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Entwicklungsstand der sprachlichen Fähigkeiten und der auditiven Gedächtnisleistung vierjähriger ehemaliger Late Talkers im Vergleich zu einer sprachgesunden Kontrollgruppe

©2011 Diplomarbeit 61 Seiten

Zusammenfassung

Zu den häufigsten Problemen der kindlichen Entwicklung zählen Sprachentwicklungsstörungen, die gravierende Konsequenzen haben können. Ein wichtiger Beitrag zur Prävention dieser Störungen besteht darin, Risikokinder früh zu identifizieren und ihre Sprachentwicklung interventionsbasiert zu fördern.
Das Heidelberger Elterntraining (HET) ist eine solche Frühintervention für Eltern, deren Kinder eine verzögerte Sprachentwicklung aufweisen und somit als sogenannte „Late Talkers“ gelten. In der vorliegenden Arbeit wird die langfristige Effektivität dieser Intervention circa 2 Jahre nach dem Elterntraining untersucht. Dafür werden die Late Talkers, deren Eltern am HET teilgenommen haben (Interventionsgruppe), mit einer Wartegruppe von Late Talkers sowie einer Kontrollgruppe sprachgesunder Kinder hinsichtlich ihrer sprachlichen Fähigkeiten sowie ihrer auditiven Gedächtnisleistung verglichen. Erwartungsgemäß liegen die sprachlichen Fähigkeiten wie auch die auditive Gedächtnisleistung der ehemaligen Late Talkers in der Interventionsgruppe in den meisten Tests über den Werten der Wartegruppe. Diese Befunde implizieren, dass es sich beim Heidelberger Elterntraining um eine nachhaltig wirksame Maßnahme zur Prävention von Sprachentwicklungsstörungen handelt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis
5
Ergebnisse
33
5.1
Kontrollanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
5.1.1
Soziodemographische Unterschiede zwischen Kontrollgruppe und
Late Talkers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
5.1.2
Unterschiede in nonverbalen kognitiven Fähigkeiten
. . . . . . .
34
5.2
Unterschiede zwischen sprachgesunden Kindern und Late Talkers mit 4
Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
5.2.1
Unterschiede im Sprachentwicklungsstand . . . . . . . . . . . . .
35
5.2.2
Unterschiede in auditiver Gedächtnisleistung . . . . . . . . . . .
37
5.3
Unterschiede zwischen den Aufholern in auditiver Gedächtnisleistung . .
38
5.4
Logopädische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
6
Diskussion
43
6.1
Befunde zum Sprachentwicklungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
6.2
Befunde zur auditiven Gedächtnisleistung . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
6.3
Befunde zur auditiven Gedächtnisleistung der Aufholer . . . . . . . . . .
46
6.4
Befunde zur logopädischen Behandlung
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
6.5
Methodik und Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
6.6
Künftige Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
7
Fazit
49
Literaturverzeichnis
50

1 Einleitung
Sprache ist ein für den Menschen wichtiges Medium, um sich in der Gesellschaft
zurechtzufinden und durchzusetzen, um zu lernen, sich zu entwickeln sowie um sich
sozial und emotional mitzuteilen (Weinert, 2006).
Der Prozess der Sprachentwicklung ist ein komplexer Vorgang, der überwiegend in den
ersten Jahren der Kindheit stattfindet. Störungen der Sprachentwicklung gehören mit
einer Prävalenzrate von 6-8% zu den häufigsten Problemen der kindlichen Entwicklung
im Vorschulalter (Kühn, 2010). Die Diagnose einer Sprachentwicklungsstörung kann
erst bei 3-Jährigen gestellt werden. Die Folgen einer Sprachentwicklungsstörung sind
erheblich: Sie reichen von gravierenden Lerndefiziten in der Schule über emotionale und
soziale Probleme bis hin zu Schwierigkeiten bei der Identitätsentwicklung.
Gibt es schon im jüngeren Alter Anzeichen auf Störungen oder Behinderungen der
Sprachentwicklung bei ansonsten unauffälliger Entwicklung, spricht man von einer
isolierten Sprachentwicklungsverzögerung. Kinder, die in der Sprachentwicklung stark
zurückgeblieben sind, ansonsten aber einen altersentsprechenden Entwicklungsstand
aufweisen, bezeichnet man Late Talkers. Für sie besteht ein deutlich erhöhtes Risiko, im
Laufe des Heranwachsens die Kriterien einer Sprachentwicklungsstörung zu erfüllen.
Retrospektiv betrachtet sind bei jeder Sprachentwicklungsstörung einschlägige frühe
Anzeichen auszumachen, dennoch mündet nicht jede frühe Verzögerung der Sprache
in eine anhaltende Störung (Kauschke, 2006). Die Tatsache, dass einige Kinder den
Rückstand im Sprachverhalten aufholen, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass
die Kinder, die dies nicht tun, unter weitaus schwerwiegenderen Folgen zu leiden haben
als lange Zeit vermutet wurde (Irwin, Carter & Briggs-Gowan, 2002). Die früher häufig
praktizierte Wait-and-See-Strategie, die auf der Annahme basiert, dass der Rückstand
von selbst aufgeholt wird, ist heutzutage wissenschaftlich nicht mehr vertretbar (Busch-
mann et al., 2008). In Anbetracht der weitreichenden und gravierenden Folgen einer
Sprachentwicklungsstörung ist eine frühe Identifizierung der Risikokinder von immenser
Bedeutung, um Maßnahmen zur Prävention oder zur Therapie einzuleiten.
Heute machen es diagnostische Methoden möglich, die von einer stark verzögerten
Sprachentwicklung gefährdeten Kinder in einem Alter von circa 2 Jahren zu erkennen.
Für diese Kinder hat Frau Dr. Buschmann mit dem 2008 veröffentlichten Heidelberger
Elterntraining (HET) eine elternzentrierte Frühintervention vorgestellt, deren kurz- und
mittelfristige Effektivität bereits überprüft und bestätigt wurde (Buschmann, Jooss &
Pietz, 2009).
In dieser Arbeit wird nun die langfristige Effektivität des Heidelberger Elterntrainings
untersucht. Dazu werden der Sprachentwicklungsstand ehemaliger Late Talkers, deren
1

1 Einleitung
Eltern das HET besuchten (Interventionsgruppe), mit dem von Late Talkers ohne
Intervention (Wartegruppe) im Alter von 4 Jahren untereinander und mit dem von
sprachentwicklungsgesunden Kindern (Kontrollgruppe) verglichen.
Sollte sich zeigen, dass das Sprachniveau der ehemaligen Late Talkers nach dem HET
im Alter von 4 Jahren nicht von dem der Late Talkers, deren Eltern nicht am HET
teilgenommen haben, unterscheidet, dann sollte über eine längere und intensivere
Unterstützung dieser Kinder nachgedacht werden. Sollte aber der langfristige Erfolg des
Heidelberger Elterntrainigs bestätigt werden, dann wäre dies eine klare Befürwortung
für eine Frühintervention bei Sprachentwicklungsverzögerungen (im speziellen für das
Heidelberger Elterntraining), die - bei entsprechender Befundlage - intensiviert angeboten
und möglichst vielen betroffenen Kindern zugänglich gemacht werden sollte.
2

2 Theoretischer Hintergrund
Im Folgenden werden zuerst die wichtigsten entwicklungspsychologischen Grundlagen der
kindlichen Sprachentwicklung skizziert. Es werden die regelhafte Sprachentwicklung und
deren mögliche Störungen beschrieben. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Kinder mit
umschriebener verzögerter Sprachentwicklung, so genannte Late Talkers, gelegt. Kurz
wird auf Ursachen, Entwicklungsverläufe und Interventionsmöglichkeiten eingegangen.
Schließlich wird das Heidelberger Elterntraining, eine Interventionsmaßnahme zur frühen
Sprachförderung, in seinen Grundzügen umrissen werden.
2.1 Spracherwerbstheorien
Zum komplexen Entwicklungsverlauf des Spracherwerbs existiert keine umfassend er-
klärende Theorie (Kühn, 2010). Vielmehr haben sich unterschiedliche Theorien zum
Spracherwerb etabliert, von denen die wichtigsten im Folgenden kurz beschrieben werden.
Der nativistische Ansatz (zum Beispiel Chomsky, 1980) geht von angeborenen Veran-
lagungen hinsichtlich bestimmter sprachlicher Grundstrukturen und Sprachrepräsen-
tationen aus. Das Kind verfügt von Geburt an über eine ,,Universalgrammatik", ein
abstraktes grammatikalisches Wissen, und besitzt ein hochspezialisiertes sprachliches
Verarbeitungssystem.
Laut dieser inside-out-Theorie spielt die sprachliche Stimulation durch die Umwelt
eine untergeordnete Rolle, sie ist nicht Ursache des Spracherwerbes, sondern dient als
Auslöser des Spracherwerbsprozesses. Nach neueren empirischen Forschungsergebnissen
und dem aktuellen wissenschaftlichen Stand stellen die nativistischen Theorien keine
angemessene Erklärung zum Spracherwerb dar, sondern beschreiben eher die Sprache
Erwachsener. Die Annahme, dass kindliche Sprachkategorien mit denen von Erwachsenen
identisch sind, entbehrt einer wissenschaftlichen Grundlage. Heute wird Sprache eher
als ein Entwicklungsprozess als ein Alles-oder-Nichts-Prinzip, wie ihn die nativistischen
Theorien beschreiben, gesehen.
Die kognitiven und die sozial-interaktiven Ansätze können dagegen als outside-in-
Theorien betitelt werden. Erstere betrachten den Spracherwerb als das Ergebnis der
kognitiven Entwicklung des Kindes, das heißt die Sprachentwicklung wird als Teil des
allgemeinen Entwicklungsprozesses angesehen. So können bestimmte Wörter erst dann
erlernt werden, wenn die zugrunde liegenden kognitiven Konzepte erworben wurden.
Die sozial-interaktiven Ansätze betrachten Sprache als das direkte Ergebnis sozial-
kommunikativer Muster. Die Grundlage für einen gesunden Spracherwerb stellen dem-
nach erlernte Sprach- und Kommunikationsschemata dar, die aus der Interaktion mit
anderen Menschen erlernt werden (Grimm & Weinert, 2002).
3

2 Theoretischer Hintergrund
Eine Synthese der oben genannten Theorien versucht der interaktionistische Ansatz
zu leisten, in dem der Fokus auf dem Zusammenwirken von Faktoren von Anlage
und Umwelt liegt. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder mit einer genetischen
Veranlagung auf die Welt kommen, auf bestimmte Umweltreize wie vertraute Stimmen
und Muttersprache stärker zu reagieren als auf andere. Sprache wird als ein System aus
dem Zusammenspiel biologisch bedingter Veranlagungen und sozialer Interaktion mit
der Umwelt verstanden (Hennon, Hirsh-Pasek & Michnick Golinkoff, 2000).
Allen genannten Theorien ist die Annahme gemeinsam, dass Sprache ein humanspezifi-
sches Phänomen ist und eine biologische Grundlage hat. Die Sprachentwicklung beginnt
bereits während der präverbalen Phase im Säuglings- und Kleinkindalter, in der für
einen gesunden Spracherwerb sowohl die genetische Veranlagung des Kindes als auch
externe Umweltfaktoren eine Rolle spielen (Kühn, 2010).
2.2 Regelhafte Sprachentwicklung
Der Spracherwerb steht in engem Zusammenhang mit der Entfaltung kognitiver, sozialer
und emotionaler Fertigkeiten (Weinert, 2006) und stellt eine zentrale Entwicklungs-
aufgabe für das Kind dar. In den ersten Lebensjahren muss ein Kind alle wichtigen
Grundlagen für die Form, den Inhalt und die Mitteilungsfunktion der Sprache erwerben.
Im Folgenden werden die frühkindliche Sprachentwicklung sowie die Sprachentwicklung
ab dem 2. Lebensjahr näher beschrieben.
2.2.1 Frühkindliche Sprachentwicklung
Kinder sind von Geburt an mit den wichtigsten Anlagen zum Spracherwerb ausgestattet.
Die Voraussetzungen für den Spracherwerb werden bereits in der Schwangerschaft
geschaffen. Hier entwickelt das ungeborene Kind die organischen Anlagen, die es benötigt,
um Sprache erwerben zu können und beginnt, diese einzusetzten. Nach der Geburt
kommt die sprachliche Zuwendung der Eltern, der Geschwister, der Verwandten und
anderer Menschen dazu. Anlage und Umwelt spielen also gleichermaßen eine Rolle
(Grimm & Weinert, 2002).
Der Spracherwerb hat zwei Hauptkomponenten: die Rezeption und die Produktion.
Von Beginn an geht die Entwicklung des Sprachverständnisses dem der Produktion
voran, und im Vergleich zu den rezeptiven werden die produktiven Fähigkeiten deutlich
später ausgebildet. Die Sprachrezeption, also das Verstehen der Sprache, beginnt vor der
Geburt des Kindes. In Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass Ungeborene
mit Orientierungsreaktionen auf unbekannte akustische Reize reagieren (Moon, Cooper
& Fifer, 1993). Zum Beispiel erhöht sich die Herzfrequenz des Embryos bei lauten
Geräuschen, beim Klang der vertrauten Mutterstimme verlangsamt sie sich dagegen.
Schon Neugeborene sind in der Lage, menschliche Stimmen und Geräusche von anderen
Tönen zu unterschieden. Aus der Säuglingsforschung ist bekannt, dass bereits wenige
Tage alte Babys zwischen Muttersprache und Fremdsprache differenzieren können
(Kishon-Rabin, Harel, Hildesheimer & Segal, 2010) und offensichtlich die Muttersprache
4

2 Theoretischer Hintergrund
bevorzugen (Moon et al., 1993). Diese angeborene Fähigkeit zur Lautdiskrimination
befähigt Säuglinge dazu, jede Sprache der Welt verstehen zu können.
Das erste Element der theoretisch produktiven Sprachentwicklung sind die noch undiffe-
renzierten Reflexschreie nach der Geburt auf innere und äußere Reize. Sie trainieren
Atmung und Stimmgebung (Grimm, 2003). In der Zeit zwischen der 2. und 6. Lebenswo-
che beginnt das Neugeborene zu gurren, ab dem 2. bis zum 4. Monat beginnen Säuglinge
zu lachen und zunehmend mehr Laute zu produzieren. Alle Neugeborenen der Welt
produzieren in den ersten 6 Lebensmonaten ähnliche Laute. So ist jeder Säugling ein
sogenannter ,,Weltenbürger" und zunächst einmal grundsätzlich dazu ausgestattet, jede
Sprache der Welt zu sprechen.
Danach beginnen wichtige Lernprozesse für die Spezialisierung auf die Muttersprache.
Die Anzahl der gebildeten Laute nimmt ab und wird dabei spezifischer für die Sprachlaute
der Muttersprache. Zwischen dem 6. und 9. Monat wird das Lallstadium erreicht, in
dem die Reduplikation von Silben einsetzt (zum Beispiel ,,da, da"), auch kanonisches
Lallen genannt. Die Art der produzierten Lalllaute dieser Phase lassen bereits Aussagen
über die spätere Sprachentwicklung zu (Lleó & Prinz, 1996), können also als Vorläufer
der Sprache interpretiert werden. Etwa im 9. Lebensmonat beginnt das Verständnis für
erste Wörter, deren Produktion unmittelbar darauf folgt (Penner, 2000). Umfasst der
kindliche Wortschatz schließlich um die 50 Vokabeln, setzt bei den meisten Kindern die
so genannte Wortschatzexplosion ein. Dabei kommt es zu einem rapiden Anstieg des
Wortschatzes. Statistisch gesehen lernt ein Kind in dieser Phase täglich etwa neun neue
Wörter. Allerdings werden die Wörter häufig noch vereinfacht und nicht immer richtig
ausgesprochen.
In der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres beginnen Kinder die Blickrichtungen ih-
rer Bezugspersonen zu verfolgen und die eigene Blickrichtung der des Sozialpartners
anzupassen. Kinder lernen sowohl Zeigegesten zu verstehen und die Aufmerksamkeit
dem Gezeigten zuzuwenden als auch diese aktiv einzusetzen, um die Wahrnehmung
des Sozialpartners zu lenken. Dies wird referentielles Zeigen genannt, bei dem es sich
um einen Akt handelt, der auf Sprache und sozialen Austausch zielt. Es stellt einen
zentralen Schritt zur Symbolisierungsfunktion und eine Grundlage des Spracherwerbs
dar (Goldin-Meadow, 2007) und steht im Gegensatz zum instrumentellen Zeigen, welches
eingesetzt wird, um etwas gereicht zu bekommen.
2.2.2 Sprachentwicklung nach dem 24. Lebensmonat
Am Ende des 2. Lebensjahres verfügen Kinder bei regelhafter Sprachentwicklung über
einen Wortschatz von ungefähr 200 Wörtern. Dieses erweiterte Vokabular stellt die
Grundlage für den Erwerb von grammatikalischen Strukturen dar. In diesem Alter
beginnen die meisten Kinder, die ersten Zweiwortäußerungen zu verwenden (zum Beispiel
,,Mama weg" oder ,,Puppe putt").
Diese Mehrwortäußerungen weisen typische Charakteristika auf: Kinder lassen in diesen
Wortkombinationen bestimmte Satzelemente, wie beispielsweise Artikel, Hilfsverben,
Konjunktionen und Präpositionen aus. Um eine kindliche Äußerung verstehen zu können,
5

2 Theoretischer Hintergrund
muss daher der Kontext, in der sie geäußert wird, bekannt sein. Aber auch wenn Kinder
bestimmte Satzelemente auslassen, so beachten sie dennoch formal-grammatikalische Re-
geln. So wird zum Beispiel nie ein Adjektiv vor einen Artikel gestellt (zum Beispiel ,,heiß
das Wasser" oder ,,groß die Tante") (Grimm & Weinert, 2002). Wörter sind nun weniger
an konkrete Kontexte gebunden und können immer besser als mentale Vorstellungen
genutzt werden. Es entsteht ein abstraktes Konstrukt, mit dem das Kind bestimmte
gedankliche Handlungen durchführen kann, ohne dass diese Handlungen auch in der
Realität durchgeführt werden müssen. Bis zum 3. Lebensjahr nimmt der Wortschatz
weiter stark zu und Präpositionen (zum Beispiel ,,auf dem Baum") und Hilfsverben
zur Bildung der Vergangenheit (zum Beispiel ,,ich habe geschlafen") tauchen auf. Das
Kind bildet einfache Sätze. Im Alter von 4 Jahren umfasst der aktive Wortschatz von
Kindern circa 1500 Wörter, mit 5 Jahren circa 2070 und zum Ende des 6. Lebensjahres
circa 5000 Wörter.
Im Alter von 3 Jahren ist das Sprachverständnis des Kindes so weit ausgereift, dass es
zunehmend komplexe Sätze versteht (Wendlandt, 2000). Der passive Wortschatz wächst
bis zum 6. Geburtstag auf circa 20000 Wörter an.
Es setzt metasprachliches Bewusstsein, das heißt die Fähigkeit über Sprache zu sprechen,
ein (Grimm, 2003). Das grammatikalische System baut sich parallel zum wachsenden
Umfang des Wortschatzes aus. Das Kind beginnt eine Vorstellung der eigenen Persön-
lichkeit zu entwickeln und es kann seine Eltern sprachlich um Hilfe bitten und warten,
bis diese ihm helfen, seine Absichten umzusetzen. Das Kind spricht nun fließend in kom-
plexen Sätzen und Zusammenhängen. Es kann sich zu vielen Themen inhaltlich sicher
und grammatikalisch korrekt äußern. Bis auf die Zischlaute beherrscht es sicher alle
Laute und Lautverbindungen. Das Kind kann Inhalte entsprechend seiner Entwicklung
abstrahieren (Grimm, 2003).
Im frühen Schulalter ist die formale Sprachentwicklung weitgehend abgeschlossen, wobei
5-10% der Kinder noch geringe Auffälligkeiten in Syntax und Artikulation aufzeigen.
2.3 Gestörte Sprachentwicklung
Verbale und nonverbale Kommunikationsfähigkeiten dienen dem Ausdruck und dem
Austausch von Intentionen, Wünschen und Abneigungen, sie stehen aber auch in enger
Beziehung zu kognitiven und sozialen Fähigkeiten. Dies gilt insbesondere für die verbale
Kommunikation: Nur über Sprache kann das Kind als denkendes Individuum in die
menschliche Kultur hineinwachsen und eine gesellschaftliche und persönliche Identität
ausbilden. Viele Fortschritte des Denkens werden erst durch die Sprache ermöglicht, so
wie auch das Denken das sprachliche Wissen maßgeblich beeinflusst.
Der kindliche Spracherwerb ist in besonderem Maße für Entwicklungsstörungen anfällig.
Es gibt kaum einen anderen Bereich, der häufiger und variantenreicher gestört wäre:
Störungen der Sprachentwicklung reichen von einfachen Aussprachefehlern über selektive
Störungen einzelner Sprachkomponenten bis hin zur völligen Stummheit. Dabei werden
oftmals die Komplexität und der Schweregrad der Störung unterschätzt. Eine fundierte
6

2 Theoretischer Hintergrund
diagnostische Abklärung, die auch andere Entwicklungsbereiche mit einbezieht, ist daher
unerlässlich.
Zur Klassifikation von Sprachentwicklungsstörungen gibt es eine Vielzahl von Schemata,
die der medizinisch orientierten, der pädagogischen und auch der sprachpsychologischen
Literatur entstammen. Diese stimmen nur teilweise überein. Der vorliegende Überblick
orientiert sich an dem von Grimm (2003) vorgegebenen Orientierungsrahmen, nach dem
sekundäre Störungen der Sprachentwicklung (z.B. bei Hörstörungen, nach neurologischer
Schädigung, bei mentaler Retardierung oder bei Kindern mit einer Autismus-Spektrum-
Störung) von der spezifischen oder primären Störung der Sprachentwicklung abgegrenzt
werden.
Tritt eine Sprachentwicklungsstörung unabhängig von anderen Entwicklungsstörungen
auf, so spricht man von primärer, spezifischer oder umschriebener Sprachentwicklungs-
störung
1
. Ist sie aber Teil einer umfassenden Entwicklungsbeeinträchtigung, bei der
neben sprachlichen Faktoren auch andere Entwicklungsbereiche diagnostisch auffallen
so spricht man von sekundärer Sprachentwicklungsstörung.
Tabelle 2.1 bildet die Klassifikation der Sprachentwicklungsstörungen nach Grimm
(2003) ab.
Tab. 2.1: Klassifikation von Sprachentwicklungsstörungen nach Grimm (2003)
bei Kindern mit sensorischer Behinderung:
bei pervasiver Störung:
Kinder mit Hörstörungen, blinde Kinder
Kinder mit frühkindlichem Autismus
bei neurologischer Schädigung:
bei nicht offenkundiger Ursache:
Kinder mit erworbenen Aphasien
Kinder mit spezifischer Störung der Sprach-
entwicklung
(dysgrammatisch sprechende Kinder)
bei mentaler Retardierung:
Down-Syndrom-Kinder
Williams-Beuren-Syndrom-Kinder
Die Grenze zwischen dem als auffällig angesehenen Sprachentwicklungsniveau und dem
als normal bezeichneten Sprachverhalten lässt sich nicht immer eindeutig ziehen, denn
jede Beurteilung von Entwicklung orientiert sich an Normvorstellungen und ist damit
grundsätzlich relativ (Grohnfeldt, 1993).
In der Literatur finden sich unterschiedliche und uneinheitlich verwendete Definitionen
für entwicklungsbedingte Sprach- und Sprechauffälligkeiten (Grimm, 1994; Ritterfeld
& Rindermann, 2004). Die fehlende Eindeutigkeit der Nomenklatur zeigt sich in der
Fülle von Ausdrücken, die im deutschsprachigen Raum zu finden sind, wie Sprachent-
wicklungsverzögerung, Sprachentwicklungsstörung, Spracherwerbsstörung und Entwick-
lungsdysphasie. Aber auch im Englischen existiert eine Vielzahl an Benennungen: Neben
1
In dieser Arbeit werden die Begriffe primär, spezifisch und umschrieben als Synonyme behandelt.
7

2 Theoretischer Hintergrund
specific disorder of language development und developmental dysphasia sind auch Be-
zeichnungen wie specific language impairment, developmental speech disorder syndrome,
language retardation oder developmental aphasia gebräuchlich (Grimm, 2003). In der
medizinischen Einteilung wurde in den letzten Jahren der Anspruch vertreten, mit der
Klassifikation gleichzeitig eine Hypothese über die Ursachen gestörter Sprachentwicklung
auszudrücken und damit auch Aussagen über die Prognose zu machen: So weist eine
Sprachentwicklungsstörung auf einen strukturell abweichenden Sprachgebrauch, eine
Sprachentwicklungsverzögerung dagegen auf einen zeitlichen Rückstand des Kindes in
der Sprachentwicklung hin.
Dies ist deshalb wichtig, weil Sprachentwicklungsstörungen dadurch gekennzeichnet
sind, dass sich die sprachlichen Fähigkeiten der betroffenen Kinder nicht nur langsamer
entwickeln als dies bei sprachgesunden der Fall ist, sondern dass sich auch qualitative
Abweichungen zeigen. So produzieren sprachentwicklungsgestörte Kinder Sätze, die nicht
Bestandteil einer der Entwicklungsstufen sind, die von sprachgesunden oder lediglich
sprachentwicklungsverzögerten Kindern durchlaufen werden (Grimm, 2003).
Beispielhaft sollen im Folgenden einige Definitionen beziehungsweise Definitionsversuche
von Sprachentwicklungsstörungen gegeben werden:
Grohnfeldt definiert Sprachentwicklungsstörung folgendermaßen:
,,Unter Störungen der Sprachentwicklung sollen als auffällig erlebte Lernpro-
zesse im Rahmen der kindlichen Entwicklung verstanden werden, die sich
nach ihrer sprachlichen Symptomatik als Abweichungen auf der phonetisch-
phonologischen, semantisch-lexikalischen und syntaktisch-morphologischen
Ebene sowie im pragmatischen Bereich auswirken können und nicht Ausdruck
eines Hörschadens oder einer dominierenden Intelligenzbeeinträchtigung sind.
[...] Sprachentwicklungsstörungen können dabei isoliert eine Sprachebene
betreffen, sich strukturell auf mehreren Sprachebenen auswirken und komplex
mit Störungen der Wahrnehmung, Motorik, Kognition und im psychosozialen
Bereich verbunden sein." (Grohnfeldt, 1993, S. 60)
Der Autor wählt also eine recht grobe Definition für Sprachentwicklungsstörungen und
weist damit auch auf die vielfältigen Probleme hin, die sich bei dem Versuch ergeben,
eine befriedigende Definition für dieses Störungsbild zu finden.
Szagun (2006) beschreibt den gestörten Spracherwerb so:
,,Ich spreche hier global von gestörtem Spracherwerb und Spracherwerbs-
störungen, wenn ich über ein Verhalten spreche, das mindestens folgende
Charakteristika aufweist:
1. Die Sprachentwicklung ist deutlich verzögert im Vergleich zum normalen
Verlauf.
2. Die Störungen befinden sich vorwiegend im formal-sprachlichen Bereich
- so wie der Syntax und Morphologie.
3. Die Intelligenz der Kinder, gemessen durch Intelligenztests, liegt im
Normalbereich.
4. Die Kinder haben keinen Hörschaden.
8

2 Theoretischer Hintergrund
5. Die Kinder haben keine massiven emotionalen Störungen.
Dieses ist [...] eine Auflistung der Minimalkriterien einer Spracherwerbsstö-
rung. Offen bleibt, ob und wieweit der Bereich der Bedeutungen von Wörtern
und der pragmatische Bereich betroffen sind [...]." (Szagun, 2006, S. 265)
2.3.1 Spezifische Sprachentwicklungsstörung
In der vorliegenden Arbeit werden nur die umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen
betrachtet. Bei Grimm (2003) werden spezifische Störungen der Sprachentwicklung
durch den Ausschluss einzelner Kriterien näher bestimmt:
,,Das wichtigste Ausschlusskriterium ist, dass eine spezifische Störung der
Sprachentwicklung nicht sekundärer Natur ist [...]. Die betroffenen Kinder
weisen keine generelle mentale Retardierung auf, sie sind weder blind noch
haben sie gravierende Hörprobleme, sie leiden unter keinen Lähmungen oder
Missbildungen der Sprechwerkzeuge, sie haben keine schweren neurologischen
Schädigungen, keine offensichtlichen emotionalen Probleme und sind auch
nicht autistisch."
Charakteristisch für spezifische Sprachentwicklungsstörungen sind ein verspäteter Sprech-
beginn, ein verlangsamter Spracherwerb mit möglicher Plateaubildung, formale Merk-
male der Sprache wie Syntax und Morphologie sind stärker gestört als Semantik und
Pragmatik. Die nonverbale Testintelligenz befindet sich im Normalbereich.
Das Erscheinungsbild einer umschriebenen Entwicklungsstörung der Sprache wandelt
sich mit zunehmendem Alter des Kindes (Weinert, 2002):
Während in der vorsprachlichen Phase Defizite im Bereich der Verarbeitung der Prosodie
als vordergründig erachtet werden, dominiert im Alter von 2 Jahren der verzögerte
Wortschatzerwerb der Kinder das Erscheinungsbild (Locke 1997). Im Vorschulalter sind
grammatische Probleme (zum Beispiel beim Erwerb der deutschen Verbstellungsregeln,
des Artikelsystems und variabler Satzmuster wie Frage- und Aussagesätze) zentral. Im
Schulalter gehen die auffälligen falschen Sprachformen dann langsam zurück, die Sprache
der Kinder bleibt aber insgesamt einfach und unflexibel. Nunmehr rücken Lese- und
Rechtschreibprobleme sowie Schwierigkeiten beim Verstehen komplexer Texte in den
Vordergrund des Störungsbildes (Grimm 2000, 2003).
In der ICD-10 (DIMDI, Version 2004), der internationalen Klassifikation der Krank-
heiten der World Health Organisation (WHO), werden umschriebene Störungen der
Sprachentwicklung wie folgt definiert beziehungsweise klassifiziert:
,,Es handelt sich um Störungen, bei denen die normalen Muster des Sprach-
erwerbs von frühen Entwicklungsstadien an beeinträchtigt sind. Die Störun-
gen können nicht direkt neurologischen Störungen oder Veränderungen des
Sprachablaufs, sensorischen Beeinträchtigungen, Intelligenzminderung oder
Umweltfaktoren zugeordnet werden. Umschriebene Entwicklungsstörungen
des Sprechens und der Sprache ziehen oft sekundäre Folgen nach sich, wie
9

2 Theoretischer Hintergrund
Tab. 2.2: Störungen der Sprachentwicklung gemäß ICD-10
Störung
Kennzeichen
Artikulationsstörung (F80.0)
· Artikulation des Kindes unterhalb
des seinem Intelligenzalter angemes-
senen Niveaus
· Sprachliche Fähigkeiten im Normbe-
reich
Expressive Sprachstörung (F80.1)
· Fähigkeit des Gebrauchs der expres-
siv gesprochenen Sprache liegt un-
terhalb des dem Intelligenzalter an-
gemessenen Niveaus
· Sprachverständnis im Normbereich
· Mögliche Störungen der Artikulation
Rezeptive Sprachstörung (F80.2)
· Sprachverständnis des Kindes liegt
unterhalb des seinem Intelligenzalter
angemessenen Niveaus
· Meist auch Beeinträchtigung expres-
siver Sprache
· Häufig Störungen in Wortlautpro-
duktion
Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben, Störungen im Bereich der
zwischenmenschlichen Beziehungen, im emotionalen und Verhaltensbereich."
Weiter wird unterteilt in Artikulationsstörung, expressive sowie rezeptive Sprachstörung
(siehe Tabelle 2.2).
Artikulationsstörung (F80.0):
Die Artikulationsstörung (F80.0) wird definiert als ,,eine umschriebene Entwicklungsstö-
rung, bei der die Artikulation des Kindes unterhalb des seinem Intelligenzalter angemes-
senen Niveaus liegt, seine sprachlichen Fähigkeiten jedoch im Normbereich liegen."
Expressive Sprachstörung (F80.1):
Bei der expressiven Sprachstörung (F80.1) handelt es sich gemäß der ICD-10 um ,,ei-
ne umschriebene Entwicklungsstörung, bei der die Fähigkeit des Kindes, die expressiv
gesprochene Sprache zu gebrauchen, deutlich unterhalb des seinem Intelligenzalter ange-
messenen Niveaus liegt, das Sprachverständnis liegt jedoch im Normbereich. Störungen
der Artikulation können vorkommen."
Rezeptive Sprachstörung (F80.2):
Dagegen wird die rezeptive Sprachstörung (F80.2) verstanden als ,,eine umschriebene
Entwicklungsstörung, bei der das Sprachverständnis des Kindes unterhalb des seinem
Intelligenzalter angemessenen Niveaus liegt. In praktisch allen Fällen ist auch die
expressive Sprache deutlich beeinflußt, Störungen in der Wortlautproduktion sind häufig."
10

2 Theoretischer Hintergrund
2.3.2 Sprachentwicklungsverzögerung ­ Late Talkers
Late Talkers sind Kinder mit verzögerter umschriebener Sprachentwicklung. Die Diagnose
Late Talker wird in einem Alter von 2 bis 3 Jahren gestellt. Viele Late Talkers haben
eine altersentsprechende Sprachrezeption, einige fallen jedoch durch Verzögerungen
in Rezeption und Expression auf. Mit Prävalenzraten zwischen 10 und 20% (Klee et
al., 1998; Rescorla, Grosfeld, West & Vane, 1989; Vigil, Hodges & Klee, 2005) sind
Sprachentwicklungsverzögerungen eine der am häufigsten auftretenden Störungen im
Kindesalter.
Die betroffenen Kinder fallen dadurch auf, dass sie sich entweder in den expressiven oder
den rezeptiv-expressiven sprachlichen Fähigkeiten verzögert entwickeln. Diese Kinder
haben keine neurologische Erkrankung, keine Hörstörung, keine Beeinträchtigung der
Sprechorgane (zum Beispiel Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten), keine allgemeine Entwick-
lungsverzögerung (motorisch, kognitiv) und keine tief greifende Kommunikationsstörung
(Autismus). Eine Sprachentwicklungsverzögerung muss von einer Sprachentwicklungsstö-
rung unterschieden werden, welche üblicherweise erst im Alter von 3 Jahren diagnostiziert
wird.
Erste Wörter werden von Late Talkers zwischen dem 18. und dem 24. Lebensmonat
gebildet, bei normaler Sprachentwicklung tun Kinder dies zwischen dem 10. und 14. Le-
bensmonat (Penner, 2000). Auch der aktive Wortschatz vergrößert sich im Entwicklungs-
verlauf der Late Talkers nur sehr langsam. Die oben beschriebene Wortschatzexplosion
bleibt entweder ganz aus oder tritt deutlich verzögert ein. Zum Zeitpunkt des zweiten
Geburtstages sprechen Late Talkers nur wenige Einzelwörter und nutzen stattdessen
oft vermehrt Mimik, Zeigegesten und symbolische Gesten zur Kommunikation. Da der
aktive Wortschatz auch in der weiteren Entwicklung sehr langsam wächst, sprechen
diese Kinder oft erst im Alter von 3 Jahren in Zwei- oder Dreiwortkombinationen.
Buschmann et al. (2008) konnten zeigen, dass 20 bis 30% der Late Talkers zusätzlich zur
verzögerten Sprachentwicklung auch Beeinträchtigungen im Sprachverständnis aufweisen.
Zusammenfassend kann man Late Talkers also als Kinder beschreiben, die im Alter
von 2 Jahren einen aktiven Wortschatz von unter 50 Wörtern aufweisen und/oder noch
keine Zweiwortkombinationen produzieren. In allen anderen Entwicklungsbereichen sind
diese Kinder aber unauffällig (Rescorla, Ross & McClure, 2007).
2.3.3 Ursachen und Prädiktoren der Sprachentwicklungsverzögerung
Zu den Ursachen der verzögerten Sprachentwicklung liegen wenige wissenschaftliche
Befunde vor. Vermutet werden ähnliche Faktoren wie für die Sprachentwicklungsstörung.
Dies sind genetische und neurobiologische Veranlagungen, auditive Wahrnehmungs-
und Verarbeitungsdefizite, insbesondere Schwächen im auditiven Kurzzeitgedächtnis,
Hörstörungen und verschiedene Umwelteinflüsse.
Untersuchungen zu den Prädiktoren von Sprachentwicklungsverzögerungen konnten
zeigen, dass weder Erziehungsniveau der Mutter, Familieneinkommen, sozioökonomischer
Status, psychische Gesundheit der Eltern, Erziehungsstil und Umgang innerhalb der
Familie Einfluss auf die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Sprachentwicklungsstörung
11

2 Theoretischer Hintergrund
haben (Entwhisle & Astone, 1994). Nur wenige Variablen konnten als signifikante Vor-
hersagefaktoren extrahiert werden. Diese waren Geschlecht (Jungen haben ein 2.74-fach
höheres Risiko als Mädchen), Sprachentwicklungsverzögerungen innerhalb der Familie
(das Risiko war 2.11 mal höher für Kinder, in deren Familie bereits Sprachentwick-
lungsverzögerungen aufgetreten waren), Anzahl der Kinder (das Risiko verdoppelt sich
in Familien mit zwei oder mehr Kindern) und perinatale Faktoren (Kinder mit nied-
rigem Geburtsgewicht scheinen ein 1.8 mal höheres Risiko zu haben). Weiter spielen
die frühen neuromotorischen Fähigkeiten eine Rolle: Je früher ein Kind diese ausbil-
det, desto geringer ist das Risiko, eine Sprachentwicklungsverzögerung zu entwickeln.
Diese Vorhersagefaktoren deuten darauf hin, dass anlagebedingte Attribute, aber auch
Umweltfaktoren wie die Geschwisteranzahl mit der Sprachentwicklung assoziiert sind.
2.3.3.1 Das auditive Gedächtnis
Näher soll nun auf die oben erwähnte entscheidende Rolle des auditiven Gedächtnisses
für die Sprachentwicklung eingegangen werden. Seit Beginn der 1990er Jahre werden
Fähigkeiten im Bereich der auditiven Informationsverarbeitung als Prädiktoren für die
Sprachentwicklung untersucht. Grundfunktionen des auditiven Gedächtnisses sind neben
seiner Speicherkapazität und Verarbeitungspräzision die phonologische Repräsentations-
fähigkeit und Bewusstheit, das phonologische Rekodieren mit Zugriff auf das semantische
Lexikon, die Kurzzeitgedächtnisspanne und das Satzgedächtnis (Wagner & Torgesen,
1987). Die Bedeutung des auditiven Gedächtnisses für die Sprachentwicklung ist leicht
nachzuvollziehen: Der sprachliche Input muss nicht nur aufgenommen, sondern auch
repräsentiert werden, damit er erkannt und als artikulatorischer Output wiedergegeben
werden kann. Nur aus gespeicherten sprachlichen Einheiten können Regelmäßigkeiten
abgeleitet werden, die die eigene Sprachproduktion und das Sprachverstehen bestimmen
und ermöglichen (Grimm, 2001).
Gegenwärtig wird in der Sprachentwicklungsforschung die These vertreten, dass intakte
kurzfristige Behaltensleistungen Vorraussetzung für das Erlernen von Wörtern, die
Verinnerlichung syntaktischer Strukturen und schließlich der Produktion von Wörtern
sind (Götze, Hasselhorn & Kiese-Himmel, 2000; Hasselhorn & Werner, 2000). Einige
Untersuchungen belegen die Tatsache, dass sprachentwicklungsauffällige Kinder tatsäch-
lich signifikant schlechtere Leistungen in der phonologischen Arbeitsgedächtnisleistung
zeigen als sprachunauffällige Kinder des gleichen Alters (vgl. u.a. Grimm, 2001, 2003;
Hasselhorn & Grube, 2003).
Vor allem das Nachsprechen von Kunstwörtern, die mehr als drei Silben aufweisen,
scheint für Late Talkers schwierig zu sein. Da keine geringere Kapazität des phonetischen
Speichers festgestellt werden konnte, führen Hasselhorn & Grube (2003) diese Ergebnisse
auf eine Störung der klanglichen Qualität zurück, mit der akustische Informationen im
phonetischen Speicher repräsentiert werden. Diese Vermutung wurde dadurch bestätigt,
dass durch die Präsentation der Kunstwörter in einer leicht ,,verrauschten" Version die
(sprachgesunde) Kontrollgruppe deutlich schlechtere Ergebnisse lieferte, während die Er-
gebnisse der sprachauffälligen Gruppe dadurch nicht beeinträchtigt wurden (Hasselhorn
& Grube, 2003, S. 35).
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955499952
ISBN (Paperback)
9783955494957
Dateigröße
850 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
Late Talker Sprachentwicklung auditive Gedächtnisleistung sprachliche Fähigkeit Sprachentwicklungsstörung Sprachentwicklungsverzögerung Sprachentwicklungsstudie
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Titel: Entwicklungsstand der sprachlichen Fähigkeiten und der auditiven Gedächtnisleistung vierjähriger ehemaliger Late Talkers im Vergleich zu einer sprachgesunden Kontrollgruppe
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