr gut in der „Etappe der Bildungsvorherrschaft“ und der „Phase der Bildungsdefensive“ wider. Bis in die späte Mitte der19 60er Jahre war Bildung der „pädagogische Primus“. Gerade für Theorien der Leibeserziehung wirkte die Bildung identitätsstiftend und bildete eine homogene und geschlossene Basis trotz unterschiedlichster Bildungstheorien. Bildungsprozesse wurden damals fast ausschließlich der Institution Schule zugesprochen und verhalfen dem Sportunterricht bzw. der „Leibeserziehung“ zu einem besonderen Stellenwert. Gerade durch die „Tübinger Beschlüsse“ (vgl. dazu Kisser, 2009, S. 14) im Zuge der bundesweiten Konsolidierung des Schulwesens wurden den Bewegungsaktivitäten Bildungseffekte zugesprochen. Damals orientierte man sich stark an dem humanistischen Bildungskonzept, das ohne die Berücksichtigung der leiblichen Komponente unvollständig gewesen wäre und dadurchdas Legitimationsbestreben der Sportdidaktiker unterstützt e.[2] Die bildende Dimension der Leibesübungen wurde nicht nur auf das Physische beschränkt, sondern in Bezug zu inneren Werten, wie Mut, Fairness sowie Hilfs- und Kooperationsbereitschaft, gesetzt. Diese bildenden Effekte konnten allerdings nicht nachgewiesen, sondern lediglich hypothetisch begründet werden und entwickelten sich dennoch zu einem sportpädagogischen Leitprinzip (Meinberg, 1995, S. 28 f.).
Die anthropologische Begründungsebene war demnach von zentraler Bedeutung bei der pädagogischen Legitimation der „Leibesübungen“. Wenn der Körper nämlich als direkte Vermittlungsfunktion von Subjekt und Welt verstanden wird, entsteht ein „Medium der Weltgestaltung (...) und Welterfahrung“(Prohl, 2009, S. 38 f.) . Aus diesem Zusammenhang wurde Bewegung als Bildungsgegenstand betrachtet.
Mit dem Aufstieg der Sozialwissenschaften gerieten die geisteswissenschaftlichen Bildungstheoretiker Ende der19 60er Jahre immer stärker in die Kritik.Den Bildungstheorien wurde gerade die subjektbezogene Bildungsvorstellung negativ ausgelegt und die fehlende Berücksichtigung sozialer Prozesse in der individuellen Entwicklung kritisiert. An die Stelle der Bildung trat der Begriff der Sozialisation und etablierte sich besonders für die Sportpädagogen zu einem Schlüsselbegriff und als neue Legitimationsgrundlage. Doch gerade die Kritik verhalf der Bildungstheorie zu einem Entwicklungsschub, da sie zum einen Gegenkritik provozierte und zum anderen die Besinnung auf die eigenen Stärken forderte. So erlebte dieBildungstheorie seit dem Ende der19 80er Jahre eine Renaissance, die bis heute anhä lt. Das erfolgreiche Behaupten der Sportpädagogik könnte daher besonders der Bildungstheorie geschuldet sein, da ein breites Feld an sportpädagogischen Themen durch eine bildungstheoretische Begründung unddie „permanente Offenheit für das Fremde und das Eigene“ Beachtung findet (ebd., S. 31 f.).
3 .2 Merkmale einer klassisch pädagogischen Bildungstheorie
Aus der Perspektive der klassischen Vertreter der neuhumanistischen Bildungstheorie, wie z. B. Hegel, von Humboldt oder Schleiermacher, können zusammenfassend fünfvoneinander abhängige Merkmale der Bildungstheorie aufgeführt werden:
- Die formale Perspektive einer klassischen Bildungstheorie, die den Ausgangspunkt und gleichzeitig das Ideal des Bildungsbegriffs beschreibt, macht die anthropologische Frage nach dem Bild des Menschen zur zentralen Bedeutung. Der Mensch hat als höchstes Ziel das reine physische Bestehen zu überschreiten, in dem er stetig die eigenen Potentiale verstärkt, verbessert und veredelt. Dabei sollen die Fähigkeiten keiner Hierarchie folgen, sondern geistige, seelische, moralische und körperliche Potentiale gleichermaßen gebildet werden (Meinberg, 1991, S. 51 f.). Bei diesem Verständnis von Bildung handelt es sich um einen offenen und lebenslangen gültigen Prozess, eine individuelle „Höherentwicklung des Menschen“, die eine positive Selbstentwicklung und die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse als zentrale Ziele hat(vgl. Wendler, 2006, S. 45 f.; Schmidt-Millard, 2005, 143 f.; Prohl und Krick, 2008, S. 73 f. ) . Diese Merkmale prägen ebenso den Kulturbegriff und können vereinfacht als Handlungs - und Verhaltens form versta nden werden.
- Die normative Perspektive ist eng mit dem formalen Aspekt eines klassischen Bildungskonzepts verbunden . Es wird „das Streben nach Vervollkommnung des Subjekts“ in den Mittelpunkt gestellt und potenzielle Unterrichtsinhalte nach dessen Bildungswert - also der Dienlichkeit dieser Vervollständigung - ausgewählt. Die „Vervollkommnung des Subjekts“ bezeichnet allerdings nicht einen Endzustand, sondern einendynamische nund offenen Gestaltungsprozess. „Der Weg ist das Ziel der Bildung“ (Prohl, 2009 , S. 37 f. ).
- Die materiale Perspektive beschreibt den „Weltbezug“ des Individuums und dass der Mensch seine Fähigkeiten nur durch eine ständige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt bilden kann. Die Umwelt, die auch durch das äußere Einwirken anderer Personen charakterisiert ist,stärkt die Fähigkeiten des Individuumsund wird zum Bildungsgegenstand . Bezogen auf den Unterricht sollten aber die Bildungsgegenstände nach Möglichkeit didaktisch reduziert werden, denn „kein Mensch eignet sich die Welt als Ganzes an“ (ebd. ).
- Die didaktische Perspektive einer klassischen Bildungstheorie hat folglich die Bildung zur Selbstbildung und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit als Ziel. Diese Eigenschaften spiegeln sich in besonderer Weise in der Verantwortungsfähigkeit gegenüber den Lerninhalten, sich selbst, aber auch gegenüber anderen wider. „Bildung zeigt sich im Handeln und ist damit auch Praxis“ (ebd.).
- Bei der Perspektive der Erziehung gilt es zu berücksichtigen, dass der Bildungsprozess und letztlich die Bildungssituation in erster Linie vom sich bildenden Subjekt selbst abhängt und einen reflexiven Charakter besitzt. Vor diesem Hintergrund kann Erziehung - also die Einwirkung von außen - Bildung nur vorbereiten und begleiten. Denn Bildung kann nicht gelingen, wo „Zwang und Repression vorherrschen“ (ebd.).
3 .3 Der kategoriale Bildungsbegriff nach Klafki
Nach Klafki beinhaltet Bildung die Verbindung von subjektive n Handlungs- und Verhaltensfo r men (formaler Aspekt) und objektiven Bildungsinhalten (materialer Aspekt). Klafki bezeichnet diese als die „dingliche geisti ge Wirklichkeit eines Menschen“ ( 1958, S. 410 ) . Diese hermeneutischen Gedanken, die den formalen und materialen Aspekt des Bildungsbegriffs zu verbinden versuchen, dienen besonders sportpädagogischen Bildungstheorien als Orientierungsrahmen. Gerade fürden Sportunterricht wirktenseine Überlegungen in bildungstheoretischer Perspektive - im Zuge der Legitimationsdebatte - beflügelnd, denn er setzte schon früh den Sport auf eine Ebene mit den Kernfächern Mathematik, Biologie und Sprachen und erkannte einen Zusammenhang zwischen Bewegung und Bildung. Spezielle Sinneserfahrungen durch unterschiedlichste Bewegungshandlungen wurden als die Basis für Bildung angesehen, die durch die Institution Schule umgesetzt werden sollten (Piepers 1995, S. 41).
Der Bildungstheorie und der Bildungspraxis kommt nach Klafki (2001, S. 20) die Aufgabe zu, sich an gesellschaftliche und kulturelle Prozesse anzupassen und diese gleichzeitig auch mitzugestalten. Allerdings bedeutet „der Rückgriff auf die Idee der Bildung (...) den schwierigen Versuch, Orientierungen für das Leben in moderner Welt zu bieten“ (Beckers, 2001, S. 41). Denn nach Klafki (2001, S. 20) sollte Bildung als selbsttätig erreichter und individuell verantworteter Zusammenhang von drei Grundkompetenzen verstanden werden:
- Zum einen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die eine verantwortungsvolle Entscheidungsfähigkeit in den unterschiedlichsten Lebenslagen verlangt.
- Außerdem die Kompetenz der Mitbestimmung, also sowohl den Anspruch als auch die Fähigkeit, sich in öffentliche Angelegenheiten verantwortungsbewusst einzubringen und
- „(...) an der Gestaltung der gemeinsamen kulturellen, ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse mitzuwirken, andererseits aber auch die Pflicht zur Mitgestaltung an und in einer Bürgergesellschaft (...)“ wahrzunehmen (ebd., S. 21).
- Als dritte Fähigkeit - wobei anzumerken ist, dass diese Reihenfolge keinerlei Wertigkeit den Begriffen zuschreibt - ist die Solidaritätsfähigkeit zu nennen. Denn es ist unerlässlich, für jeden, der das Recht der Mit- und Selbstbestimmung für sich einfordert, das gleiche Recht für alle anderen zu verteidigen, denen die Möglichkeit auf Selbsttätigkeit und Mitbestimmung aufgrund sozialer und politischer Gegebenheiten verwehrt oder eingeschränkt bleibt.
Es lässt sich also festhalten, dass der (kategoriale) Bildungsbegriff mit den Fähigkeiten der Selbstbestimmung und Mitbestimmung sowie der Solidaritätsfähigkeit zu beschreiben ist. Denn aus anthropologischer Perspektive sind diese Fähigkeiten nicht das Ergebnis von Bildung, sondern dessen Voraussetzung (Bietz, 2005, S. 87). Es geht also nicht darum, was man lernt, sondern wie man etwas lernt und wie man das Gelernte einsetzt, um sich neues Wissen und Fähigkeiten selbständig anzueignen, das zum Lösen von Alltagsaufgaben dient (Schäfer 2006, 291). Dabei lässt die „kommunikative Kontrastierung“, also die aktive Auseinandersetzung mit anderen Ansichten und Meinungen, eine Öffnung der eigenen Wahrnehmung entstehen, die wiederum zu neuen Ebenen des Verstehens führen kann. Die kommunikative Auseinandersetzung mit anderen Menschen und die gemeinsame Interaktion, die eine Solidaritätsfähigkeit voraussetzt, ist in diesem Sinne die treibende Kraft bei allen Bildungsprozessen, denn sie provoziert Reflexionsprozesse und lässt Differenzsituationen entstehen (Kolb, 2010, S. 121).
Klafkis kategorialer Bildungsbegriff könnte folglich als Reduktion der klassisch pädagogischen Bildungstheorie verstanden werden und lässt im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit die Frage aufkommen, in welcher Weise die Grundkompetenzen Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit mit Bewegung in Verbindung gebracht werden können.
4 Bewegungaus bildungstheoretischer Perspektive
In diesem Kapitel wird Bewegung und die damit verbundene Bewegungserfahrung in bildungstheoretische Perspektive gesetzt. Es wird versucht zu klären, welche bildenden Eigenschaften von Bewegung ausgehen und welche Rolle in diesem Zusammenhang der Erfahrung zukommt.
4.1 Bewegung als Bildungskategorie
Setzt man Bildung mit Qualifikation bzw. mit den kompetenzorientierten Bildungsstandards gleich, ist ein Mensch in dem Maße gebildet, wie die alltäglichen individuellen Anforderungen bewältigt werden können. Sport dient jedoch einem Selbstzweck, also einer bewussten Verunsicherung von bereits bekannten Bewegungsprozessen . Die daraus resultierenden neue n Erfahrungen können allerdings ebenso bildungsrelevant sein . Vergleicht man diese Intention mit den kindlichen Lern- bzw. Bildungsprozessen, könnte man Sport als eine Weiterentwicklung des kindlichen Forschungs- und Bewegungsdrangs betrachten mit dem Ziel, sowohl die Erfahrungsbreite als auch die Tiefe des gesammelten Erfahrungsrepertoires zu erweitern, um sich weiterzubilden. Denn setzt man eine Verbindung zum Bildungsbegriff nach Humboldt, ist genau dieser spielerische Umgang - mit dem Ziel der Steigerung und Entfaltung seiner eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten - die grundlegende Voraussetzung von Bildung (Schmidt-Millard, 2001, S. 74). Man kann also weder dem sportlichen Handeln noch dem Bewegungshandeln einen Bildungswert absprechen . [SL1]
Aus psychologischer Sicht stellt Bewegung ein Grundbedürfnis dar, das der Körper bei eintretendem Mangelauszugleichen versucht. Wird dieser Bewegungsdrang unterdrückt, entstehen sowohl psychische als auch physische Fehlbelastungen. Da Kinder durch Bewegung die Basis für eine gesunde und ganzheitliche Entwicklung legen, ist ihr Bewegungsdrang um einVielfaches höher als bei Erwachsenen. Entwicklungsstörungen im Kindesalter könnten auf die zunehmende Technisierung und die dadurch entstehende Bewegungsarmut sowiedie ungesunde Ernährung zurückzuführen sein. Doch die Persönlichkeitsentwicklung zu einem selbst ständigen, selbstbewussten und gesunden Menschen kann nur erreicht werden, wenn die Umwelt aus eigenem Antrieb aktiv wahrgenommen, erfahren und hinterfragt wird. Denn Reiß (2006, S. 135) sieht „Bewegung als Grundlage für eine ganzheitliche Entwicklung von Körper, Geist und Seele“.
Der von Aristoteles geprägte Begriff der Ganzheitlichkeit sollte allerdings nicht zu inflationär genutzt und eine ideologische Verwendung, bei der nur ein interessenbezogener Teil als Ganzes gesehen wird, verhindert werden. Denn dereigentliche Begriff der Ganzheitlichkeit sieht den Menschen als vollkommenes, selbstständig denkendes und mündiges „Leib-Subjekt“ mit sozial-ökologischen Verbindungen. Unter dieser Voraussetzung istdie Forderung nach Ganzheitlichkeit eine Reaktion auf die „Teilspe zialisierungs- und Entfremdungstendenzen der Moderne“ bei denen das Wissen zunimmt allerdings der „Zugang zum Verstehen“ weniger wird (Moegling, 2001, S. 94).
Denn das nachhaltige Verstehen neuer Inhalte ist abhängig von der Vermittlungsart und der Qualität neuer Bewegungsformen. In diesem Sinn kann Bewegungsbildung als „qualitativ strukturierter Erfahrungsprozess“ verstanden werden, der den Bildungswert von Inhalten - nicht nur im Sportunterricht - nach dem „potentiellen Erfahrungsgewinn“ während der Bewegungsaneignung filtert (Prohl, 2006, S. 163 f.). Die Perspektive des Bildungspotentials einer Bewegung lässt sich in folgende zwei Teilaspekte untergliedern:
Der prozessuale Bildungsaspekt setzt an dem aisthetischen Verständnis der Weltverhältnisse an,[3] also die Selbstbildung und dasV erstehen der Umwelt durch Sinneserfahrungen (Prohl, 2006, S. 163). Die Erfahrung ist für den „prozessualen Aspekt der Bildung“ von entscheidender Bedeutung, denn Erfahrung kann - im Unterschied zu Fachwissen - nicht gelernt oder gelehrt werden, sondern nur selbst am eigenen Körper erfahren werden. DasR ealisieren einer herausfordernden und auffälligen Situation, die das vermeintlich Bekannteinfrage stellt, ist der Ausgangspunkt einer jeden Bewegungserfahrung (Prohl, 1999, S. 180).
Auch Bähr (2001, S. 318) kommt zu dem Schluss, dass die Entdeckung von Neuem und dasI nitiieren von unbekannten Bewegungserfahrungen und Bewegungsmöglichkeiten oder allgemeiner formuliert: das Erzeugen von herausfordernden nicht bekannten Situationen Ziel eines bildungsrelevanten (Sport-)Unterrichts sein muss. Denn allein Bewegung bildet nicht, sondern die Sinneserfahrungen des Körpers, die durch Bewegung aktiviert werden und sinnvolle Eindrücke entstehen lassen, tragen zu einem nachhaltigen Bildungsprozess bei (Schäfer, 2006, S. 291).
Der strukturelle Bildungsaspekt bildet den zweiten Teil eines bewegungsbezogenen Bildungsverständnisses. Jede Erfahrung ist für die strukturelle Dimension des Bildungsprozesses erst dann pädagogisch wertvoll, wenn das (Vor -) Wissen erweitert und darüber hinaus systematischer geordnet und strukturiert wird (Dewey, 1994, S. 303). Die dafür notwendige Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion kann nur durch eine körperliche Entwicklung und die damit verbundene kontinuierliche Vertiefung von Bewegungserfahrungen erreicht werden. Durch eine reflexive Selbstwahrnehmung kann der Mensch sich in einen kulturellen Kontext setzen und neue Bewegungsformen selbst erlernen. Jedoch verlieren mit zunehmender Erfahrungstiefe vormals anregende Bewegungsaufforderungen ihren Reiz. Um diesem zunehmenden Reizverlust entgegenzuwirken, können altbekannte Bewegungsformen in einen neuen Zusammenhang gebracht werden, um dadurch wieder an Reiz zu gewinnen. Durch den Sport, der im Grunde den Sinn in sich selbst trägt, wird eine „freiwillige Selbsterschwernis“ eingegangen, die über die ursprünglichen Eigenschaften - wie Vergnügung, Erholung, Spiel und Entspannung - hinausgehen. Dies bedeutet aber auch, dass der Reiz einer Bewegungserfahrung individuell unterschiedlich ist und von der jeweiligen Vorerfahrung und bewegungsspezifischen Entwicklungsstufe des sich Bewegenden abhängig ist. Demnach baut der strukturelle Bildungsaspekt auf den Bewegungserfahrungen der prozessualen Bildungskomponente auf undräumt dadurch bei der Vermittlung von Bewegungsformen der Didaktik einen bedeutend höheren Stellenwertein als den Unterrichtsinhalten (Prohl, 2006, S. 166).
Dementsprechend sollte das Ziel einer vollwertigen (ganzheitlichen) Bildung sein, beide Aspekte - sowohl Prozess als auch Struktur - als gleichwertige Teile anzuerkennen und keine „Instrumentalisierungs-Kontroverse“ entstehen zu lassen, die versucht, beide Aspekte gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil, pädagogisches Handeln hat die Aufgabe, Prozess und Struktur miteinander zu verknüpfen (Moegling, 2001, S. 94).
4.2 Erfahrung als Bildungskategorie
Erfahrung scheint einen wesentlichen Aspekt von Bildung darzustellen. Zu differenzieren ist zwischen der Erfahrungsqualitätund dem individuellen Umgang mit dieser Erfahrung. Wie diese Erfahrungen entstehen können und welche bildenden Eigenschaften diese Bewegungs-(Erfahrungen) besitzen, wird im Folgenden erläutert.
4.2.1 Erfahrung durch Bewegung
Meyer (2003, S. 180) ist der Meinung, dassErfahrungen wede r planbar noch vergleichbar sindund sichdaher für den (Sport-)Unterricht nicht eignen. Diesem doch sehr eng gefassten Verständnis von Erfahrung tritt Grupe(1995, S. 22) (1995, S. 22)gegenüber, der Körper und Bewegung als „zentrales Erfahrungsorgan“ beschreibt mit dessen Hilfe Beziehungen zur Umwelt hergestellt werden. „ Indem ich mich meiner Umwelt in meinen Bewegungshandlungen zuwende, öffnet und erschließt sie sich mir“ ( ebd.). I m Zusammenhangmit dem hier erörterten Bewegungsbegriffsind folglich Erfahrungen von zentraler Bedeutung für Bildungsprozesse .
Die Grundlage einer jeden Erfahrung ist die Wahrnehmung, die zu unterscheiden istin den Fernsinn, also die Wahrnehmung der Welt außerhalb des Körpers, den Körpersinn, der Rückmeldung über die Wirkung der äußerlichen Wirklichkeit auf den Körper gibt, unddie emotionale Wahrnehmung (Schäfer, 2006, S. 291). Bewegungs- und Körpererfahrungen basieren auf Wahrnehmungen und Empfindungen, die unmittelbar durch die Bewegung entstehen. Für den Aufbau von Selbsterfahrung und körperlicher Identität ist dies von fundamentaler Bedeutung und wiederum Voraussetzung für weitere Bildungsprozesse (Prohl, 2006, S. 164). Auch im humboldtschen Sinne ist Bewegung nur dann bildungsrelevant, wenn Erfahrungen entstehen, die eine Ordnungsfunktion für das Individuum und seine Umwelt beinhalten (Schmidt-Millard, 2005, S. 145).Denn „ (...) Erfahrungen ermöglichen Lernprozesse, und nicht selten sind sie Ausgangspunkt und Grundlage von Urteilen, Erkenntnissen und Einsichten“ (Grupe, 1995, S. 21).
Gerade inder heutigen Zeit sind die primären authentischen Erfahrungen am wichtigsten, da die Anzahl an „Sekundärerfahrungen“ in einer stark mediengeprägten Welt zunimmt. Diese mediengeprägten Erfahrungen können fehlerhafte Informationen und falsche Erfahrungsv orstellungen entstehen lassen. Das unmittelbare Erfahren, Grupe (ebd.) spricht hier von „Primärerfahrung“, kann insbesondere durch Bewegung initiiert werden und steht in direkter Konkurrenzzu den mediengeprägten Erfahrungswelten. Dabei ist allerdings vor allem bei der Umsetzung in die Praxis zu berücksichtigen, dass der Erfahrungserwerb individuell und in seinem Ausgang offen ist. „Was für den einen positiv ist, kann dem anderen zuwider sein“ (ebd. ). Die Erfahrungen selbst sind zudem nur sehr schwer ausschließlich der reinen Bewegung zuzuschreiben, da gruppendynamische Faktoren und subjektives (Wohl-)Empfinden immer eine beeinflussende Wirkung haben. Denn nicht jede Erfahrung ist automatisch pädagogisch sinnvoll. Erst die Reflexion und Verarbeitung von Erfahrung in einem pädagogischen Kontext kann zu potenz iellen Bildungsprozessen führen (ebd., S. 22). Besonders das Erfahren von Differenzen lässt Räume zur Reflexion entstehen (Stern, 2010, S. 91). Diese Erfahrung des Scheiterns wird in Abschnitt 4.2. 3 erläutert.
Unabhängig davon benötigen „bestimmte Formen der Erfahrung(...) ihre Zeit, da gibt es keine Abkürzungen und auch keine Substitution“( Thiele , 1996, S. 187) .Damit wird die Dimension der Erfahrungstiefe - der Vorgang derIntensivierung spezieller Erfahrungsinhalte- beschrieben . Eine weitere Dimension ist die Breite der Erfahrung, die eine Diversifikation erlaubt und den Ausgangspunkt für eine Intensivierung der Erfahrungsinhalte darstellt. Erwartungshaltungen, die durch Vorerfahrungen entstehen, müssen durch die Einzelerfahrungen widerlegt werden, um als neue Erfahrung realisiert werden zu können (Prohl, 2006, S. 164). Duncker (1987, S. 19) sieht die Vorerfahrung als eine „potenzierende und begrenzende Größe für neue Erfahrungen“. Es entsteht dadurch ein bildungstheoretisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei Dewey (1994, S. 293 f.) eindeutig die Gegenwart des Erfahrungserwerbs als wichtigstes Glied der Bildungsprozesskette sieht. Ein sportpädagogisches Dilemma entsteht allerdings, wenn die „Vorbereitung als Ziel in sich selbst“ gesehen wird und die Möglichkeit der Erfahrung des gegenwärtigen Moments der Vorbereitung der Zukunft geopfert wird. Die Gegenwart ausschließlich als Vorbereitung für die Zukunft zu verstehen wäre paradox, da wir nur in zukünftigen Situationen angemessen handeln können, wenn jeder gegenwärtigen Erfahrung die volle Bedeutung zuteil wird. Es stellt sich demnach die Frage, ob das zwangsläufige Opfern eines bestimmten Moments durch pädagogisches Einwirken legitim ist und nicht der „ethischen Aufgabe der Erziehung“ widerspricht, „(...) dass jeder Lebensmoment als solcher gefördert werden soll“ (Schleiermacher, 1959, S. 82 f.; vgl. Prohl, 2008, S. 45).
Der strukturelle Bildungsprozess ist folglich zukunftsorientiert. Der prozessuale Aspekt liegt wiederum in der Gegenwart und beides ist abhängig von den Erfahrungen in der Vergangenheit. Prohl (2006, S. 167) formuliert es folgendermaßen: „Bildung (...) ist demnach auf Zukunft orientiert, vollzieht sich aber in der Gegenwart auf Grundlage von Erfahrungen, die in der Vergangenheit erworben worden sind.”
Denn gerade die Tatsache des paradoxen Verhältnisses von „abnehmendem subjektiven Ertrag bei zunehmender Erfolgssicherheit“ macht das Initiieren eines nachhaltigen zukunfts orientierten Bewegungsinteresses - „Erziehung zum Sport“ - besonders sinnvoll (Prohl, 2008, S. 45).
Vor diesem Hintergrund ist zu berücksichtigen, dass Bewegungserfahrungen und das daraus resultierende Bewegungshandeln auf unterschiedlichste Art und Weise erworben werden können und in der menschlichen Entwicklung unterschiedlichste Ausprägungen finden . Die Tatsache, dass das „Sich-Bewegen“ unmittelbar mit Erfahrungen verknüpft ist (Gegenwartserfahrung), stellt einen besonderen Reiz des Bewegungshandelns in den unterschiedlichsten Entwicklungsstufen des Menschen dar (Prohl, 2006, S. 166). Dieser Reiz könnte auch als Motivation zur langfristigen Auseinandersetzung mit Bewegungshandlungen dienen (Zukunftsbezug) und als Antrieb für eine möglichst lebenslange (Bewegungs-)Bildung gesehen werden. Die Zugänge zu diesen Erfahrungen sind vielfältig und können durchE xperimentieren mit anschließender situationsgerechter Reflexion initiiert werden. Denn Körper- und Bewegungserfahrungen können nur entstehen, wenn die damit verbundenen Sinneseindrücke erkannt werden (Meyer, 2003, S. 171).
Franke (2005, S. 192) bezeichnet die Reflexion als „(...) das nicht-empirische Erkennen des eigenen Erkennens“. Es muss demnach die eigene Erkenntnis bewusst als solche wahrgenommen werden, um überhaupt Reflexion möglich zu machen. So kann durchaus eine Reflexion schon während eines Bewegungsprozesses entstehen, ohne dass im Anschluss verbal reflektiert wurde. Diese direkte Reflexion während eines Erfahrungsprozesses ist besonders bei ästhetischen Bewegungserfahrungen möglich. Franke beruft sich dabei auf Paetzold (1994, S. 152), der die „ästhetische Reflexivität“ darin sieht, „(...) dass ich meine Leibesorgane betätige und dass ich mir zugleich dessen innewerde, dass ich dies tue“. Die Voraussetzung für solch eine reflektorische Erkenntnis kann dann erreicht werden, wenn die „(...) normale Sinneserfa hrung (...) auf sich selbst verweist“ (Franke, 2005, S. 192). Wesentlich für diesen Erfahrungsprozess ist dabei die zeitliche Ausdehnung einer Bewegung. Je breiter diese Zeitspanne der Erfahrung gefasst ist, desto mehr Differenzen können erkannt werden und zu einer reflektorischen Erkenntnis innerhalb des Erfahrungsprozesses führen, das letztlich charakteristisch für einen ästhetischen Erfahrungsprozess ist (ebd., S. 193).
[...]
[1] „Weiterhin kann man an die neuromuskulären Prozesse denken, die beim Atemholen und beim regelmäßigen Steigen und Absinken des Brustkorbs während des Schlafs eine Rolle spielen. Fügt man hierbei noch den makrophysischen und den mikrophysischen Gesichtspunkt - Ortsveränderung im Hinblick (zum Beispiel) der Sonne beziehungsweise Ortsveränderung von Elektronen, Atomen, Molekülen oder von Vergleichbarem im Körper -, dann kann man sogar aufrechterhalten, dass Menschen sich nicht nicht-bewegen können” (Tamboer, 1994, S. 14).
[2] Zur Verbesserung der Lesbarkeit werden Personenbezeichnungen in der männlichen Form verwendet; gemeint sind dabei in allen Fällen Frauen und Männer.
[3] Der griechische Begriff „Aisthesis“ lässt sich auch als „sinnliche Wahrnehmung“ übersetzen (vgl. Lange & Klenk, 2010, S. 184).
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783955499181
- ISBN (Paperback)
- 9783955494186
- Dateigröße
- 1 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Johannes Gutenberg-Universität Mainz
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1
- Schlagworte
- Persönlichkeitsentwicklung Legitimation Kompetenzbildung Le Parkour Bildungskategorie
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing