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Eine Mutter kämpft mit ihrem Säugling: Entwicklungs- und bindungstheoretische Grundlagen

©2011 Diplomarbeit 96 Seiten

Zusammenfassung

Welche Möglichkeiten hat ein Säugling, um Aufmerksamkeit von der Mutter zu erhalten? Was passiert, wenn dem ureigensten Wunsch nach Nähe und Stabilität nicht nachgegangen werden kann?
Dieses Buch beschäftigt sich mit entwicklungstheoretischen Ansätzen vor dem Hintergrund einer Fallanalyse einer schwierigen Mutter-Kind-Beziehung. Die Wichtigkeit und Bedeutung der emotionalen Entwicklung von Kleinkindern rückt in der heutigen Zeit immer mehr in den Vordergrund. Gerade die bindungstheoretischen Aspekte und ihre Auswirkung auf Beziehungsmuster sollen in diesem Buch verdeutlicht werden. Aber auch grundlegende psychologische Bindungs- und Entwicklungstheorien, die Resilienzforschung, triadische Aspekte und die Bedeutung der Vaterrolle werden, mit einer abschließenden Facheinschätzung der exemplarischen Fallarbeit, näher betrachtet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Bindungstheorie

"Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft, das sie über Raum und Zeit hinweg miteinander verbindet.“ (Bowlby 1979 aus Grossmann 2009:15)

Frühe Bindungserfahrungen legen den Grundstein für jegliche psychische Entwicklung und psychische Funktionen. Der Wunsch nach Beziehungen, die Sicherheit und Schutz gewähren, ist als bedeutendes Grundbedürfnis des Menschen zu verstehen. Die Bildung von „ICH“ und „Selbst“ werden von einer stabilen Bindung in der frühkindlichen Entwicklung geformt. Die Fähigkeit im späteren Leben affektive Beziehungen einzugehen, werden durch die Bindungserfahrungen eines Individuums mit seinen Eltern geprägt.

Die Bindungstheorie wurde in den 1940er Jahren durch John Bowlby und Mary Ainsworth erarbeitet und entstand aus Bowlbys Beobachtungen als Kinderpsychiater in Kinderheimen. Er zeigte Interesse für die damals aktuellen und realen Entwicklungsbedingungen von Kindern. Er führte detaillierte Beobachtungen von Trennungssituationen in Krankenhäusern durch und beschäftigte sich mit den kurz- und langfristigen Konsequenzen fehlender mütterlicher Zuwendung und Interaktion auf die kindliche Entwicklung. Alle nachfolgenden Bindungsstudien gehen auf die von Bowlby begründete Bindungstheorie zurück.

In Deutschland wurde die Bindungstheorie insbesondere von Karin Grossmann und Klaus E. Grossmann in den 70er Jahren weiterentwickelt. In ihren Langzeituntersuchungen an der Universität Regensburg bezogen sie auch die Väter, Geschwister, Familienangehörige und ebenso Betreuungspersonen wie Erzieherinnen mit ein. Besonders die angewandten Arbeiten von Karl-Heinz Brisch fanden in den letzten Jahren besondere Beachtung. In Bindungsbeziehungen fließen alle Gefühle, Erwartungen und Verhaltensstrategien ein, die ein Säugling aufgrund seiner Erfahrungen mit der Bindungsperson entwickelt hat. Das so genannte Bindungsmuster, das sich in Anpassung an die Bindung während des ersten Lebensjahres ausprägt, wandelt sich im Laufe der Zeit, bleibt aber in seiner Grundstruktur in den meisten Fällen konstant (Brisch 2010:35)

Anfänglich wurde die Bindungstheorie auf die Beobachtung des Trennungsverhaltens bei Kleinkindern bezogen. Inzwischen weiß man über die Bedeutung der frühen Bindungserfahrungen für die gesamte Lebensspanne. Die Grundlagen der Bindungstheorie sind relevant für die praktische Arbeit in der Pädagogik, Sozialarbeit und Psychologie.

2.1 Bindung und Bindungsverhalten

Bindung wird als Teil eines komplexen Bindungssystems verstanden. Ein Säugling ist in der Lage, auf natürliche Weise und höchst komplex lebensnotwendige individuelle Bindungsbeziehungen aufzubauen, um sein Überleben zu sichern. John Bowlby vertrat die These, dass Säuglinge mit einer Reihe sozialer Kompetenzen, Motivationssystemen und der Fähigkeit geboren werden, sich emotional an die Mutter zu binden. Er beschreibt das Bindungsverhalten eines Säuglings:

„als Folge bestimmter vorprogrammierter Verhaltensmuster, die auf ein anderes Individuum konzentriert werden. Ihre Wirkung besteht darin, das erste Individuum nahe an das andere heranzubringen und es dort zu halten...“(Bowlby 1987:23)

Gemeinsam mit Mary Ainsworth u.a. wurden die Folgen von Mutter-Kind-Trennungen erforscht und zum ersten Mal der Begriff „Bindung“ eingeführt. Die empirische Bindungsforschung begann mit grundlegenden Beobachtungen im Säuglings- und Kleinkindalter.

John Bowlby schrieb in „Bindung - Eine Analyse der Mutter-Kind-Bindung“ von 1975, dass die erste menschliche Beziehung eines Säuglings der Grundstein zu seiner Persönlichkeit sei. Er bezog sich auf die bis dahin von anderen Gelehrten allgemeingültigen Annahmen, die Bindung des Kindes zur Mutter läge ausschließlich darin, die Nahrungs- und Wärmebedürfnisse zu erfüllen. Eine weitere Bindungsthese bezog sich auf das angeborene Bedürfnis eines Säuglings, Kontakt mit einem menschlichen Wesen herzustellen und sich an dieses anzuklammern.

Bowlby hingegen war der Auffassung, dass die vielen Gesten und Verhaltensweisen zwischen einer Mutter und ihrem Kind zu einer Bindung führen. Es entstünde ein System, in dem die Mutter auf das Verhalten des Kindes entsprechend reagiere, diese Reaktion Nähe signalisiere und die Mutternähe ein gesetztes Ziel des Säuglings sei.

„Die hier vertretene Hypothese unterscheidet sich von allen, die oben aufgeführt sind, und stützt sich auf die … Instinkttheorie. Sie postuliert das Band zwischen Kind und Mutter als Produkt der Aktivität einer Anzahl von Verhaltenssystemen, deren voraussehbares Ergebnis die Nähe zur Mutter ist.“(Bowlby 1975:172)

Bowlby beobachtete, besonders beim Sich-Entfernen der Mutter oder bei sonstigen für den Säugling furchterregenden Anlässen, dass das dadurch resultierende Verhalten des Säuglings nur, durch die Stimme, den Anblick oder die Berührung der Mutter beendet werden konnte. Die emotionale Bindung sichere das Überleben des Säuglings und bietet einen Hafen der Geborgenheit und des Schutzes.

Käme das Kind in Situationen der Unsicherheit, Krankheit, Müdigkeit, Angst oder des Stresses, würden Bindungsbedürfnisse über Verhaltensweisen wie Schreien (Weinen), Anklammern, Nachlaufen aktiviert, die Nähe zur vertrauten Person wieder herstellen sollen. Diese Bindungsverhaltensweisen motivieren, körperlichen Kontakt, Hilfe, Zuwendung oder Trost bei der vertrauten Person zu suchen, um das Bindungsbedürfnis wieder zu beruhigen. Bowlby nahm an, dass sich dieses Verhaltenssystem im Säugling selbst entwickle als ein Resultat einer Wechselbeziehung mit der Umwelt, deren Hauptfigur die Mutter sei. (Bowlby 1975:171/172)

Mit zunehmendem Alter nähmen Häufigkeit und Intensität dieser Verhaltensmuster ab, sie blieben als Verhaltensausstattung aber erhalten. Eine sichere Bindung sei für die gesunde, körperliche, psychische und soziale Entwicklung von Kleinkindern von signifikanter Bedeutung. Dazu benötige es ein Maß an fürsorglichem Verhalten und Feinfühligkeit der Bindungsperson. Fürsorglichkeit seitens der Bindungsperson bedeutet: „erstens, verfügbar zu sein und zu antworten, wie und wann dies gewünscht wird, und zweitens, umsichtig einzugreifen, wenn sich das Kind … in Schwierigkeiten bringt.“ (Bowlby 1987:25f.)

Nach Bowlby bedarf es, seitens der Eltern eines intuitiven und einfühlsamen Verstehens in das kindliche Bindungsverhalten und die Bereitschaft darauf einzugehen. Mary Ainsworth, die in den 1950er Jahren zu Bowlbys Forschungsteam dazukam, trug durch empirische Studien zur Weiterentwicklung bindungstheoretischen Annahmen enorm bei. Sie suchte nach den Mechanismen sozialen Lernens, nach Verhaltensänderungen als Folge von Nachahmung, Belohnung und Bestrafung. In Untersuchungsreihen wurden Kleinkinder in eine „Fremde Situation“ gebracht in denen ihnen zwei kurze Trennungen von ihren Müttern zugemutet wurden. Dabei zeigte sich, inwieweit die Kinder in der Lage waren, sich nach kurzem Trennungsschmerz auf ihre Mutter als „sicherer Hafen“ verlassen zu können und daraus eine Basis zu bilden, um von ihr aus sich explorativ zu verhalten und eine fremde Umgebung zu erforschen. Die „Fremde Situation“ diente der Erforschung mütterlichen Verhaltens, in deren Feinfühligkeit gegenüber ihren Säuglingen und wie deutlich ein Kind zeige, dass sein Bindungssystem aktiviert sei. So entstanden die Bindungskategorien, „sicher“ - Gruppe B, „unsicher-vermeidend“ - Gruppe A und „unsicher ambivalent“ - Gruppe C. Später kam noch die Kategorie Desorganisation hinzu.

2.2 Bindungsqualität

2.2.1 Kategorien von verschiedenen Bindungsmustern

2.2.1.1 Sichere Bindung (B)

Zur Kategorie „Sichere-Bindung“ (Gruppe B) zählen Kinder, die eine große Zuversicht in die Verfügbarkeit der Bindungsperson haben. Sie fühlen sich sicher, haben Vertrauen in die Unterstützung der Mutter und können daher ihre Umgebung erforschen und ihrer Neugier nachgehen (Brisch 2010:51). Sie zeigen eine Ausgewogenheit zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten. In stressbesetzten Situationen suchen sie aktiv nach Nähe und Fürsorge der vertrauten Person, des sicheren „Hafens“. Diese Kinder können ein Gefühl der Selbstbestimmung entwickeln, weil sowohl Bindungswünsche verstanden, als auch Neugier unterstützt wird. Sie erfahren sich selbst als liebenswert und entwickeln ein positives Selbstbild. Ein sicher gebundenes Kind ist weniger aggressiv, weniger ängstlich und zeigt eine Ausgewogenheit zwischen selbstständigem Spiel und Kontaktbedürfnis zur Mutter. Dies bedeutet, dass die Bindungsperson gegenüber ihrem Kind als konstant verlässlich, verständnisvoll und einfühlsam auftreten sollte, besonders in Situationen der Angst, Unsicherheit, des Stresses oder Kummers (Suess 2002:206). In Trennungssituationen leben die Kinder ihre Gefühle von Trauer aus und akzeptieren teilweise den Trost einer fremden Frau. Sicher gebundene Kinder vertrauen darauf, dass ihre Bindungsperson sie nicht im Stich lassen und zurückkehren wird. Diese Kinder verfügen über die gesamte Spannbreite der Gefühle und können auch negative Gefühle stimmig vermitteln. Die Gefühlsäußerungen stimmen mit ihrer Gefühlslage überein. Sie sind also in der Lage, beziehungsorientiert und kompetent, für sie, schwierige Situationen zu meistern.

2.2.1.2 Unsicher-Vermeidende Bindung (A)

Die Kategorie „unsicher-vermeidend“ (Gruppe A) bedeutet, dass diese Kinder ein Vermeidungsverhalten präsentieren. Sie gehen der Frustration, des Konfliktes durch Aufmerksamkeitsabwendung der Mutter aus dem Weg (Brisch 2010:51). Zudem zeigen sie kaum die, von sich ausgehende, Bereitschaft zur Kontaktaufnahme zur Mutter und lassen sich schnell von fremden Personen in Trennungsphasen trösten. Wenn die Mutter den Raum verlässt, scheinen sie unbeeindruckt dessen zu sein und zögern nicht in ihrem Explorationsverhalten. Durch zusätzliche Untersuchungen wurde allerdings festgestellt, dass der Cortisolspiegel (Hormonspiegel im Körper, welcher bei Stress ansteigt) weit höher lag, als bei den sicher gebundenen Kindern, was auf Stress hindeutet. Beim Wiederauftauchen wird die Bindungsperson ignoriert oder sich ihr abgewendet und die Kinder suchen eher die Nähe der fremden Person. Durch die Vermeidung und Nichtauslebung von negativen Gefühlen gehen die Kinder keine Risiko ein, erneut eine Zurückweisung der Mutter zu erleben. Ihnen fehlt die Zuversicht über die Verfügbarkeit der Bindungsperson und das ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Das Kind vermeidet Gefühle zum Ausdruck zu bringen, geht Konflikten und Kritik seitens der Eltern aus dem Weg, da sie wie schmerzvolle Zurückweisungen erlebt werden. Kinder dieser Gruppe versuchen jegliche Situationen, die auf sie zukommen, ohne fremde Hilfe zu bewältigen und zeigen dabei ihre Verunsicherung möglichst nicht. Auf unbewusster Ebene lernen Kinder in solchen Bindungsbeziehungen langfristig eigene Bindungsbedürfnisse zu minimieren (Suess 2002:206). Ihr Verhaltensmuster ist durch Angepasstheit geprägt. Dies führt dazu, dass sich diese Kinder von der Umwelt zurückziehen, sich intensiv mit Spielsachen beschäftigen und emotional genügsam werden. Sie behalten die Kontrolle bei sich, ihre Schutzbedürftigkeit wird heruntergespielt und ihre Aufmerksamkeit wird, weg von Personen, hin zu Gegenständen gelenkt.

2.2.1.3 Unsicher-Ambivalente Bindung (C)

Zur Kategorie „unsicher-ambivalent“ (Gruppe C) zählen Kinder deren Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität von der Bindungsperson nicht gewährleistet wird. Dadurch wird einerseits Ärger ausgelöst, anderseits die kindliche Unsicherheit verstärkt, was zu einer weiteren Aktivierung des kindlichen Bindungssystems führt. Ihr ambivalentes Verhalten spiegelt diesen Konflikt zwischen Annäherung, Ärger und Rückzug.

Verlässt die Bindungsperson den Raum, reagieren diese Kinder extrem gestresst und belastet, ihr Bindungssystem wird allein wegen der fremden Umgebung und der fremden Person aktiviert. Sie geben ihren Kummer und ihre Frustration lautstark zu erkennen (Brisch 2010:52). Die Kinder sind verunsichert, ob die Bindungsperson bei Bedarf zur Verfügung steht und können das Verhalten der Mutter nicht nachvollziehen. Die Bindungsperson reagiert für sie nicht nachvollziehbar, schwer berechnend, nicht zuverlässig und durch den ständigen Wechsel zwischen Feinfühligkeit und wieder abweisendem Verhalten, muss das Bindungssystem des Kindes ständig aktiviert sein. Das Kind wird somit immer damit beschäftigt sein, in welcher Verfassung seine Bindungsperson gerade ist und sich versuchen, ihr anzupassen.

„Es ist in einem unlösbaren Konflikt gefangen, und seine Aufmerksamkeit ist wegen seines Schutzbedürfnisses viel zu stark und zu häufig auf die Befindlichkeit der Bindungsperson gerichtet, um zu erkennen, wann sie zugänglich und wann sie zurückweisend ist“

(Grossmann/Grossmann 2009:38)

Die Trennungsangst und die schlechte Berechenbarkeit der Mutter führen zu einer unsicher-ambivalenten Bindung und hindern das Kind in seinem Explorationsverhalten. Es kann seine Neugier und sein Erkundungsverhalten in der fremden Umgebung nicht ausleben. Bei der unsicher-ambivalenten Bindung stellt die Mutter ihre Bedürfnisse, ihre Launen, ihre Empfindungen über die des Kindes. Sie ist selbst noch mit ihren Aufgaben beschäftigt und widmet sich daher ihrem Kind nur gelegentlich. Manche Mütter hingegen haben Schwierigkeiten mit den Explorationswünschen des Kindes, entmutigen es daher in seinem Autonomiebestreben, und greifen stets in sein freies Spiel ein.

Die bisher geschilderten Beziehungsmuster sind zwar sehr unterschiedlich, aber doch stimmig zur erlebten Bindungsbeziehung. Sie stellen insofern eine kompetente Bewältigungsstrategie angesichts verunsichernder Situationen dar (Suess 2002:207).

2.2.1.4 Desorganisierte/Desorientierte Bindung (D)

Die Kategorie desorganisierte/desorientierte Bindung (Gruppe D) kam erst im Laufe der Zeit dazu, da es immer wieder Kinder gab, deren Verhalten nicht eindeutig zugeordert werden konnte und in keines der vorher dargestellten Gruppenmuster passte (Brisch 2010:52). Kinder mit einer desorganisierten/desorientierten Bindung zeigen unerwartete und in sich zerrissene bzw. geteilte Verhaltensweisen. Sie verwickeln sich in ihrem Verhaltensmuster in Widersprüchlichkeiten, wie z.B. dass sie ängstlich hin und her schwanken zwischen Erkunden und Nähe suchen oder sie zeigen ein vermeidendes Abwenden bei gleichzeitiger Annäherung, so dass dem Kind weder Vermeidung noch Trostsuchen gelingt. Sie vermischen Strategien von unsicher-vermeidendem und unsicher-widersetzendem Verhalten und dadurch kann es zu einem zeitweiligen Zusammenbruch der Bindungsstrategien kommen, weil diese Kinder es nicht schaffen, klare Bindungsmuster zu entwickeln. In Trennungssituationen schreien die Kinder nach ihrer Bindungsperson, entfernen sich aber beim Zurückkehren der Mutter von ihr. Andere reagieren gelähmt, benommen, oder mit einem erstarrten Gesichtsausdruck und manche Kinder zeigen zeitlich unkoordinierte Bewegungen, anomale Gesten und Haltungen, drehen sich im Kreis oder lassen sich zu Boden fallen, wenn die Bindungsperson zurück kommt. Einige von ihnen entwickeln mit der Zeit (ab 2 Jahren) eine kontrollierende Strategie, in der sie sich als Kinder verantwortlich für das Wohlergehen der Eltern fühlen und ein eher maßlos überfürsorgliches Verhalten zeigen. Sie wollen möglicherweise so die Beziehungsgestaltung selbst in den Griff bekommen, um die erschreckenden Interaktionen zu vermeiden.

Die Ursachen von desorganisierter oder desorientierter Bindung können bei der Mutter in Form eines Psychotraumata liegen, bspw. durch eine Geisteskrankheit, Depression, Drogen etc. (Suess 2002:209) Das nicht verarbeitete Trauma hängt mit einer desorganisierten Bindung zum eigenen Kind zusammen. Die Bindungsperson kann in einer solchen Situation nicht adäquat auf die Versorgungsbedürfnisse ihres Kindes eingehen, da sie noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, als dass sie in ihrer Funktion als feinfühlige Mutter fungieren kann und daher nur eingeschränkt tauglich ist. Besonders wenn Eltern innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Geburt des Kindes den Verlust einer nahe stehenden Person zu verkraften hatten, scheint die Wahrscheinlichkeit für Bindungsdesorganisation des Kindes sehr hoch zu sein. Das Verhalten der Bezugsperson in der Phase der Trauer ist für Kinder oft sehr beängstigend. Das Versinken in die Trauer, das plötzliche „Aussteigen“ aus der gerade noch glücklichen Kommunikation sind für Trauernde „normale“ Verhaltensweisen, für Kinder sind sie jedoch nicht zu verstehen und zutiefst erschreckend. Aber auch unverarbeitete Todesfälle in der Kindheit (z.B. eines Elternteils) und psychische Krankheit der Mutter sind mit desorganisierten Bindungsstrategien assoziiert. Bei einigen Kindern mit desorganisiertem Verhalten wurde ein Mangel an Verhaltensorganisation im Neugeborenenalter festgestellt oder es fanden sich neurologische Schädigungen des Kindes, aber auch Bindungstraumata, welche durch Misshandlungen und Vernachlässigungen der Bindungsperson herrührt.

Grossmann und Grossmann konstatieren gesellschaftliche Bedingungen, die Desorganisation begünstigen. So haben Untersuchungen in israelischen Kibbuzim, in denen Kleinkinder über Nacht im Kinderhaus schliefen und dort nur unzureichend versorgt waren, ergeben, dass ein hoher Prozentsatz dieser Kinder desorganisierte Bindungsmuster zeigte. Auch könne ein gemeinsam ausgeübtes Sorgerecht dieses Bindungsmuster begünstigen, wenn es in der Weise ausgeübt werde, in der das kleine Kind kein eindeutiges Zuhause habe, insbesondere wenn es einen Teil der Woche bei dem getrennt lebenden Elternteil übernachte (Suess 2002:210; Grossmann/ Grossmann 2006:158). Die Bindungstheorie belegt, dass ein Kind eine Bindung zu einer Person aufbauen muss. Wenn aber die Bindungsperson, die Schutz und Geborgenheit bieten soll, zugleich der Auslöser für das desorganisierte Bindungsverhalten darstellt, gerät das Kind in eine Situation, aus der es keinen Ausweg sieht. Diese Situation bezeichnete Gregory Bateson als Double-Bind und bezog sich dabei auf eine bestimmte Kommunikation innerhalb familiärer Strukturen, die vor allem in Konfliktsituationen auftreten. Dabei konfrontieren die Eltern oder nur ein Elternteil das Kind mit widersprüchlichen Aussagen, Gefühlen oder Aufforderungen. Auf einer Kommunikationsart wird Liebe bekundet, auf einer anderen Zurückweisung und auf dem dritten Weg wird dann verhindert, dass das Kind dieses widersprüchliche Verhalten offen anspricht (Bourne/Ekstrand 2005:475).

Aus der Bindungserfahrung eines Kindes mit seiner Bindungsperson (in den Kategorien A bis D) werden Verhaltenssysteme aufgebaut, auf die sich das Kind später in seiner Beziehungsgestaltung bezieht.

Die vier Bindungskategorien sollten nicht als eine Persönlichkeitseigenschaft eines Kindes gesehen werden, vielmehr deuten sie auf ein Charakteristikum einer spezifischen Beziehung hin. Kinder können zu verschiedenen Personen, wie der Mutter und/oder dem Vater, unterschiedliche Formen von Bindungen haben (Oerter/Montada 2002:201).

2.2.2 Transaktionales Entwicklungsmodell

Die vier Formen von Bindung zeigen deutlich, wie unterschiedlich Mütter Bindungen zu ihren Kindern aufbauen. Das transaktionale Entwicklungsmodell geht bei der Entstehung von Bindungsmustern nicht von der Verantwortung eines einzelnen aus, sondern betrachtet die verschiedenen Faktoren, des Kindes, der Eltern und Umwelt, und ihr gegenseitiger Einfluss dazu.

Es wird die Sozialisierungstheorie berücksichtigt, nach der ein Kind, als Akteur seine Umwelt und Bedürfnisse mitgestaltet und nicht Produkt dessen ist. (Bründel/Hurrel­mann 2003:7)

Ein Säugling mit seiner Individualität, seinem Temperament und seiner Persönlichkeit hat somit in der Komplexität der Bindungstheorie selbst eine gestalterische Funktion.

„Der unleidliche, irritierbare Säugling verursacht Hilflosigkeit, Gefühle des Versagens, Ärger, Ängste oder Ablehnung bei der Mutter. Der anschmiegsame, freundliche, responsive Säugling vermittelt der Mutter Befriedigung, Sicherheit und Stolz. Und diese Gefühle haben wiederum Auswirkungen auf ihr Verhalten gegenüber dem Säugling, dass dessen Entwicklung mitgestaltet.“(Oerter/Montada 2002:7)

Die Mutter reagiert auf das Verhalten ihres Kindes und unterstützt oder erschwert somit das Temperament des Kindes. Ein Säugling kann durch seine Persönlichkeit, seine individuelle Eigenart und durch seine Signale an die Bindungsperson ein bestimmtes Verhalten der Mutter herausfordern oder abweisen. Er hat er einen gewissen Einfluss auf die Qualität der Bindung, jedoch kann er dieses Verhalten weder bewusst noch gezielt steuern.

Zuvorderst haben allerdings die primären Bezugspersonen einen zentralen Einfluss auf die Bindungsentwicklung und deren Qualität (Grossmann/Grossmann 2006:161)

2.2.3 Bedeutung der Feinfühligkeit der Bindungsperson

Grossmann und Grossmann und Brisch beschreiben als wichtigsten Faktor für die Bindungsqualität des Kindes den Grad der mütterlichen Feinfühligkeit. Sie impliziert die Fähigkeit die Signale und Kommunikationsversuche des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und auf sie angemessen und prompt zu reagieren. Dabei können drei Gruppen mütterlichen Verhaltens identifiziert werden:

(a) „Mütterliche Feinfühligkeit gegenüber den Signalen des Kindes“: Mütter, die als feinfühlig wahrgenommen wurden, waren tendenziell zugänglich, kooperativ und sie nahmen ihr Baby an. Die Kinder nutzten ihre Mütter als „sichere Basis“ und ließen sich durch gewöhnliche Trennungen im Alltag nicht aus der Ruhe bringen.
(b) „Kooperation versus Beeinträchtigung“: Darunter wird die mütterliche Bereitschaft und Fähigkeit verstanden, mit dem Baby auf gemeinsame Ziele hin zu kooperieren. Ein zentraler Teil liegt in ihrer Fähigkeit, sich in die Lage des Kindes zu versetzen und dies beim Handeln in partnerschaftlicher und verantwortlicher Weise berücksichtigen zu können. Diese Orientierung wird auch als „mind-mindedness“ bezeichnet.
(c) Das Konzept der „Annahme“ oder „Akzeptanz“: erfasst, ob die Mutter ihr Baby in seiner individuellen Eigenart annehmen kann oder ob negative Gefühle überwiegen. (Grossmann/Grossmann 2004:116)

Die Mutter muss in der Lage sein, kindliches Verhalten mit Aufmerksamkeit wahrzunehmen, etwa das Weinen des Kindes in seiner Bedeutung entschlüsseln: Weinen wegen Hunger, Unwohl sein, Schmerzen, Langeweile. Eine feinfühlige Mutter interpretiert die Äußerungen ihres Kindes korrekt und nicht gefärbt durch eigene Bedürfnisse. Sie gibt dem Kind, was es zu wollen scheint und bietet ihm gleichzeitig eine akzeptable Alternative an.

Sie reagiert in zeitlichem Zusammenhang auf die Signale, also innerhalb einer für das Kind noch toleranten Frustrationszeit. Die primäre Forderung nach einer prompten Erfüllung von Bedürfnissen ist dem jeweiligen Lebensalter des Kindes immer wieder neu anzupassen. In den ersten Lebenswochen ist die aushaltbare Frustrationsspanne für den Säugling, wenn er Hunger hat, nur sehr gering.

Eine Mutter, die sich nicht einfühlen kann, stimmt dagegen ihre Interventionen und Interaktionen fast nur auf ihre eigenen Wünsche, Launen und Aktivitäten ab. Sie neigt dazu, die Äußerungen des Kindes zu verzerren, zu ignorieren oder vor dem Hintergrund ihrer Wünsche und Bedürftigkeit zu betrachten.

Wenn die Bindungsperson eine sichere Basis bietet, in der Nähe und Feinfühligkeit herrschen, ermöglicht sie dem Kleinkind, seinen Explorationsbedürfnissen nachzugehen. Es kann sich von der Mutter entfernen, frei nach außen entwickeln, seine Umwelt erkunden, unbekannte Gebiete entdecken und Beziehungen zu weiteren Personen eingehen. Die Bindungsperson dient als Quelle der Sicherheit und ist somit die sichere Basis zur Exploration. Das Explorationsbedürfnis steht im Wechsel mit dem Bindungsbedürfnis und ergänzt sich zu einer Einheit. Ist hingegen die Mutter psychisch oder emotional nicht präsent, ist das Kind unsicher und in der Exploration gehemmt. Dadurch können signifikante Einschränkungen von Lern- und Übungsmöglichkeiten, sowie Folgen für die kognitive und psychosoziale Entwicklung entstehen (Grossmann/Grossmann 2004:114, Brisch 2010:41).

Auf die Bindungspersonen wirken wiederum zahlreiche Umwelteinflüsse, die ihr Verhalten gegenüber ihrem Kind mitbestimmen und beeinflussen. Soziale Unterstützung, durch Familienangehörige und soziale Anbindung sind für die Fähigkeit der Bindungsperson, auf die Signale des Kindes angemessen zu reagieren, von signifikanter Bedeutung. Durch familiären Rückhalt und soziale Kontakte festigt sich die eigene Wahrnehmung der Bindungsperson, als gute Mutter zu agieren und zu bestehen. Ebenso von Bedeutung spielen dabei ihre persönliche Lebensgeschichte, eigene soziale Stellung und Bildung innerhalb der Gesellschaft, und vor allem ihr eigener Bindungshintergrund.

2.3 Die Entwicklung „internaler Arbeitsmodelle“

Über das Bindungsverhalten und die Reaktion der Bindungsfiguren entwickelt das Kind eine innere (mentale) Repräsentation von Bindung, das so genannte internale Arbeitsmodell.

„Bowlbys theoretische Vorstellung über ein „internales Arbeitsmodell (Inner Working Model: IWM) von sich und Anderen“, bezieht sich vor allem auf die Entwicklung innerer hypothetischer Organisationen von Emotionen im Zusammenhang mit dem Bindungs- und Explorationssystem.“(Grossmann/Grossmann Website 2001: Abschnitt 6)

IWM drückt die Erwartungshaltung eines Menschen durch seine Erfahrung mit der Bindungsperson, sowie sein Bild von der Welt aus. Eine positive Erwartungshaltung ist, wie in verschiedenen Studien zur Resilienz noch dargestellt wird, ein wesentlicher Faktor für die Widerstandfähigkeit eines Menschen (Bowlby 2004 in Grossmann/ Grossmann 2006:413).

Bowlby hat den Begriff der internalen Arbeitsmodelle geprägt, andere Autoren sprechen von inneren Repräsentationen. Mit Hilfe dieses inneren Modells macht sich das Subjekt ein Bild von der Welt, von sich und von anderen, um Geschehnisse zu begreifen, Zukunft vorwegzunehmen und eigene Pläne zu konzipieren. Bowlby beschreibt diese Arbeitsmodelle wie folgt:

„Wie Personen denken, fühlen und handeln, wird von ihrer inneren Welt beeinflusst, durch die Art, wie sie Ereignisse, die sie erfahren, wahrnehmen, gestalten und strukturieren. Die zentrale Aufgabe einer Person während ihrer individuellen Entwicklung ist die nie endende, stets aktive Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen, und die Weise, wie diese sich beständig gegenseitig beeinflussen, nicht nur in der Kindheit, sondern auch im Leben von Jugendlichen und Erwachsenen.“ (Bowlby 2004 417 in Grossmann/ Grossmann 2006:413)

Bindungsmuster sind neben anderen Aspekten der repräsentierten Außen-Welt als Teil dieser internalen Arbeitsmodelle zu verstehen. Bindungsmuster entwickeln sich durch Beziehungserfahrungen, es sind somit keine angeborenen individuellen Charakteristika der Kinder.

Wiederholt erfahrene typische Interaktionsmuster wecken Erwartungen hinsichtlich des Charakters von Interaktionen zu den Bezugspersonen. Diese Erwartungen hinterlassen mentale Repräsentationen oder innere Arbeitsmodelle. Zentrale Bedeutung hat dabei der emotionale Gehalt dieser Erfahrungen (Fonagy 1998:351).

Kinder bauen zu verschiedenen Bezugspersonen unterschiedliche Bindungsqualitäten auf. Alle Beziehungserfahrungen wirken auf die „inneren Arbeitsmodelle“. Somit erleichtern die internalen oder inneren Arbeitsmodelle dem Kind es, sich in seiner sozialen Welt zu orientieren. Mit dem Begriff der internalen Arbeitsmodelle von Bowlby wurde bewusst ein dynamischer Begriff gewählt, der seine Veränderbarkeit impliziert.

„Er wollte damit verdeutlichen, dass es sich um Modelle handelt, die dazu gemacht sind, einen ständigen Angleich mit äußeren Gegebenheiten zu vollziehen, und die sich ändern müssen, wenn sie einer Überprüfung an der Realität wiederholt nicht standhalten“ (Grossmann/Grossmann 2006:414)

Sie können sich durch beständig neuartige Erfahrungen ändern, allerdings regrediert der Veränderungsprozess, mit zunehmendem Alter und der Menge der Erfahrungen. Die Arbeitsmodelle stehen in ständigem Austausch, mit der jeweils neuen Erfahrungswirklichkeit und werden immer weiter verfeinert und den jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Sie stehen für Kontinuität und Veränderung zugleich und dienen der Voraussagbarkeit und Orientierung. Auch komplexe Situationen können schnell erfasst und „eingeordnet“ und damit bewältigt werden (Suess 2002:211)

Nach Bowlby sind die beiden Hauptaspekte des internalen Arbeitsmodells zum einen, der elterliche Respekt für die Bindungswünsche des Kindes und zum anderen, seine Bedürfnisse zur Exploration. Ein Kind, dessen Eltern diesen Bedürfnissen und Wünschen nachkommen, und entsprechend verfügbar und unterstützend sind, entwirft ein Arbeitsmodell von sich selbst und empfindet sich dann als fähig und wert, unterstützt zu werden (Grossmann/Grossmann Website 2001:Abschnitt 6)

2.4 Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst

Fonagys Ansatz kann als bedeutsame Differenzierung und grundlegende Erweiterung des Konzepts der internalen Arbeitsmodelle angesehen werden. Er integriert die Bindungsforschung, den Ansatz der „Theory of Mind“- und die Psychoanalyse zu einem umfassenden Konzept der kindlichen Entwicklung (Dornes 2004, 2005)

Da die Fähigkeit zur Mentalisierung als ein zentraler Moment der Resilienz angesehen wird, wird im folgenden Fonagys Theorie der Entwicklung vom frühen Erwerb der Affektregulierung zur Mentalisierungsfähigkeit und reflexiven Kompetenz erläutert.

Die Fähigkeit, sich selbst und andere als Wesen mit geistig-seelischen Zuständen zu verstehen, wird von Fonagy u.a. als Mentalisierung bezeichnet. Diese Fähigkeit entsteht nicht einfach durch Reifung, sondern entwickelt sich in Abhängigkeit von der Bindungs-Qualität der Primärbeziehung. Indem das Kind erfährt, dass es in seinen zunächst körperlichen Zuständen von den Erwachsenen „gespiegelt“ wird, kann es die in ihm entstehenden Affekte regulieren. Ein zentrales Element beim Prozess der Affektspiegelung ist der spielerisch-markierende Umgang der Eltern mit den Affekten des Säuglings. Er lächelt, die Eltern lächeln zurück und sprechen dabei zu ihm.

Der Austausch, der Affektsignale zwischen Mutter und Kind von Angesicht zu Angesicht, ist ein schnell ablaufender wechselseitiger Prozess. In Bruchteilen von Sekunden wird das Verhalten des jeweils anderen antizipiert. Als Grundlage wirken Schemata über die zu erwartende Reaktion des anderen. In diesem Entwicklungsstadium, zwischen der Geburt und dem 5. Lebensmonat, sind die Interaktionen noch keine „geistigen“ Prozesse, weil beim Kind noch keine inneren Repräsentanzen der Mutter vorhanden sind. Vorläufer solcher Repräsentanzen sind jedoch schon angelegt, die durch die Erfahrung zur Entwicklung von Repräsentanzen führen. Zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensmonat erfolgt die Verknüpfung von Repräsentanzen. Die Fähigkeit des Säuglings nimmt zu, seine eigene psychische Befindlichkeit mit der einer Bezugsperson, in Bezug auf einen Dritten (Gegenstand oder Person), in Einklang zu bringen. Der Ausdruck des kindlichen Gefühls bei der Mutter führt zu einer Repräsentation beim Kind und wird mit den Repräsentanzen seiner Selbstempfindung verknüpft (Fonagy 2003:37).

Die Affekte des Säuglings werden jedoch nicht einfach gespiegelt, sie werden auf eine etwas künstliche übertriebene Weise an den Säugling zurückgegeben. Das Lächeln der Mutter ist breiter als das des Säuglings, sie wiederholt das Lächeln - wie auch ihre sprachlichen Kommentare - mehrfach in verschiedenen Variationen und Modulationen. Durch die damit einhergehende Übertreibung kommt es zu einer Markierung, die es dem Säugling erlaubt zu bemerken, dass die Eltern etwas von ihm darstellen und nicht nur etwas Eigenes ausdrücken. Ähnlich ist es bei negativen Affekten, denn auf den Schmerz des Säuglings, z.B. beim Impfen, antworten die Eltern mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck, der dem Säugling signalisiert, dass sie seinen Zustand verstehen. Sie machen aber nicht ein realistisch schmerzverzerrtes Gesicht, als wäre ihnen selbst Schmerz zugefügt worden, sondern modulieren ihren Ausdruck spielerisch und begleiten ihn mit Kommentaren, die Beruhigung signalisieren. Dadurch wird der Schmerz zugleich aufgenommen und modifiziert. Der Säugling sieht in der elterlichen Reaktion eine modifizierte Darstellung seines eigenen Zustandes, verinnerlicht diese Darstellung, verknüpft mit dem eigenen Zustand und entwickelt so eine sekundäre (symbolische) Repräsentanz seines primären Schmerzzustandes. Diese Repräsentanz kann später in ähnlichen Situationen abgerufen werden und ihm bei der Affektregulation behilflich sein. Das Gesicht der Mutter ist für das Kind der Seismograph dafür, neue Personen, Situationen und Gegenstände einzuschätzen. Das ältere Kind orientiert sich immer wieder an der Mimik und Gestik der Mutter, um in neuen Situationen zu bestehen. Die Spiegelung des Gefühls durch die Mutter bietet einen Anreiz zur Organisation der kindlichen Erfahrungen und einen symbolischen Ausdruck für das, was das Kind fühlt. Nur dadurch, dass die Reaktion der Mutter niemals eine genaue Kopie der kindlichen Erfahrung ist, ermöglicht sie dem Kind, die Repräsentation seiner kindlichen inneren Gefühlserfahrung auf einer höheren Ebene. Diese elterlichen Reaktionen (bzw. frühen Erfahrungen) sind entscheidend für Art und Ausmaß der Symbolisierung. Reagieren die Eltern z.B. mit unmodifiziertem Schmerz oder mit Spott auf den Schmerz des Säuglings, wird die Symbolbildung beeinträchtigt – entweder, weil die symbolische Repräsentanz im Falle der unmodifizierten Stellungnahme zu viel vom primären Zustand enthält oder aber, weil sie - im Falle des Spotts, verzerrt ist (Dornes 2004, 2006). In diesem Fall kann der Prozess des Spiegelns jedoch auch scheitern, wenn die Antwort der Mutter der kindlichen Erfahrung zu nahe kommt oder zu weit davon entfernt ist. Ist die Spiegelung durch die Mutter zu nahe an der Befindlichkeit des Kindes, stellt sie damit dem Kind keine Repräsentanz zur Verfügung, die eine gemeinsame Basis mit der inneren Erfahrung des Kindes sein kann. Ist sie zu weit davon entfernt, geht auch diese Erfahrungsmöglichkeit der gemeinsamen Repräsentanz verloren, da das Kind durch die Reaktion der Mutter abgelenkt und mit deren Befindlichkeit überlagert wird (Fonagy 2003:38). Das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit ist also wesentlich davon geprägt, dass es der Mutter gelingt, eine verknüpfende Repräsentanz zwischen emotionaler Äußerung und innerem Erlebnis zu ermöglichen (Fonagy 2003:36, Dornes 2004, 2006).

2.4.1 Entwicklung der reflexiven Kompetenz beim Kind

Die Fähigkeit der Eltern, das Kind als geistig-seelisches Wesen anzusehen, fördert das Verständnis des Kindes, seine eigenen geistig-seelischen Zustände wahrzunehmen und darin motiviert zu sein. Die Verfügbarkeit einer reflexiven Bezugsperson erhöht die Wahrscheinlichkeit der sicheren Bindung des Kindes, und diese wiederum fördert die Entwicklung seines Verständnisses geistig-seelischer Zustände. Die reflexive Kompetenz ist eine, durch Erfahrung in der Interaktion, intensiv geübte Fertigkeit und Begabung. Das Kind nimmt in der Haltung der Mutter zu ihm selbst wahr, dass diese es selbst als mentalisierendes, d. h. wünschendes und glaubendes Selbst wahrnimmt. Das Kind erkennt, dass die Mutter es als intentionales Wesen repräsentiert. Diese Repräsentanz wird nun vom Kind internalisiert:

„Sie denkt mich als denkend, also existiere ich als denkendes Wesen.“ (Fonagy 1998:366)

Die Reaktionen eines Kindes auf das Verhalten des Gegenübers lassen erkennen, dass es deren psychische Befindlichkeit in seinem Handeln mit bedacht hat. Es organisiert das Eigene in Bezug auf den Anderen.

Nach Fonagy ist die Entwicklung einer reflexiven Kompetenz ein wesentliches Element bei der Erfassung des Sinns menschlichen Handelns (Fonagy 2003:38 und 1998:365, Suess 2002:218).

Ein weiterer bedeutender Faktor für die reflexive Kompetenz des Kindes ist die logische Struktur, die beim Kleinkind für das generelle Verständnis von Handeln angelegt wird. In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres hat das Kind bereits Repräsentanzen von Zielen entwickelt, die das Handeln anderer leiten. Es erwirbt die Fähigkeit, sich auf, in Zukunft zu erwartende, Befindlichkeiten einzustellen und kann sich auf Ziele als erklärende Einheit beziehen. Dieses Bild vom rationalen Handeln kann das Kind jedoch nur entwickeln, wenn die Handlungen der Bezugsperson auch vorhersehbar bzw. berechenbar sind. Das geistige Handlungsmodell ist als ein Produkt der tatsächlichen dyadischen Interaktion zwischen Mutter und Kind anzusehen. Verunsichernd und irritierend ist es für das Kind jedoch, wenn die Reaktionen der Mutter von Angst erfüllt oder Angst erzeugend sind. Die Handlungen der Mutter sind dann nicht mit dem vorgegebenen rationalen Erwartungsrahmen in Einklang zu bringen. Da das Kind keine andere „Erklärung“ für das Verhalten der Mutter finden kann, wird es annehmen, dass seine eigenen Aktionen, Auslöser für die Reaktion der Mutter sind (Fonagy 2003:40 und Dornes 2004, 2006).

Die Selbstwirksamkeit ist ein wesentlicher Schutzfaktor in der Entwicklung des Kindes. Begreift man mit Fonagy die Fähigkeit des Säuglings zur Mentalisierung als zentralen Aspekt der kindlichen Entwicklung, so kann darin eine fundamentale Grundlage für die Selbstwirksamkeit gegeben werden. Erst, wenn der Säugling sich als mentales Wesen begreift, sein Handeln als durch seine Wünsche und andere mentale Zustände motiviert verstehen kann, ist die mentale Voraussetzung für Selbstwirksamkeit gegeben. Sich selbst eine Wirksamkeit zuzuschreiben, setzt voraus, sein Handeln auch in mentale Zustände motiviert zu wissen. Diese Weiterentwicklung der Bindungstheorie durch Fonagy stellt somit eine wesentliche, implizite Grundlage der Resilienzforschung dar.

3 . Resilienz

Der Begriff Resilienz stammt aus der Werkstoffkunde und bezeichnet die Widerstandskraft eines Werkstoffes gegenüber störenden und zerstörend wirkenden Kräften. Lebende Systeme können innere und äußere Gegebenheiten niemals vollständig beherrschen. Sie müssen daher in der Lage sein, Abweichungen (Fehler) auszugleichen. Sie müssen fehlertolerant, fehlerfreundlich, d.h. resilient sein.

Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit und Elastizität in Krisensituationen, sowie die Fähigkeit, sich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie ist notwendig, um einen gewissen Anteil der Funktionalität bei widrigen Umständen aufrecht zu halten. Resilienten Personen gelingt es, die eigenen positiven Fähigkeiten an die jeweiligen Herausforderungen anzupassen.

Die Bindungstheorie postuliert, dass ein Kind unter günstigen Bedingungen eine sichere emotionale Bindung an seine Eltern entwickelt, die ihm als Schutzfaktor in seiner weiteren Entwicklung dient und es bei emotionaler Belastung durch ängstigende Ereignisse „resilient“ macht (Brisch 2002:106). So gilt in der Resilienzforschung eine verlässliche Bindungsbeziehung zu einer stabilen Bezugsperson als wichtigster Schutzfaktor. Die Resilienzforschung beschäftigt sich mit der Frage, warum sich Kinder trotz widriger Umstände und vielfältiger Risiken, zu psychisch gesunden, arbeits- und liebesfähigen und lebenstüchtigen Erwachsenen entwickeln können. Besonders die Forschungen der Entwicklungspsychopathologie beschäftigten sich intensiv mit der Frage, warum sich, trotz hoher Risiken und auch traumatischer Ereignisse, manche Personen psychisch gesund entwickeln, andere dagegen ein Leben lang an den Folgen traumatisierender Ereignisse oder an den belastenden Familienverhältnissen in der Kindheit leiden oder Psychopathologien davon tragen. Die Fragestellung, welche Faktoren die Widerstandkräfte der Kinder stärkt, bekam mit der Etablierung des Resilienzbegriffs auch für die Sozialforschung einen neuen Stellenwert.

3 .1 Resilienzforschung

Emmy Werner gilt als Pionierin der Resilienzforschung. Sie hat in den 50-iger Jahren mit einer Langzeituntersuchung begonnen und auf der Insel Kauai einen gesamten Geburtsjahrgang 40 Jahre forschend begleitet. Ihr besonderes Augenmerk galt Kindern, die durch ein Geburtstrauma oder eine risikoreiche familiäre oder soziale Umwelt am verletzlichsten waren.

3.1.1 Die „Kauai Längsschnittstudie“

In dieser Längsschnittstudie wurden die Entwicklungsverläufe von Menschen über einen Zeitraum von 40 Jahren beobachtet, dokumentiert und analysiert. Sie wird seit 1955 von Emmy Werner und Mitarbeitern von der „University of California“ durchgeführt. Für die Studie wurde der komplette Geburtsjahrgang des Jahres 1955 der Insel Kauai im Hawaii-Archipel erfasst. Das Forschungsinteresse galt der Frage, was geschehen müsse, damit ein schlechter Start ins Leben durch prä- und perinatale Risiken sich nicht zu einem Lebenstrauma entwickelt. Außerdem werden in der Studie die langfristigen Folgen von Armut und widrigen Entwicklungsbedingungen auf individuelle Entwicklungsverläufe und auf die Lebensgestaltung dokumentiert.

Ein Team von Kinderärzten, Psychologen und Mitarbeiter der Gesundheits- und Sozialbehörde begann bereits in der pränatalen Zeit die biologischen, psychosozialen und kritischen Lebensereignisse und Gefährdungen zu studieren und zu dokumentieren. Diese 698 untersuchten Kinder wurden nach der Geburt, im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren besucht und die wichtigsten Daten erfasst. Den verletzlichsten Kindern galt besondere Aufmerksamkeit, um zu verstehen, was ihnen half, die besonderen Belastungen zu überwinden und zu arbeits- und genussfähigen Menschen heranzureifen. Die Tourismusindustrie auf der landschaftlich schönen Insel Kauai überdeckte die Armut der ethnisch sehr unterschiedlichen Bevölkerung. Im Verlaufe der 40-jährigen Untersuchung gab es neben den Veränderungen, die die gesamte US-amerikanische Bevölkerung betrafen, wie die Bürgerrechtsbewegung, Verbesserung des Schulwesens und Programmen gegen die Armut. Als die untersuchte Bevölkerungspopulation 20 und 30 Jahre alt war, richteten zwei verheerende Hurrikans große Schäden auf der Insel an (Grossmann 2003:18).

Trotz der ethnischen und historischen Besonderheiten und der großen sozialen und geographischen Unterschiede sind die Ergebnisse der Studie in Kauai mit anderen Studien in USA und Europa vergleichbar. Werner und Smith folgern, dass es zwar unterschiedliche Einschätzungen darüber gibt, was als Entwicklungsrisiko eingestuft wird, die Umgangsweise mit individuellen Problemlagen jedoch über die Studien hinweg vergleichbar sind. Für 30% der Kinder des Jahrgangs 1955 wurde ein hohes Entwicklungsrisiko diagnostiziert, weil sie in chronische Armut hineingeboren wurden, geburtsbedingten Komplikationen ausgesetzt waren und in Familien aufwuchsen, die durch elterliche Psychopathologien und dauerhafte Disharmonien belastet waren (Werner in Opp, Fingerle und Freytag 1999:25). Zwei Drittel dieser Kinder (auf die mit 2 Jahren vier und mehr der o. g. Risikofaktoren zutrafen) hatten mit 10 Jahren große Lern- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule; mit 18 Jahren waren die männlichen Probanden straffällig geworden und die weiblichen waren als Teenager schwanger geworden und hatten in der Jugendzeit psy­chische Probleme. Ein Drittel dieser ursprünglich mit einem hohen Risiko behafteten Kinder hatte sich jedoch zu leistungsfähigen, fürsorglichen und zuversichtlichen Erwachsenen entwickelt. Im Alter von 40 Jahren hatten diese Erwachsenen die niedrigste Rate an Todesfällen, Gesundheitsproblemen und Scheidungen. Trotz der schweren ökonomischen Rezession nach der Verwüstung durch einen Wirbelsturm hatten alle eine Arbeit und benötigten keine Hilfe durch Sozialdienste. Sie schauten hoffnungsvoll und positiv in die Zukunft und zeigten viel Mitgefühl für andere Menschen in Not. Als Erwachsene waren ihre beruflichen und schulischen Erfolge so gut wie oder sogar besser als die der Mehrheit der Kinder, die ohne nennenswerte Risiken aufgewachsen sind.

3.2 Schützende Faktoren

Gerade anhand der Probanden, die sich trotz vielfacher Entwicklungsrisiken im Vergleich zu den übrigen der Hochrisikogruppe positiv entwickelten, ließen sich wichtige protektive Faktoren ausmachen, die offensichtlich einen positiven Entwicklungsverlauf begünstigten.

Bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen wurde die Bedeutung von Risiko und Schutzfaktoren erforscht. Dazu wird sich im Folgenden mit beschäftigt und dank der Studie die einzelnen Schutz- und Risikofaktoren aufgezeigt.

„Im Leben der resilienten Kinder konnten bestimmte günstige Gegebenheiten (Schutzfaktoren) den vorgezeichneten pathologischen Entwicklungsweg abmildern oder sogar ganz verhindern.“ (Grossmann/Grossmann 2006:461)

3.2.1 Schützende Faktoren im Kind

Bei den widerstandfähigen Kindern wurden Temperamentseigenschaften festgestellt, die bei den Eltern oder anderen versorgenden Erwachsenen positive Reaktionen auslösten. Schon als Babys wurden sie als „aktiv“, „gutmütig“ und „liebevoll“ beschrieben. Als Kleinkinder waren sie relativ unabhängig, konnten sich aber bei Bedarf Hilfe erbitten. Sie zeichneten sich in der Kindheit und auch später als Erwachsene durch ein hohes Antriebsniveau, Ausgeglichenheit und Geselligkeit aus. Die Kinder erwiesen sich als mindestens durchschnittlich intelligent und schulisch kompetent. Auch wenn sie intellektuell nicht hochbegabt waren, nutzten diese Kinder ihre Kompetenzen, wie Kommunikationsfähigkeit und Problemlöseverhalten, effektiv aus. Oft hatten sie ein Hobby, das sie mit Freunden ausübten. Diese Kinder waren in der Lage, Situationen einzuschätzen, zu überlegen und zu planen. Sie waren hartnäckig in der Zielverfolgung und konnten Eltern und andere Erwachsene um Hilfe zu bitten. Sie hatten grundsätzlich die Überzeugung, dass sie für sich etwas im positiven Sinne bewirken konnten. Durch die Erfahrung, schwierige Situationen bewältigen zu können, entwickelten sie Vertrauen zu sich selbst. Als Jugendliche zeigten sie weniger stereotype männliche oder weibliche Verhaltensweisen. Die Mädchen waren extrovertierter und die Jungen zeigten mehr soziale und pflegende Verhaltensweisen als ihre Altersgenossen. Beide Geschlechter waren selbstbewusst, fürsorglich, leistungsfähig und freundlich. Auch im Erwachsenenalter begegneten sie ihren Ehegatten besonders fürsorglich und freundlich (Emmy Werner in Opp, Fingerle und Freytag 1999:27).

3.2.2 Schützende Faktoren in der Familie

Den widerstandfähigen Kindern war gemeinsam, dass sie zu mindestens einer erwachsenen Person eine enge Bindung aufbauen konnten. Auch bei Dissonanzen und Psychopathologien innerhalb der Familie und ungünstigen Lebensumständen, konnten die Kinder am Anfang ihres Lebens grundlegendes Vertrauen entwickeln. Die Unterstützung durch Geschwister war nur dann wirksam, wenn sie die Beziehung zu einem Erwachsenen ergänzte, nicht wenn sie diese ersetzte. Die Schulbildung und die Fähigkeit der Mutter, mit dem Baby und Kleinkind adäquat umzugehen, wurde als wesentlicher Schutzfaktor ermittelt. Die resilienten Kinder hatten die Fähigkeit, „Ersatzmütter“ zu gewinnen, wenn die leibliche Mutter durch Krankheit oder andere Widrigkeiten nicht in der Lage war, ihr Kind zu versorgen. Vor allem Großmütter, ältere Geschwister oder Tanten spielten dann als stabile Bezugsperson eine wichtige Rolle. In höherem Alter haben diese Kinder z.B. oft Sorge für jüngere Geschwister übernommen. Der beobachtete fördernde familiäre Erziehungsstil unterschied sich bei Jungen und Mädchen. War für Jungen ein Haushalt mit klaren Strukturen und Regeln und einer männlichen Identifikationsfigur wichtig, in dem auch Gefühle nicht unterdrückt werden mussten, so war für Mädchen die Verbindung von Unabhängigkeit und zuverlässiger Unterstützung durch eine weibliche Bezugsperson von besonderer Bedeutung (Emmy Werner in Opp, Fingerle und Freytag 1999:28).

3.2.3 Schützende Faktoren im Umfeld

Allen widerstandfähigen Kindern war es möglich, für sich außerfamiliäre Ressourcen zu erschließen. Sie berichten, dass es wichtige Erzieher oder Nachbarn gab, die besonderen Anteil an ihrer Entwicklung genommen hatten. Sie hatten in der Regel ein oder zwei Lehrer, die sich für sie interessierten und die sie herausforderten. Sie gingen meist gerne zur Schule und fanden dort einen Ort, in dem sie positive Erfahrungen machen konnten, die den Stress in der Familie abfederten. Insbesondere werden drei Schulaktivitäten herausgestellt, die für die Risiko-Kinder von Bedeutung sind:

„Aktivitäten, die ihnen helfen, wichtige Erziehungs- und Berufsziele zu errei­chen; Aktivitäten, die das kindlichen Selbstgefühl verstärken und Aktivitäten, die anderen Menschen in Not helfen.“ (Emmy Werner in Opp, Fingerle und Freytag 1999:30)

Besonders auffallend war, dass es im Verlaufe des Lebens der widerstandsfähigeren Kinder immer eine bemerkenswerte Verbindung zwischen der lebensbejahenden und optimistischen Einstellung des Kindes und den schützenden Faktoren oder besser gesagt, den wohlmeinenden und hilfreichen Personen gab. Diese Kinder waren in der Lage, eine Umwelt auszuwählen, die förderlich für sie war. Zwischen „pflegeleichten“ Babys und Kleinkindern mit einem ausgeglichenen Temperament und der liebevollen Versorgung durch eine Pflegeperson gab es einen deutlichen Zusammenhang. Diese Kinder konnten auch in der Vorschulzeit und als Schüler mehr Unterstützung von Erwachsenen wie Nachbarn, Tanten und Lehrern erwarten. Die optimistische Einstellung der Kinder und die Unterstützung, die sie dadurch erfahren, verstärkten sich gegenseitig, sodass der Lebensweg dieser Kinder, wenn auch mit Umwegen, aus den belastenden Bedingungen herausführte. Viele dieser Kinder verließen ihr belastendes Milieu und suchten die räumliche Trennung.

In den verschieden Lebensabschnitten lassen sich unterschiedliche schützende Faktoren feststellen. Während Temperament und Gesundheitszustand des Kindes in der Säuglings- und Kleinkindzeit von hoher Bedeutung sind, haben Kommunikationsfähigkeit und Problemlöseverhalten in der Schulzeit großen Einfluss auf die positive Entwicklung. Den meisten Kindern wurden von ihren Eltern im Haushalt kleinere Pflichten übertragen, und sie erwarteten von den Kindern, dass sie gewisse Regeln einhielten. In dieser Zeit spielten die emotionale Bindung an andere Erwachsene, die quasi als Ersatzeltern fungierten oder die Verbindung zu Lehrern - die zu Vertrauen, Selbständigkeit und Initiative ermutigten - eine zentrale Rolle.

Über die verschiedenen Lebensabschnitte hinweg war die Kompetenz der Mutter einer der wichtigsten Schutzfaktoren. Gebildete Mütter sind eher in der Lage, in geeigneter Weise die Kinder in den verschiedenen Entwicklungsphasen zu unterstützen. Es lassen sich drei unterschiedliche Faktorengruppen unterscheiden, die von Bedeutung sind. Die Persönlichkeit der Individuen qua Temperament und Intelligenz , die emotional befriedigenden Beziehungsfaktoren und ein stützendes Umfeld durch LehrerInnen, ErzieherInnen, Nachbarn und Peer-Groups.

3.3 Risikofaktoren

Die Risikofaktoren beziehen sich auf Kinder, denen aufgrund ungünstiger Entwicklungsbedingungen ein erhöhtes Risiko für eine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit zugeschrieben wird (Laucht, Esser u. Schmidt; in Opp, Fingerle und Freytag 1999:71).

Der Begriff Risikofaktor wird in der Soziologie als ein Faktor bezeichnet, der die gesunde Entwicklung eines Kindes gefährdet, durch Merkmale, die aus der Umwelt auf das Kind einwirken. Faktoren, die sich auf die biologische und psychologische Konstitution des Kindes beziehen, werden als Vulnerabilitätsfaktoren bezeichnet.

Der Risikobegriff wurde im Laufe der Zeit zunehmend auch auf andere als die rein medizinischen Gefährdungen der kindlichen Entwicklung ausgedehnt. Inzwischen wer­den zwei große Bereiche von Risikofaktoren unterschieden:

- Auf der individuellen Ebene, wie biologische und psychische Merkmale, genetische Belastungen, geringes Geburtsgewicht oder auch schwieriges Temperament. Diese werden auch als Vulnerabilität bezeichnet.
- Im psychosozialen Umfeld des Kindes wie z. B. Armut, Delinquenz oder psychische Erkrankung eines Elternteils bzw. auch Disharmonie in der Familie (Laucht u. a. 1999:176).

Zudem zählen auch Risikobelastungen wie, Beeinträchtigungen der primären Beziehungen der Eltern, traumatische Erfahrungen in deren eigener Kindheit (Misshandlung, emotionale Vernachlässigung, Verlusttraumen), psychische Störungen, die die elterliche Bindungs- und Beziehungsfähigkeit beeinträchtigen dazu. (Papousek / Wollwerth de Chuquisengo 2003:137)

Risikofaktoren wie Stress, jedwede Ängste, Depression eines Elternteils, Persönlichkeitsstörungen, verstrickte und ungelöste Beziehungen auf der Paarebene, aber auch zur Herkunftsfamilie, können belastend auf die Eltern-Kind-Beziehung wirken. Diese Belastungen können zu chronischem Stress, hochgradiger Erschöpfung oder Überforderung bei den Erwachsenen führen, dass, zum Selbstschutz, Mechanismen einer ohnmächtigen Abwehr gegenüber dem Kind wirksam werden können.

Gefühle von Burn-out und innerer Leere können die intuitive Verhaltensbereitschaft zum Erliegen bringen. Wenn Eltern von intensiven unlösbaren Konflikten absorbiert sind, dringen die kindlichen Signale nicht zu ihnen durch. Beispielsweise können bei einer Depression die intuitiven Kompetenzen in ihrer Ausprägung gehemmt und blockiert werden. Weitere Abweichungen können bei neurotischen Beziehungsstörungen oder unbewältigten traumatischen Erfahrungen passieren. Hier kann es zu Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung, projektiver Identifikation oder Dissoziation führen. Die Wahrnehmung des realen Babys verzerrt sich und die intuitiven Verhaltensbereitschaften werden versperrt (Papousek et al. 2003:148).

3.3.1 Die „Mannheimer Risikokinderstudie“

Die Mannheimer Risikokinderstudie untersuchte die Chancen und Risiken von Kindern, deren Entwicklung durch frühe organische und psychosoziale Belastung gefährdet war sowie das Zusammenwirken dieser Gefährdungen mit der Eltern-Kind-Interaktion.

Zielsetzung der Studie war:
- „Die möglichst breite Beschreibung der psychischen Entwicklung von Kindern mit unterschiedlichen Risikobelastungen von der Geburt bis zum Schulalter;
- Die Bestimmung der prädikativen Bedeutung früher biologischer und psychosozialer Risiken sowie die protektiven und kompensatorischen Einflüsse von Kompetenzen und Ressourcen des Kindes und seiner sozialen Umwelt;
- Die Modellierung des Bedingungsgefüges von Risiko- und Schutzfaktoren;
- Die Analyse der pathogenen und salutogenen Prozesse und Mechanismen, die unterschiedlichen Entwicklungsverläufen zugrunde liegen (besonders im Hinblick auf der Mutter-Kind-Beziehung als Mediator und Moderator früher Risiken)
- Die Erarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der Prävention, Früherkennung und Frühbehandlung von Entwicklungsstörungen bei Risikokindern“ (Laucht, Esser und Schmidt 1999:74)

In die Studie aufgenommen wurden 362 Säuglinge, die in einer Mannheimer und einer Ludwigshafener Klinik zwischen 1986 und 1988 geboren wurden. 347 Kinder (171 Jungen, 176 Mädchen) konnten in allen Erhebungen erfasst werden. Die Entwicklung der Kinder wurde von der Geburt bis ins Jugendalter verfolgt. Die Daten wurden im Alter von 3 Monaten, 2, 4,5 und 8 Jahren erhoben.

Systematisch ausgewählt wurden die Kinder nach folgenden Kriterien:

- erstgeborenes Kind
- Aufwachsen bei den leiblichen Eltern
- deutschsprachige Familie
- keine schweren angeborenen Erkrankungen, Sinnesbehinderungen oder Missbildungen
- keine Mehrlingsgeburt.

Sie wiesen folgende Risikofaktoren aus:

- organische Belastung (prä- und perinatale Komplikationen)
- psychosoziale Belastung (bei Geburt bestehende benachteiligte familiäre Lebensverhältnisse).

Die Risiken der beiden Bereiche wurden in 3 Ausprägungsstufen (kein, leichtes, schweres Risiko) unterteilt. Kinder mit sehr niedrigem Geburtsgewicht oder mit schweren perinatalen Störungen gehörten der Gruppe mit schwerer organischer Risikobelastung an; Kinder mit drohender oder leichter Frühgeburt oder mit Gestose der Mutter wurden der Gruppe mit leichter organischer Risikobelastung zugeordnet; Kinder ohne Komplikationen wurden der Gruppe ohne organische Risikobelastung zugeordnet. Erhoben wurden die Daten über Informationen aus der Krankenakte und nach einem speziellen kumulativen Risikoindex. Mit den Kindern wurden mehrere standardisierte Tests zur Erhebung der körperlichen, kognitiven und sprachlichen Leistungsfähigkeit sowie Intelligenztests durchgeführt.

Die psychosozialen Risikofaktoren wurden durch Elterninterviews, Beobachtungen der Mutter-Kind-Interaktion und Fragebögen erhoben. Hierbei wurden Auffälligkeiten der Eltern, in der Partnerschaft und der familiären Lebensbedingungen berücksichtigt. Erfasst wurden z. B. niedriges Bildungsniveau, beengte Wohnverhältnisse, psychische Störungen eines Elternteils, frühe Elternschaft und disharmonische Partnerschaft. Neben dem Elterninterview wurde ein eigens entwickeltes Kinderinterview zur Selbstbeurteilung des Kindes durchgeführt (Laucht, Esser und Schmidt 1999:77).

Eine Reihe belastender Lebensumstände geht mit erheblichen und dauerhaften Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung einher. Dabei zeigen die frühen Belastungen während der Schwangerschaft, Geburt und Säuglingszeit die gravierendsten Folgen, da das Kind im Stadium der raschen Entwicklung besonders anfällig ist. Besonders gefährdet sind Säuglinge mit einem sehr geringen Geburtsgewicht (<1.500g). Die Gruppe der sehr kleinen Frühgeborenen wies in der Studie in allen erhobenen Entwicklungsphasen eine erhebliche Beeinträchtigung auf. Die Reduzierung des kognitiven Leistungsniveaus lag in der frühen Kindheit um 10 IQ-Punkte niedriger als die unbelastete Vergleichsgruppe. Deutlich vermindert war auch die motorische Leistungsfähigkeit. Die sozial-emotionale Entwicklung der organisch belasteten Kinder wird derzeit nicht einheitlich bewertet. Als sicher nachgewiesen beschreiben Laucht u. a., dass frühkindliche organische Belastungen mit signifikant höheren Risiken späterer motorischer und kognitiver Entwicklungsstörungen verbunden sind. (Laucht, Esser und Schmidt 1999:79 und 2000a:98).

Die psychosozialen Belastungen, insbesondere die depressive Verstimmung der Mutter, sind mit einer Reihe von negativen Folgen für die kindliche Entwicklung verbunden. Bei Kindern depressiver Mütter zeigte sich zu allen Untersuchungszeitpunkten eine deutlich höhere Rate von psychischen Auffälligkeiten, als in der unbelasteten Kontrollgruppe. Widrige familiäre Lebensumstände sind mit einem besonderen Risiko der späteren Entwicklungsstörung verbunden. Besonders ausgeprägt sind die Risikowerte bei Vorliegen

„einer unerwünschten Schwangerschaft, Delinquenz der Eltern, jugendliches Alter, Herkunft aus zerrütteten Verhältnissen und niedriges elterliches Bildungsniveau“ (Laucht, Esser und Schmidt 2000a:98).

In dieser Studie konnte erneut ein Zusammenhang zwischen Auffälligkeiten in der Mutter-Kind-Interaktion und der Genese späterer Störungsbilder hergestellt werden. So wiesen 8-Jährige, deren Mutter im frühen Säuglingsalter wenig liebevoll mit ihnen kommunizierte (z.B. sehr schweigsam waren, wenig Babysprache verwendeten), mehr emotionale Probleme und Verhaltensprobleme auf als eine Vergleichsgruppe (Laucht, Esser und Schmidt 2000c:288). In der Studie von Laucht u. a. konnten deutliche Unterschiede zur Genese externalisierender (hyperkinetische und Sozialverhaltensstörung) und internalisierender (emotionale und entwicklungsspezifische) Störungen in der Kindheit aufgezeigt werden. So wiesen trennungsängstliche 8-Jährige mehr psychosoziale Risikofaktoren auf und sozialängstliche 8-Jährige waren stärker mit organischen Risikofaktoren belastet (Laucht, Esser und Schmidt 2000c:292).

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955499624
ISBN (Paperback)
9783955494629
Dateigröße
977 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Bindungstheorie Bindungsforschung Triangulierung Entwicklungspyschologie Resilienz Mentalisierung Würth

Autor

Annika Würth, geb. Posch, Dipl.-Sozialarbeiterin, wurde 1980 in Wiesbaden geboren. Im Laufe ihres Studiums sammelte sie verschiedenste Erfahrungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und nahm an Projekten des Fachbereichs Soziale Arbeit an der Fachhochschule Frankfurt teil. Ihre Fachausrichtung während des Studiums bezog sich auf die Entwicklungs- und Bindungsforschung von Kleinkindern. Seit 2009 arbeitet die Autorin für einen großen Träger im Fachbereich Familienhilfe, in dessen beruflichen Kontext sie unterschiedliche systemische Beziehungsdynamiken beobachten konnte.
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Titel: Eine Mutter kämpft mit ihrem Säugling: Entwicklungs- und bindungstheoretische Grundlagen
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