Kooperatives Lernen als Instrument individueller Förderung in altersgemischten Lerngruppen
Zusammenfassung
Obwohl es sich zunächst widersprüchlich anhört, durch gemeinsames Lernen und kooperative Arbeiten individuell gefördert zu werden, sind selbstgesteuerte Lernprozesse von Schülern und Schülerinnen von besonderer Wichtigkeit, um für das spätere Leben entsprechend vorbereitet zu sein. Eine Grundvoraussetzung, um selbstständig lernen zu können, ist ein offener Unterricht, der kooperative Unterrichtsformen erfordert.
Bei der Betrachtung von kooperativen Unterrichtsformen als Mittel zur individuellen Förderung liegt der Fokus dieses Buches auf altersgemischte Lerngruppen, da die Jahrgangsmischung immer aktueller wird. Die Vorstellung, Gleichaltrige durch einheitlichen Unterricht gleichmäßig zu fördern, und die Annahme, dass die geistig-psychische Entwicklung mit dem Lebensalter parallel laufe, sind Vorstellungen, die zeitgleich mit der Einführung der Schulpflicht entstanden. Diese Ansicht ist heutzutage überholt.
Immer mehr Schulen, z.B. die Reformschule Kassel, Montessori Schulen, die Laborschule Bielefeld sowie viele Grundschulen haben ihre Modelle auf altersgemischtes Lernen umgestellt und der Trend im Bereich der Herstellung von Schulbüchern und anderen Lehrwerken geht zur Entwicklung von Materialien für altersgemischte Lerngruppen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Entwicklung einer präzisen Fragestellung
Dieses Kapitel befasst sich zunächst damit, wie individuelle Förderung, altersgemischte Lerngruppen und kooperative Lernformen zusammenhängen. Anschließend wird ein Überblick über in dieser Arbeit zu untersuchende Aspekte gegeben und eine präzise Fragestellung entwickelt.
„Jeder Mensch hat ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung“, [1] lautet §1 des Schulgesetzes. „Wo immer Schule stattfindet, muss die individuelle Förderung der Schüler mitgedacht werden.“[2]
Alle Lehrkräfte wollen individuell fördern, alle Eltern erwarten, dass ihre Kinder bestmöglich und entsprechend ihrer Leistungsniveaus gefördert werden. „Durch die Individualisierung des Lernens bereiten sich die Schüler auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit vor, in der jeder seinen eigenen Weg gehen muss. Damit wird auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnittenes Lernen zu einem Probelauf für die Individualisierung des sozialen Lebens.“[3] Das Ziel der täglichen Arbeit muss sein, jedem Kind mit seinen unterschiedlichen Voraussetzungen, Begabungen und Fähigkeiten sinnvoll motivierende, optimale und ermutigende Möglichkeiten zum individuellen Lernfortschritt zu bieten.[4] Doch wie kann dieser Forderung nach individueller Förderung am besten nachgekommen werden? In der heutigen Zeit sind Klassen immer heterogener zusammengesetzt: Migrantenkinder, Kinder mit Teilleistungsstörungen besuchen die gleiche Klasse, wie Kinder mit überdurchschnittlicher Intelligenz. Durch SuS, die eine Klasse wiederholen müssen, Doppelwiederholer, Seiteneinsteiger und hoch begabte Schnell-Aufsteiger sind die Kinder nicht mehr gleichen Alters; nicht mal mehr zum Schulanfang müssen die Jahrgangsbreiten eingehalten werden.[5] „Je heterogener eine Klasse zusammengesetzt ist, desto unterschiedlicher fällt eben auch der Förderbedarf aus.“[6] Um dieser Heterogenität entgegenzuwirken und in dem Bewusstsein, dass das die geistig-psychische Entwicklung oder Interessen mit dem Lebensalter nicht parallel laufen[7], wurden mittlerweile einige Schulen mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen geschaffen, da diese sich dadurch eine höhere Sozialkompetenz der SuS versprechen, gegenseitiges Helfen in „echten Situationen“ ermöglicht wird, ein breites Angebot von Lernanreizen geschaffen, und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden können.[8] Diese Schulen machen mit dem Konzept der altersgemischten Gruppen die Unterschiede im Wissen und Können der einzelnen SuS bewusst zur Grundlage des Unterrichts.[9]
Dabei gibt es verschiedene Modelle des jahrgangsübergreifenden Lernens, die an dieser Stelle bloß beispielhaft erwähnt werden, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen. So gehören nach Montessori immer 3 Jahrgänge in eine Gruppe (3- bis 5-, 6- bis 8- , 9- bis 11-jährige)[10], auch in der Bielefelder Laborschule wird über die Jahrgänge 0,1,2, und 3,4,5 unterrichtet, später findet diese Altersmischung nur noch in bestimmten Fächern statt[11].
Doch in welcher Beziehung stehen individuelle Förderung, altersgemischte Lerngruppen und kooperative Lernformen? Wie bereits festgestellt wurden altersgemischte Lerngruppen implementiert, um der Grundforderung nach individueller Förderung besser nachzukommen. Die folgende Abbildung zeigt die bis hierhin gebildeten Zusammenhänge.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Für die Verbindung von kooperativen Lernformen zu altersgemischten Lerngruppen finden sich in der Literatur viele Beispiele. So sind nach dem Landesinstitut für Schule NRW (2003) die Merkmale des jahrgangsübergreifenden Unterrichts nicht nur das soziale Lernen oder innere Differenzierung, sondern auch „Individualisierung als Lernprinzip“ und die Nutzung neuer Lernformen (Lernen lernen, kooperatives Lernen u.a.).[12] Nach Laging (1995;1997) muss Lernen in altersgemischten Gruppen von vornherein in andere Reformansätze eingebettet werden wie z.B. Freiarbeit, Wochenplanarbeit, Projekte und offener Unterricht.[13] Noch konkreter wird die Verbindung zu kooperativen Lernformen bei Christiani (2005): „Jahrgangsübergreifender Unterricht ist auf das Engste verbunden mit offenen Lernformen, die in besonderem Maße die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Kinder eines Lernverbandes berücksichtigen“,[14] denn Kinder sind – auch wenn sie unterschiedlichen Altersstufen angehören – bei der Vermittlung ihrer Denk- und Mitteilungsweisen näher beieinander, als Lehrkräfte zu SuS. Außerdem wird durch das Zuschauen bei Älteren in kooperativen Lernphasen ein erstes Interesse bei den jüngeren SuS geweckt und dadurch der Zugang zu neuen Wissensgebieten erleichtert.[15] Die Altersmischung initiiert kooperative Lernprozesse, da dadurch kommunikatives Lernen entsteht, sowie soziale Qualitäten wie Achtung, Toleranz, soziale Harmonie und soziale Disziplin[16] und unterstellt eine besonders günstige Situation für das gegenseitige Helfen.[17] Jahrgangsübergreifender Unterricht kann nicht erfolgreich sein, ohne die herkömmliche Angebotsdifferenzierung (z.B. Wochenplanarbeit, Werkstattunterricht oder Stationenlernen) und Selbstdifferenzierung, welche das ermöglicht, was Angebotsdifferenzierung nicht leisten kann, die optimale „Passung“ für jedes Kind.[18]
So kann abschließend behauptet werden, dass altersgemischte Lerngruppen besonders gut verschiedene kooperative Lernformen zulassen, die Differenzierung ermöglichen. Dies kann z. B. das gemeinsame Erarbeiten eines Themas mit SuS eines höheren Jahrgangs, das gegenseitige Helfen von SuS oder die Nutzung anderer neuer Lernformen, wie Wochenplan- oder Freiarbeit sein. Aber auch die innere Differenzierung, wie z. B. das Stellen unterschiedlicher Hausaufgaben – auch innerhalb eines Jahrgangs – lässt sich durch die offenen Unterrichtsformen gut umsetzen. Tabelle 1: Überblick verschiedener Differenzierungsansätze, nach Klippert (2010) gibt einen Überblick über Differenzierungsansätze. In dieser Arbeit liegt der Fokus auf der Kategorie Methoden.
Tabelle 1: Überblick verschiedener Differenzierungsansätze[19]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Jahrgangsübergreifender Unterricht kann Förderkonzepte ablösen, da für diese immer wieder eine neue Zusammenstellung der Gruppen notwendig ist.[20]
Um mit unterschiedlichen Interessen, Einstellungen und Aufgaben zurechtzukommen, muss die Arbeit der Schule neu bestimmt werden. Da die Vorstellung von homogenen Lerngruppen von vornherein ausgeschlossen wird, muss das Lernen der Einzelnen, die Entwicklung jedes Individuums und die Unterstützung durch die Schule stärker im Mittelpunkt stehen, als das im herkömmlichen Schulsystem und in homogenen Lerngruppen möglich und gewünscht ist. Damit niemand sich langweilt und niemand überfordert wird, muss jeglicher Unterricht „anders“, das heißt auf Vielfalt angelegt, und die Entwicklung individueller Lernprofile ermöglicht und gefordert werden.[21] „Es ist möglich, sie (Bezug: alle Schüler eines Jahrgangs und Wohnbezirks) zusammen zu unterrichten, ohne die einen zu langweilen und die anderen zu überfordern, wenn die Gruppen klein genug sind und wenn man den Unterricht anders anlegt…“[22] Altersgemischte Lerngruppen erfordern also andere Unterrichtsmethoden.
Dieser „andere Unterricht“, ein Unterricht, der auf Vielfalt ausgerichtet ist, soll in dieser Arbeit am Beispiel des kooperativen Unterrichts betrachtet werden. Dazu betrachte ich sowohl Erfahrungen, die in der Literatur geschildert werden, als auch eine Videosequenz, die in einer altersgemischten Lerngruppe aufgenommen wurde. Für dieses Video wurde an der Universität Paderborn im Seminar „Qualitative Beobachtung kindlicher Lernprozesse in KiTa und Grundschule“ unter der Leitung von Frau Kordulla, in Gruppenarbeit eine nicht-teilnehmende qualitative Beobachtung durchgeführt. Diese Beobachtung ist auf das kooperative und kollaborative Lernen gerichtet und ordnet hierfür Ausschnitte aus dem Video den Unterbegriffe Hilfestellung und Partizipation zu. Beobachtungsprotokoll und Auswertungsbogen mit Beobachtungsraster, inklusive der im Seminar entwickelten Definitionen zu den gewählten Kategorien, sowie Ankerbeispiele, befindet sich im Anhang dieser Arbeit.[23] Somit lässt sich Abbildung 1 wie folgt aktualisieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Zusammenhang der Begrifflichkeiten II; erstellt von M. Naase
Anhand dieser qualitativen Beobachtung sollen praktische Erfahrungen mit Theorie und anderen in der Literatur erwähnten Erfahrungen verglichen werden, um daraus zu folgern, inwieweit kooperative Lernformen für die individuelle Förderung nützlich sind. Dabei liegt der Fokus auf den Aspekten Hilfestellung und Partizipation beim kooperativen Lernen in altersgemischten Lerngruppen. Da dies zentrale Themen sind, in Bezug auf die Ziele, die sich von altersgemischten Lerngruppen versprochen werden, werde ich mich auf zwei Beobachtungsaspekte „Hilfestellung“ und „Partizipation“ konzentrieren, aber auch, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen.
Nach der Klärung von Begriffen und Konzepten, die in Grundlage der qualitativen Beobachtung in Kapitel 3, wird in Kapitel 4 das Praxisbeispiel genauer aufgeführt. Dies beinhaltet eine kurze Erläuterung zur Methode der qualitativen Beobachtung nach Mayring (2002), dem Vorgehen der qualitativen Beobachtung, eine Beschreibung der Lerngruppe und die Interpretation der Ergebnisse in Bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit.
In Kapitel 5 werden die Beobachtungen aus der Videosequenz mit in der Literatur dargestellten Beobachtungen zu den Unterthemen Hilfestellung und Partizipation verglichen, um in Kapitel 6 Pädagogische Konsequenzen in Bezug auf das Oberthema „Kooperative Lernformen“ ableiten zu können.
Anschließend folgt eine Schlussbemerkung in Kapitel 7.
2. Festlegung des Begriffsrahmens
In diesem Kapitel werde ich zunächst die Begriffe „kooperatives-“ und „kollaboratives Lernen“ unterscheiden, bevor ich auf die in dieser Arbeit verwendeten Definitionen zu „Hilfestellung“ und „Partizipation“ eingehe, welche die zu beobachtenden Unterkategorien sind, die der Auswertung der Videosequenz zugrunde liegen. Anschließend werde ich die theoretische Basis, die dieser Beobachtung zugrunde liegt, erläutern. Da das beobachtete Video eine Szene des kooperativen Lernens zeigt, gehe ich in 3.2. auf die theoretische Basis kooperativen Lernens ein, indem ich die den sozio-kulturellen Ansatz von Wygotski (2002) und auf die sozio-kognitiven Ansätze von Piaget (2000) und Youniss (1980) einführe.
2.1 Klärung zentraler theoretischer Begriffe
Viele deutschsprachige Autoren verwenden die Begriffe kollaboratives und kooperatives Lernen synonym, und bezeichnen dieses Lernen als Gruppenlernen oder kooperatives Lernen, wohingegen in englischsprachigen Veröffentlichungen ein klarer Unterschied gezogen wird. Hier bezeichnet der Begriff kollaboratives Lernen einen Prozess, dem das Ziel zugrunde liegt, ein gemeinsames Verständnis einer Aufgabe zu erreichen. Die Wichtigkeit selbstständig für die Organisation des Lernprozesses verantwortlich zu sein, ist nicht zu unterschätzen, denn lt. Klippert (2000) gilt: „Nur wer gelernt hat, seinen eigenen Lernprozess selbständig zu organisieren, wird unabhängig werden von fremdbestimmten Lernprozessen und damit die notwendige Selbständigkeit in späteren Entscheidungs- und Handlungssituationen erlangen. Nur wer Lernen gelernt hat, wird gemeinsam mit anderen zu mündiger Selbstbestimmung finden.“[24]
„Kooperativen Unterricht nennt man diejenige Grundform des Unterrichts, in der Schülergruppen gemeinsam in einem verabredeten Zeitrahmen ohne die direkte Kontrolle durch den Lehrer an einer Aufgabe arbeiten.“[25] Dabei planen Lehrer und SuS die Gruppenarbeiten gemeinsam und sind gemeinsam für den Lernerfolg verantwortlich. Kooperativer Unterricht kann in Kleingruppen- oder Partnerarbeit stattfinden. Die Lernprozesse sind innerhalb der Gruppe weitgehend selbst strukturiert, die Verantwortung für den Lernerfolg liegt ebenso bei der Gruppe wie die Modalitäten der Vermittlung der Lernergebnisse an die restliche Klasse oder Lerngruppe. Bloß bei fachlichen Problemen oder Störungen des Gruppenklimas greift der Lehrer helfend oder vermittelnd ein, sonst nimmt er eine Rolle als Beobachter im Hintergrund ein, der die Lernsituationen der verschiedenen Gruppen arrangiert.[26]
Durch kooperative Unterrichtsmethoden wird die gleichwertige Förderung von Sach- und Sozialkompetenz, die Entwicklung von Handlungskompetenz, Solidarität und Kooperationsfähigkeit erreicht, sowie eine ausgewogene Balancierung von Selbst- und Fremdkontrolle.[27]
Der Begriff kooperatives Lernen hingegen bedeutet lediglich, dass Personen beim Bearbeiten einer Aufgabe in Interaktion stehen.[28] So ist beispielsweise die gemeinsame, aber arbeitsteilige Behandlung von Lernmaterialien als Kooperation unter den Lernenden zu betrachten, während der Prozess der Einigung auf ein gemeinsames Ergebnis als kollaboratives Lernen bezeichnet wird.[29] In dieser Arbeit werden diese Begriffe entsprechend unterschieden, der Fokus liegt auf dem kooperativen Lernen.
Da in dieser Arbeit die videografierten Szenen unter Berücksichtigung der Aspekte Hilfestellung und Partizipation betrachtet werden, möchte ich auch diese beiden Begriffe kurz definieren. Dabei bezeichnet der Begriff Hilfe die folgende Situation: „jemandem durch tatkräftiges Eingreifen, durch Handreichungen oder körperliche Hilfestellungen, durch irgendwelche Mittel oder den Einsatz seiner Persönlichkeit ermöglichen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen[…]“[30], und Kooperation … „ beschreibt […], dass Personen in Interaktion stehen und sie sich bei der Erreichung der individuellen (oder Gruppen-) Ziele in einer nicht näher definierten Art und Weise unterstützen“[31]. Daraus folgt für den Begriff „Hilfestellung“ diese mögliche Definition: „ Unterstützung einer anderen Person in direkter oder indirekter Form. Bei den direkten Hilfestellungen wird die Lösung des Problems genannt, ohne Hinweise oder Umschreibungen des Problems zu nennen. Bei indirekter Hilfe werden Unterstützungen/Anregungen genannt, die dazu befähigen, sich selbst weiterzuhelfen und eigenverantwortlich Lösungsstrategien zu finden.“[32]
Der Begriff Partizipation lässt sich wie folgt definieren: „Der Begriff Partizipation bezeichnet die Teilnahme einer Person oder Gruppe an Entscheidungsprozessen oder an Handlungsabläufen, die in übergeordneten Strukturen oder Organisationen stattfinden. Die Teilnahme kann mehr oder minder anerkannt, berechtigt und erwünscht sein. Je nachdem ist Partizipation ein vorgesehenes Instrument zur Legitimierung von Entscheidungen bzw. Aktionen durch die Betroffenen oder sie bleibt Forderung “.[33] Angebracht ist auch eine ähnliche Definition nach Sturzenhecker (2005): „Partizipation ist das Recht, sich als freies und gleichberechtigtes Subjekt an kollektiven und öffentlichen Diskussionsprozessen und Entscheidungen […] zu beteiligen und dabei eigene Interessen zu erkennen, öffentlich einzubringen, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, sie zu begründen, zu prüfen, zu entscheiden, zu verantworten und sie zu revidieren.“[34]
Da kooperatives Lernen durch Interaktion zwischen den Kindern gekennzeichnet ist und kollaboratives Lernen durch den Prozess ein gemeinsames Verständnis einer Aufgabe zu erreichen, sind Aspekte wie Hilfestellung und Partizipation sehr naheliegend. Partizipation kann dabei meinem Verständnis nach vor allem dem kooperativen Lernen zugeordnet werden, obwohl es auch für das kollaborative Lernen unerlässlich ist, wobei der Aspekt der Hilfestellung vor allem beim gemeinsamen Erreichen des Ziels, wie im kollaborativen Lernen, unvermeidbar ist.
2.2 Weitere theoretische Grundlagen
Nun möchte ich eine theoretische Basis zum kooperativen Lernen schaffen. Dabei werde ich den sozialen Konstruktivismus, wie den sozio-kulturellen Ansatz von Wygotski (1993), sowie die sozio-kognitiven Ansätze von Piaget (2000) und Youniss (1980) kurz erläutern.
Wygotski (1993) geht in seinem entwicklungspsychologischen Ansatz davon aus, dass Kinder sich Wissen über ihre kulturelle Umwelt und deren Merkmale durch Interaktion aneignen. So können sich die Kinder gegenseitig unterstützen und gegenseitig Anregungen zur Bewältigung einer Aufgabe oder eines Problems geben.[35] Nur durch Interaktion können sie die „Zone der nächsten Entwicklung“ erreichen. Dabei definiert Wygotski (2002) Entwicklung als wechselseitiges Zusammenwirken von Erlerntem und darüber Möglichem und alles menschliche Wissen als ein sozial konstruiertes Wissen, Resultat menschlicher Interaktion.[36]
Die Theorien von Piaget und Youniss bauen auf der Theorie Wygotskis auf.
So geht Jean Piaget in seinem sozio-kognitiven Ansatz davon aus, dass alle Kinder nach Äquilibration streben. Dies bedeutet, dass ein Gleichgewicht zwischen Wahrnehmungen und bereits bestehenden kognitiven Strukturen geschaffen werden soll. Dabei können sich kognitive Schemata durch Erfahrungen ändern. Auch Piaget unterteilt die Entwicklung des Kindes in vier Entwicklungsstufen (sensomotorische, präoperationale, konkret-operationale und formal operationale Phase), die alle durch bestimmte qualitativ zu erwerbende Eigenschaften gekennzeichnet sind. Diese Phasen sind universell und müssen genau wie bei Wygotski nacheinander durchlaufen werden. In allen Phasen versucht das Individuum dabei sich der Umwelt besser anzupassen, da es nach Äquilibration strebt. Die Anpassung (Adaption) kann dadurch durch Assimilations- oder Akkomodationsprozesse vollzogen werden. Dabei bezeichnet Assimilation die Angleichung neuer Wahrnehmungen an ein vorhandenes Schema. Bei der Assimilation wird die Umwelt an das Individuum angepasst. Ein Akkomodationsprozess findet statt, wenn sich das Schema ändern muss, z.B. durch neue Wahrnehmungen, die sich aufgrund ihrer Masse oder Andersartigkeit nicht mehr in ein Schema assimilieren können. An dieser Stelle wird die Anpassung des Individuums an die Umwelt bezeichnet.[37]
Um die verschiedenen Entwicklungsstufen zu durchlaufen sind sozio-kognitive Konflikte unerlässlich, damit Akkomodationsprozesse hervorgerufen werden.[38]
Laut Piaget (2000) haben Kinder ab einem Alter von 6-7 Jahren das Bedürfnis mit Gleichaltrigen (in Peergroups) zu lernen, sich mit ihnen auszutauschen, sie zu verstehen und ihre eigene Meinung deutlich zu machen. Die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten ist ein Prozess der durch die Ansichten der Peers beeinflusst und gefördert werden kann, beispielsweise durch die Entstehung von Konflikten, die die Entwicklung von Problemlösungsprozessen fördern können.[39]
Ausgehend von der Annahme, dass sich die Entwicklung des sozialen Verstehens in sozialen Interaktionen mit Erwachsenen und Gleichaltrigen vollzieht, die in unterschiedlicher Weise auf die sozial-kognitive Entwicklung des Kindes Einfluss ausüben, betrachtet Youniss (1980) besonders die Aktivität in sozialen Interaktionen genauer. Kinder sind in Interaktionen gemeinsam mit ihren Interaktionspartnern aktiv an der Gestaltung von Situationen beteiligt.[40] Dabei sind Erwachsene den Kindern durch Erfahrungs- und Wissensvorsprung voraus, wohingegen Gleichaltrige gleichgestellt sind.
3. Kooperatives Lernen in Theorie und Praxis
In diesem Kapitel werde ich das Vorgehen der gewählten Beobachtungsmethode der nicht-teilnehmenden qualitativen Beobachtung darstellen und zu anderen Methoden abgrenzen. Danach werde ich die beobachtete Lerngruppe kurz beschreiben, bevor die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse folgt.
Das Beobachtungstranskript und das bereits im Seminar deduktiv erstellte Auswertungsraster, welches den verschiedenen Beobachtungskategorien Beispiele aus dem Video zuordnet, finden sich im Anhang dieser Arbeit.[41]
3.1 Zum Vorgehen und zur Methode der qualitativen Beobachtung
In diesem Abschnitt soll anhand einer Videosequenz zu einer Gruppenarbeit eine systematische, qualitative Beobachtung durchgeführt werden. Bei der Beobachtung soll der Fokus auf den Oberthemen „Hilfestellung“ und „Partizipation“ liegen und alle Handlungen in ein entsprechendes Auswertungsraster einfügen, welches sich induktiv aus dem Material (Beobachtungsprotokoll) ergibt. Es interessiert auch, ob Unterschiede bei diesen beiden Oberkategorien in Bezug auf das Alter der Kinder festzustellen sind, um anschließend Rückschlüsse für individuelle Fördermöglichkeiten, bei Nutzung kooperativer Lernformen, ableiten zu können.
So ist insgesamt das Ziel dieser Beobachtung herauszufinden, wie sich das kooperative Lernen zwischen KiTa und Grundschulkindern in altersgemischten Lerngruppen unter Berücksichtigung der Aspekte Hilfestellung und Partizipation gestaltet, um Schlüsse zum Thema „Individuelle Förderung“ zu erlangen.
Die Methode der nicht-teilnehmenden Beobachtung bietet sich an, da dabei offen die gewählten Kriterien Hilfestellung und Partizipation beobachtet werden können.
Bei dieser Methode werden die Kinder von außen durch die Auswertung von Videomaterial beobachtet. Die offene Beobachtung wird mit der strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet. Diese ist eine Kontextanalyse und ein Gegenstück zur quantitativen Beobachtung, wie sie beispielsweise über Evaluationsbögen o.ä. durchgeführt wird.
Ziel der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ist, eine bestimmte Struktur aus dem Material herauszufiltern. Das können formale Aspekte, inhaltliche Aspekte oder bestimmte Typen sein; es könnte auch eine Skalierung, eine Einschätzung auf bestimmten Dimensionen angestrebt werden.[42] Daher bietet die strukturierende qualitative Inhaltsanalyse vielfältige Einsatzmöglichkeiten.
Dazu wird eine Struktur geschaffen, die sich auf die Beobachtungsaspekte Hilfestellung und Partizipation bezieht. Dazu werden zunächst Kategorien definiert, entweder deduktiv oder direkt aus dem videografierten Material, wie in dieser Arbeit. Dazu werden Ankerbeispiele und Kodierregeln aufgelistet, die später als Leitfaden für den Auswertenden gelten. Anschließend werden die Fundstellen markiert und den Kategorien zugeordnet, evtl. kann hier direkt eine Ergänzung der Unterkategorien stattfinden. Anschließend können die Ergebnisse vor dem Hintergrund der Fragestellung interpretiert werden. Wenn das Textmaterial den Kategorien nicht zugeordnet werden kann, muss das Kategorien System überarbeitet werden.
Dieses Vorgehen zeigt die folgende Grafik:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Ablaufmodell strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse[43]
Die Herausforderung bei der strukturierenden qualitativen Analyse ist es, die Kategorien genau so zu definieren, dass eine eindeutige Zuordnung von Textmaterial möglich ist.[44] Gleichzeitig ist dies aber der Vorteil der qualitativ strukturierenden Analyse, da diese immer möglich ist, wenn die Kategorien und Kodierregeln entsprechend geschickt gewählt werden.
3.2 Zur Lerngruppe
Die Videosequenz wurde im Kinderbildungshaus Paderborn aufgenommen, welches ein Modellprojekt ist, was sich aus 3 Projekteinrichtungen zusammensetzt: dem Kindergarten Fontane, der Stephanusschule Paderborn und dem Familienzentrum Lange Wehne (städt. Kindertageseinrichtung). In dem Kinderbildungshaus arbeiten die Kinder verschiedenen Alters an gemeinsamen Bildungsbereichen aus Natur-, Umwelt- und Sachinhalten, die sie entdeckerisch und gemeinsam erforschen. Diese Bildungsinhalte werden zuvor von ErzieherInnen und LehrerInnen gemeinsam abgestimmt. Durch das Arbeiten in altersgemischten Gruppen sollen die KiTa[45] -Kinder auf die neuen Anforderungen der Grundschule vorbereitet werden. Neben sozialpädagogischen Gruppenarbeiten und Projekten, die die soziale Kompetenz der Kinder fördern sollen, übernimmt das Kinderbildungshaus auch Beratungsfunktionen, sowohl für Eltern, als auch ErzieherInnen und LehrerInnen.[46]
Die hier beobachtet Lerngruppe setzt sich zusammen aus 5 KiTa und Grundschulkindern Laureen, Jaqueline, Nicolai, Andrea und Loredana. Dabei sind Laureen und Jaqueline jüngere Kinder aus der KiTa, und Nicolai, Andrea sowie Loredana Grundschulkinder. Es ist davon auszugehen, dass die KITA-Kinder in ihrer Entwicklung nicht so weit fortgeschritten sind wie die Grundschulkinder und sich alle Kinder in der Entwicklung ihrer Fähig- und Fertigkeiten unterscheiden.
Die Kinder haben die Aufgabe, in Gruppenarbeit eine Kragbogenbrücke (siehe Abbildung 4: Modell einer Kragbogenbrücke) zu bauen. Dabei wissen sie bloß, dass sie eine Brücke aus den vorgegebenen 7 Bauklötzen über das blaue Papier, was einen Fluss darstellt, bauen sollen. Es ist davon auszugehen, dass die Kinder zur Lösung dieser Aufgabe experimentieren, ihre Ideen einbringen, verschiedene Bauweisen diskutieren und die Aufgabe durch gegenseitige Hilfe in der Gruppe zum Abschluss bringen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Modell einer Kragbogenbrücke[47]
Das detaillierte Beobachtungsprotokoll, sowie das Raster zur Auswertung befinden sich im Anhang dieser Arbeit.[48] Das Video selber ist leider geschützt und daher nicht abrufbar.
[...]
[1] Ebd.
[2] Lanig, 2008, S. 20.
[3] Ebd., S. 12.
[4] Vgl. Hesse, Differenzierungsformen, 2005b, S. 185.
[5] Vgl. Lanig, 2008, S. 14ff.; Hagstedt, Lernen durch Lehren, 2007, S. 31.
[6] Lanig, 2008, S. 13
[7] Vgl. Christiani, 2005, S. 7ff.
[8] Vgl. ebd., S. 9f.
[9] Vgl. Röhner, Authentisch Schreiben- und Lesenlernen, 1995, S. 88.
[10] Vgl. Gobbin-Claussen, Unser großes Wagnis, 2005, S 16ff.
[11] Vgl. Von der Groeben, 2005, S. 31.
[12] Cosson, Jahrgangsübergreifender Unterricht, 2003, S. 3.
[13] Vgl. Laging, 1995; 1997, zit. n. Roßbach, 2007, S. 81.
[14] Auras, Raumgestaltung und offenes Lernen, 2005, S. 58.
[15] Vgl. Werner, Zwei Modelle, 2005, S. 19.
[16] Vgl. Goetze-Emer u.a., Projektunterricht in altersgemischten Gruppen, 2007, S. 205.
[17] Vgl. Laging, Eine Untersuchung in der Schuleingangsstufe der Reformschule Kassel, 2007b, S. 64.
[18] Vgl. Zehnpfennig/Zehnpfennig, Offener Unterricht, 2005, S. 196.
[19] Klippert, Heterogenität im Klassenzimmer, 2010, S. 53.
[20] Vgl. Hesse, 2005b, S. 185ff.
[21] Vgl. Von der Groeben, 2005, S. 26; Vgl. Thurn, Altersmischung in der Schule, 2007.
[22] Ebd., S. 25.
[23] Aus produktionstechnischen Gründen kann der Anhang nicht in diesem Buch veröffentlicht werden.
[24] Klippert, 2000, S. 27.
[25] Paradies/Linser, Differenzieren im Unterricht, 2010, S. 48.
[26] Vgl. ebd.
[27] Vgl. ebd., S. 49.
[28] Vgl. Konrad, Erfolgreich selbstgesteuert Lernen, 2008, S, 75f.
[29] Ebd., S. 75.
[30] Duden
[31] Konrad/Traub, Kooperatives Lernen, 2008, S. 76.
[32] Wagener, Zur Lernförderlichkeit des gegenseitigen Helfens, 2010, S. 74.
[33] URL: http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=447, (14.01.2013)
[34] Sturzenhecker, Begründungen und Qualitätsstandards von Partizipation. 2005, S.1.
[35] Vgl. Newman, Lev Vygotsky, 1993, S. 56ff.
[36] Vgl. Keiler, Lev Vygotskij, 2002.
[37] Vgl. Piaget, Die Psychologie des Kindes, 2000, S.13.
[38] Vgl. ebd.
[39] Vgl. ebd.
[40] Vgl. Schwer, Zur Rekonstruktion von Präkonzeptionen Subjektiver Theorien zum Freundschaftsverständnis von Kindern, 2006, S. 163f.
[41] Aus produktionstechnischen Gründen kann der Anhang nicht in diesem Buch veröffentlicht werden.
[42] Mayring, Einführung in die qualitative Sozialforschung, 2002, S. 118.
[43] Ebd., S. 120.
[44] Vgl. ebd., S. 118.
[45] Wird im Folgenden als Kurzform für Kindertagesstätte verwendet.
[46] Vgl. www.kinderbildungshaus-paderborn.de (14.01.2013)
[47] URL: http://www.gs-tiefenbronn.pf.schule-bw.de/Forscher_AG_2Kl_2011/Kragbogen/Kragbogenbruecke_7.JPG (14.01.2013)
[48] Aus produktionstechnischen Gründen kann der Anhang nicht in diesem Buch veröffentlicht werden.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2013
- ISBN (PDF)
- 9783956845222
- ISBN (Paperback)
- 9783956840227
- Dateigröße
- 1 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Paderborn
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 2,3
- Schlagworte
- Partizipation Qualitative Beobachtung Jahrgangsübergreifender Unterricht Lerngruppe Unterricht
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing