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Kooperatives Lernen als Instrument individueller Förderung in altersgemischten Lerngruppen

©2013 Bachelorarbeit 47 Seiten

Zusammenfassung

Gemeinsames Lernen, um individuell zu fördern?
Obwohl es sich zunächst widersprüchlich anhört, durch gemeinsames Lernen und kooperative Arbeiten individuell gefördert zu werden, sind selbstgesteuerte Lernprozesse von Schülern und Schülerinnen von besonderer Wichtigkeit, um für das spätere Leben entsprechend vorbereitet zu sein. Eine Grundvoraussetzung, um selbstständig lernen zu können, ist ein offener Unterricht, der kooperative Unterrichtsformen erfordert.
Bei der Betrachtung von kooperativen Unterrichtsformen als Mittel zur individuellen Förderung liegt der Fokus dieses Buches auf altersgemischte Lerngruppen, da die Jahrgangsmischung immer aktueller wird. Die Vorstellung, Gleichaltrige durch einheitlichen Unterricht gleichmäßig zu fördern, und die Annahme, dass die geistig-psychische Entwicklung mit dem Lebensalter parallel laufe, sind Vorstellungen, die zeitgleich mit der Einführung der Schulpflicht entstanden. Diese Ansicht ist heutzutage überholt.
Immer mehr Schulen, z.B. die Reformschule Kassel, Montessori Schulen, die Laborschule Bielefeld sowie viele Grundschulen haben ihre Modelle auf altersgemischtes Lernen umgestellt und der Trend im Bereich der Herstellung von Schulbüchern und anderen Lehrwerken geht zur Entwicklung von Materialien für altersgemischte Lerngruppen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Entwicklung einer präzisen Fragestellung

Dieses Kapitel befasst sich zunächst damit, wie individuelle Förderung, altersgemischte Lerngruppen und kooperative Lernformen zusammenhängen. Anschließend wird ein Überblick über in dieser Arbeit zu untersuchende Aspekte gegeben und eine präzise Fragestellung entwickelt.

„Jeder Mensch hat ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung“, [1] lautet §1 des Schulgesetzes. „Wo immer Schule stattfindet, muss die individuelle Förderung der Schüler mitgedacht werden.“[2]

Alle Lehrkräfte wollen individuell fördern, alle Eltern erwarten, dass ihre Kinder bestmöglich und entsprechend ihrer Leistungsniveaus gefördert werden. „Durch die Individualisierung des Lernens bereiten sich die Schüler auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit vor, in der jeder seinen eigenen Weg gehen muss. Damit wird auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnittenes Lernen zu einem Probelauf für die Individualisierung des sozialen Lebens.“[3] Das Ziel der täglichen Arbeit muss sein, jedem Kind mit seinen unterschiedlichen Voraussetzungen, Begabungen und Fähigkeiten sinnvoll motivierende, optimale und ermutigende Möglichkeiten zum indi­viduellen Lernfortschritt zu bieten.[4] Doch wie kann dieser Forderung nach individuel­ler Förderung am besten nachgekommen werden? In der heutigen Zeit sind Klassen immer heterogener zusammengesetzt: Migrantenkinder, Kinder mit Teilleistungsstö­rungen besuchen die gleiche Klasse, wie Kinder mit überdurchschnittlicher Intelli­genz. Durch SuS, die eine Klasse wiederholen müssen, Doppelwiederholer, Seiten­einsteiger und hoch begabte Schnell-Aufsteiger sind die Kinder nicht mehr gleichen Alters; nicht mal mehr zum Schulanfang müssen die Jahrgangsbreiten eingehalten werden.[5] „Je heterogener eine Klasse zusammengesetzt ist, desto unterschiedlicher fällt eben auch der Förderbedarf aus.“[6] Um dieser Heterogenität entgegenzuwirken und in dem Bewusstsein, dass das die geistig-psychische Entwicklung oder Interes­sen mit dem Lebensalter nicht parallel laufen[7], wurden mittlerweile einige Schulen mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen geschaffen, da diese sich dadurch eine höhere Sozialkompetenz der SuS versprechen, gegenseitiges Helfen in „echten Situ­ationen“ ermöglicht wird, ein breites Angebot von Lernanreizen geschaffen, und indi­viduelle Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden können.[8] Diese Schulen ma­chen mit dem Konzept der altersgemischten Gruppen die Unterschiede im Wissen und Können der einzelnen SuS bewusst zur Grundlage des Unterrichts.[9]

Dabei gibt es verschiedene Modelle des jahrgangsübergreifenden Lernens, die an dieser Stelle bloß beispielhaft erwähnt werden, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen. So gehören nach Montessori immer 3 Jahrgänge in eine Gruppe (3- bis 5-, 6- bis 8- , 9- bis 11-jährige)[10], auch in der Bielefelder Laborschule wird über die Jahrgänge 0,1,2, und 3,4,5 unterrichtet, später findet diese Altersmischung nur noch in bestimmten Fächern statt[11].

Doch in welcher Beziehung stehen individuelle Förderung, altersgemischte Lerngruppen und kooperative Lernformen? Wie bereits festgestellt wurden altersgemischte Lerngruppen implementiert, um der Grundforderung nach individueller För­derung besser nachzukommen. Die folgende Abbildung zeigt die bis hierhin gebilde­ten Zusammenhänge.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Für die Verbindung von kooperativen Lernformen zu altersgemischten Lerngruppen finden sich in der Literatur viele Beispiele. So sind nach dem Landesinstitut für Schule NRW (2003) die Merkmale des jahrgangsübergreifenden Unterrichts nicht nur das soziale Lernen oder innere Differenzierung, sondern auch „Individualisierung als Lernprinzip“ und die Nutzung neuer Lernformen (Lernen lernen, kooperatives Lernen u.a.).[12] Nach Laging (1995;1997) muss Lernen in altersgemischten Gruppen von vorn­herein in andere Reformansätze eingebettet werden wie z.B. Freiarbeit, Wochenplanarbeit, Projekte und offener Unterricht.[13] Noch konkreter wird die Verbin­dung zu kooperativen Lernformen bei Christiani (2005): „Jahrgangsübergreifender Unterricht ist auf das Engste verbunden mit offenen Lernformen, die in besonderem Maße die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Kinder eines Lernverbandes berücksichtigen“,[14] denn Kinder sind – auch wenn sie unterschiedlichen Altersstufen angehören – bei der Vermittlung ihrer Denk- und Mitteilungsweisen näher beieinan­der, als Lehrkräfte zu SuS. Außerdem wird durch das Zuschauen bei Älteren in ko­operativen Lernphasen ein erstes Interesse bei den jüngeren SuS geweckt und dadurch der Zugang zu neuen Wissensgebieten erleichtert.[15] Die Altersmischung initiiert kooperative Lernprozesse, da dadurch kommunikatives Lernen entsteht, so­wie soziale Qualitäten wie Achtung, Toleranz, soziale Harmonie und soziale Dis­ziplin[16] und unterstellt eine besonders günstige Situation für das gegenseitige Helfen.[17] Jahrgangsübergreifender Unterricht kann nicht erfolgreich sein, ohne die herkömmli­che Angebotsdifferenzierung (z.B. Wochenplanarbeit, Werkstattunterricht oder Sta­tionenlernen) und Selbstdifferenzierung, welche das ermöglicht, was Angebotsdiffe­renzierung nicht leisten kann, die optimale „Passung“ für jedes Kind.[18]

So kann abschließend behauptet werden, dass altersgemischte Lerngruppen be­sonders gut verschiedene kooperative Lernformen zulassen, die Differenzierung er­möglichen. Dies kann z. B. das gemeinsame Erarbeiten eines Themas mit SuS eines höheren Jahrgangs, das gegenseitige Helfen von SuS oder die Nutzung anderer neuer Lernformen, wie Wochenplan- oder Freiarbeit sein. Aber auch die innere Diffe­renzierung, wie z. B. das Stellen unterschiedlicher Hausaufgaben – auch innerhalb eines Jahrgangs – lässt sich durch die offenen Unterrichtsformen gut umsetzen. Tabelle 1: Überblick verschiedener Differenzierungsansätze, nach Klippert (2010) gibt einen Überblick über Differenzierungsansätze. In dieser Arbeit liegt der Fokus auf der Kategorie Methoden.

Tabelle 1: Überblick verschiedener Differenzierungsansätze[19]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Jahrgangsübergreifender Unterricht kann Förderkonzepte ablösen, da für diese immer wieder eine neue Zusammenstellung der Gruppen notwendig ist.[20]

Um mit unterschiedlichen Interessen, Einstellungen und Aufgaben zurechtzu­kommen, muss die Arbeit der Schule neu bestimmt werden. Da die Vorstellung von homogenen Lerngruppen von vornherein ausgeschlossen wird, muss das Lernen der Einzelnen, die Entwicklung jedes Individuums und die Unterstützung durch die Schule stärker im Mittelpunkt stehen, als das im herkömmlichen Schulsystem und in homogenen Lerngruppen möglich und gewünscht ist. Damit niemand sich langweilt und niemand überfordert wird, muss jeglicher Unterricht „anders“, das heißt auf Viel­falt angelegt, und die Entwicklung individueller Lernprofile ermöglicht und gefordert werden.[21] „Es ist möglich, sie (Bezug: alle Schüler eines Jahrgangs und Wohnbe­zirks) zusammen zu unterrichten, ohne die einen zu langweilen und die anderen zu überfordern, wenn die Gruppen klein genug sind und wenn man den Unterricht an­ders anlegt…“[22] Altersgemischte Lerngruppen erfordern also andere Unterrichtsmetho­den.

Dieser „andere Unterricht“, ein Unterricht, der auf Vielfalt ausgerichtet ist, soll in dieser Arbeit am Beispiel des kooperativen Unterrichts betrachtet werden. Dazu be­trachte ich sowohl Erfahrungen, die in der Literatur geschildert werden, als auch eine Videosequenz, die in einer altersgemischten Lerngruppe aufgenommen wurde. Für dieses Video wurde an der Universität Paderborn im Seminar „Qualitative Beobach­tung kindlicher Lernprozesse in KiTa und Grundschule“ unter der Leitung von Frau Kordulla, in Gruppenarbeit eine nicht-teilnehmende qualitative Beobachtung durch­geführt. Diese Beobachtung ist auf das kooperative und kollaborative Lernen gerich­tet und ordnet hierfür Ausschnitte aus dem Video den Unterbegriffe Hilfestellung und Partizipation zu. Beobachtungsprotokoll und Auswertungsbogen mit Beobachtungsraster, inklusive der im Seminar entwickelten Definitionen zu den gewählten Katego­rien, sowie Ankerbeispiele, befindet sich im Anhang dieser Arbeit.[23] Somit lässt sich Abbildung 1 wie folgt aktualisieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Zusammenhang der Begrifflichkeiten II; erstellt von M. Naase

Anhand dieser qualitativen Beobachtung sollen praktische Erfahrungen mit Theo­rie und anderen in der Literatur erwähnten Erfahrungen verglichen werden, um dar­aus zu folgern, inwieweit kooperative Lernformen für die individuelle Förderung nütz­lich sind. Dabei liegt der Fokus auf den Aspekten Hilfestellung und Partizipation beim kooperativen Lernen in altersgemischten Lerngruppen. Da dies zentrale Themen sind, in Bezug auf die Ziele, die sich von altersgemischten Lerngruppen versprochen werden, werde ich mich auf zwei Beobachtungsaspekte „Hilfestellung“ und „Partizi­pation“ konzentrieren, aber auch, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen.

Nach der Klärung von Begriffen und Konzepten, die in Grundlage der qualitativen Beobachtung in Kapitel 3, wird in Kapitel 4 das Praxisbeispiel genauer aufgeführt. Dies beinhaltet eine kurze Erläuterung zur Methode der qualitativen Beobachtung nach Mayring (2002), dem Vorgehen der qualitativen Beobachtung, eine Beschrei­bung der Lerngruppe und die Interpretation der Ergebnisse in Bezug auf die Frage­stellung dieser Arbeit.

In Kapitel 5 werden die Beobachtungen aus der Videosequenz mit in der Literatur dargestellten Beobachtungen zu den Unterthemen Hilfestellung und Partizipation verglichen, um in Kapitel 6 Pädagogische Konsequenzen in Bezug auf das Oberthema „Kooperative Lernformen“ ableiten zu können.

Anschließend folgt eine Schlussbemerkung in Kapitel 7.

2. Festlegung des Begriffsrahmens

In diesem Kapitel werde ich zunächst die Begriffe „kooperatives-“ und „kollaboratives Lernen“ unterscheiden, bevor ich auf die in dieser Arbeit verwendeten Definitionen zu „Hilfestellung“ und „Partizipation“ eingehe, welche die zu beobach­tenden Unterkategorien sind, die der Auswertung der Videosequenz zugrunde liegen. Anschließend werde ich die theoretische Basis, die dieser Beobachtung zugrunde liegt, erläutern. Da das beobachtete Video eine Szene des kooperativen Lernens zeigt, gehe ich in 3.2. auf die theoretische Basis kooperativen Lernens ein, indem ich die den sozio-kulturellen Ansatz von Wygotski (2002) und auf die sozio-kognitiven Ansätze von Piaget (2000) und Youniss (1980) einführe.

2.1 Klärung zentraler theoretischer Begriffe

Viele deutschsprachige Autoren verwenden die Begriffe kollaboratives und ko­operatives Lernen synonym, und bezeichnen dieses Lernen als Gruppenlernen oder kooperatives Lernen, wohingegen in englischsprachigen Veröffentlichungen ein kla­rer Unterschied gezogen wird. Hier bezeichnet der Begriff kollaboratives Lernen ei­nen Prozess, dem das Ziel zugrunde liegt, ein gemeinsames Verständnis einer Auf­gabe zu erreichen. Die Wichtigkeit selbstständig für die Organisation des Lernpro­zesses verantwortlich zu sein, ist nicht zu unterschätzen, denn lt. Klippert (2000) gilt: „Nur wer gelernt hat, seinen eigenen Lernprozess selbständig zu organisieren, wird unabhängig werden von fremdbestimmten Lernprozessen und damit die notwendige Selbständigkeit in späteren Entscheidungs- und Handlungssituationen erlangen. Nur wer Lernen gelernt hat, wird gemeinsam mit anderen zu mündiger Selbstbestimmung finden.“[24]

„Kooperativen Unterricht nennt man diejenige Grundform des Unterrichts, in der Schülergruppen gemeinsam in einem verabredeten Zeitrahmen ohne die direkte Kontrolle durch den Lehrer an einer Aufgabe arbeiten.“[25] Dabei planen Lehrer und SuS die Gruppenarbeiten gemeinsam und sind gemeinsam für den Lernerfolg ver­antwortlich. Kooperativer Unterricht kann in Kleingruppen- oder Partnerarbeit stattfin­den. Die Lernprozesse sind innerhalb der Gruppe weitgehend selbst strukturiert, die Verantwortung für den Lernerfolg liegt ebenso bei der Gruppe wie die Modalitäten der Vermittlung der Lernergebnisse an die restliche Klasse oder Lerngruppe. Bloß bei fachlichen Problemen oder Störungen des Gruppenklimas greift der Lehrer hel­fend oder vermittelnd ein, sonst nimmt er eine Rolle als Beobachter im Hintergrund ein, der die Lernsituationen der verschiedenen Gruppen arrangiert.[26]

Durch kooperative Unterrichtsmethoden wird die gleichwertige Förderung von Sach- und Sozialkompetenz, die Entwicklung von Handlungskompetenz, Solidarität und Kooperationsfähigkeit erreicht, sowie eine ausgewogene Balancierung von Selbst- und Fremdkontrolle.[27]

Der Begriff kooperatives Lernen hingegen bedeutet lediglich, dass Personen beim Bearbeiten einer Aufgabe in Interaktion stehen.[28] So ist beispielsweise die gemein­same, aber arbeitsteilige Behandlung von Lernmaterialien als Kooperation unter den Lernenden zu betrachten, während der Prozess der Einigung auf ein gemeinsames Ergebnis als kollaboratives Lernen bezeichnet wird.[29] In dieser Arbeit werden diese Begriffe entsprechend unterschieden, der Fokus liegt auf dem kooperativen Lernen.

Da in dieser Arbeit die videografierten Szenen unter Berücksichtigung der As­pekte Hilfestellung und Partizipation betrachtet werden, möchte ich auch diese bei­den Begriffe kurz definieren. Dabei bezeichnet der Begriff Hilfe die folgende Situa­tion: „jemandem durch tatkräftiges Eingreifen, durch Handreichungen oder körperli­che Hilfestellungen, durch irgendwelche Mittel oder den Einsatz seiner Persönlichkeit ermöglichen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen[…]“[30], und Kooperation … „ beschreibt […], dass Personen in Interaktion stehen und sie sich bei der Erreichung der indivi­duellen (oder Gruppen-) Ziele in einer nicht näher definierten Art und Weise unter­stützen“[31]. Daraus folgt für den Begriff „Hilfestellung“ diese mögliche Definition: „ Unter­stützung einer anderen Person in direkter oder indirekter Form. Bei den direk­ten Hilfestellungen wird die Lösung des Problems genannt, ohne Hinweise oder Um­schreibungen des Problems zu nennen. Bei indirekter Hilfe werden Unterstützun­gen/Anregungen genannt, die dazu befähigen, sich selbst weiterzuhelfen und eigen­verantwortlich Lösungsstrategien zu finden.“[32]

Der Begriff Partizipation lässt sich wie folgt definieren: „Der Begriff Partizipation bezeichnet die Teilnahme einer Person oder Gruppe an Entscheidungsprozessen oder an Handlungsabläufen, die in übergeordneten Strukturen oder Organisationen stattfinden. Die Teilnahme kann mehr oder minder anerkannt, berechtigt und er­wünscht sein. Je nachdem ist Partizipation ein vorgesehenes Instrument zur Legiti­mierung von Entscheidungen bzw. Aktionen durch die Betroffenen oder sie bleibt Forderung “.[33] Angebracht ist auch eine ähnliche Definition nach Sturzenhecker (2005): „Partizipation ist das Recht, sich als freies und gleichberechtigtes Subjekt an kollektiven und öffentlichen Diskussionsprozessen und Entscheidungen […] zu betei­ligen und dabei eigene Interessen zu erkennen, öffentlich einzubringen, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, sie zu begründen, zu prüfen, zu entscheiden, zu verant­worten und sie zu revidieren.“[34]

Da kooperatives Lernen durch Interaktion zwischen den Kindern gekennzeichnet ist und kollaboratives Lernen durch den Prozess ein gemeinsames Verständnis einer Aufgabe zu erreichen, sind Aspekte wie Hilfestellung und Partizipation sehr nahelie­gend. Partizipation kann dabei meinem Verständnis nach vor allem dem kooperati­ven Lernen zugeordnet werden, obwohl es auch für das kollaborative Lernen uner­lässlich ist, wobei der Aspekt der Hilfestellung vor allem beim gemeinsamen Errei­chen des Ziels, wie im kollaborativen Lernen, unvermeidbar ist.

2.2 Weitere theoretische Grundlagen

Nun möchte ich eine theoretische Basis zum kooperativen Lernen schaffen. Da­bei werde ich den sozialen Konstruktivismus, wie den sozio-kulturellen Ansatz von Wygotski (1993), sowie die sozio-kognitiven Ansätze von Piaget (2000) und Youniss (1980) kurz erläutern.

Wygotski (1993) geht in seinem entwicklungspsychologischen Ansatz davon aus, dass Kinder sich Wissen über ihre kulturelle Umwelt und deren Merkmale durch In­teraktion aneignen. So können sich die Kinder gegenseitig unterstützen und gegen­seitig Anregungen zur Bewältigung einer Aufgabe oder eines Problems geben.[35] Nur durch Interaktion können sie die „Zone der nächsten Entwicklung“ erreichen. Dabei definiert Wygotski (2002) Entwicklung als wechselseitiges Zusammenwirken von Er­lerntem und darüber Möglichem und alles menschliche Wissen als ein sozial kon­struiertes Wissen, Resultat menschlicher Interaktion.[36]

Die Theorien von Piaget und Youniss bauen auf der Theorie Wygotskis auf.

So geht Jean Piaget in seinem sozio-kognitiven Ansatz davon aus, dass alle Kin­der nach Äquilibration streben. Dies bedeutet, dass ein Gleichgewicht zwischen Wahrnehmungen und bereits bestehenden kognitiven Strukturen geschaffen werden soll. Dabei können sich kognitive Schemata durch Erfahrungen ändern. Auch Piaget unterteilt die Entwicklung des Kindes in vier Entwicklungsstufen (sensomotorische, präoperationale, konkret-operationale und formal operationale Phase), die alle durch bestimmte qualitativ zu erwerbende Eigenschaften gekennzeichnet sind. Diese Pha­sen sind universell und müssen genau wie bei Wygotski nacheinander durchlaufen werden. In allen Phasen versucht das Individuum dabei sich der Umwelt besser an­zupassen, da es nach Äquilibration strebt. Die Anpassung (Adaption) kann dadurch durch Assimilations- oder Akkomodationsprozesse vollzogen werden. Dabei be­zeichnet Assimilation die Angleichung neuer Wahrnehmungen an ein vorhandenes Schema. Bei der Assimilation wird die Umwelt an das Individuum angepasst. Ein Akkomodationsprozess findet statt, wenn sich das Schema ändern muss, z.B. durch neue Wahrnehmungen, die sich aufgrund ihrer Masse oder Andersartigkeit nicht mehr in ein Schema assimilieren können. An dieser Stelle wird die Anpassung des Individuums an die Umwelt bezeichnet.[37]

Um die verschiedenen Entwicklungsstufen zu durchlaufen sind sozio-kognitive Konflikte unerlässlich, damit Akkomodationsprozesse hervorgerufen werden.[38]

Laut Piaget (2000) haben Kinder ab einem Alter von 6-7 Jahren das Bedürfnis mit Gleichaltrigen (in Peergroups) zu lernen, sich mit ihnen auszutauschen, sie zu ver­stehen und ihre eigene Meinung deutlich zu machen. Die Entwicklung kognitiver Fä­higkeiten ist ein Prozess der durch die Ansichten der Peers beeinflusst und gefördert werden kann, beispielsweise durch die Entstehung von Konflikten, die die Entwick­lung von Problemlösungsprozessen fördern können.[39]

Ausgehend von der Annahme, dass sich die Entwicklung des sozialen Verste­hens in sozialen Interaktionen mit Erwachsenen und Gleichaltrigen vollzieht, die in unterschiedlicher Weise auf die sozial-kognitive Entwicklung des Kindes Einfluss ausüben, betrachtet Youniss (1980) besonders die Aktivität in sozialen Interaktionen genauer. Kinder sind in Interaktionen gemeinsam mit ihren Interaktionspartnern aktiv an der Gestaltung von Situationen beteiligt.[40] Dabei sind Erwachsene den Kindern durch Erfahrungs- und Wissensvorsprung voraus, wohingegen Gleichaltrige gleich­gestellt sind.

3. Kooperatives Lernen in Theorie und Praxis

In diesem Kapitel werde ich das Vorgehen der gewählten Beobachtungsmethode der nicht-teilnehmenden qualitativen Beobachtung darstellen und zu anderen Metho­den abgrenzen. Danach werde ich die beobachtete Lerngruppe kurz beschreiben, bevor die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse folgt.

Das Beobachtungstranskript und das bereits im Seminar deduktiv erstellte Auswertungsraster, welches den verschiedenen Beobachtungskategorien Beispiele aus dem Video zuordnet, finden sich im Anhang dieser Arbeit.[41]

3.1 Zum Vorgehen und zur Methode der qualitativen Beobachtung

In diesem Abschnitt soll anhand einer Videosequenz zu einer Gruppenarbeit eine systematische, qualitative Beobachtung durchgeführt werden. Bei der Beobachtung soll der Fokus auf den Oberthemen „Hilfestellung“ und „Partizipation“ liegen und alle Handlungen in ein entsprechendes Auswertungsraster einfügen, welches sich induk­tiv aus dem Material (Beobachtungsprotokoll) ergibt. Es interessiert auch, ob Unter­schiede bei diesen beiden Oberkategorien in Bezug auf das Alter der Kinder festzu­stellen sind, um anschließend Rückschlüsse für individuelle Fördermöglichkeiten, bei Nutzung kooperativer Lernformen, ableiten zu können.

So ist insgesamt das Ziel dieser Beobachtung herauszufinden, wie sich das ko­operative Lernen zwischen KiTa und Grundschulkindern in altersgemischten Lerngruppen unter Berücksichtigung der Aspekte Hilfestellung und Partizipation gestaltet, um Schlüsse zum Thema „Individuelle Förderung“ zu erlangen.

Die Methode der nicht-teilnehmenden Beobachtung bietet sich an, da dabei offen die gewählten Kriterien Hilfestellung und Partizipation beobachtet werden können.

Bei dieser Methode werden die Kinder von außen durch die Auswertung von Videomaterial beobachtet. Die offene Beobachtung wird mit der strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet. Diese ist eine Kontextanalyse und ein Gegenstück zur quantitativen Beobachtung, wie sie beispielsweise über Evaluationsbögen o.ä. durchgeführt wird.

Ziel der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ist, eine bestimmte Struktur aus dem Material herauszufiltern. Das können formale Aspekte, inhaltliche Aspekte oder bestimmte Typen sein; es könnte auch eine Skalierung, eine Einschätzung auf bestimmten Dimensionen angestrebt werden.[42] Daher bietet die strukturierende qualita­tive Inhaltsanalyse vielfältige Einsatzmöglichkeiten.

Dazu wird eine Struktur geschaffen, die sich auf die Beobachtungsaspekte Hilfe­stellung und Partizipation bezieht. Dazu werden zunächst Kategorien definiert, ent­weder deduktiv oder direkt aus dem videografierten Material, wie in dieser Arbeit. Dazu werden Ankerbeispiele und Kodierregeln aufgelistet, die später als Leitfaden für den Auswertenden gelten. Anschließend werden die Fundstellen markiert und den Kategorien zugeordnet, evtl. kann hier direkt eine Ergänzung der Unterkategorien stattfinden. Anschließend können die Ergebnisse vor dem Hintergrund der Frage­stellung interpretiert werden. Wenn das Textmaterial den Kategorien nicht zugeord­net werden kann, muss das Kategorien System überarbeitet werden.

Dieses Vorgehen zeigt die folgende Grafik:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Ablaufmodell strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse[43]

Die Herausforderung bei der strukturierenden qualitativen Analyse ist es, die Ka­tegorien genau so zu definieren, dass eine eindeutige Zuordnung von Textmaterial möglich ist.[44] Gleichzeitig ist dies aber der Vorteil der qualitativ strukturierenden Ana­lyse, da diese immer möglich ist, wenn die Kategorien und Kodierregeln entspre­chend geschickt gewählt werden.

3.2 Zur Lerngruppe

Die Videosequenz wurde im Kinderbildungshaus Paderborn aufgenommen, wel­ches ein Modellprojekt ist, was sich aus 3 Projekteinrichtungen zusammensetzt: dem Kindergarten Fontane, der Stephanusschule Paderborn und dem Familienzentrum Lange Wehne (städt. Kindertageseinrichtung). In dem Kinderbildungshaus arbeiten die Kinder verschiedenen Alters an gemeinsamen Bildungsbereichen aus Natur-, Umwelt- und Sachinhalten, die sie entdeckerisch und gemeinsam erforschen. Diese Bildungsinhalte werden zuvor von ErzieherInnen und LehrerInnen gemeinsam abge­stimmt. Durch das Arbeiten in altersgemischten Gruppen sollen die KiTa[45] -Kinder auf die neuen Anforderungen der Grundschule vorbereitet werden. Neben sozialpädago­gischen Gruppenarbeiten und Projekten, die die soziale Kompetenz der Kinder för­dern sollen, übernimmt das Kinderbildungshaus auch Beratungsfunktionen, sowohl für Eltern, als auch ErzieherInnen und LehrerInnen.[46]

Die hier beobachtet Lerngruppe setzt sich zusammen aus 5 KiTa und Grundschulkindern Laureen, Jaqueline, Nicolai, Andrea und Loredana. Dabei sind Laureen und Jaqueline jüngere Kinder aus der KiTa, und Nicolai, Andrea sowie Loredana Grundschulkinder. Es ist davon auszugehen, dass die KITA-Kinder in ihrer Entwick­lung nicht so weit fortgeschritten sind wie die Grundschulkinder und sich alle Kinder in der Entwicklung ihrer Fähig- und Fertigkeiten unterscheiden.

Die Kinder haben die Aufgabe, in Gruppenarbeit eine Kragbogenbrücke (siehe Abbildung 4: Modell einer Kragbogenbrücke) zu bauen. Dabei wissen sie bloß, dass sie eine Brücke aus den vorgegebenen 7 Bauklötzen über das blaue Papier, was einen Fluss darstellt, bauen sollen. Es ist davon auszugehen, dass die Kinder zur Lösung dieser Aufgabe experimentieren, ihre Ideen einbringen, verschiedene Bau­weisen diskutieren und die Aufgabe durch gegenseitige Hilfe in der Gruppe zum Ab­schluss bringen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Modell einer Kragbogenbrücke[47]

Das detaillierte Beobachtungsprotokoll, sowie das Raster zur Auswertung befin­den sich im Anhang dieser Arbeit.[48] Das Video selber ist leider geschützt und daher nicht abrufbar.

[...]


[1] Ebd.

[2] Lanig, 2008, S. 20.

[3] Ebd., S. 12.

[4] Vgl. Hesse, Differenzierungsformen, 2005b, S. 185.

[5] Vgl. Lanig, 2008, S. 14ff.; Hagstedt, Lernen durch Lehren, 2007, S. 31.

[6] Lanig, 2008, S. 13

[7] Vgl. Christiani, 2005, S. 7ff.

[8] Vgl. ebd., S. 9f.

[9] Vgl. Röhner, Authentisch Schreiben- und Lesenlernen, 1995, S. 88.

[10] Vgl. Gobbin-Claussen, Unser großes Wagnis, 2005, S 16ff.

[11] Vgl. Von der Groeben, 2005, S. 31.

[12] Cosson, Jahrgangsübergreifender Unterricht, 2003, S. 3.

[13] Vgl. Laging, 1995; 1997, zit. n. Roßbach, 2007, S. 81.

[14] Auras, Raumgestaltung und offenes Lernen, 2005, S. 58.

[15] Vgl. Werner, Zwei Modelle, 2005, S. 19.

[16] Vgl. Goetze-Emer u.a., Projektunterricht in altersgemischten Gruppen, 2007, S. 205.

[17] Vgl. Laging, Eine Untersuchung in der Schuleingangsstufe der Reformschule Kassel, 2007b, S. 64.

[18] Vgl. Zehnpfennig/Zehnpfennig, Offener Unterricht, 2005, S. 196.

[19] Klippert, Heterogenität im Klassenzimmer, 2010, S. 53.

[20] Vgl. Hesse, 2005b, S. 185ff.

[21] Vgl. Von der Groeben, 2005, S. 26; Vgl. Thurn, Altersmischung in der Schule, 2007.

[22] Ebd., S. 25.

[23] Aus produktionstechnischen Gründen kann der Anhang nicht in diesem Buch veröffentlicht werden.

[24] Klippert, 2000, S. 27.

[25] Paradies/Linser, Differenzieren im Unterricht, 2010, S. 48.

[26] Vgl. ebd.

[27] Vgl. ebd., S. 49.

[28] Vgl. Konrad, Erfolgreich selbstgesteuert Lernen, 2008, S, 75f.

[29] Ebd., S. 75.

[30] Duden

[31] Konrad/Traub, Kooperatives Lernen, 2008, S. 76.

[32] Wagener, Zur Lernförderlichkeit des gegenseitigen Helfens, 2010, S. 74.

[33] URL: http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=447, (14.01.2013)

[34] Sturzenhecker, Begründungen und Qualitätsstandards von Partizipation. 2005, S.1.

[35] Vgl. Newman, Lev Vygotsky, 1993, S. 56ff.

[36] Vgl. Keiler, Lev Vygotskij, 2002.

[37] Vgl. Piaget, Die Psychologie des Kindes, 2000, S.13.

[38] Vgl. ebd.

[39] Vgl. ebd.

[40] Vgl. Schwer, Zur Rekonstruktion von Präkonzeptionen Subjektiver Theorien zum Freundschaftsverständnis von Kindern, 2006, S. 163f.

[41] Aus produktionstechnischen Gründen kann der Anhang nicht in diesem Buch veröffentlicht werden.

[42] Mayring, Einführung in die qualitative Sozialforschung, 2002, S. 118.

[43] Ebd., S. 120.

[44] Vgl. ebd., S. 118.

[45] Wird im Folgenden als Kurzform für Kindertagesstätte verwendet.

[46] Vgl. www.kinderbildungshaus-paderborn.de (14.01.2013)

[47] URL: http://www.gs-tiefenbronn.pf.schule-bw.de/Forscher_AG_2Kl_2011/Kragbogen/Kragbogenbruecke_7.JPG (14.01.2013)

[48] Aus produktionstechnischen Gründen kann der Anhang nicht in diesem Buch veröffentlicht werden.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2013
ISBN (PDF)
9783956845222
ISBN (Paperback)
9783956840227
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Paderborn
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,3
Schlagworte
Partizipation Qualitative Beobachtung Jahrgangsübergreifender Unterricht Lerngruppe Unterricht
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Melissa Naase wurde 1986 in Lemgo (NRW) geboren. Von 2005 bis 2008 studierte sie Mathematik und Englisch für das Lehramt an Haupt-, Real-, und Gesamtschulen an der Universität Paderborn mit dem Profilschwerpunkt "Gute gesunde Schule". 2011 schloss sie ebenfalls in Paderborn ihr Referendariat ab, wobei auch Sport als Neigungsfach von ihr unterrichtet wurde. Von 2011 bis 2013 absolviert die Autorin erneut einen Lehramtsstudiengang für das Gymnasiallehramt mit den Fächern Mathematik und Englisch und zusätzlich einen Bachelorstudiengang mit den Fächern Erziehungswissenschaften und englischsprachiger Literatur und Kultur. Angeregt durch die bisherige Berufspraxis und Fortbildungen wurde dabei im Lehramt der Schwerpunkt auf „Umgang mit Heterogenität“ gelegt. 2013 schloss Melissa Naase diese Zweitstudiengänge erfolgreich ab.
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