Lade Inhalt...

Externes Statebuilding im Kosovo: Die Legitimität des neuen kosovarischen Staates

©2013 Bachelorarbeit 65 Seiten

Zusammenfassung

Die Bachelorarbeit untersucht, inwiefern sich das im Rahmen westlich-liberaler Ordnungspolitik verlaufende externe Statebuilding der internationalen Akteure auf die Legitimität staatlicher Herrschaft im Kosovo auswirkt. Mithilfe der herrschaftssoziologischen Staatskonzeption von Klaus Schlichte und der Legitimitätskonzeption von David Beetham werden Antworten gefunden.
Im Kosovo wird durch das externe Statebuilding ein Transformationsprozess induziert, der Staat und Gesellschaft gleichermaßen erfasst und die bestehende Herrschaftsstruktur beeinflusst. Aufgabe des externen Statebuilding ist es, einen westlichen Staat zu implementieren, der nach legal-rationaler Herrschaft funktioniert und dadurch seine Legitimität generiert. Die vorliegende Analyse zeigt, dass die Legitimität des kosovarischen Staates defizitär ist. Zudem entfalten die Praktiken kosovarischer Akteure eine im Hinblick auf die Legitimität staatlicher Herrschaft de-institutionalisierende Wirkung, gleichwohl tragen sie aber zur Stabilisierung der kosovarischen Gesellschaft insgesamt bei. Hierin ist gewissermaßen die Janusköpfigkeit dieser hybriden Legitimität zu sehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2 Forschungsdesign: Staats- und Legitimitätskonzeption

2.1 Herrschaftssoziologische Staatskonzeption nach Schlichte

Was Staat ist, läßt sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen oder in einer schulmäßigen Definition einfangen. Das ist in der Sache selbst begründet: der Komplexität und der raum-zeitlichen Mutabilität der staatlichen Erscheinungen. Der Begriff kann die Sache nur unter einem von unabsehbar vielen Aspekten erfassen. (Isensee 1995: 134)

In Anlehnung an dieses Zitat von Isensee ist es sinnvoll, den Staat primär als Produkt historisch-gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu begreifen, das seinen historischen Ursprung im 17./18. Jahrhundert in Europa hat und mit Prozessen der Säkularisierung und Monopolisierung der Gewalt verbunden ist (vgl. Schneckener 2006: 17; Bliesemann de Guevara/Kühn 2010: 21–34). Das Produkt der europäischen Staatsbildungsprozesse im Rahmen bürgerlich-kapitalistischer Modernisierung ist der moderne Staat. Um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den Blick zu nehmen, wird ausgehend von der Herrschaftssoziologie Max Webers der Staat als politischer Herrschaftsverband verstanden und als „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“ (Weber 1972 [1922]: 822) definiert.

Im Anschluss an die soziologischen Ansätze von Weber, Elias, Bourdieu und Foucault konzipiert Schlichte (2005) seinen Ansatz zur Analyse staatlicher Herrschaft im postkolonialen Asien, Afrika und Lateinamerika und vollzieht zugleich einen Schwenk in den postsozialistischen Staat (vgl. Schlichte 2005:167–170). Diese herrschaftssoziologische Staatskonzeption begreift den Staat sowohl als dynamischen Entwicklungsprozess (Globalisierung, Internationalisierung von Herrschaft) als auch als historisch gewachsenes Produkt (moderner Staat) mit dazugehöriger Gesellschaft. Sein Konzept ermöglicht es, Staaten in nicht westlichen Kontexten zu erfassen, die mitunter Dynamiken der (De‑)Institutionalisierung staatlicher Herrschaft aufgrund Entkolonisierung, externer Demokratisierung und Statebuilding ausgesetzt sind (vgl. Bliesemann 2009: 60 ff.). Häufig wird diesen Staaten eine hybride Herrschaft (Staatlichkeit) attestiert (vgl. u.a. Koehler/Zürcher 2004).

Schlichte definiert den Staat als „Machtfeld, über dessen Grenzen auch mit Mitteln der Gewalt entschieden wird, und dessen Dynamik vom Ideal einer kohärenten, kontrollierenden, territorialen Organisation und von den Praktiken sozialer Akteure geprägt wird“ (Schlichte 2005: 106). Mit dieser Definition kann die Wirklichkeit staatlicher Herrschaft, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Praktiken ergibt, erfasst werden. Sie ist keine pathologische Analysekonzeption, die den faktischen Zustand des nicht westlichen Staats als rein defizitär bewertet, sondern begreift Abweichungen vom Ideal als Dynamik um staatliche Herrschaft. Während das Ideal eines Staats relativ stabil ist und nur langfristigen Veränderungen unterliegt, fluktuieren die Praktiken sozialer Akteure (vgl. Schlichte 2006). Der Ansatz differenziert folglich zum einen das Ideal des Staats und zum anderen die realen Praktiken sozialer Akteure, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird.

Das Ideal des Staats entspricht der globalen Vorstellung von Staat – die Kulmination der historischen Staatsbildungsprozesse mit allen anzutreffenden Charakteristika, die für die „Selbstbeschreibung des modernen westlichen Staates“ (Schlichte 2006: 201) steht. Das Ideal ist eine faktisch-empirisch nachweisbare wirkmächtige Idee (vgl. Schlichte 2006; Schneckener 2007a), die sich global verbreitet hat („Verstaatlichung der Welt“; Reinhard 1999) und zugleich das europäische Staatsmodell auf die Welt überträgt. Trifft dieses westliche Staatsmodell auf nicht europäische Gesellschaften, bilden sich hybride staatliche Herrschaftsformen heraus (vgl. Reinhard 1999: 321). Wodurch ist nun dieses Ideal des modernen Staats gekennzeichnet? Schlichte selbst identifiziert vier wesentliche Merkmale: das staatliche Gewaltmonopol, die staatliche Autonomie resp. Suprematie nach innen (gegenüber der Gesellschaft) und nach außen (gleichberechtigte Staaten im internationalen System), Territorialität und der Apparatcharakter, der sich in Form der Bürokratie ausdrückt (vgl. Schlichte 2005: 94–101).[1] Diese Merkmale konstituieren das Ideal des Staats als „klar umrissene, durchsetzungsfähige, unangefochtene, souveräne und nach rationalen Gesetzmäßigkeiten funktionierende Einheit und als höchste Autorität in einem bestimmten Territorium“ (Bliesemann de Guevara 2009: 60). Gerade das Prinzip der Einheitlichkeit in Bezug auf ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine Staatsgewalt und der damit verbundene Anspruch, autoritativ einheitliche Regeln in die Gesellschaft zu setzen, werden bei Reinhard (2007: 12) als prägnanteste Merkmale moderner Staatlichkeit herausgestellt.

Beim Vergleich der Merkmale moderner Staatlichkeit bei Benz (2008: 11–38)[2] und Reinhard (2007: 12 ff.)[3] sowie Schlichte (2005) fällt das Fehlen der Demokratie als potenzielles Merkmal bei Letzterem auf. Dagegen werden zwei Einwände vorgebracht: Erstens koppelt Demokratie das Legitimitätsobjekt (Staat) unmittelbar an das Legitimitätssubjekt (einzelnen Bürger) und führt somit staatliche Herrschaft immer auf den Volkswillen im Sinne der Volkssouveränität zurück. Hieraus erhält der demokratisch verfasste Staat seine Herrschaftslegitimation und wird selbst zu einer Legitimitätsquelle staatlicher Herrschaft (vgl. Kaina 2009a: 151 f.; Glaser 2013: 29 ff.). Zweitens wird staatliche Herrschaft zunehmend internationalisiert, dabei ist Demokratie der Maßstab internationaler Akteure. Im Kosovo wird Demokratie als Herrschaftsform für die politische Nachkriegsordnung per UN-Sicherheitsratsbeschluss 1244 festgeschrieben (vgl. Vereinte Nationen 2011: 35–41).

Im Kosovo trifft das Ideal moderner Staatlichkeit auf staatsbezogene Praktiken sozialer Akteure. Das dabei beobachtbare Handeln und Verhalten – sowohl bewusst als auch unbewusst – wirkt auf das staatliche Herrschaftsgefüge (vgl. Schlichte 2006: 202). Die Praktiken unterscheiden sich einerseits in staatsstärkende, indem sie sich dem Ideal annähern, anderseits in staatsschwächende, indem sie sich vom Ideal wegbewegen oder ihm sogar widersprechen. Eine Typologisierung der sozialen Akteure ist hier sinnvoll, weil sich das Ideal des Staats (1) einer Vielzahl an Praktiken (n) gegenübersieht. Deshalb erscheint die grobe Differenzierung in staatliche und nicht staatliche Akteure geeignet.[4]

Im Folgenden sollen Beispiele verdeutlichen, wie vielfältig soziale Praktiken gestaltet sein können. Die wechselseitige Anerkennung von Staaten verleiht dem Staat den rechtlichen Völkerrechtssubjektstatus, wodurch er nun Teil des internationalen Staatssystems und einer unter Gleichen ist. Auf lokaler Ebene tragen Beamte, Richter und Politiker mit ihren Praktiken zur Reproduktion staatlicher Herrschaft bei, ebenso die Bürger, indem sie Steuern zahlen, wählen gehen und den Gerichtsweg nutzen, um sich gegen staatliche Hoheitsakte zu wehren. Diese Akteure können mit ihrem Verhalten den Staat und seine Herrschaft aber auch schwächen, indem bpsw. gewählte Politiker das Amt an ihre Person knüpfen und ihre Position ausnutzen, organisierte Gruppen Steuern hinterziehen oder die soziale Norm der Selbstjustiz den Bürger in seinem Handeln anleitet (vgl. Bliesemann de Guevara 2009: 62).

Die Vielzahl an faktischen Praktiken sozialer Akteure und die Reproduktion ihrer Handlungen lassen die Analyse der (De-)Institutionalisierung staatlicher Herrschaft zu. Die Praktiken können sich verändern, sodass sich Wandel von Herrschaft (vgl. Schlichte 2006: 203) und im engeren Sinne staatliche Herrschaft ableiten ließen. Herrschaft muss nämlich nicht zwangsläufig staatlich organisiert sein und kann andere Ordnungsformen annehmen (vgl. Trotha 2005; Reinhard 2007: 111–124).

2.2 Legitimität: Begriff und Konzeption

2.2.1 Theoretische Grundlage: politische Legitimität

Die Betrachtung des Staates im Sinne Webers als politischer Herrschaftsverband verbindet die Begriffe Herrschaft und Legitimität: Staatliche Herrschaft muss von der beherrschten Gesellschaft als legitim empfunden werden. Damit rückt die Konzeptualisierung von Legitimität in den Mittelpunkt. Vorausgeschickt sei, dass Legitimität grundsätzlich auf alle sozialen Herrschaftsbeziehungen anwendbar ist. Im Rahmen dieser Arbeit geht es um politische Legitimität und im engeren Sinn um staatliche Legitimität. Eine erste Annäherung an den politischen Legitimitätsbegriff erfolgt in Anlehnung an Braun/Schmitt (2009) mithilfe politikwissenschaftlicher Lexika von Schmidt (2010) und Nohlen (2010) (vgl. Braun/Schmitt 2009: 53). Schmidt (2010) differenziert drei Bedeutungsdimensionen des politischen Legitimitätsbegriffs, während Nohlen (2010) nur in Legitimitätsanspruch und Legitimitätsglaube unterscheidet. Hinsichtlich Legitimitätsanspruch und Legitimitätsglaube stimmen die beiden Autoren überein. Die drei Dimensionen nach Schmidt (2010: 462) sind:

1. Legalität: Rechtmäßigkeit einer Herrschaftsordnung durch Bindung an eine Verfassung (Recht und Gesetz),
2. Legitimitätsanspruch (normative Ausrichtung): Anerkennungswürdigkeit der Herrschaftsordnung durch allgemein verbindliche Werte, Normen und Prinzipien,
3. Legitimitätsglaube oder -überzeugung (empirische Ausrichtung): faktische Anerkennung der Herrschaftsordnung durch Herrschaftsunterworfene (vgl. Schmidt 2010: 462).

Der Begriff Legitimität ist ein multidisziplinär verwendeter Begriff, der mehrdeutig und mehrdimensional gebraucht wird. In Anlehnung an die Definition von Braun/Schmitt (2009) wird politische Legitimität grundlegend als Rechtmäßigkeit/Anerkennungs­würdigkeit einer politischen Ordnung oder einer politischen Herrschaft definiert.[5] Diese weite Definition umschließt diverse Objekte, Subjekte, Dimensionen und theoretische Zugriffe der Legitimität:

1. Legitimitätsobjekte: Staat, politisches System und weitere politische Ordnungen (u. a. Stammesgesellschaft);
2. Legitimitätssubjekte: Individuum, Bürger, Gesellschaft;
3. Legitimitätsdimensionen: Legalität, Legitimitätsanspruch, Legitimitätsglaube;
4. Legitimitätszugriff: empirisch-analytisch und normativ-theoretisch.

2.2.2 Legitimitätskonzeption nach Beetham

Im Hinblick auf den Staat als politischen Herrschaftsverband wird Legitimität als Rechtmäßigkeit bzw. Anerkennungswürdigkeit der staatlichen Herrschaft verstanden. Max Weber (1972 [1922]) ist mit seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ ein wichtiger soziologischer Ausgangspunkt für die empirische Legitimitätsforschung, denn er betrachtet Legitimität aus einer empirisch-analytischen Perspektive, die er auf den Begriff Legitimitätsglauben bringt. Herrschaft ist demnach definiert als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1972 [1922]: 28), und setzt ein Minimum an Willen zum Gehorsam voraus, weshalb für die Herrschaftsgeltung neben individuellen Motiven (wertrationale, affektive, ideelle) auch Legitimitätsglaube notwendig ist. Legal-rationale, traditionale und charismatische Herrschaft sind Idealtypen legitimer Herrschaft und vermitteln den Legitimitätsglauben vertikal von Herrschern zu Beherrschten (vgl. Weber 1972 [1922]: 122 ff.).[6] Zugleich stellen die Idealtypen legitimer Herrschaft Rechtfertigungsgründe staatlich-legitimer Herrschaft dar. Demnach ist politische Herrschaftsordnung legitim, weil sie von den Herrschaftsunterworfenen als legitim angesehen (besser: geglaubt) wird. Dabei wird allerdings nicht gefragt, welche (normativen) Kriterien aus Sicht der Herrschaftsunterworfenen die legitime Herrschaft rechtfertigen (vgl. Glaser 2013: 23 f.). Schliesky (2004: 638) bestätigt das Fehlen normativer Kriterien und fügt hinzu, dass in einer demokratisch-pluralistischen Ordnung nur der Glaube an Legalität (Rechtmäßigkeit der Rechtssetzung) durch den Legitimitätsglauben erfasst wird.

Zurecht kritisiert David Beetham (1991a) deshalb die Legitimitätskonzeption Webers, weil er Legitimität nur auf den Legitimitätsglauben reduziert, was ihrem mehrdimensionalen Charakter nicht gerecht wird (vgl. Beetham 1991a: 42). Davon ausgehend vertritt Beetham die Ansicht, dass Legitimität nur mehrdimensional fassbar sei. Sein Legitimitätskonzept umfasst drei Dimensionen: Legalität (legality), Rechtfertigung von (normativen) Regeln (justifiability of rules) und ausdrückliche Zustimmung (expressed consent) (vgl. Beetham 1991b: 158). Demnach ist politische Herrschaft (und staatliche im engeren Sinne) legitim, wenn sie erstens rechtmäßig erworben und ausgeübt wird. Dies ist dann gegeben, wenn sie mit den etablierten formellen, aber auch informellen Normen und Regeln, wie sie in der Verfassung fixiert sind, übereinstimmt. Zweitens sollten existierende Regelwerke (Normen, Gesetze etc.) den gesellschaftlich (kulturell, ideell) anerkannten Werten und Normen entsprechen, da sich politische Herrschaft durch normativ geteilte Werte, Normen und Prinzipien rechtfertigen lassen muss. Anders formuliert: Zwischen Herrschern und Beherrschten ist eine gemeinsam akzeptierte und geteilte Wert- und Normvorstellung erforderlich. Drittens benötigt legitime Herrschaft die ausdrückliche Zustimmung der Beherrschten, die sich in ihrer Wahlbeteiligung und in der politischen Partizipation manifestiert (vgl. Beetham 1991b: 15–20).

Die prinzipielle Offenheit der Legitimitätskonzeption von Beetham ermöglicht es, staatliche Legitimität in nicht westlichen Kontexten zu untersuchen, und erlaubt eine Analyse in Gesellschaften, die den Staat nicht als soziale Ordnungsform kennen, sondern traditionale, gesellschaftliche Ordnungsformen besitzen (vgl. Trotha 2005; 2011). Da es keine geteilte universelle Legitimitätsvorstellung von politischer Herrschaft gibt, können mithilfe dieser Konzeption gesellschaftliche Spezifika berücksichtigt werden. Insgesamt ermöglicht die Konzeption eine Anpassung an einen bestimmten gesellschaftlichen Kontext und die damit verbundene Diversität von Vorstellungen über die Legitimität politischer Herrschaft.

2.3 Operationalisierung und weiteres methodisches Vorgehen

2.3.1 Messung staatlicher Legitimität (Teilfrage 1)

In einem ersten Schritt wird der Zustand der Legitimität des kosovarischen Staats mithilfe folgender Arbeitsdefinition aus empirisch-analytischer Perspektive untersucht: Staatliche Legitimität bedeutet die Anerkennung der Rechtmäßigkeit staatlicher Herrschaft durch die Herrschaftsunterworfenen im Hinblick auf Legalität, Rechtfertigung und faktische Zustimmung. Sie wird mithilfe von Gilley (2009), der als Grundlage die Legitimitätskonzeption von Beetham (1991b) verwendet, operationalisiert.

Gilley (2009) formuliert als Hypothese, dass ein Staat umso legitimer sei, je mehr ihn die Bürger als rechtmäßigen Inhaber von Gewalt und in der rechtmäßigen Ausübung staatlicher Gewalt anerkennen (Gilley 2012: 694). Gilley konzeptualisiert Legitimität über die Ausdifferenzierung des Begriffs Rechtmäßigkeit (rightfull/rightfullness) (vgl. Gilley 2009: 3–11). Daaus ergeben sich in Anlehnung an Beetham ebenfalls die drei bekannten Dimensionen staatlicher Legitimität (sub-types of legitimacy): Legalität (views of legality), Rechtfertigung (views of justification) und faktische Zustimmung der Bürger (acts of consent). Der wesentliche Unterschied zu Beetham besteht darin, dass Gilley staatliche Legitimität ausschließlich aus individueller Perspektive der Bürger analysiert.[7] Zur Verdeutlichung dient folgendes Beispiel: Beetham geht von einer (normativen) richterlichen Beurteilung von Legalität aus und folgert daraus, dass Legalität „quite independent of people’s beliefs; it is a matter of judicial determination“ (Beetham 1991b: 12). Gilley hingegen geht vom Glauben der Bürger in den rechtmäßigen Erwerb und in die rechtmäßige Ausübung staatlicher Herrschaft aus (vgl. Gilley 2006: 502). Staatliche Legitimität wird folglich als „rightfulness ‚as believed‘ by citizens“ (Gilley 2006: 502) in allen drei Legitimitätsdimensionen behandelt. Somit klammert Gilley die normative Bewertung, wie sie Beetham konzipiert, aus und operationalisiert sein Legitimitätskonzept mithilfe zweier Variablentypen: Einstellungen und konkrete Handlungen der Bürger. Auf der einen Seite lassen sich die Einstellungen der Bürger mithilfe von Umfragen oder Medienberichten abfragen. Konkrete Handlungen der Bürger (soziale Praktiken) machen hingegen die staatliche Legitimität messbar. In der im Anhang befindlichen Tabelle 4 sind die verwendeten Indikatoren aufgeführt. Die Daten generiert Gilley v. a. über die Datenbank World Values Survey.

Um zu ergründen, wie es um die faktische Anerkennung staatlicher Herrschaft aus Sicht der Kosovo-Albaner im Kosovo bestellt ist (Teilfrage 1), werden einige der von Gilley verwendeten Indikatoren ausgewählt. Für diese Arbeit ist es nicht möglich, auf Daten des World Values Survey zurückzugreifen, da keine Daten für den Kosovo vorliegen. Stattdessen wird auf empirisches Datenmaterial des United Nations Development Programme (UNDP) und des International Foundation for Electoral Systems (IFES) zurückgriffen. Als Indikatoren für die Legitimität werden aus der Legalitäts-Dimension das Vertrauen in Polizei und Gerichte und daneben Zufriedenheitswerte verschiedener staatlicher Institutionen in der Rechtfertigungs-Dimension gewählt. Einen überaus wichtigen Indikator stellt die faktische Zustimmung zum Staat durch Wahlen zu den nationalen und kommunalen Parlamenten dar. Hierbei lässt eine Längsschnittanalyse von 2000 bis zu den letzten Wahlen 2010/2011 Rückschlüsse auf die staatliche Legitimität zu. Aus Perspektive der herrschaftssoziologischen Staatskonzeption ist die Beteiligung an Wahlen zum Parlament bzw. die Nicht-Beteiligung ein Ausdruck sozialer Praktiken, die gleichsam darauf schließen lassen, wie es um die Akzeptanz staatlicher Herrschaft bestellt ist. Demnach entfaltet der freie (zwanglose) Gang zur Wahl staatsstärkende Wirkung.

2.3.2 Modifizierte Staatskonzeption (Teilfrage 2)

Nachdem die Indikatoren einen Einblick in den Zustand staatlicher Legitimität gewährt haben, wird auf dieser Grundlage und mithilfe der Staatskonzeption von Schlichte (2005) die (De-)Institutionalisierungsdynamik staatlicher Herrschaftslegitimität fokussiert. Dabei sind besonders die Auswirkungen des externen Statebuildings nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 bedeutsam. Durch den Einfluss des externen Statebuilding wird angenommen, dass sich bei erfolgreichem Statebuilding die staatliche Legitimität auf legal-rationale Herrschaft und somit moderne Legitimitätsquellen stützt. Daher nähern sich die Praktiken sozialer Akteure dem modernen Staatsideal an.

Die bisherigen Ausführungen zum Begriff Legitimität fügen sich in die herrschaftssoziologische Staatsdefinition ein und bilden die modifizierte Staatskonzeption. Demzufolge tritt zum Ideal von Staatlichkeit die Legitimität staatlicher Herrschaft hinzu und sieht sich den vielen Praktiken sozialer Akteure gegenüber. Beispielsweise werden durch die Praktiken internationaler Akteure wie die Konzepte der Good Governance oder externes Statebuilding westliche Legitimitätskonzepte in die Interventionsgesellschaft transportiert. Die Modifizierung setzt sich unmittelbar dem Vorwurf aus, eine westliche Legitimitätsvorstellung als Ideal zu erheben, also einen nach westlichen Vorstellungen gestalteten Maßstab zu setzen, an dem sich die Praktiken sozialer Akteure im Kosovo messen lassen müssen. Deshalb wird im Folgenden nicht auf einen normativ – zweifelsohne gehaltvollen – Legitimitätsbegriff rekurriert, sondern ein empirisch-analytischer Legitimitätsbegriff, der die drei Legitimitätsdimension aus Sicht der Herrschaftsunterworfenen beachtet und sich auf die „faktische Anerkennung einer Herrschaftsordnung seitens der Herrschaftsunterworfenen als rechtmäßig und verbindlich“ (Braun/Schmitt 2009: 53) bezieht, zugrunde gelegt.

Die von Schlichte vorgenommene Operationalisierung in staatsfördernde und staatsschwächende Praktiken sozialer Akteure wird aufgegriffen und in drei Untersuchungsbereichen, die Eastons Konzept der politischen Unterstützung [8] entliehen sind, analysiert. Im Weiteren dienen die drei zentralen Objekte des politischen Systems Gemeinschaft, Regime und Herrschaftsträger als Analyserahmen. Das politische System ist im Verhältnis zum Staat der weitere Begriff und inkludiert den Staat. Dies bedeutet, dass die Unterstützungsobjekte – im Weiteren Analysekategorien genannt – hinsichtlich des Staats spezifiziert werden müssen. Dies erfolgt durch Rückgriff auf Pickel/Pickel (2006: 79). Zum einen wird die politische Gemeinschaft durch das Staatsvolk bestimmt, also alle Staatsangehörigen des Staats Kosovo. Der Fokus wird in der Analyse besonders auf der kosovarischen kollektiven Identität liegen (vgl. Pickel/Pickel 2006: 79). Zum anderen bezieht sich das politische Regime auf die Struktur kosovarischer staatlicher Institutionen. Klassischerweise sind dies Regierung, Gerichte, Verwaltung, Parlamente usw. Den Fokus der Analyse wird die Judikative bilden und insbesondere Ineffizienz sowie Korruption und organisierte Kriminalität thematisieren. Außerdem beziehen sich politische Herrschaftsträger auf konkrete staatliche Akteure, die Inhaber politischer Ämter oder Funktionen sind. Im Staat sind dies typischerweise staatliche Autoritäten wie der Regierungschef oder der Staatspräsident. Sie reproduzieren mit ihren Praktiken den Staat. Die Analyse wird sich auf die Transformation der UÇK in der kosovarischen Nachkriegsgesellschaft konzentrieren.

3 Zur Analyse der Legitimität staatlicher Herrschaft im Kosovo

Die empirische Analyse wird zunächst in die verschiedenen Herrschaftsphasen des Kosovo einführen, um das Verhältnis Staat und Gesellschaft zu bestimmen (3.1). Daran anschließend wird der Zustand staatlicher Legitimität analysiert, um herauszufinden, wie es um die faktische Anerkennung staatlicher Herrschaft seitens der Bürger bestellt ist (3.2). Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für den modifizierten Analyseansatz, um in den entsprechenden Analysekategorien die (De-)Institutionalisierungsdynamiken staatlicher Herrschaftslegitimität zu untersuchen (3.3).

3.1 Einführung: Staat, Gesellschaft und Legitimität

Im Folgenden werden auf Grundlage von Schmitt (2008) drei große historische Entwicklungsetappen unterschieden. Darauf aufbauend wird als vierte Phase die internationalisierte Herrschaft der internationalen Akteure während der Postkonfliktphase behandelt. Während der fünften Phase verlagerte sich im Zuge der Unabhängigkeitserklärung 2008 die politische Verantwortung wieder auf lokale kosovarische Akteure. Der kosovarische Staat muss sich seitdem selbst über seine Gesellschaft legitimieren.

3.1.1 Erste bis dritte Phase: osmanische, serbische und sozialistische Herrschaft

In diesem Abschnitt wird das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Kosovo näher bestimmt, um wirkmächtige Denk- und Handlungsstrukturen der kosovarischen Gesellschaft herauszustellen. In Anlehnung an Schmitt (2008) können drei große historische Entwicklungsetappen unterschieden werden. Die vormoderne Phase (siehe auch Sundhaussen 2011: 345–353) umfasst die vormoderne kosovarische Gesellschaft unter imperialer osmanischer Herrschaft, die 1912 mit der serbischen Herrschaft über das Kosovo endete. Charakteristisch für diese Phase sind die in Form patriarchalischer Großfamilien organisierte Gesellschaft und ihre hohe Distanz zum Staat. Die segmentierte Gesellschaft konnte fernab von Stadtzentren ihre staatsferne traditionale Kultur pflegen (vgl. Schmitt 2008: 92, 86 f.) und deckte ihren zum Leben notwendigen Bedarf durch Eigenproduktion (Subsistenzwirtschaft) (vgl. Sundhaussen 2011: 350). Das Individuum wurde über Sippenzugehörigkeit sozialisiert und definierte sich deshalb über die Zugehörigkeit zur Familie (vgl. Sundhaussen 2011: 352). Gesellschaftliche Konflikte regelte nicht der Staat, sondern das traditionale Gewohnheitsrecht Kanun der Albanisch sprechenden Gesellschaft, was bis heute eine Herausforderung für die Geltung des staatlichen Rechts darstellt (vgl. Schmitt 2008: 74).

Die zweite Phase[9] wurde mit der serbischen (Repressions-)Herrschaft im Zuge der beiden Balkankriege (1912/13) eingeleitet dauerte bis zum Ende des Kosovo-Konflikts 1999. Gleichwohl stellte sich mit der überhöhten serbischen Repressionspolitik unter Slobodan Milošević eine neue Qualität ein, weshalb diese Zeit gesondert als dritte Phase behandelt wird. In den beiden Balkankriegen annektierte das Königreich Serbien das Gebiet Kosovo und inkorporiert es in den serbischen Staat (vgl. Clewing 2008: 19–22; Göbelt 2008: 237). Während der serbischen Repressionsherrschaft stagnierte der Modernisierungsprozess und das Leben der Kosovo-Albaner verlief weiterhin in den großfamiliär organisierten Gesellschaftsstrukturen. Die tradierte Gesellschaftsstruktur mit gewohnheitsrechtlichen Normen stabilisierte die kosovarisch-albanische Gesellschaft gegen die Serbisierungspolitik, die auf Assimilierung und Kolonisierung der albanischen Mehrheitsbevölkerung im Kosovo zielte. In dieser Hinsicht erstaunt nicht, dass die durch die Serben etablierten staatlichen Institutionen im Kosovo auf wenig Vertrauen stießen (vgl. Schmitt 2008: 2010; Pichler 2008: 63 f.). Erst in der sozialistischen Phase ab 1945 kam es im Kosovo zu einem weitreichenden Modernisierungsprozess, der sowohl Gesellschaft als auch den Staat erfasste. Die sozialistische Transformation brachte den „peripheren sozialistischen Staat“ (Schlichte 2005: 167–170) in den Regionen Balkan, Zentralasien und Kaukasus hervor (vgl. Hensell 2004), wozu auch der Kosovo gehört (vgl. Hensell 2009: 123 f.). Nach Hensell (2004) liegt die Besonderheit des peripheren sozialistischen Staats darin begründet, dass ihm nicht eine Phase bürgerlich-kapitalistischer Modernisierung voran ging, sondern er den sozialen Wandel schlechthin darstellte. Erst das sozialistische Programm der Entwicklung stellte in diesen Gesellschaften den entscheidenden Modernisierungsschub dar (Hensell 2004: 17).

Weiterhin bringt er diesen peripheren sozialistischen Staat auf den Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staats (vgl. Hensell 2004: 18), der sich im Gegensatz zum rationalen bürokratischen Anstaltsstaat[10] (vgl. Weber 1972 [1922]: 124–130) durch folgende Charakteristika gekennzeichnet: unzureichende Trennung zwischen öffentlicher und privater, politischer und wirtschaftlicher Sphäre sowie zwischen Amt und Person (vgl. Hensell 2004: 11). Dies führt dazu, dass „Klientelismus sowie Patronage für die Herstellung politischer Legitimität“ (Hensell 2004: 11) dienen.

In der kosovarischen Gesellschaft kam es im Laufe der Zeit zu tief greifenden sozio-kulturellen Transformationsprozessen. Dabei sind drei Entwicklungen besonders hervorzuheben: Erstens förderte eine Bildungs- und Wissenschaftspolitik den allgemeinen Bildungsstand der kosovarischen Gesellschaft, wobei sich zugleich eine intellektuelle Elite sowie eine wirtschaftliche und politische Führungsschicht herausbildeten (vgl. Schmitt 2008: 243–247). Dies trug dazu bei, dass sich die ethnonationalen Antagonismen zwischen Kosovo-Albanern und Serben verschärften (vgl. Schmitt 2008: 238–242). Die zunehmende Industrialisierung brachte eine Arbeiterschicht hervor, die ebenso einer ethnonationalen Mobilisierung unterlag (vgl. Schmitt 2008: 259). Zweitens wirkte sich die sozialistische Transformation auf das Stadt-Land-Verhältnis aus. Auf der einen Seite beruhte die gesellschaftliche Ordnung auf dem Land im Wesentlichen auf traditionalen Praktiken (vgl. Schmitt 2008: 260 ff.), während die Städte einen Modernisierungsschub durchliefen (vgl. Schmitt 2008: 271). Die „alte urban-intellektuelle und die neue dörfliche Elite“ (Schmitt 2008: 325) standen sich in Form der friedlichen (LDK mit Rugova) und gewaltbereiten (UÇK) Lösung für die kosovarischen Autonomiebestrebungen während der intensiven Repressionspolitik unter Milošević gegenüber (vgl. Schmitt 2008: 325). Drittens unterstützten die in der Diaspora lebenden Kosovo-Albaner ihre in der Heimat verbliebenen Familien und stellten so das wirtschaftliche Überleben der Familie sicher (vgl. Schmitt 2008: 284).

Auf dem Höhepunkt der zweiten Phase wurden dem Kosovo zwischen 1968 und 1974 wesentliche Autonomierechte innerhalb des jugoslawischen Bundesstaats zugesprochen. Das Kosovo war somit gegenüber den anderen föderalen Entitäten wie Serbien formal gleichgestellt, jedoch ohne das Recht auf Sezession (vgl. Schmitt 2008: 231–233; Pichler 2008: 68–71). Die kosovarische Autonomie wurde im Zuge der serbischen Verfassungsänderung 1989 beendet und durch die erneute nationalistisch-serbische Repressionspolitik unter Milošević abgelöst (dritte Phase). Den Hintergrund bildete der zunehmende ethnonationale Widerspruch zwischen Serben und Kosovo-Albanern (vgl. Sundhaussen 2000: 82–85). Das Memorandum der Serbischen Akademie der Künste und Wissenschaften von 1986 ist ein herausragendes Zeugnis der damaligen serbischen Haltung gegenüber den Kosovo-Albanern. Das Dokument konzentriert den serbischen Nationalismus in Reinform und behauptet einen Genozid der Serben durch die Kosovo-Albaner im Kosovo (vgl. Sundhaussen 2000: 80 ff.). Zugleich gab das Dokument den notwendigen serbischen Handlungsrahmen vor (vgl. Sundhaussen 2000: 80 ff.; Pichler 2008: 68). Die repressive Serbisierung des Kosovo mündete in den Rückzug der albanischen Gesellschaft in tradierte Gesellschaftsstrukturen. Schmitt (2008) stellt fest, dass die Kosovo-Albaner „nie von staatlichen Machtsystemen vollständig erfasst und integriert worden“ (Schmitt 2008: 316) sind und gerade in ihren „traditionellen großfamiliären Strukturen“ (Schmitt 2008: 316) die serbische Unterdrückungsherrschaft stabilisiert wurde.[11] Die kosovo-albanische Gesellschaft etablierte einen Schattenstaat, der durch Gelder aus der Diaspora gestützt wurde (vgl. Kretsi 2008: 191–199; Schmitt 2008: 287). Abseits der serbisch beherrschten staatlichen Institutionen wurde ein eigenes System errichtet, das u. a. Steuersystem, Verwaltung, Schulen, Gesundheitswesen umfasste (vgl. van Meurs 2011: 746; Schmitt 2008: 316 f.).

3.1.2 Vierte Phase: internationale Herrschaft (1999–2008)

Der Übergang zur vierten Phase begann mit Herbeiführung einer internationalen Lösung für das Kosovo. Die friedliche kosovarische Politik von Ibrahim Rugova und seiner Partei Demokratische Liga des Kosovo (LDK) führte nicht zur Unabhängigkeit und Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft und der bewaffnete Kampf der UÇK gegen die serbische Obstruktion letztlich zum internationalen Engagement westlicher Staaten (vgl. Reuter 2000: 171; Schmidt 2000: 198 f.; van Meurs 2011: 740).

Darauf aufbauend wird im Rahmen dieser Arbeit die internationalisierte Herrschaft im Kosovo als vierte Phase betrachtet. Sie reicht vom 10. Juni 1999 bis zur Unabhängigkeitserklärung am 17. Februar 2008. In der Nachkriegsphase ist das Kosovo Arena einer großen Anzahl internationaler Akteure gewesen – und durch die Europäische Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX weiterhin. Aus herrschaftssoziologischer Perspektive treten die internationalen Akteure als Herrscher auf, die umfassend vorgeben, wie der neue – moderne – kosovarische Staat[12] auszusehen habe: Sie sind Inhaber der souveränen staatlichen Herrschaft. Dies verdeutlicht, dass die staatliche Herrschaft internationalisiert ist (vgl. Bliesemann de Guevara 2009: 91–100). Hiergegen bringen Kritiker die Entpolitisierungsthese an, dass „die Ausgestaltung des Staates im Statebuilding nicht mehr Ergebnis lokaler Willensbildungs- und Aushandlungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Akteuren und dem Staat sei“ (Bliesemann de Guevara/Kühn 2010: 49). Vor diesem Hintergrund ist es daher wichtig, dass die internationale Herrschaftsausübung von der kosovarischen Gesellschaft als legitim wahrgenommen wird, um dauerhaft Legitimität zu entfalten. Darüber hinaus müssten die internationalen Akteure zugleich darauf bedacht sein, die internationale Herrschaft wieder in lokal anerkannte Herrschaft zu transformieren (vgl. Bliesemann de Guevara/Kühn 2010: 46).

Auf Grundlage der UN-Resolution 1244 (Juni 1999) bildete sich eine komplexe Struktur internationaler Akteure heraus (vgl. Schoch 2010: 23). Die UN-Resolution 1244 gab neben der Friedenssicherung das ambitionierte Ziel vor, demokratische Selbstverwaltungsinstitutionen zu errichten (vgl. Vereinte Nationen 2001: 37 f.). Die Friedenssicherung gewährleisteten die internationale militärische Präsenz der NATO und ihre Mission KFOR. Des Weiteren wurden internationale zivile Präsenz durch die UN und eine Interimsverwaltungsmission (UNMIK) eingerichtet, die mithilfe weiterer internationaler Akteure den demokratischen Staatsbau durchführten.[13] Der Special Representative of the Secretary-General (SRSG) wurde als Leiter der UNMIK mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet (vgl. Schoch 2010: 8). Hierfür waren die Erfahrungen aus Bosnien und Herzegowina verantwortlich sowie die herausragende Aufgabe, einen modernen, demokratischen Staat zu errichten (vgl. Rossbacher 2008: 97). Gleichwohl ging die UN-Resolution 1244 zunächst nur von demokratischen Selbstverwaltungsinstitutionen mit substanzieller Autonomie unter Wahrung der territorialen Integrität Serbiens aus (vgl. Vereinte Nationen 2001: 37 f., Ziffern 10 und 11). Die dazugehörigen Selbstverwaltungsinstitutionen (Präsident, Regierung, Parlament und Gerichte) wurden durch den provisorischen Verfassungsrahmen (Constitutional Framework) schnell geschaffen (vgl. Schoch 2010: 12).

3.1.3 Fünfte Phase: kosovarische Herrschaft (ab 2008/2012)

The Comprehensive Proposal offers Kosovo the possibility of stability, prosperity and good governance. Whether that possibility becomes reality depends on the people of Kosovo, and in particular on you, their democratic representatives. It is in your power, and your power only, to make Kosovo prejudiced or tolerant, to make Kosovo corrupt or fair, to make Kosovo a failure or a success. (Rede Athissari 2012)

Die Abbildung 1 im Anhang verdeutlicht, dass sich aus Sicht der Kosovaren die Zurechenbarkeit der Verantwortung für die politische Situation seit 2008 im Kosovo verlagert hat. Von Juli 2008 bis April 2012 sehen die kosovarischen Bürger die Verantwortung für die politische Situation ihres Landes bei der kosovarischen Regierung und den politischen Parteien, während von Juni 2003 bis Juli 2008 die internationale Gemeinschaft in Form der UNMIK für die politische Situation verantwortlich gemacht wurde. Im Wesentlichen übernahm die UNMIK seit Beginn ihrer Mission 1999 alle staatlich hoheitlichen Befugnisse. Dabei schufen die internationalen Akteure einen westlich-liberalen Staat in der kosovarischen Nachkriegsgesellschaft, ohne die lokalen Akteure gleichberechtigt miteinzubeziehen (vgl. Bliesemann de Guevara/Kühn 2010: 48 f.). Die Verlagerung der Verantwortungszurechnung für die politische Situation ist auf die Erklärung der Unabhängigkeit am 17.02.2008 zurückzuführen. Die Kosovaren machen seitdem zu beinahe 90 % (April 2012) die kosovarische Regierung und die Parteien für die Situation verantwortlich.

Dies bedeutet im Hinblick auf die staatliche Herrschaftslegitimität, dass sich mit der Unabhängigkeit 2008 der kosovarische Staat nunmehr selbst in der Gesellschaft legitimieren muss, indem er bspw. kollektiv verbindliche Entscheidungen in der Gesellschaft herbeiführt und weiterhin staatliche Kernfunktionen wie die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten kann. Deshalb ist der kosovarische Staat auf Legitimitätsüberzeugungen der Herrschaftsunterworfenen angewiesen. Des Weiteren ist für die fünfte Phase charakteristisch, dass die internationalisierte Herrschaft sukzessive an lokale Herrschaft übertragen wird. Somit haben die lokalen Akteure selbst entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Staat und staatlicher Herrschaft. Aus diesem Grund wird im folgenden Abschnitt der Zustand der staatlichen Legitimität im Kosovo untersucht.

3.2 Zustand der Legitimität staatlicher Herrschaft

Folgende Ausführungen zielen auf die Situation der faktischen Anerkennung staatlicher Herrschaft seitens der Kosovo-Albaner. Dabei wird die staatliche Legitimität hinsichtlich der Dimensionen Legalität, Rechtfertigung und faktische Zustimmung mithilfe der folgenden Indikatoren operationalisiert (siehe 2.3.1). Das Vertrauen in Polizei und in die kosovarischen Gerichte gibt einen Einblick in die Legalitätsdimension, während die Zufriedenheit der Bürger in staatliche Kerninstitutionen die Rechtfertigungsdimension adressiert. Weiterhin ist die Beteiligung der Bürger an Wahlen sichtbares Zeichen für die faktische Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen. Als empirisches Datenmaterial dienen die Daten des United Nations Development Programme (UNDP 2012) und der International Foundation for Electoral Systems (IFES 2008; 2010; 2011).

3.2.1 Dimension Legalität: Vertrauen in Polizei und Justiz

Eine wesentliche staatliche Kernfunktion ist die Gewährleistung der physischen Sicherheit der Bürger (vgl. Schneckener 2006: 21 f.). Die physische Sicherheit war aufgrund der Nachkriegsbedingungen problematisch, da es zu Racheakten und Vertreibungen seitens der Kosovo-Albaner gekommen ist (vgl. Rathfelder 2010: 282–286). Der sukzessive Aufbau von Sicherheitskräften sorgte für ein stabiles und sicheres Umfeld (vgl. Kramer/Džihić 2005: 37 ff.). Die kosovarische Polizei (KPS) wurde infolge der UNMIK etablierte und befindet sich heute unter Zuständigkeit des kosovarischen Innenministeriums. Abbildung 2 im Anhang verdeutlicht das sehr hohe Vertrauen von rund 90 % im Zeitraum 2008–2011 der kosovarischen Bevölkerung (außer Kosovo-Serben) gegenüber der Polizei (vgl. IFES 2008: 12; 2010: 12; 2011: 15), die nicht nur wegen des hohen Vertrauens und Ansehens bei der eigenen Bevölkerung als Musterstück für erfolgreiche Friedenskonsolidierung gilt. Auch die internationalen Akteure bestätigen, dass die kosovarische Polizei vertrauenswürdig und professionell ist (vgl. Schleicher 2012: 172–176; Baliqi 2008: 187–191).

Im Vergleich hierzu schneidet das Vertrauen in das kosovarische Gerichtssystem schlecht ab. Es schwankt von 2008 bis 2011 zwischen 64 % und 42 % (vgl. IFES 2008: 12; 2010: 12; 2011: 15). Wesentlicher Faktor hierfür ist die Ineffizienz des kosovarischen Justizwesens, die im nächsten Abschnitt (3.2.2) tiefer gehend behandelt wird. Des Weiteren leidet die Unabhängigkeit der Justiz aufgrund organisierter Kriminalität sowie grassierender Korruption (3.3.2).

3.2.2 Dimension Rechtfertigung: Zufriedenheit mit politischen Institutionen

Die Zufriedenheit wird anhand verfügbarer Zufriedenheitswerte für März 2007 bis April 2012 für den Premierminister (Teil der Exekutive), das kosovarische Parlament (Teil der Legislative) sowie die Gerichte (Teil der Judikative) betrachtet (Abbildung 3 im Anhang).

Besondere Aufmerksamkeit erlangen die kosovarischen Gerichte wegen ihrer niedrigen Zufriedenheitswerte seitens der Kosovaren, der von März 2007 bis April 2012 zwischen 15 % und 33 % (vgl. UNDP 2012: 5). Auf Grundlage eigener Berechnungen (siehe Tabelle 1) ergibt sich in diesem Zeitraum ein Mittelwert an Zufriedenheit mit den Gerichten von 21,4 %. Im April 2012 verzeichnen die Gerichte einen niedrigen Zufriedenheitswert von 15,7 %. Die staatlichen Institutionen der Exekutive und Legislative schneiden im Vergleich deutlich besser ab. Der Premierminister des Kosovo verzeichnet im Zeitraum März 2007 bis April 2012 einen Zufriedenheitsmittelwert von 45,8 % (vgl. UNDP 2012: 5). Dabei fällt allerdings auf, dass der Zufriedenheitswert seit Mai 2008 kontinuierlich sinkt und sich im April 2012 auf seinem Tiefststand von 23,7 % befindet. Das kosovarische Parlament kann auf einen Zufriedenheitsmittelwert von 39,4 % im Zeitraum März 2007 und April 2012 verweisen (vgl. UNDP 2012: 5).

Tabelle 1: Zufriedenheitsberechnung zwischen März 2007 bis April 2012

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage UNDP (2012: 5).

Zusammenfassend stellt sich die Zufriedenheit mit staatlichen Kerninstitutionen seitens der Kosovaren als bedenklich dar. Vor allem die Zufriedenheitswerte der kosovarischen Gerichte sind als defizitär zu bezeichnen.

Die Ineffizienz der kosovarischen Justiz kann anhand des Berichts der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union (EULEX) von 2011 verdeutlicht werden. Der gesamte Input an Kriminaldelikt- und Zivilstreitigkeitsfällen belief sich 2010 auf 535 291 Fälle (vgl. EULEX 2011: 43), davon 213 967 noch aus dem Jahr 2009. Demnach sind 2010 insgesamt 322 324 neue Fälle hinzugekommen, von denen die kosovarischen Gerichte 300 560 bearbeiteten, die restlichen 235 731 Fälle wurden ins Jahr 2011 übertragen (vgl. EULEX 2011: 43). In ihrem Fortschrittsbericht (2010) urteilt die Europäische Kommission daher, dass das kosovarische Justizsystem stark überlastet ist, und stellt dabei die Ineffizienz heraus. Des Weiteren verweist sie auf die gefährdete juristische Unabhängigkeit aufgrund politischer Einmischung in laufende Prozessangelegenheiten (vgl. Europäische Kommission 2010: 11). Weiterhin beurteilt auch der Nations-in-Transit-Bericht von Freedom House das kosovarische Justizwesen als strukturelle Schwäche des kosovarischen Staates (vgl. Gashi 2012: 282).

3.2.3 Dimension faktische Zustimmung: Wahlbeteiligung

Die ersten Wahlen im Kosovo fanden bereits am 28. Oktober 2000 in der Post-Konfliktphase statt. Die Kommunalwahlen wurden von den internationalen Akteuren organisiert und durchgeführt (vgl. Schoch 2012: 107). Die ersten von den kosovarischen Akteuren selbst organisierten und durchgeführten Wahlen waren die Kommunalwahlen und die Bürgermeisterwahlen im Jahr 2009 (vgl. Schleicher 2012: 92). Die Wahlen können auf drei politischen Ebenen stattfinden, sodass die Wahlbeteiligung auf diesen verschiedenen Ebenen gemessen werden kann. Im November 2007 fanden sowohl die Wahlen zum nationalen Parlament als auch zu den kommunalen Parlamenten statt. Darüber hinaus wurden zum ersten Mal die Bürgermeister direkt gewählt (vgl. Schleicher 2012: 91 f.). Die Beteiligung an der Wahl zum kosovarischen Parlament belief sich auf 42,8 % (vgl. OSCE 2007a), an der Wahl zu den kommunalen Parlamenten auf 39,4 % (vgl. CEC o. J.: o. S.) und bei der Bürgermeisterwahl auf 31,8 % (vgl. OSCE 2007b). Im Weiteren wird die Wahlbeteiligung zum kosovarischen Parlament sowie zu den Kommunalwahlen im zeitlichen Verlauf dargestellt.

Parlamentswahlen (2001, 2004, 2007, 2010/2011)[14]

Die ersten Wahlen zum provisorischen Parlament im Rahmen der provisorischen Selbstverwaltungsorgane (PISG) fanden am 17. November 2001 statt und die Wahlbeteiligung lag bei 64,3 %. Die folgenden Wahlen fanden am 24. Oktober 2004 statt, wobei die Wahlbeteiligung auf 53,7 % zurückging (vgl. OSCE 2004). Zur Wahl am 17. November 2007 sank die Wahlbeteiligung erneut und erreichte einen Wert von 42,8 % (vgl. OSCE 2007a). Die Wahlbeobachterin und Abgeordnete des Europäischen Parlaments Doris Pack war über die Wahlenthaltung der Kosovo-Serben im Nordkosovo nicht erstaunt, da diese Region de facto vom Kosovo separiert ist und durch die Kosovo-Serben boykottiert wird. Viel gravierender ist für sie die niedrige Wahlbeteiligung der Kosovo-Albaner und des nicht serbischen Bevölkerungsanteils. Pack (2007: 10) sieht Ursachen vor allem in den schlechten Lebensbedingungen, der wirtschaftlichen Lage, der Korruption sowie in der bis dahin noch ungeklärten Statusregelung des Kosovo. Die ersten Wahlen zum Parlament der Republik Kosovo fanden am 12. Dezember 2010 statt und wurden wegen Unregelmäßigkeiten in einigen Wahlkreisen wiederholt (vgl. ENEMO 2011: 3). Das endgültige Wahlergebnis wurde am 30. Januar 2011 von der Central Election Commission (CEC) präsentiert. Die Wahlbeteiligung ist leicht auf 45,3 % gestiegen (vgl. CEC 2011).

Kommunalwahlen (2000, 2002, 2004, 2007, 2009)[15]

Die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen ist im Gesamtverlauf während der Untersuchungszeit stark rückläufig. So lag sie im Jahre 2000 bei 79 %, während sie 2002 auf 53,9 % sank. 2004 betrug sie 49,5 % und im Wahljahr 2007 fiel sie weiter auf 39,4 % (vgl. CEC o.J.). Im Jahr 2009 wurden die ersten Kommunalwahlen im Kosovo seit der Unabhängigkeitserklärung abgehalten. Rund 45 % der Bürger nahmen an der Wahl teil (vgl. ENEMO 2009b: 3). Das European Network of Election Monitoring Organizations (ENEMO) berichtet, dass viele internationale Standards bei der Wahl eingehalten wurden, machte dabei aber zugleich darauf aufmerksam, dass internationale Organisation wie OSZE oder IFES die CEC weiterhin unterstützen müssten (vgl. ENEMO 2009a: 3).

Zwischenfazit

Im Hinblick auf die staatliche Legitimität wäre es ein Fehlschluss, ausschließlich wegen der niedrigen Wahlbeteiligung auf eine mangelnde staatliche Legitimität zu schließen. Stattdessen müssen bei der Bewertung der Wahlbeteiligungsergebnisse die Faktoren berücksichtigt werden, aufgrund derer es zu dieser niedrigen Beteiligung gekommen ist. Einerseits könnte der Bürger aufgrund schlechter Performanz des politischen Systems nicht zur Wahl gehen, andererseits gerade wegen bestehender Zufriedenheit mit der Politik (gute Performanz) den Gang zur Urne für nicht erforderlich betrachten. Beide Begründungen haben folglich nur eine bedingte Aussagekraft hinsichtlich staatlicher Legitimität. Allerdings kann sich Performanzschwäche langfristig negativ auf die staatliche Legitimität auswirken (vgl. Höpken 2009: 46). Ein weiterer Faktor ist, dass die Kosovo-Serben im Nordkosovo ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen und die Wahlen boykottieren. Daher ist das Wahlbeteiligungsergebnis bereits von vornherein niedriger und entfaltet eine staatsschwächende Wirkung.

Im Kosovo wird vermutet, dass aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und Armut als größte Probleme der kosovarischen Bevölkerung sowie der Unfähigkeit der kosovarischen Politik, diese kurzfristig zu beheben, der Gang zur Wahl verweigert wird. Der UNDP Public Pulse Report (2012: 22) zeigt in der Messung vom April 2012, dass lediglich 30,4 % zur nächsten Wahl und 28,1 % definitiv nicht wählen gehen werden.[16]

Auf Grundlage der untersuchten Indikatoren in den drei Legitimitätsdimensionen lässt sich zusammenfassend der Zustand der staatlichen Legitimität im Kosovo als defizitär bewerten. Hierfür ist wesentlich das mangelnde Vertrauen in das kosovarische Justizsystem verantwortlich. Eine Ausnahme bildet die kosovarische Polizei, die durchweg hohe Vertrauenswerte aufweist. Dennoch bezeugen auch die niedrigen Zufriedenheitswerte in Bezug auf staatliche Kerninstitutionen wie Gerichte, Parlament sowie Premierminister, dass die staatliche Legitimität defizitär ist. Diese Bewertung wird durch die stetig sinkende Beteiligung an den Wahlen zu den nationalen und kommunalen Parlamenten bestätigt. Allerdings muss das Ergebnis kritisch betrachtet werden, weil es sich auf ausgewählte Indikatoren mit begrenzter Aussagekraft stützt. Ein genereller legitimitätsschwächender Faktor ist, dass keine Akzeptanz eines gemeinsamen kosovarischen Staats seitens der Kosovo-Serben im Nordkosovo vorhanden ist (vgl. Schoch 2012: 131–135). Die sozialen Praktiken der Kosovo-Serben wie die konkrete Boykottierung der Wahlen deuten bereits auf die staatsschwächende Wirkung hin. Sie unterminieren die Legitimität des kosovarischen Staats.

3.3 (De-)Institutionalisierungsdynamik der Legitimität staatlicher Herrschaft

Jeder Staat braucht eine Begründung dafür, warum es ihn gibt. Die einfachste und am weitesten verbreitete Begründung ist, dass der Staat die Interessen einer Nation vertritt, wie immer diese Interessen definiert sein mögen und wie immer die Nation verstanden wird (Sundhaussen 2012: 515).

Im Folgenden wird untersucht, wie sich die faktischen Praktiken kosovarischer Akteure gegenüber dem Ideal moderner Staatlichkeit verhalten. Das externe Statebuilding als unabhängige Einflussvariable schafft im Kosovo einen modernen Staat, der zugleich seine Legitimität primär durch legal-rationale Herrschaft hervorbringen soll (siehe 3.3.2 und 3.3.3). Hierunter lässt sich die Rationalität der Bürokratie (Schlichte 2005: 232), der Glaube an die Rechtmäßigkeit gesatzter Ordnungen sowie die „Rationalisierung des Rechts“ (Bliesemann de Guevara 2009: 44) verstehen (vgl. auch Osterberg-Kaufmann 2011: 133 f.). Des Weiteren erlangt der moderne Staat seine Legitimität durch moderne Geltungsgründe wie einen Demos (Staatsvolk als eine politische Einheit), der auf einer geteilten kollektiven Identität im Sinne einer Staatsbürgernation basiert (siehe 3.3.1).

Die zugrunde liegende These hierbei ist, dass sich eine hybride Legitimität staatlicher Herrschaft herausbildet. Darunter ist allgemein eine Vermengung traditionaler, charismatischer und legal-rationaler Geltungsgründe legitimer Herrschaft zu verstehen (vgl. Schlichte 2005: 230). Die Hybridität besitzt zwar eine formale staatliche Sphäre, die nach legal-rationaler Herrschaft funktioniert. Anderseits gibt es eine informale Sphäre, die in die staatliche Sphäre greift, aber auf vormoderne Herrschaftspraktik und Geltungsgründe rekurriert (vgl. Bliesemann de Guevara 2009: 96 ff.). Maßgeblicher handelnder sozialer Akteur ist der sogenannte Intermediär, der zwar seinem Handeln nach dem formellen Staat entspricht, „aber dem eigentlichen Gedanken staatlicher Herrschaft als der Verstetigung und Verregelung von Machtbeziehungen“ (Schlichte 2005: 94) entgegensteht. Die Differenz von vormoderner, also charismatischer und traditionaler Herrschaft und moderner legal-rationaler Herrschaft dient als Unterscheidungskriterium, um staatsschwächende und staatsstärkende Praktiken ausfindig zu machen.

3.3.1 Politische Gemeinschaft: (ethno-)nationale Identität

Das kosovarische Staatsvolk setzt sich aus Kosovo-Albaner, Kosovo-Serben und weiteren ethnischen Minderheiten zusammen, wobei die Kosovo-Albaner die Mehrheitsbevölkerung stellen. Zunächst wird der Begriff kollektive Identität geklärt, um zu untersuchen, ob und worauf sich eine kosovarische Identität gründet. Hieraus kann geschlossen werden, ob sich der kosovarische Staat im Sinne des Ideals moderner Staatlichkeit seine Legitimität verschafft.

Aus konstruktivistischer Perspektive bezeichnet kollektive Identität eine komplexe Konstruktion, die von Kaina (2009a) „als Identifikation von Personen mit einem Kollektiv“ (Kaina 2009a: 47) definiert wird.[17] Die Identifikation mit einem Kollektiv beinhaltet neben einer emotionalen (affektiven) Komponente auch kognitive, evaluative sowie konative Elemente (vgl. Kaina 2009a: 47). Im Hinblick auf den Staat Kosovo ist das Kollektiv das kosovarische Staatsvolk, das dem Ideal nach einen gemeinsamen Demos bildet, der auf der Zustimmung des Einzelnen, zu dieser politischen Einheit – dem Staatsvolk – zu gehören (vgl. Benz 2008: 115), basiert. Die anspruchsvolle Vorstellung einer kosovarischen Staatsbürgernation, die „ihre Identität nicht in ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten [findet], sondern in der Praxis von Bürgern, die ihre demokratische Teilnahme und Kommunikationsrechte aktiv ausüben“ (Habermas 1992: 90), ist indes im Kosovo nicht verwirklicht. Schoch stellt fest, dass sich das „westliche Ideal einer multi-nationalen Staatsbürgernation“ (Schoch 2012: 114) bisher nicht herausgebildet hat (vgl. Schoch 2012). Die faktische Wirklichkeit in der fragmentierten Nachkriegsgesellschaft ist weiterhin durch den ethnonationalen Antagonismus zwischen Kosovo-Albaner und Kosovo-Serben gekennzeichnet (vgl. Schoch 2010: 21). Unter Ethnonationalismus[18] kann in Anlehnung an Džihić/Kramer (2008: 9) die politische Einstellung verstanden werden, die auf die Herstellung einer ethnisch-exklusiven Nation bei Abgrenzung zu anderen Ethnien abzielt. Die Kategorien Ethnie und Nation sind aus wissenschaftlicher Perspektive soziale Konstruktionen, die ihre Mächtigkeit in der Wirklichkeit durch die Praktiken politischer Akteure entfalten (vgl. Clewing 2011: 711).

Der ethnonationale Gegensatz wirkt unterdessen in der Republik Kosovo weiter fort. Problematisch ist die ethnische Inbesitznahme des Staats insofern, als die Kosovo-Albaner den Staat für ihre Zwecke missbrauchen könnten und somit dem friedenskonsolidierenden Postulat der Multiethnizität widersprechen (vgl. Džihić/Kramer 2008: 14). Mit Blick auf kosovo-albanische Akteure tragen insbesondere traditionale und charismatische Geltungsgründe zu einer ethnonationalen Identität bei. Der Kult um Skanderbeg, der sich insbesondere im Diskurs elitärer Kreise manifestiert, ist ein Beispiel für die Anknüpfung an historische Vorbilder der albanischen Geschichte. Neben diesem traditionalen Element sei an dieser Stelle auch auf charismatische Elemente des bewaffneten Widerstandkampfs der UÇK wie den Märtyrerkult um Adem Jashari verwiesen (vgl. Schmitt 2008: 359 f.). Hierin liegt gewissermaßen auch der kosovo-albanische Gründungsmythos, der den Befreiungskampf wirkmächtig in die Gesellschaft institutionalisiert. Die Kosovo-Albaner haben infolge der verschieden Herrschaftsphasen und besonders während der sozialistischen Modernisierungsphase unter serbischer Herrschaft eine Selbstbestimmungs-Identität entwickelt, die sich in dem Wunsch nach einem eigenen Staat manifestiert (vgl. Clewing 2008: 119–123, Schmitt 2008: 354–365; Schoch 2012: 100 f.; van Meurs 2011: 746).

Es ist festzuhalten, dass das Fehlen einer staatsbürgerlichen kosovarischen Identität im Sinne eines gemeinsamen Demos dem Ideal staatlicher Herrschaftslegitimität zuwiderläuft. Deshalb wirken die vorhandenen traditionalen und charismatischen Geltungsgründe im Hinblick auf das Ideal moderner Legitimität de-institutionalisierend. Vor dem Hintergrund der Hybridität staatlicher Herrschaft ist ebenso eine weitere Deutung möglich. Gerade die ethnonationale Identität der Kosovo-Albaner hält die Legitimität staatlicher Herrschaft aufrecht, wenn auch nicht durch moderne, legal-rationale, sondern durch traditionale und charismatische Herrschaft. Dieser Befund ist notwendig, weil er der Hybridität gerecht wird. Die bereits angedeutete ethnische Legitimität staatlicher Herrschaft wird im Folgenden ausführlicher behandelt.

3.3.2 Politisches Regime: Recht, Korruption und organisierte Kriminalität

Das politische Regime bezeichnet eine dauerhaft bestehende Herrschaftsordnung, die durch institutionalisierte Prinzipien und Normen die Handlungen beteiligter Akteure regelt (vgl. Zürn 2010: 902; Schmidt 2010: 677). Konkret bezieht es sich einerseits auf die formelle und die informelle Organisation zwischen den Herrschaftsträgern im Staat, anderseits auf das Verhältnis zwischen Herrschaftsträgern und Herrschaftsunterworfenen (vgl. Merkel 2010: 63 f.). Wenn der kosovarische Staat seine im Ideal verankerte Suprematie und Autonomie gegenüber seinen Bürgern dauerhaft beanspruchen will, ist er auf Legitimitätsüberzeugungen seitens der Bürger angewiesen (vgl. Bliesemann de Guevara 2009: 225). Nur so kann der Staat sichergehen, dass seine hoheitlichen Entscheidungen in der kosovarischen Gesellschaft Akzeptanz finden. Hierbei ist das Recht das wesentliche Steuerungsinstrument im modernen Staat, sodass die Legalität als Sub-Dimension der Legitimität und dadurch der Zusammenhang zwischen Recht und Rechtsstaatlichkeit in den Blick treten (vgl. Schlichte 2005: 222). Der kosovarische (Rechts-)Staat ist dem Ideal folgend mit der Regelung gesellschaftlicher Konflikte beauftragt: sowohl in der vertikalen Beziehung zwischen Bürger und Staat als auch in der horizontalen Beziehung zwischen einzelnen Bürgern. Das externe Statebuilding induziert die Idee des Rule of Law und trifft dabei auf die gesellschaftlich tradierte Vorstellung von Gerechtigkeit und Recht. Deshalb sind tief in die kosovarische Gesellschaft verankerte historische Erfahrungen zu berücksichtigen, u. a. dass die Kosovo-Albaner einen Staat, der ihnen Rechtsschutz gewährt, nicht kannten (vgl. Frank 2006: 257). Darüber hinaus erschweren korrupte und kriminelle Praktiken sozialer Akteure die Institutionalisierung des Ideals staatlicher Herrschaftslegitimität.

Gewohnheitsrecht versus staatliches Recht

Das gewohnheitsrechtliche Regelwerk Kanun findet im Kosovo weiterhin Akzeptanz und wird von den gesellschaftlichen Akteuren praktiziert. Insbesondere besitzt es weiterhin Gültigkeit in der Beziehung zwischen den Geschlechtern und innerhalb sowie zwischen Familien (vgl. Kiçmari 2009: 123–133). Sowohl der osmanische als auch der jugoslawische (serbische) Staat konnten das Gewohnheitsrecht nicht verdrängen oder gar ersetzen (vgl. Reinkowski 2005: 140), weshalb es in der Umbruchsphase 1999 und während der internationalisierten Herrschaftsphase (1999–2008) weiterhin gesellschaftliche Konflikte regelte. Dabei weicht es mitunter vom modernen staatlichen Recht ab (vgl. Schlichte 2005: 243) – oder widerspricht ihm sogar (vgl. Mattern 2004). Weitere Spezifika der kosovarischen Gesellschaft sind Korruption und organisierte Kriminalität, die zugleich wesentliche Schwachstellen der kosovarischen Rechtsstaatlichkeit darstellen (vgl. Džihić/Kramer 2008: 13; Sundhaussen 2012: 493). Darüber hinaus sind sie wesentliche Faktoren für die De-Institutionalisierung staatlicher Herrschaftslegitimität, wie im Folgenden diskutiert werden soll.

Verbreitete Korruption im Kosovo

Im UNDP Public Pulse Report (2012: 11) wird Korruption[19] (10 %) neben Arbeitslosigkeit (44,3 %) und Armut (22,5 %) als drittgrößtes Problem aus Sicht der Kosovaren betrachtet. Im April 2012 befinden 44,5 % der befragten Kosovaren, dass die kosovarischen Gerichte korrupt seien. Nur die Kosovo Energy Corporation (47,8 %) und die Privatization Agency of Kosovo (49,4 %) werden im April 2012 von mehr Befragten genannt (vgl. UNDP 2012: 12). Auch der internationale Korruptionsindex (Corruption Perceptions Index) von Transparency International listet das Kosovo für 2012 mit einem Wert von 34/100 auf dem 105. Platz (vgl. Transparency International 2012).[20] Der EU-Fortschrittsbericht von 2010 verzeichnet zwar Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung. Dennoch ist Korruption weiterhin in vielen Bereichen verbreitet und stellt daher eine ernst zu nehmende Herausforderung dar (vgl. Europäische Kommission 2010: 13). Der EU-Fortschrittsbericht von 2011 bemerkt ebenfalls Fortschritte, beklagt aber weiterhin die Schwäche des ineffizienten kosovarischen Justizsystems, das insbesondere durch Einmischung seine unabhängige und unparteiliche Stellung einbüßt (vgl. Europäische Kommission 2011: 10–14). Des Weiteren sind in die korrupten Praktiken auch einflussreiche politische Akteure involviert. Die 2006 geschaffene Anti-Korruptionsbehörde (ACA) ist gegen die grassierende Korruption machtlos (vgl. Džihić/Kramer 2008: 12). Aufgrund der negativen öffentlichen Wahrnehmung des Themas unter den Kosovo-Albanern legt die ACA in ihrem Strategiekonzept 2012–2016 die Wiedergewinnung von Vertrauen in die öffentlichen Institutionen als oberste Priorität fest, da sie ihre Ansicht nach sowohl für die volle internationale Anerkennung als auch für die staatliche Legitimität notwendig ist (vgl. ACA 2011: 19).

UÇK, organisierte Kriminalität und kosovarischer Staat

Die organisierte Kriminalität[21] ist ein weiterer Bereich, der die staatliche Herrschaftslegitimität beeinflusst. Einerseits steht sie der Institutionalisierung legal-rationaler Herrschaft eindeutig entgegen, anderseits kann vermutet werden, dass sie zur materiellen Reproduktion ganzer Teile der kosovarischen Gesellschaft beiträgt und somit in einer anderen Form Legitimität generiert. Die Transformation der UÇK in der Nachkriegsphase dient als Beispiel für die Persistenz traditionaler und charismatischer Herrschaft in den staatlichen kosovarischen Strukturen. In der Nachkriegsphase vollzogen hochrangige UÇK-Eliten den Übergang in die Politik und erreichten somit politische Macht. Die Institutionalisierung staatlicher Herrschaftslegitimität in den zunächst provisorischen kosovarischen Staat wurde dadurch erschwert, weil die tradierte Handlungslogik in den staatlichen Strukturen weiterhin praktiziert wurde.

Der Aufstieg der UÇK war wegen des als gescheitert wahrgenommenen gewaltlosen Widerstands Ibrahim Rugovas möglich. Die internationale Gemeinschaft ignorierte damals die Unabhängigkeitsbestrebung, so die kosovo-albanische Perzeption. Insbesondere nach dem Dayton-Abkommen 1995 war die gewaltbereite UÇK ein legitimes Mittel zur Erreichung der Unabhängigkeit. Daneben erfolgten Mitte der 1990er Jahre die zunehmende militärische Aufrüstung der UÇK sowie die Vergrößerung ihres Personalumfangs. Weiterhin stieg die UÇK zum legitimen Interessensvertreter der Kosovo-Albaner auf, erkennbar an den Rambouillet-Verhandlungen 1998 (vgl. Frank 2006: 251–254).

Zur internen Organisation der UÇK gehört die materielle Reproduktion, die zunächst über das informelle Steuersystem des kosovarischen Schattenstaats während der serbischen Herrschaft erfolgte. Mit dem Perzeptionswandel in Richtung gewaltsame Lösung konnte sie auf direkte Zuwendungen aus der Diaspora zurückgreifen (z. B. Fonds „Die Heimat ruft“). Daneben kaufte die UÇK auf dem Schwarzmarkt von der Drogenmafia bereitgestellte Waffen (vgl. Frank 2006: 255; Reljić 2008: 86–89). Insofern kann die finanzielle Sicherung der UÇK auf den Begriff der Kriegsökonomie gebracht werden (vgl. Ahlbrecht/Bendiek 2009: 23). Die interne Organisation der UÇK wies keine klare hierarchisch organisierte Struktur auf, sondern glich einem Abbild der Familienclan- und Verwandtschaftsstrukturen, die wiederum hierarchisch organisiert waren. Die Beziehungen zwischen UÇK-Kommandeuren und Kämpfern basierten auf traditional-charismatischer Herrschaft. Das gesellschaftlich akzeptierte Kanun legitimierte mithilfe des Prinzips der Blutrache die physische Gewaltanwendung gegen die serbische Herrschaft (vgl. Frank 2006: 255–257).

In der Postkonfliktphase ging die UÇK im Rahmen der Entmilitarisierung im Kosovo Protection Corps (KPC) und im Kosovo Police Service (KPS) als direkte Nachfolgeorganisationen auf. Daneben etablierten sich politische Parteien. Ein weiterer Teil ging in die organisierte Kriminalität (vgl. Frank 2006: 258). Zahlreiche Forschungsberichte (vgl. Dižihić/Kramer 2008; Frank 2006; Kramer/Dižihić 2005: 153–164; Reljić 2008; Teran 2007) bestätigen, dass der ehemalige Gewaltakteur in staatliche Strukturen übergegangen ist. Somit verschmelzen die Strukturen der organisierten Kriminalität, die während des Befreiungskampfs materielle Ressourcen bereitstellte, mit den staatlichen Strukturen (vgl. Reljić 2008: 83). Möglich wurde dies zum einen durch das Machtvakuum in der direkten Nachkriegszeit, dass die UÇK zur Festigung ihrer politischen Macht in der Gesellschaft nutzen konnte (vgl. Teran 2007: 10). Zum anderen war die Beteiligung der UÇK für die Nachkriegsordnung aus Sicht der internationalen Akteure notwendig, um einen dauerhaften Frieden und eine friedliche Ordnung zu gewährleisten. Auf diese Weise erfuhr die UÇK nachträglich Legitimation durch die internationalen Akteure, was die Persistenz krimineller Strukturen gleichsam begünstigte und in der kosovarischen Bevölkerung die Erhabenheit der UCK-Kämpfer unterstrich (vgl. Frank 2006: 260 f.).

3.3.3 Politische Herrschaftsträger: politische Eliten

Tabelle 2: Übersicht der Ergebnisse der Wahlen zum kosovarischen Parlament der Parteien LDK, PDK und AAK

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach CEC (2011) und OSCE (2001; 2004; 2007).

In der Nachkriegsphase vollzogen hochrangige UÇK-Eliten den Übergang in die Politik und erlangten somit politische Macht im zunächst provisorischen kosovarischen Staat (Tabelle 2). Das erschwerte die Institutionalisierung staatlicher Herrschaftslegitimität, da die tradierte Handlungslogik der Gewaltökonomie in den staatlichen Strukturen weiter praktiziert wurde (vgl. Frank 2006; Reuter 2000: 183 ff.). Im Folgenden werden zwei bedeutsame politische Akteure betrachtet, die maßgeblich die kosovarische Nachkriegsordnung prägten: Hashim Thaçi und Ramush Haradinaj.

Der erste Ministerpräsident der Republik Kosovo (2008) Thaçi war bereits führend in die Verhandlungen von Rambouillet (1999) mit der internationalen Gemeinschaft eingebunden (vgl. Frank 2006: 253). Nach dem Kosovo-Konflikt gründete er die Demokratische Partei des Kosovo (PDK) – im kosovarischen Parlament momentan stärkste Fraktion – und ist seitdem ihr Vorsitzender. Thaçi wird regelmäßig in Verbindung mit der organisierten Kriminalität gebracht (vgl. Roth 2005: o. S.). Die jüngsten kriminellen Vorwürfe kommen vom Abgeordneten des Europarats Dick Marty, der in seinem Bericht die Verbindung von Thaçi zur organisierten Kriminalität darlegt (vgl. Europarat 2010). Zu einer Anklage gegen Thaçi ist es bisher nicht gekommen.

Ramush Haradinaj vollzog ebenfalls den Übergang in die Politik, gründete die Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK) und war von Dezember 2004 bis März 2005 Premierminister (vgl. Kramer/Džihić 2005: 199 ff.). Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) erhob im März 2005 Anklage gegen Haradinaj u. a. wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in 37 Anklagepunkten (vgl. ICTY 2008). Im April 2008 wurde Haradinaj in allen Anklagepunkten freigesprochen (vgl. ICTY 2008: 277). Eine Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens erfolgte im Juli 2010 und endete mit einem erneuten Freispruch für Haradinaj im November 2012 (vgl. ICTY 2012: 244). Zwar handelte es sich um ein ordentliches Gerichtsverfahren, jedoch wurde dem Verfahren von Beobachtern systematische Einschüchterung von Zeugen unterstellt (vgl. Reljić 2008: 87; Martens 2012: o. S.). Im Forschungsbeitrag von Reljić (2008) wird Haradinaj als Multifunktionsperson dargestellt, die auf der einen Seite in kriminelle Netzwerke eingebunden ist, auf der anderen Seite aber für internationale Akteure ein zuverlässiger und wichtiger Faktor bei der Friedenskonsolidierung im Kosovo darstellt (vgl. Reljić 2008: 87; siehe auch Frank 2006: 260 f.). Mit der Anerkennung ehemaliger Gewaltakteure wird der Friedenskonsolidierungsprozess hinsichtlich der ehemaligen Konfliktparteien erschwert (vgl. Lyck 2007).

Die politischen Akteure Thaçi und Haradinaj können als Machteliten verstanden werden, die sich aus einem kleinen Personenkreis rekrutieren und mit ihren Praktiken allgemeinverbindliche politische Entscheidungen in die kosovarische Gesellschaft setzen (vgl. Kaina 2009b: 389 f.). Als Inhaber politischer Macht tragen sie mit ihren Praktiken maßgeblich dazu bei, staatliche Herrschaft im Sinne legal-rationaler Herrschaft, die strikt zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterscheidet, zu institutionalisieren. Umgekehrt können sie diese Institutionalisierung mit korrupten und kriminellen Praktiken konterkarieren. Die Wirklichkeit im Kosovo spiegelt dies wider. Es gibt keine klare Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre und die staatlichen Herrschaftsträger sind mit den Strukturen der organisierten Kriminalität verwoben (vgl. Reljić 2008: 83). Sie nehmen dabei verschiedene Positionen und dazugehörige soziale Rollen ein, treten also als Clan-Chef, Familienoberhaupt, Premierminister, Parteivorsitzender oder in einem sonstigen politischen Amt auf, während sie zugleich in kriminelle Netzwerke integriert sind. Angesichts dieses Ineinandergreifens werden sie als Multifunktionspersonal oder Intermediäre bezeichnet (vgl. Schlichte 2005: 292–296; Reljić 2008: 87).

[...]


[1] Die Konzeption beinhaltet die staatliche Trinitätslehre von Jellinek: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt, die weiterhin auf die innere und äußere Souveränität verweist. Des Weiteren wird auf Weber (1972 [1922]) Bezug genommen, der den Staat, der „erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ (Weber 1972: 29), auf Grundlage legal-rationaler Herrschaft charakterisiert.

[2] Staatsgebiet; Staatsvolk; legitimes Gewaltmonopol (Staatsgewalt) und Erfüllung bestimmter öffentlicher Funktion; Verfassung; Demokratie als vorherrschende Herrschaftsform (Volkssouveränität); Bürokratie und Rechtsstaatlichkeit (vgl. Benz 2008: 11–38).

[3] Einheitliches Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt; Souveränität nach außen und innen; Rechts- und Verfassungsstaat; Nationalstaat; Demokratie (vgl. Reinhard 2007: 12 ff.).

[4] Schneckener (2012: 458–473) unterscheidet dabei idealtypische nicht staatliche Gewaltakteure: Rebellen, Milizen, Terroristen, Clan Chiefs, Warlords, Kriminelle und Söldner, die jeweils eigene Charakteristika aufweisen und angesichts unterschiedlicher Ziele und Mittel verschiedene Handlungsspielräume haben. Daneben sind weitere Akteure wie Nichtregierungsorganisationen, innerstaatliche gesellschaftliche Interessensgruppen oder auch das einzelne Individuum in der Rolle als Bürger präsent. Deshalb wirken sowohl staatliche als auch nicht staatliche Akteure auf allen Ebenen (lokal bis international) mit ihren diversen Praktiken entweder staatsstärkend oder staatsschwächend auf die staatliche Herrschaft.

[5] So auch Jürgen Habermas (1976: 39): „ Legitimität bedeutet die Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung “.

[6] Nach Max Weber (1972 [1922]: 124–140) beinhaltet legal-rationale Herrschaft den Glauben an die Legalität (formale Rechtmäßigkeit) gesatzter Ordnung (Rechtsordnung) aufgrund rationaler (wert- oder zweckrationaler) Motive. Traditionale Herrschaft bedeutet Glaube an die immerwährende Ordnung, die seit jeher Bestand und Geltung hat. Charismatische Herrschaft bedeutet Glaube an Personen mit außergewöhnlichen, außeralltäglichen Eigenschaften (Propheten, Helden, Krieger usw.).

[7] So definiert Bruce Gilley (2009: 11): „[A] state […] is more legitimate the more that it holds and excercises political power with legality, justification, and consent from the standpoint of all its citizens“.

[8] Das Konzept politischer Unterstützung führt Legitimität als Sub-Dimension diffuser politischer Unterstützung (vgl. Kaina 2009a: 33). Das Erkenntnisinteresse ist die Persistenz politischer Systeme, die Easton auf die politischen Einstellungen der Bürger zu Objekten des politischen Systems zurückführt. Zu den Objekten gehören die politische Gemeinschaft, das politische Regime sowie die Träger politischer Herrschaft. Die Unterstützung – also die individuelle politische Einstellung des einzelnen Bürgers – zu diesen drei Objekten erklärt demnach die Systemstabilität (vgl. Pickel/Pickel 2006: 78 f.). Easton unterteilt weiterhin in spezifische und diffuse Unterstützung: Erstere generiert sich durch die Erbringung konkreter Leistungen und ist deshalb kurzfristig und volatil (vgl. Braun/Schmitt 2009: 60). Im Hinblick auf Legitimität ist die diffuse Unterstützung der Bürger relevant, weil sie langfristig wirkt. Quellen der diffusen Unterstützung sind die individuellen Einstellungen der Bürger (Werte, Vorstellungen). Legitimität wird deshalb als die von Bürgern empfundene „Übereinstimmung der eigenen Werte und Vorstellungen vom politischen System und vom politischen Leben mit den Unterstützungsobjekten“ (Pickel/Pickel 2006: 80) definiert. Eine Kritik am Konzept ist, dass lediglich die individuellen Einstellungen der Bürger abgefragt und nicht konkrete Handlungen einbezogen werden, wie es Gilley (2009) unternimmt.

[9] Historisch kann diese Phase weiter unterteilt werden: Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) von 1918–1941, ab 1929 offiziell Königreich Jugoslawien genannt, gefolgt von der Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Die sozialistische Phase verlief ab 1945 bis Anfang 1990 und ist durch Aufbau der Föderativen Volksrepubliken Jugoslawien, ab 1963 Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien gekennzeichnet (vgl. Göbelt 2008: 237–241; Pichler 2008: 61–71).

[10] Der rationale Anstaltsstaat ist Ausdruck moderner legal-rationaler Herrschaft, die auf dem Prinzip formaler Rationalität beruht, hier auf positivem (gesatztem) Recht. Zu den Merkmalen des rationalen Anstaltsstaats zählen klare Amtshierarchie, Kompetenz- und Behördenprinzip, Schriftlichkeit der Verwaltung, klare und eindeutige Verfahrensregelung, Trennung von Amt und Person sowie hauptamtliches Fachpersonal, das besoldet wird (vgl. Weber 1972 [1922]: 126 f.; Hensell 2009: 49).

[11] Grundsätzliches über das Verhältnis Staat und Gesellschaft auf dem Balkan im Hinblick auf Elemente einer balkanischen politischen Kultur gibt Wolfgang Höpken (2009).

[12] An dieser Stelle sei angemerkt, dass zum Zeitpunkt der UN-Resolution 1244 kein souveräner kosovarischer Staat angestrebt war, sondern nach wie vor die territoriale Integrität der Bundesrepublik Serbien.

[13] Erste Säule: Polizei und Justiz (Akteur: UN), zweite Säule: Zivilverwaltung (Akteur: UN), dritte Säule: Institutionenaufbau (Akteur: OSZE) und vierte Säule: wirtschaftlicher Wiederaufbau (Akteur: EU) (vgl. Reich 2012: 59–70).

[14] Siehe Abbildung 4 im Anhang.

[15] Siehe Abbildung 5 im Anhang.

[16] Siehe Abbildung 6 im Anhang.

[17] Kaina (2009a) untersucht, ob und inwiefern sich eine europäische kollektive Identität herausgebildet hat und entwickelt dazu eine Konzeption kollektiver Identität (vgl. Kaina 2009a: 48–54).

[18] Ethnonationalismus verbindet die Begriffe Ethnie (Ethnos) und Nation miteinander. Aus essentialistischer Perspektive ist Ethnie etwas Naturwüchsiges, führt die Identifikation mit dem Kollektiv (Ethnie) auf naturgegebene Merkmale wie Abstammung, Kultur, Sprache, und Glauben zurück und grenzt sich somit gegenüber anderen Ethnien ab. In ethno-nationalen Konflikten wie dem Kosovo-Konflikt wird ethnische Identität durch Ethnizität zur gewalttätigen Herstellung der eigenen ethnischen Zielsetzung genutzt. Der moderne Begriff der Nation definiert hingegen vielfältigere (auch ethnische) Merkmale, die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen (Staats-)Volk hebt dabei die politische Dimension hervor. Demnach können die Bürger sich als frei und gleich begreifen und sich in freier Selbstbestimmung zum Staat formieren (vgl. Ahlbrecht/Bendiek 2009: 36–51; Benz 2008: 144).

[19] Korruption ist definiert als Missbrauch öffentlicher Macht zum persönlichen Nutzen oder zum Vorteil Dritter unter Verletzung gesellschaftlicher Normen und des öffentlichen Gemeinwohlinteresses (vgl. Schultze 2010: 524; Schmidt 2010: 437 f.).

[20] Der Wert 0 entspricht hoch korrupt und der Wert 100 nicht korrupt.

[21] Organisierte Kriminalität hebt sich von gewöhnlicher Kriminalität insofern ab, als sie eine auf materiellen oder finanziellen Vorteil bedachte, planmäßige, organisierte, auf Dauer ausgelegte kriminelle Handlung ist. Sie umschließt die gezielte Beeinflussung von Politik, Medien, Verwaltung, Justiz sowie physische Gewalt (vgl. Barrios 2010: 688–690; UNODC 2004: 5). Hierzu gehören Drogen- und Waffenhandel, Menschenhandel, Prostitution, Geldwäsche und Schmuggel von Waren (vgl. Barrios 2010: 688–690; Kramer/Dižihić 2005: 153–157).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783955499389
ISBN (Paperback)
9783955494384
Dateigröße
2.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Herrschaftssoziologische Staatskonzeption Staatskonzeption Politisches System Politische Legitimität Externe Intervention Staat

Autor

Patrick Schröder, B.A., wurde 1988 in Waren (Müritz) geboren. Im Oktober 2010 nahm er in Hamburg das Studium der Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität auf und erhielt dort im Jahre 2013 den akademischen Grad Bachelor of Arts. Derzeit absolviert er den Masterstudiengang vergleichende Demokratieforschung. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt der Region Südosteuropas, weshalb er seine Bachelorarbeit über das Kosovo schrieb. Im Anschluss an sein Masterstudium erfolgt eine Verwendung als Offizier in den deutschen Streitkräften.
Zurück

Titel: Externes Statebuilding im Kosovo: Die Legitimität des neuen kosovarischen Staates
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
65 Seiten
Cookie-Einstellungen