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Forschen mit Kindern: Demokratieverständnis von Grundschülerinnen und Grundschülern

©2010 Masterarbeit 64 Seiten

Zusammenfassung

Der Begriff der Demokratie ist vieldeutig und kann unter verschiedenen Aspekten und Ebenen beleuchtet werden. Legitimation und Kontrolle von politischer Herrschaft ist Unterrichtsinhalt des Politikunterrichts an Schulen. Der Bildungsauftrag der Institution Schule im Hinblick auf die Bedeutung der Demokratie ist im niedersächsischen Schulgesetz in §2 wie folgt formuliert: „Die Schule soll im Anschluss an die vorschulische Erziehung die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln.“ (Nieders. Schulgesetz §2, 2009)
Neben den angedeuteten institutionellen und politischen Dimensionen des Begriffs Demokratie ergibt sich im schulischen Alltag, also in der pädagogischen Umsetzung des Demokratiebegriffes, die Frage nach dem Individuum, seiner Freiheit und seiner Autonomie im Verhältnis zum Demos und zu kollektiven Entscheidungen. Wie ist das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, von Einzelwille und Gesamtwille?
Partizipation ist ein Schlüsselbegriff für die Etablierung demokratischer Strukturen in einer Schule. Verschiedene Instrumente der Mitbestimmung haben in den Schulen Einzug gehalten. Es werden Klassensprecher gewählt, ein Klassenrat oder ein Schülerparlament tagen regelmäßig. Die Ausgestaltung demokratischer Strukturen ist jedoch an den Schulen individuell und sehr unterschiedlich entwickelt. An dieser Stelle kann nur angedeutet werden, dass es auch Schulen gibt, die um die Zeit der Reformbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts entstanden sind und bei denen Demokratie die konzeptionelle Basis bildet. An diesen Schulen ist es den Kindern beispielsweise möglich, umfassend - auch bei der Gestaltung von Lerninhalten - mitzuentscheiden. Beispielhaft für diese Schulentwicklung sind die „Summerhill“-Schule in England oder die Sudberry-Schulen, die sich von Amerika aus mittlerweile in vielen Ländern etabliert haben. Ebenso gehört die Laboratory School in Chicago in diese Tradition demokratischer Schulen.
Die von John Dewey 1894 gegründete Schule verstand sich als Versuchsschule der Universität von Chicago und wurde wissenschaftlich begleitet. In Deutschland wurde nach diesem Vorbild 1974 von Hartmut von Hentig die Laborschule in Bielefeld gegründet.
In der vorliegenden Studie wird zunächst der Demokratiebegriff im pädagogischen Sinne definiert, so dass Kriterien sichtbar werden, an denen ein […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



1
Einleitung
Demokratie bezeichnet eine historische Errungenschaft, deren Erhalt und
Entwicklung als Lebens-, Gesellschafts- und Regierungsform sich nicht von
selbst ergibt, sondern von dem Wissen, den Überzeugungen und der Bil-
dung aller abhängt. Demokratie wird erfahren durch die Verbindung von
Zugehörigkeit, Mitwirkung, Anerkennung und Verantwortung.
Ja, Demokratie ist so was wie Krieg und Frieden, die verschiedenen Situatio-
nen mit Ländern, was man gerade mit sich hat, ob man Frieden, ob man
Krieg hat oder so, oder ein Bündnis oder so (Tom, 8 Jahre, Grundschule
Bremen).
Dieses Wissen bildet eine Voraussetzung dafür, dass Alternativen zur Ge-
walt wahrgenommen und gewählt werden können. Von dieser Erfahrung
hängt zudem die Fähigkeit ab, die Zugehörigkeit zu anderen und die Ab-
grenzung von anderen als demokratische Grundsituation verstehen zu kön-
nen und sie nicht mit blinder Gefolgschaft, mit Abwertung anderer und mit
Fremdenfeindlichkeit zu beantworten. Diese Lernprozesse und Prägungen
finden bereits in jungen Jahren bei Kindern statt und bilden einen Grund-
stein für das Leben in einer Gemeinschaft. Schon in der Grundschule be-
ginnen eventuelle Ausgrenzungen von Kindern oder ihre Integration in die
Gemeinschaft. Aus diesem Grunde ist das folgende Forschungsprojekt mit
Grundschulkindern durchgeführt worden.
Nach den Erfahrungen mit der Diktatur des Nationalsozialismus ist die Fra-
ge nach dem Demokratieverständnis der Bevölkerung in Deutschland bis
heute ein zentrales Thema. Dies zeigt sich auch in den Diskursen über die
Schulbildung. Ebenso geben Ereignisse im Zusammenhang mit Jugendli-
chen aus der rechtsradikalen Szene immer wieder Anlass zu der Diskussion,
wie die Orientierung der Jugendlichen zu politisch rechtsradikalem Gedan-
kengut verhindert werden kann.
Vorurteile, die Ausgrenzung und am Ende sogar Vernichtung des Anderen,
des Anderslebenden und Andersdenkenden, können nur durch Entwicklung
des kulturellen Unterscheidungsvermögens überwunden werden, ja, dieses
auf das politische Gemeinwesen bezogene Unterscheidungsvermögen ist die
Lebensatmosphäre einer demokratischen Gesellschaftsordnung (Negt, 1997,
47).
1

Der Begriff der Demokratie ist vieldeutig und kann unter verschiedenen
Aspekten und Ebenen beleuchtet werden. Legitimation und Kontrolle von
politischer Herrschaft ist Unterrichtsinhalt des Politikunterrichts an Schulen.
Auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung
(http://www.hanisauland.de/) wird das Thema Demokratie hauptsächlich auf
politische Zusammenhängen im institutionellen Sinne bezogen. Ebenso gibt
es die Ebene der Demokratie, die nach dem demos, dem Volk fragt. Dies ist
die Frage nach gemeinsamen Werten, Rechten und Pflichten, wie sie im
Grundgesetz verankert sind. ,,Wer ist es, der sich selbst bestimmt, der mit-
bestimmen darf, der Mitgliedschaftsrechte hat, der die kollektiven Entschei-
dungen mitträgt?" (Abromeit 2002, 115)
Der Bildungsauftrag der Institution Schule im Hinblick auf die Bedeutung
der Demokratie ist im niedersächsischen Schulgesetz in §2 wie folgt formu-
liert:
,,Die Schule soll im Anschluss an die vorschulische Erziehung die Persön-
lichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums,
des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen
und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln." (Nieders. Schulgesetz
§2, 2009)
Neben den angedeuteten institutionellen und politischen Dimensionen des
Begriffs Demokratie ergibt sich im schulischen Alltag, also in der pädagogi-
schen Umsetzung des Demokratiebegriffes, die Frage nach dem Individu-
um, seiner Freiheit und seiner Autonomie im Verhältnis zum Demos und zu
kollektiven Entscheidungen. Wie ist das Verhältnis von Mehrheit und Min-
derheit, von Einzelwille und Gesamtwille?
Partizipation ist ein Schlüsselbegriff für die Etablierung demokratischer
Strukturen in einer Schule. Verschiedene Instrumente der Mitbestimmung
haben in den Schulen Einzug gehalten. Es werden Klassensprecher gewählt,
ein Klassenrat oder ein Schülerparlament tagen regelmäßig. Die Ausgestal-
tung demokratischer Strukturen ist jedoch an den Schulen individuell und
sehr unterschiedlich entwickelt. An dieser Stelle kann nur angedeutet wer-
den, dass es auch Schulen gibt, die um die Zeit der Reformbewegung An-
fang des letzten Jahrhunderts entstanden sind und bei denen Demokratie die
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konzeptionelle Basis bildet. An diesen Schulen ist es den Kindern bei-
spielsweise möglich, umfassend ­ auch bei der Gestaltung von Lerninhalten
­ mitzuentscheiden. Beispielhaft für diese Schulentwicklung sind die
,,Summerhill"-Schule in England oder die Sudberry-Schulen, die sich von
Amerika aus mittlerweile in vielen Ländern etabliert haben. Ebenso gehört
die Laboratory School in Chicago in diese Tradition demokratischer Schu-
len. Die von John Dewey 1894 gegründete Schule verstand sich als Ver-
suchsschule der Universität von Chicago und wurde wissenschaftlich be-
gleitet. In Deutschland wurde nach diesem Vorbild 1974 von Hartmut von
Hentig die Laborschule in Bielefeld gegründet (vgl. Hentig, 1993).
Seitens der Politik gab es ebenfalls Bemühungen, mehr Demokratiebewusst-
sein in der Schule zu fördern. Zu diesem Zwecke wurde 2005 ein Programm
der BLK zur Förderung demokratischen Bewusstseins bei SchülerInnen
entwickelt und an über 300 Modellschulen durchgeführt. Grundlage des
Programms ist das Gutachten ,,Demokratie lernen und leben" von Wolfgang
Edelstein und Peter Fauser (
vgl.http://blk-demokratie.de/fileadmin/public/dokumente/Expertise.pdf).
Auf vielen Ebenen gibt es Bestrebungen, günstige Bedingungen dafür zu
schaffen, dass demokratische Einstellungen und Strukturen in den Schulen
Einzug halten. Im Hinblick auf das einem entsprechenden Miteinander zu-
grunde liegende Demokratieverständnis bei Kindern besteht hingegen noch
ein Forschungsdesiderat. Ein pädagogisches Konzept zur Förderung des
Demokratiebewusstseins sollte jedoch dieses Demokratieverständnis bei den
Kindern kennen, um im Sinne einer kognitionspsychologischen Herange-
hensweise handeln und an bestehendes Wissen und Kompetenzen anknüp-
fen zu können. Aus diesem Grunde beschäftigt sich diese Arbeit mit dem
bei Grundschülerinnen und Grundschülern zugrunde liegenden Demokratie-
verständnis von Kindern.
Grundlegend ist, zunächst einmal den Demokratiebegriff im pädagogischen
Sinne zu definieren, so dass Kriterien sichtbar werden, an denen ein Demo-
kratieverständnis abgelesen werden kann. Anschließend wird das For-
schungsvorhaben mit der zugrunde liegenden Forschungsfrage und Begrün-
3

dung der gewählten Methode vorgestellt. Im Anschluss an die Auswertung
der Erhebung werden die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen darge-
stellt.
4

2
Theoretischer Hintergrund
Der Begriff des Demokratieverständnisses kann nur auf dem Hintergrund
eines umschriebenen Demokratiebegriffes erfasst werden. Das Wort Demo-
kratie kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich Volksherrschaft
(demos = Volk, kratein = herrschen). Die Demokratie ist ein vereinbarter
staatlich-gesellschaftlicher Rahmen, der sowohl vom Volk ausgeht als auch
zu Gunsten des Volkes verwaltet wird. Ein demokratisches System wurde
erstmals im antiken Griechenland praktiziert. Diese Regierungsform wurde
zunächst von den Stadtstaaten (polis), vor allem jedoch von Athen über-
nommen.
Das grundlegende Prinzip der staatlichen Regierungsinstitutionen in Athen
war die direkte Demokratie, bei der jede staatliche Angelegenheit durch eine
direkte Entscheidung der Volksversammlung entschieden wurde. Die
Volksversammlung selbst funktionierte nach dem Prinzip der Mehrheitsent-
scheidung. Die Herrschaft der Mehrheit ermöglichte den Ausdruck der An-
sichten der Mehrheit, weshalb die Redefreiheit eines der zentralen Ideale der
Athener Demokratie war. Anzumerken bleibt allerdings, dass ausschließlich
Athener Männer, die über 18 Jahre alt waren und Waffen trugen, Repräsen-
tanten der Volksversammlung sein durften. Frauen, Sklaven und fremde
Untertanen waren ausgeschlossen.
Seit der Zeit des antiken Griechenlands herrschten Könige und nicht das
Volk. Erst die Revolutionen in Amerika und Frankreich im späten 18. Jahr-
hundert, die auf die Aufklärung zurückgehen, ließen die demokratischen
Ideen neu aufleben.
Die demokratische Auffassung geht davon aus, dass ein Volk eine heteroge-
ne Gruppe ist und deshalb in einer Gesellschaft viele Unterschiedlichkeiten
das Wesen des gesellschaftlichen Lebens ausmachen. Menschen haben das
Recht, an ihren Meinungen festzuhalten und für diese zu kämpfen. Die De-
mokratie stellt Mittel zur Verfügung, die es jedem ermöglicht, trotz häufig
sehr grundsätzlicher und tief greifender Meinungsverschiedenheiten und
5

Widersprüche in relativem Frieden miteinander zu leben. Zu diesen Mitteln
gehören Diskussionen und öffentlicher Diskurs, die Durchführung von
Wahlen, Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenschutz, die Ausarbei-
tung von gesellschaftlichen Verträgen und Konventionen sowie die Verab-
schiedung von Gesetzen (vgl. Brockhaus, Band 5, 1993).
Damit ein Volk demokratisch entscheiden und handeln kann, müssen die
einzelnen Menschen Demokratie in ihrem Alltag erfahren und gelernt ha-
ben. Dazu gehört für Kinder und Jugendliche außerhalb der Familie, Demo-
kratie in der Schule nicht nur als politische Gesellschaftsform zu lernen,
sondern als Selbstverständnis in der schulischen Alltagskultur zu erfahren,
zu erproben und umzusetzen. Jeder Mensch besitzt das Vermögen, kritisch
und moralisch zu denken, persönliche und gesellschaftliche Verantwortung
zu übernehmen und eine aktive Haltung einzunehmen. Dieses Vermögen
wird erworben und ist ausbaufähig, vor allem wenn mit der Vermittlung in
jungen Jahren begonnen wird. Kinder, die in der Lage sind, sich selbst zu-
zuhören und alle unterschiedlichen Aspekte ihres Wesens zu akzeptieren,
wachsen zu toleranten Erwachsenen heran, die nicht nur ihre eigenen Be-
dürfnisse besser wahrnehmen, sondern auch in der Lage sind, die Bedürfnis-
se ihrer Mitmenschen besser zu erkennen.
Von einem solchen Demokratieverständnis ist der Brückenschlag zur Päda-
gogik leicht nachvollziehbar. Verschiedene Ansätze, wie die von John De-
wey (1993), Wolfgang Klafki (1996) sowie Gerhard Himmelmann (2007)
und Wolfgang Edelstein (2009) beschäftigen sich mit der Demokratie in
Verbindung mit Erziehung.
2.1
Demokratiebegriff bei Dewey
John Dewey hat sich Anfang des vorigen Jahrhunderts mit Pädagogik und
Demokratie beschäftigt und ein Grundlagenwerk, ,,Demokratie und Erzie-
hung", geschrieben, dass für viele pädagogische Strömungen, die sich der
Demokratie verpflichtet sehen, bis heute eine theoretische Basis ist. Demo-
kratie in der Erziehung sollte nicht von oben herab gelehrt werden, sondern
6

eine Haltung im Leben mit Kindern sein. Damit ist gemeint, dass es nicht
um eine Belehrung geht, was eine gute Demokratie ausmacht, sondern dass
Kinder diese auch alltäglich erleben. John Dewey steht für die ersten Ansät-
ze zur Demokratisierung der Schulkultur. In der politischen Pädagogik John
Deweys nimmt das Konzept der demokratischen Lebensweise eine Schlüs-
selfunktion ein. Ein zentraler Satz in Deweys Werk zur ,,Demokratie und
Erziehung" lautet: ,,Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie
ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und
miteinander geteilten Erfahrung."(Oelkers, 1993, 121) Im Folgenden sollen
zentrale Punkte des Demokratiebegriffs von Dewey dargelegt werden:
- Demokratie ist Lebensform, nicht Regierungsform (vgl. Oelkers, 1993).
Damit ist gemeint, dass die Basis der Demokratie in der Entwicklung demo-
kratischer Fähigkeiten der einzelnen Menschen besteht. Dazu gehört, dass
Menschen lernen, sich in Gruppen zu sozialisieren (vgl. Oelkers, 1993) Die
Entwicklung individueller Einmaligkeit ist dabei gegen Individualismus
abzugrenzen. Individuelle Entwicklung soll verwurzelt sein mit sozialer
Qualifizierung.
- Der Einzelne ist einmalig und unersetzlich
Der Gleichheitsgedanke bei Dewey meint nicht Konformismus, sondern ist
bezogen auf die individuelle Einmaligkeit eines Menschen, auf die jede und
jeder ein gleiches Recht hat (vgl. Bohnsack, 2003). Demokratie soll jedem
die gleiche Chance auf Verschiedenheit geben. Dewey lehnte die Vorstel-
lung eines ,,melting pot", der das Aufgeben der Herkunft und der Unter-
schiede von Einwanderern in Amerika meinte, ab. Vielmehr bejahte er den
kulturellen Reichtum durch Vielfalt, der sich in seinen Rahmenwerten an
der Demokratie orientiert (vgl. Bohnsack 2005).
7

- Menschliches Leben ist Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck
Dewey kommt es darauf an, dass jeder Lebensmoment nicht nur als Mittel
zum Zweck benutzt wird, sondern auch Erfüllung bringt (vgl. Bohnsack,
2003).
- Fremdgesteuerte, freudlose Lernprozesse des Schülers sind anti-
demokratisch
Demokratie ist Betrachtung der Gesellschaft unter pädagogischen Aspekten
mit dem Ziel, die Arbeitswelt zu humanisieren. Die Entfremdung der Arbeit
hat für Dewey keine sachlichen, sondern politische Gründe, nämlich in der
Ausbeutung durch den Kapitalismus. Demzufolge ist die Verbesserung der
Lebensqualität Wertmaßstab für Erziehung und jegliche menschliche Kom-
munikation und Interaktion. Profitorientierte Entfremdung am Fließband
muss in sinnerfüllte, selbstbestimmte Tätigkeit umgewandelt werden (vgl.
Bohnsack, 2003). Der Sinn des Tuns ergibt sich aus der Lösung eigener,
selbst gewählter Aufgabenstellungen. In dieser Aussage ist die Notwendig-
keit für selbstständiges und selbsttätiges Lernen begründet.
2.2
Demokratiebegriff bei Klafki
Der Bildungstheoretiker und Didaktiker Wolfgang Klafki hat den bis dahin
geltenden Bildungsbegriff neu definiert. Demokratie ist ein zentraler Begriff
in dem neuen, kritisch konstruktiven Bildungsbegriff Klafkis. Er fügt den
klassischen, materialen und den neueren, formalen Bildungsbegriff zu einer
kritisch-konstruktiven Didaktik zusammen (vgl. Meyer/Meyer, 2007).
,,Wolfgang Klafki konstruiert zwei Extreme, die Idee einer materialen und
die einer formalen Bildung, um dann zu fragen, wie eine Vermittlung der
beiden Extreme gedacht werden kann" (ebd., 37). Seiner Ansicht nach ist in
demokratischen Gesellschaften ein Bildungsbegriff, der Bildung in Wis-
sensbeständen kanonisiert, überholt. Die Begriffe Emanzipation, Selbst- und
Mitbestimmungsfähigkeit ersetzen die Kategorie Bildung und bezeichnen
zentrierende, übergeordnete Orientierungs- und Beurteilungskriterien für
alle pädagogischen Einzelmaßnahmen (vgl. Klafki, 1996). ,,Die kritisch-
8

konstruktive Didaktik versteht sich als ein politisches Programm zur Demo-
kratisierung von Bildung und Schule" (Jank/Meyer, 2005, 231).
Bildung in der Demokratie habe vor allem drei Grundfähigkeiten zu vermit-
teln: die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die Fähigkeit zur Mitbestimmung
und die Fähigkeit zur Solidarität (vgl. Klafki, 1992). Nach Klafki ist eine
Schule demokratisch, wenn sie die Aneignung von Erkenntnissen, Kennt-
nissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihren Sachgehalt mit sozialem
Lernen verbindet. Damit ist das Erlernen von Beziehungsformen zwischen
Menschen, also Formen des Miteinander-Kommunizierens, des Austausches
von Informationen, Erkenntnissen und Verfahrensweisen, aber auch von
Gefühlen und Einstellungen, des Aushandelns von Regeln gemeint. Erlernt
werden soll das Kooperieren bei der Bewältigung gemeinsamer Aufgaben,
das Streiten über unterschiedliche Grundeinstellungen, Sichtweisen, Inter-
pretationen ebenso wie die Suche nach Lösungen bei auftretenden Spannun-
gen und Konflikten (vgl. ebd.).
2.3
Demokratiebegriff bei Himmelmann/Edelstein
Das BLK-Programm ,,Demokratie lernen & leben" ist ein auf fünf Jahre
ausgelegtes Programm (2002­2006), an dem sich 170 allgemeinbildende
und berufliche Schulen aus dreizehn Bundesländern beteiligt haben. Es ziel-
te darauf ab, systematisch und umfassend demokratiefördernde Schule zu
entwickeln, die SchülerInnen grundlegende und konstruktive Erfahrungen
mit demokratischen Prozessen, Normen und Institutionen vermittelt. Die
Beteiligungsformen zur Entwicklung einer demokratischen Schulkultur
reichten dabei von der Einrichtung von Klassenräten über die Stärkung der
SV-Arbeit bis hin zur Etablierung von Schulparlamenten. Das Programm
sollte vor allem durch die Demokratisierung von Unterricht und Schulleben
die Bereitschaft junger Menschen zur aktiven Mitwirkung an der Gesell-
schaft wecken und stärken sowie die dafür nötigen Kompetenzen fördern
(vgl. Giesel, 2007). Der Politikwissenschaftler Gerhard Himmelmann geht
9

in diesem Zusammenhang von drei Dimensionen der Demokratie aus (vgl.
www.blk-demokratie.de/materialien/demokratiebausteine
):
x
Demokratie als Lebensform meint das Demokratieverständnis im
Alltag.
x
Demokratie als Gesellschaftsform geht von der Verankerung und
Tradierung demokratischer Prinzipien aus.
x
Demokratie als Herrschaftsform zeigt sich in Deutschland als parla-
mentarische Demokratie und in den Vereinigten Staaten als präsidia-
le Demokratie.
Mit Hilfe von Himmelmanns (2007) Unterscheidung kann Demokratiepäda-
gogik als Handlungsfeld bestimmt werden, das pädagogische, insbesondere
schulische und unterrichtliche Bedingungen und Aktivitäten umfasst,
x
die zur Teilhabe an Demokratie als Lebensform und zu ihrer ge-
meinschaftlichen Gestaltung beitragen;
x
die Kompetenzen für das Engagement an einer demokratischen Ge-
sellschaftsform fördern und helfen, diese durch Partizipation und
Mitwirkung in lokalen und globalen Kontexten zu gestalten;
x
die dazu beitragen, Demokratie als Regierungsform durch aufgeklär-
te Urteilsbildung und Entscheidungsfindung zu bewahren und wei-
terzuentwickeln.
2.4
Demokratie in der Schule ­ Instrumente der Demokratie
in der Schule
Demokratie in der Schule kann unterschieden werden in Partizipation, De-
mokratisierung der Schulkultur und gesellschaftliche Partizipation. Partizi-
pation in der Schulstruktur kann die Wahl von Klassensprechern, regelmä-
ßige Morgenkreise oder das Aufstellen von Regeln und Streitschlichtungs-
programmen sein. Die Demokratisierung der Schulkultur beinhaltet selbst-
bestimmtes und selbstverantwortetes Lernen sowie Methoden im Unterricht
10

wie Freiarbeit und Wochenplan. Gesellschaftliche Partizipation kann durch
Unterrichtsprojekte realisiert werden, wie beispielsweise die Umgestaltung
des Schulhofes durch Vorschläge an die Gemeinde. Dem liegt der Gedanke
zugrunde, dass die Beteiligung der Individuen an Entscheidungen, von de-
nen sie betroffen sind, zum Kern der Demokratie gehört. Demokratisches
Handeln meint insofern Teilhabe an Entscheidungen und das Ermöglichen
von Selbstbestimmung, auch wenn andere betroffen sind (vgl. Burk, 2003).
Es gibt verschiedene Instrumente, mit deren Hilfe demokratisches Denken
und demokratische Handlungsstrukturen eingeübt werden können. Insbe-
sondere pädagogische Formen der Partizipation wie Klassensprecher oder
der Klassenrat sind hier zu nennen. Formen des Zusammenlebens in der
Klasse und der Schule sollten demokratisch geregelt sein. Dazu kann es an
einer Schule ein Repertoire an Regeln geben. Entscheidend für das Lernen
im demokratischen Sinne ist, dass die Regelungen auch auf einer Metaebene
diskutiert und reflektiert werden (vgl. Richter, 2007a). Es gilt das demokra-
tische Prinzip: Selbstbestimmung in Bereichen, die nur Einzelne betreffen,
und Mitbestimmung bei Entscheidungen, von denen alle betroffen sind.
2.4.1
KlassensprecherInnen
Laut Niedersächsischem Schulgesetz § 72 wirken SchülerInnen ab der
5. Klasse u. a. durch KlassensprecherInnen in der Schule mit. Dabei sollen
Jungen und Mädchen gleichermaßen vertreten sein. Ferner sollen ausländi-
sche SchülerInnen in angemessener Zahl berücksichtigt werden. Nach einer
Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes können auch SchülerInnen
des Primarbereichs und der Schulen für geistig Behinderte Klassenspre-
cherInnen wählen. Ob entsprechende Wahlen durchgeführt werden, hängt
nicht von der Entscheidung der Klassenlehrerin oder des Klassenlehrers
oder einer Konferenz ab. Dies bestimmen die SchülerInnen selbst. Aufgabe
der Lehrkräfte ist, die SchülerInnen über ihre Rechte zu informieren.
Die Aufgaben von KlassensprecherInnen werden weder im Niedersächsi-
schen Schulgesetz noch im Erlass mit dem Titel ,,Die Arbeit in der Grund-
11

schule" näher erläutert. Daher kann an dieser Stelle nur exemplarisch die
Aufgabenbeschreibung der KlassensprecherInnen erfolgen. Ausgegangen
wird dabei von einer Grundschule, an der die der vorliegenden Arbeit zu-
grunde liegende Erhebung durchgeführt habe. Im dortigen Schulprogramm
werden die Aufgaben der KlassensprecherInnen kurz beschrieben:
-
die Interessen der Kinder der Klasse vertreten
-
Anregungen, Wünsche und Vorschläge bzw. Beschwerden
und Kritik einzelner Kinder oder der ganzen Klasse an Leh-
rer weitergeben
-
Vermitteln bei Problemen zwischen SchülerInnen und Lehr-
kräften sowie zwischen SchülerInnen untereinander
-
Informationen an MitschülerInnen weitergeben
-
regelmäßiges Treffen mit der ganzen Klasse, sowie den Klas-
sensprecherInnen der anderen Klassen
(Auszug aus dem Schulprogramm der Grundschule Remels,
an der ein Teil der Erhebung für diese Arbeit durchgeführt
wurde, Stand September 2008)
2.4.2
Klassenrat
Der Klassenrat ist eine institutionalisierte, regelmäßige Zusammenkunft
aller SchülerInnen einer Klasse mit einer Lehrkraft mit deutlich strukturier-
tem Ablauf, Regeln und klarer Rollenverteilung. Ziel ist es, soziales Verhal-
ten, Verantwortungsbewusstsein, Problemlösefähigkeiten und Gemein-
schaftsgefühl einzuüben. Der Klassenrat ist der Ort, wo SchülerInnen sich
jenseits von Leistungsanforderungen austauschen, Pläne und Vorhaben or-
ganisieren sowie Konflikte austragen und lösen können. Die Kinder können
sich in Situationen helfen, in denen der/die Einzelne nicht weiterkommt.
Auf diese Weise werden demokratische Prozesse gelernt und gelebt (vgl.
Kiper, 1997).
12

2.4.3
Stopp-Regel
Die Stopp-Regel ist ein Kommunikationstraining, um die Regeln des Zu-
sammenlebens durchzusetzen. Mit der Stopp-Regel können SchülerInnen
für einen gewaltfreien Ausgleich sorgen, wenn eine definierte Grenze über-
schritten wird. Sie geben ein vernehmbares Stopp-Signal, beispielsweise mit
Unterstützung einer Geste der Hand. Wenn der/die andere nach diesem Sig-
nal nicht aufhört, verlangt das Kind eine Entschuldigung. Verweigert das
betreffende Kind eine Entschuldigung und ärgert weiter, wird eine Lehrkraft
als Hilfe hinzugezogen. Ist der Streit noch nicht beigelegt, kann mit der
Lehrkraft und dem Kind eine Wiedergutmachung für das Ärgern verlangt
werden (vgl. Grüner, 2009).
2.5
Forschungsstand zum Thema Demokratie mit Grund-
schulkindern
Eine Studie von den Politikwissenschaftlerinnen Maria Berton und Julia
Schäfer (2005) untersucht die politischen Orientierungen von Kindern im
Alter von sechs bis acht Jahren. Mit Hilfe von Interviews sollen Informatio-
nen über das politische Verständnis und Grundeinstellungen zur Demokratie
und Europa gewonnen werden.
Aufgrund vergleichender Interviews an zwei Gruppen gelangen die beiden
Politikwissenschaftlerinnen zu unterschiedlichen Ergebnissen das politische
Verständnis der Kinder betreffend. Die erste Gruppe besteht aus sechs- sie-
benjährigen Kindern ohne Schulerfahrung. Die zweite Gruppe setzt sich aus
Kindern zwischen 6 ­ 8 Jahren zusammen, die bereits ein Jahr Schulerfah-
rung mit sich bringen.
Die beiden Politikwissenschaftlerinnen kommen zu dem Ergebnis, dass
Kinder im Grundschulalter durchaus Erfahrungen mit dem Politischen durch
das Elternhaus, die Medien, Kindergarten, usw. haben. Kinder entwickeln
13

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783955499099
ISBN (Paperback)
9783955494094
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1
Schlagworte
Demokratiebegriff Demokratie Dewey Klafki Schule Schüler
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