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Gender Mainstreaming oder Gender Manstreaming? Geschlechtergerechtigkeit in der öffentlichen Verwaltung zwischen politischem Konstruktivismus und individuellem Erleben

©2011 Masterarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein zentrales Anliegen in demokratischen Gesellschaften. Auch in der öffentlichen Verwaltung wurde und wird bei allen politischen Aktivitäten zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit unterstellt, Frauen seien im Arbeitsalltag wegen ihres Geschlechts benachteiligt. Aber hat das, was als Benachteiligung aufgrund des Geschlechts empfunden wird, überhaupt mit dem Geschlecht zu tun? Hängt es mit den gesellschaftlichen Strukturen zusammen, liegt es an ‘den Männern’ oder benachteiligen sich ‘die Frauen’ am Ende gar selbst? Was kann die Politik tun, um daran etwas zu ändern? Inwieweit ist es der Politik überhaupt möglich, durch konstruierte Regeln und Gesetze tatsächliche Geschlechtergerechtigkeit herzustellen?
Anhand eines konstruktivistischen Wissenschaftsverständnisses wird untersucht, unter welchen gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen das staatliche Ziel der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern verfolgt wird und welche Effekte sich daraus ergeben. Dies wird sowohl aus einer Innenperspektive im Hinblick auf die Situation der Beschäftigten als auch aus einer Außenperspektive im Hinblick auf das Verwaltungshandeln betrachtet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Konzepte von Geschlecht. ... 12
Abbildung 2: Geschlechtsspezifische Verdienstunterschiede in Deutschland in %... 20
Abbildung 3: Bruttolohnverluste bis zum 46. Lebensjahr nach Art und Dauer der
Erwerbsunterbrechung ... 22
Abbildung 4: Konstruierte ,,Wirklichkeit" betrieblicher Negativität ... 34
Abbildung 5: Frauenanteil in der Niedersächsischen Landesverwaltung. ... 37
Abbildung 6: Anteil der weiblichen Beschäftigten in den Besoldungsgruppen des
höheren Dienstes ... 38
Abbildung 7: Altersverteilung der Beamtinnen und Beamten des gehobenen Dienstes
2007 nach Geschlecht (ohne Lehrkräfte)... 39
Abbildung 8: Gezielte Förderung der Teilzeitarbeit von Männern ... 40
Abbildung 9: Muster einer Bedarfsgemeinschaft ... 50

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5 -
I. Vorwort
Meine Motivation, ,,Geschlechtergerechtigkeit in der öffentlichen Verwaltung" zum
Thema meiner Masterarbeit zu machen, entstand aus dem persönlichen Erleben des
Umgangs mit diesem Thema in der niedersächsischen Landesverwaltung.
Nach mittlerweile über 20 Jahren Tätigkeit in der niedersächsischen Landesverwaltung
empfinde ich, dass es mit dem Thema nicht recht vorangeht, dass es irgendwie
stecken zu bleiben scheint. Auf dem Papier gibt es zwar vielfältige Aktivitäten, es gibt
auch viele Projektgruppen und Arbeitskreise, aber im Behördenalltag sind kaum Ver-
änderungen wahrnehmbar. Es scheint so etwas wie einen unsichtbaren Widerstand zu
geben, sich mit dem Thema ,,Geschlechtergerechtigkeit" ernsthaft auseinanderzuset-
zen - sowohl bei den Führungskräften aller Ebenen als auch bei den Beschäftigten. Am
Thema interessiert zeigen sich nur diejenigen Beschäftigten, die in irgendeiner Weise
persönlich betroffen sind. Die konkrete Betroffenheit der Beschäftigten hat dabei meis-
tens mit den beiden Aspekten Teilzeitarbeit und Kinderbetreuung zu tun ­ und es sind
in aller Regel Frauen.
Teilzeitbeschäftigte Frauen mit Kinderbetreuungsaufgaben gelten im Arbeitsalltag bei
vielen vollzeitbeschäftigten Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten nicht als beson-
ders leistungsfähig. Dies hat nach meiner Wahrnehmung mit der mangelnden Akzep-
tanz für die aus der Teilzeitbeschäftigung und den Kinderbetreuungsaufgaben resultie-
renden Zwänge bei der dienstlichen Aufgabenerfüllung zu tun. Daran konnten auch
gesetzliche Regelungen und Selbstverpflichtungen der Verwaltung zu familienfreundli-
chen Arbeitsbedingungen bislang nichts ändern. Da ich selbst für drei Jahre aus Grün-
den der Kinderbetreuung teilzeitbeschäftigt war, davon ein Jahr mit 50% der regelmä-
ßigen Arbeitszeit, kenne ich sowohl die damit verbundenen Zwänge als auch das Klima
des Unverständnisses dafür. Wenn man aber als teilzeitbeschäftigter Mann die glei-
chen Erfahrungen macht, wie sie sonst regelmäßig nur Frauen machen, scheint das
Problem offenbar nicht (nur) in einer Benachteiligung aufgrund des Geschlechts zu
bestehen und es scheint auch per Gesetz nicht lösbar zu sein.
Bei allen politischen Aktivitäten zur Geschlechtergerechtigkeit wurde bislang unterstellt,
Frauen seien im Arbeitsalltag wegen ihres Geschlechts benachteiligt. Aber hat das,
was als Benachteiligung aufgrund des Geschlechts empfunden wird, überhaupt mit
dem Geschlecht zu tun? Hängt es mit den gesellschaftlichen Strukturen zusammen,
liegt es an den Männern oder benachteiligen sich die Frauen am Ende gar selbst? Was
tut die Politik, um daran etwas zu ändern? Inwieweit ist es der Politik überhaupt mög-
lich, durch konstruierte Regeln und Gesetze auf tatsächliche Geschlechtergerechtigkeit
hinzuwirken oder sie gar herzustellen?
Um diese Fragen soll es in der vorliegenden Arbeit gehen.


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II. Problemstellung und Untersuchungsgegenstand
Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein zentrales Anliegen in demokratischen Ge-
sellschaften. Nach Art. 3 Abs. 2 GG hat der Staat die Aufgabe, die tatsächliche Durch-
setzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Be-
seitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.
1
Diesem vom Staat selbstkonstruierten
verfassungsrechtlichen Auftrag folgend, sind die politischen Bemühungen zur Herstel-
lung von Geschlechtergerechtigkeit auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene vielfäl-
tig. Sie finden ihren Niederschlag in den jeweiligen Landesverfassungen, in Gleichstel-
lungsgesetzen oder Richtlinien. Für den Bereich der öffentlichen Verwaltung haben die
politischen Anstrengungen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit im Verwaltungshandeln
und innerhalb der Verwaltung mit der Einführung von Gender Mainstreaming eine neue
Dimension erfahren. Mit Hilfe von Gender Mainstreaming soll das Denken und Handeln
innerhalb von Verwaltungsorganisationen auf die tatsächliche Gleichstellung von Män-
nern und Frauen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 GG ausgerichtet werden.
2
Die Rechtslage auf allen staatlichen Ebenen und der damit verbundene Auftrag an die
staatlichen Institutionen ist somit klar: Niemand darf wegen seines Geschlechts be-
nachteiligt werden und Ziel aller staatlichen Bemühungen ist ein Zustand ,,tatsächli-
cher", - also ,,wirklicher" oder ,,objektiver" ­ Geschlechtergerechtigkeit. Inwieweit die
Situation und das Erleben und Handeln der Beschäftigten in der öffentlichen Verwal-
tung mit den vom Staat konstruierten Ansprüchen an Geschlechtergerechtigkeit über-
einstimmen, möchte ich mit der vorliegenden Arbeit untersuchen.
Es soll dabei betrachtet werden, unter welchen gesellschaftlichen und gesetzlichen
Rahmenbedingungen das staatliche Ziel der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichbe-
rechtigung von Frauen und Männern verfolgt wird und welche Effekte sich dabei auf die
Situation der Beschäftigten (Innenperspektive) und im Hinblick auf das Verwaltungs-
handeln (Außenperspektive) ergeben. Da in Fachkreisen durchaus die Auffassung ver-
treten wird, dass das staatliche Gleichstellungsziel unerreichbar
3
sein dürfte, soll unter
Zugrundelegung eines konstruktivistischen Wissenschaftsverständnisses geklärt wer-
den, welcher Beitrag von politischer Seite überhaupt erwartet und geleistet werden
kann, um sich dem Ziel einer geschlechtergerechten Wirklichkeit möglichst weit anzu-
nähern.
Die Arbeit besteht aus insgesamt neun Kapiteln. Im Anschluss an Vorwort ­ Kapitel I. -
und Problemstellung und Untersuchungsgegenstand ­ Kapitel II. ­ folgen zum besse-
ren Verständnis der konstruktivistischen Sichtweise in Kapitel III. ­ Geschlechterge-
1
Deutscher Bundestag (2010c), S. 5.
2
Vgl. GenderKompetenzZentrum,
http://www.genderkompetenz.info/genderkompetenz-2003-
2010/gendermainstreaming
, abgerufen am 22.12.2010.
3
Vgl. Sabine Berghahn (2003), S. 21: ,,Die Utopie einer völligen Gleichstellung der Geschlechter dürfte
(...) wohl niemals erreichbar sein."

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rechtigkeit als konstruierter Anspruch - zunächst einleitende Ausführungen zu Objekti-
vität und Wirklichkeit. Daran anschließend wird untersucht, was Geschlechtergerech-
tigkeit konkret umfasst. Dies bedarf einer Definition der Begriffe ,,Geschlecht" und ,,Ge-
rechtigkeit". Dabei werde ich auf die unterschiedlichen Dimensionen von Geschlecht
und die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls eingehen. Weil Geschlechtergerech-
tigkeit in der öffentlichen Diskussion hauptsächlich mit monetären Aspekten verbunden
wird, soll eine Betrachtung der Aussagekraft des Gender Pay Gaps als Maßstab für
geschlechtsspezifische Ungleichheiten im öffentlichen Dienst den Abschluss des Kapi-
tels bilden.
In Kapitel IV. ­ Politische Strategien zur Gleichstellung der Geschlechter - werden un-
terschiedliche politische Strategien zu Gleichstellung der Geschlechter und ihre jeweili-
gen Wirkungen im Hinblick auf das Ziel Geschlechtergerechtigkeit vorgestellt. Dabei
werde ich insbesondere auf Gender Mainstreaming als aktuelle politische Gleichstel-
lungsstrategie für die öffentliche Verwaltung und die Schwierigkeiten im Umsetzungs-
prozess eingehen.
Darauf aufbauend wird im Anschluss in Kapitel V. ­ Die Innenperspektive ­ Situation
der Beschäftigten - die Verwaltungswirklichkeit im Hinblick auf geschlechtergerechte
Strukturen betrachtet. Als konkretes Beispiel für die politischen Bemühungen um ge-
schlechtergerechte Organisations- und Arbeitsstrukturen sollen die bisherigen Erfah-
rungen in der niedersächsischen Landesverwaltung herangezogen werden. Mit dem
am 14.01.2010 vorgelegten ,,Bericht der Landesregierung über die Durchführung des
Niedersächsischen Gleichberechtigungsgesetzes (NGG)" stand für diese Betrachtung
aktuelles empirisches Datenmaterial zur Verfügung. Inwieweit die am 01.01.2011 in
Kraft getretene Neufassung des NGG zu einer Neuausrichtung der niedersächsischen
Gleichstellungspolitik beitragen kann, soll ebenfalls Gegenstand der exemplarischen
Betrachtung der Innenperspektive sein.
Der Einfluss des vom Gesetzgeber vorgegebenen Rechtsrahmens auf geschlechterge-
rechtes Handeln der Verwaltungsbediensteten wird in Kapitel VI. ­ Die Außenperspek-
tive ­ Beispiel Grundsicherung für Arbeitsuchende - untersucht. Auch hier stand mit der
im Juni 2009 vom BMAS veröffentlichten ,,Bewertung der Umsetzung des SGB II aus
gleichstellungspolitischer Sicht" eine aktuelle empirische Studie zur Auswertung zur
Verfügung.
Den so gewonnenen Erkenntnissen über die Situation und das Handeln der Beschäf-
tigten schließen sich in Kapitel VII. mögliche Handlungsoptionen an.
Fazit und Ausblick in Kapitel VIII. und an das konstruktivistische Wissenschaftsver-
ständnis anknüpfende Schlussgedanken in Kapitel IX. bilden den Abschluss der Arbeit.

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III. Geschlechtergerechtigkeit als konstruierter Anspruch
Mit der in Art. 3 Abs. 2 GG verwendeten Formulierung, es sei Aufgabe des Staates, die
tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung zu fördern, hat der Gesetzgeber
bereits indirekt zu erkennen gegeben, dass es ihm nicht möglich ist, Geschlechterge-
rechtigkeit selbst herzustellen. Das würde auch voraussetzen, dass der Staat mit sei-
nen Institutionen außerhalb der ,,objektiv bestehenden Wirklichkeit" unserer Gesell-
schaft stünde und es zur Verwirklichung staatlicher Ziele weder der Mitwirkung der
Menschen in unserer Gesellschaft bedürfte noch es auf das Verhalten und die Ansich-
ten der Menschen ankäme. Eine solche ,,Wirklichkeit" ist nach konstruktivistischem
Wissenschaftsverständnis jedoch ,,objektiv" unmöglich.
So ist Geschlechtergerechtigkeit an sich weder Subjekt noch Objekt, sondern lediglich
ein Begriff bzw. eine Zustandsbeschreibung. Ernst von Glasersfeld führt dazu aus:
Eine Beschreibung wird als "objektiv" bezeichnet, wenn sie eine Sachlage so be-
schreibt wie sie in einer vom Beobachter unabhängigen Realität postuliert wird. Objek-
tivität in diesem Sinn ist (...) die Illusion, dass Beobachtungen ohne Beobachter (erle-
bendes Subjekt) gemacht werden könnten. Wir mögen eine Realität wohl auf Grund
unserer Erfahrungen postulieren, doch dass diese Realität eine von uns unabhängige
Welt wahrheitsgetreu widerspiegelt, ist eine unlautere Annahme. Unsere Vorstellungen
sind einerseits durch die Eigenschaften unserer Sinne und andererseits durch die von
uns geschaffenen Begriffe bestimmt.
Im Gegensatz zu einer "subjektiven" Beschreibung soll eine "objektive" keine persönli-
chen, individuellen Aspekte enthalten. Da wir aber nicht aus unserem eigenen Erfah-
rungsbereich aussteigen können, kann der Versuch, uns die Erfahrungen anderer vor-
zustellen, nur relativ erfolgreich sein. Obschon wir durch sprachliche Interaktion he-
rausfinden können, was der/die andere über den betreffenden Sachverhalt sagt, bleibt
die Interpretation des Gesagten doch eine an unseren subjektiven Erfahrungsbereich
gebundene Auslegung. Das heißt, unsere Vorstellungen der Vorstellungen anderer
sind notgedrungen hypothetisch.
4
Diese Ausführungen hinterfragen das allgemein übliche Verständnis von Objektivität
und verdeutlichen, was eine konstruktivistische Sichtweise für das, was gemeinhin als
,,tatsächlich" oder ,,wirklich" beschrieben wird, bedeutet. Der Konstruktivismus geht da-
von aus, dass wir die Welt, in der wir zu leben meinen, uns selbst zu verdanken ha-
ben.
5
Da jedes Individuum seine Realitäten selbst erzeuge, sei es auch selbst dafür
verantwortlich. Bei dem, was gemeinhin unter ,,Objektivität" verstanden werde, handle
4
Ernst von Glasersfeld (a).
5
Vgl. Ernst von Glasersfeld (b), S. 17.

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es sich sowohl um eine Konstruktion der ,,Wirklichkeit" als auch des Begriffs der Objek-
tivität.
6
Deshalb ist es aus konstruktivistischer Perspektive betrachtet, weder für den Staat und
die in seinen politischen Institutionen Handelnden noch für die Mitglieder der Gesell-
schaft möglich, Strukturen objektiver Geschlechtergerechtigkeit zu schaffen. Denn wel-
che Strukturen von den Handelnden als objektiv gerecht für beide Geschlechter erach-
tet werden, liegt als Konsequenz der Ausführungen Ernst von Glasersfelds in deren
subjektiver Wahrnehmung begründet und kann durchaus von denjenigen, in deren In-
teresse man zu handeln glaubt, anders empfunden werden. Daher kann es bei der
Verfolgung des staatlichen Ziels ,,objektive Geschlechtergerechtigkeit" letztlich immer
nur darum gehen, einen Zustand zu erreichen, der den Meinungen und Vorstellungen
möglichst vieler Menschen in unserer Gesellschaft entspricht. Diese Meinungen und
Vorstellungen können sich im Zeitablauf natürlich ändern ­ demzufolge kann sich dann
auch die Wahrnehmung dessen, was von den in unserer Gesellschaft lebenden Men-
schen als individuell unvereinbar mit den von ihnen konstruierten Strukturen ,,objektiver
Geschlechtergerechtigkeit" erlebt wird, ändern. Der von Paul Watzlawick zitierte Satz
aus der therapeutischen Arbeit mit einer Patientin, die eine konfliktträchtige Beziehung
zu ihrer Mutter hatte, bringt diese Erkenntnis auf den Punkt:
"So wie ich die Lage sah, war es ein Problem. Jetzt sehe ich sie anders, und es ist kein
Problem mehr."
7
Die subjektive Wahrnehmung der ,,Wirklichkeit" kann sich somit ändern, ohne dass sich
an der ,,Wirklichkeit" tatsächlich etwas geändert hat. Die ,,Wirklichkeit" wird nur deshalb
anders erlebt, weil das Subjekt sie umkonstruiert hat. Hierfür bräuchte der Staat gar
nichts zu tun.
Eine konstruktivistische Perspektive einzunehmen, kann viel dazu beitragen, das Ver-
halten und die Handlungsmöglichkeiten der am Thema ,,Schaffung geschlechterge-
rechter Strukturen in der öffentlichen Verwaltung" beteiligten Akteure ­ staatliche Insti-
tutionen und Beschäftigte ­ und das bisher Erreichte anders zu beurteilen als dies die
dicht am Thema arbeitende Fachwelt aus ihrer fachlichen Perspektive erlebt und dar-
stellt. Schließlich vertreten die Fachleute lediglich ihre eigenen Wahrnehmungen und
Meinungen zum Thema, die aus den eben angeführten Gründen nicht zwangsläufig mit
den Wahrnehmung und Meinungen anderer Menschen in unserer Gesellschaft über-
einstimmen müssen.
6
Vgl. Anton Kolb, S. 278.
7
Paul Watzlawick, Interview in DER SPIEGEL 30/1994, S. 88.

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Dies vorausgeschickt, soll nun versucht werden, zu klären, was unter dem Begriff ,,Ge-
schlechtergerechtigkeit" eigentlich zu verstehen ist. Hat schon ,,Geschlecht" mehrere
Bedeutungen, so gehen die Meinungen in unserer Gesellschaft darüber, was unter
,,Gerechtigkeit" zu verstehen ist, ebenfalls weit auseinander.
1. Was ist Geschlecht?
Auf den ersten Blick scheint die Klärung dieser Frage einfach: Es gibt zwei Geschlech-
ter, jeder Mensch hat ein Geschlecht, ist entweder männlich oder weiblich und ist dem-
zufolge entweder ein Mann oder eine Frau.
8
Mit einer solchen binären Sicht der Dinge lassen sich jedoch inzwischen nicht mehr
alle Menschen überzeugen. Selbst in der katholischen Kirche wird die Theorie der zwei
Geschlechter nicht mehr durchgängig vertreten. Denn eine biologistische Betrach-
tungsweise von Geschlecht
9
, die Körper und Verhalten, Körper und Fähigkeiten und
Körper und gesellschaftliche Bestimmung eines Menschen als deckungsgleich ansieht,
blendet die vielen mittlerweile identifizierten Zwischenstufen aus, die sich aus Diskre-
panzen zwischen dem biologischen Geschlecht und dem gefühlten, gelebten und auch
von der Gesellschaft reflektierten Geschlecht eines Menschen ergeben können. Auf
diese Weise lassen sich bis zu 12 Geschlechter und damit Identitäten differenzieren.
10
So ist die biologistisch begründete Sichtweise auch nur Teil eines auf traditionellen
Vorstellungen gründenden Geschlechterkonzepts.
,,Traditionelle Geschlechterkonzepte bezeichnen die Geschlechter als
· dual: es gibt nur 2 Geschlechter
· polar: Männliches ist Weiblichem entgegengesetzt
· hierarchisch: Männliches ist Weiblichem überlegen.
Inzwischen wird das Wesen der Geschlechter anders gesehen. Alternative Geschlech-
terkonzepte bezeichnen die Geschlechter als
· vielfältig, statt dual
· komplex, statt polar
· egalitär, statt hierarchisch."
11
8
Vgl. Barbara Stiegler (2002), S. 17.
9
Vgl. Barbara Stiegler (2007), S. 2.
10
Vgl. Helma Katrin Alter, S. 6f.
11
Barbara Stiegler (2007), S. 2.

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Abbildung 1: Konzepte von Geschlecht. Quelle: Barbara Stiegler, Friedrich-Ebert-
Stiftung.
So wie die biologistisch begründeten Vorstellungen von Geschlecht überholt sind, so
sind es auch die traditionellen Geschlechterkonzepte. Dennoch gründet die heute all-
gemein anerkannte Unterscheidung zwischen ,,Sex" als biologischem Geschlecht und
,,Gender" als sozialem Geschlecht ursprünglich auf der biologistischen Vorstellung,
dass das soziale Geschlecht durch die biologische Basis vorgegeben sei.
12
Mittlerweile wird in der Geschlechterforschung jedoch davon ausgegangen, dass das
biologische Geschlecht nicht die Grundlage des sozialen Geschlechts ist, sondern le-
diglich ein Teil davon. Daraus hat sich schließlich der Gedanke entwickelt, Geschlecht
als soziale Konstruktion zu begreifen. Geschlecht sei nicht ein Merkmal, was eine Per-
son ein für allemal habe, sondern eine in sozialer Interaktion herzustellende Leistung,
an der alle Interaktionspartner beteiligt seien.
13
Demnach hat man nicht einfach ein Geschlecht, sondern man muss es auch tun, um
es zu haben. In diesem alltäglichen ,,doing gender" werde die Geschlechterdifferenz
dadurch erzeugt, dass die Handelnden sich kontinuierlich zu Männern und Frauen ma-
chen und machen lassen.
14
Die sich aus dieser Erkenntnis ergebenden Geschlechter-
rollen sind vielfältig, weisen kulturelle Unterschiede auf und können sich im Laufe der
Zeit auch ändern oder gesellschaftlich anders wahrgenommen werden.
12
Vgl. Angelika Wetterer, S. 122.
13
Vgl. Michael Meuser, S. 326.
14
Ebenda, S. 326.

- 13 -
1.1. Soziale Konstruktion von Geschlecht
Die Auffassung, Geschlecht nicht als biologisches Faktum, sondern als soziale Kon-
struktion zu begreifen, hat sich in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu-
nehmend durchgesetzt.
15
Wesentlicher Ausgangspunkt für dieses Verständnis ist der
Gedanke, dass die Geschlechtsnatur nicht unveränderbar die soziale Stellung und Rol-
le bestimmt, sondern Frauen und Männer durch reflexives ,,doing gender" selbst zu
Konstrukteuren der gelebten Geschlechterdifferenzen werden.
16
Der konstruktivistische
Ansatz des ,,doing gender" geht somit davon aus, dass Frauen und Männer ihr eigenes
Schicksal zwar unbewusst, aber doch aktiv gestalten.
Dabei dürfe aber nicht unterstellt werden, dass Frauen und Männer homogene Grup-
pen seien, die als solche gleiche Interessen und Lebenswelten haben, sondern an die
Stelle eines uniformen Verständnisses von den Frauen und den Männern als Kollektiv-
subjekten, müsse ein differenzierter Blick auf unterschiedliche weibliche und männliche
Lebenslagen treten
17
, auch wenn es offensichtliche Gemeinsamkeiten gibt.
So ist beispielsweise die türkischstämmige derzeitige niedersächsische Sozialministe-
rin ebenso Frau, wie die in ihrem Ministerium beschäftigte türkische weibliche Reini-
gungskraft und beide haben auch den gleichen ethnischen Hintergrund. Trotz dieser
offensichtlichen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich deren Weiblichkeiten natürlich
erheblich, als sie in hohem Maße durch den jeweiligen sozialen Status bestimmt sind
und bei der Ministerin die ethnische Herkunft in ihrer aktuellen Lebenslage weniger
bestimmend sein dürfte als bei der Reinigungskraft gleicher Ethnie.
Es liegt daher nahe, die soziale Konstruktion von Geschlecht als multiples Geschlech-
terkonzept mit einer Vielfalt sozialer Geschlechterdimensionen zu verstehen
18
(vgl.
Abbildung 1).
1.2. Dekonstruktion von Geschlecht als politische Aufgabe
Paradoxerweise verliert die Dimension Geschlecht an Bedeutung, wenn angenommen
wird, dass Geschlecht sozial konstruiert, also von Menschen gemacht ist. Denn alles
Konstruierte lässt sich natürlich auch wieder dekonstruieren. Die Erosion der ge-
schlechtlichen Dimension zeigt sich bereits, wenn zugestanden wird, dass Männer und
Frauen nicht als zwei gleichsam monolithische Blöcke wahrgenommen werden dür-
fen.
19
So ist geschlechtliche Benachteiligung oft nur eine Ungleichheitserfahrung neben
anderen und oftmals gar nicht die zentrale.
20
15
Vgl. Michael Meuser, S. 326.
16
Vgl. Andrea Leitner, S. 2.
17
Vgl. Michael Meuser, S. 327.
18
Vgl. Andrea Leitner, S. 2, auch Regina Frey (2009), S. 48.
19
Vgl. Michael Meuser, S. 332.
20
Ebenda, S. 331.

- 14 -
Denkt man diesen Ansatz weiter, so ist zu fragen, weshalb es sich die Politik nicht zur
Aufgabe macht, durch entsprechende Aktivitäten zur Auflösung der Geschlechterdiffe-
renzen beizutragen? Wenn dies gelänge, würde bei der Diskussion um gesellschaftli-
che Ungleichheiten die Aufmerksamkeit nicht mehr sofort reflexartig auf das Ge-
schlecht gelenkt.
Da solche politischen Aktivitäten aber bisher nicht erkennbar sind, kann vermutet wer-
den, dass eine dekonstruktivistische Umgangsweise mit der Dimension Geschlecht, die
nicht nur darauf abzielt, die soziale Position von Frauen gegenüber Männern zu
verbessern, sondern die Betonung der Differenzen zwischen Frauen und Männern
überhaupt bedeutungslos werden zu lassen, derzeit noch nicht opportun ist. Denn so-
lange die Unterscheidung von Frauen und Männern ein Grundstein der Sozialstruktur
unserer Gesellschaft und ein grundlegendes soziales Ordnungsmerkmal ist, kann die
Politik dies nicht ignorieren, da sie von der Gesellschaft mit ihren Anstrengungen gar
nicht wahrgenommen würde und Gefahr liefe, die an der Dimension Geschlecht fest-
gemachten tradierten Erfahrungen der Mitglieder unserer Gesellschaft zu entwerten.
21
2. Was ist Gerechtigkeit?
Ist in der wissenschaftlichen Diskussion schon nicht eindeutig zu klären, was ,,Ge-
schlecht" ist, so gilt dies erst recht für ,,Gerechtigkeit". Kaum ein anderes Thema hat die
Philosophie bisher so stark beschäftigt, wie die Suche nach Antworten auf die Frage
,,Was ist Gerechtigkeit?"
Eine abschließende Antwort auf diese Frage kann es auch gar nicht geben ­ schließ-
lich ist Gerechtigkeit keine objektive, messbare Größe. Das Gerechtigkeitsempfinden
ist subjektiv geprägt und wird sowohl von der eigenen individuellen Situation als auch
von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. So gibt es nicht nur un-
terschiedliche individuelle Vorstellungen von Gerechtigkeit
22
, sondern auch verschie-
dene Gerechtigkeitsprinzipien ­ vor allem im Hinblick auf die Dimensionen von sozialer
Gerechtigkeit. Liebig und May unterscheiden hier vier Prinzipien:
,,Gleichheitsprinzip:
Es fordert, jedem gleiche Rechte oder den gleichen Anteil an Gütern und Lasten zuzu-
weisen. Abgeleitet davon ist das Prinzip der Chancengerechtigkeit, das fordert, jedem
21
Ebenda, S. 333.
22
Zu nennen wären hier zunächst die beiden klassischen Formen der Gerechtigkeit: 1. kommutative
Gerechtigkeit oder auch Tauschgerechtigkeit, bei der es um den Ausgleich erbrachter Leistungen geht, 2.
distributive oder Verteilungsgerechtigkeit, bei der die Anteile an etwas Gemeinsamen im Vordergrund
stehen. Außerdem von Bedeutung sind 3. die prozedurale oder Verfahrensgerechtigkeit, bei der es um
Einhaltung von Fairnessregeln im Rahmen von Entscheidungsprozessen geht sowie 4. die interpersonale
oder Interaktionsgerechtigkeit, bei der es um die Frage geht, ob Personen sich gegenseitig fair behandeln.

- 15 -
­ unabhängig von Herkunft und nicht selbst verantworteten Einschränkungen ­ mög-
lichst gleiche Chancen beim Zugang zu Gütern oder Positionen zu gewähren.
Leistungsprinzip:
Es verlangt die Belohnung individueller Anstrengungen und Leistungen, durchaus mit
dem ,,Nebengedanken", Leistungsanreize zu schaffen.
Anrechtsprinzip:
Insbesondere die bundesdeutschen sozialen Sicherungssysteme folgen dem Prinzip
der zugeschriebenen oder erworbenen Anrechte. Hier sind es nicht aktuell erbrachte
Leistungen, sondern an Status- und Positionsmerkmale gekoppelte Anrechte, die in
der Vergangenheit erworben wurden oder aufgrund der Tradition und den darin wirk-
samen Normen zugeschrieben werden.
Bedarfsprinzip:
Das Ziel ist die Sicherung einer minimalen oder ,,angemessenen" Deckung von Grund-
bedürfnissen."
23
Bei der Beschäftigung mit dem Thema Gerechtigkeit ­ insbesondere, wenn es darum
geht, wie ein gerechter Staat bzw. eine gerechte Gesellschaftsordnung konstruiert sein
sollte, stößt man unweigerlich auf John Rawls' Werk ,,A Theory of Justice" (Eine Theo-
rie der Gerechtigkeit).
John Rawls versteht Gerechtigkeit vor allem als Fairness und damit als prozedurale
bzw. interpersonale Gerechtigkeit. Nach seinem Verständnis ist eine Gesellschaftsord-
nung dann gerecht, wenn sich freie und vernünftige Menschen in einer fiktiven anfäng-
lichen Situation der Gleichheit für eben diese Gesellschaftsordnung entscheiden wür-
den
24
. Ganz wesentlich für die von ihm angenommene Anfangssituation ist, dass für
alle Beteiligten die künftige eigene Stellung in der Gesellschaft unbekannt ist, damit
egoistische Interessen die eigene Entscheidung nicht beeinflussen können. Die Ent-
scheidung muss somit unter einem ,,Schleier des Nichtwissens" getroffen werden
25
.
Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der
gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der glei-
chen Lage befinden und sich niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund
seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die so ausgehandelten Grundsätze
der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft.
26
Unter diesen Annahmen hat Rawls folgende Gerechtigkeitsgrundsätze formuliert:
23
Stefan Liebig/Meike May, S. 5.
24
Vgl. Heinrich Ganthaler, S. 2.
25
Vgl. Richard David Precht, S. 336.

- 16 -
,,Erster Grundsatz (Freiheitsprinzip):
Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grund-
freiheiten, das für alle möglich ist.
Zweiter Grundsatz:
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am we-
nigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen (Differenzprinzip),
und
(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer
Chancengleichheit offenstehen (Prinzip der Chancengleichheit)."
27
Rawls' Theorie von Gerechtigkeit als Fairness zielt nach dem Wortlaut zunächst nur
auf Chancengleichheit ab. Allerdings wird auch deutlich, dass Rawls sich mit gleichen
Ausgangschancen nicht zufrieden gibt. Zwar seien die sich in einer Gesellschaft auf-
grund unterschiedlicher Begabungen und Interessen zwangsläufig entwickelnden Un-
gleichheiten hinzunehmen, jedoch müssen die dann Bessergestellten ihren Beitrag zur
Verbesserung der Lage der Benachteiligten leisten.
Diesen Anspruch formuliert Rawls wie folgt:
"Wer von der Natur begünstigt ist, sei es, wer es wolle, der darf sich der Früchte nur so
weit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert. Die von der Natur
Bevorzugten dürfen keine Vorteile haben, bloß weil sie begabter sind, sondern nur zur
Deckung der Kosten ihrer Ausbildung und zu solcher Verwendung ihrer Gaben, dass
auch den weniger Begünstigten geholfen wird. Niemand hat seine besseren natürli-
chen Fähigkeiten oder einen besseren Startplatz in der Gesellschaft verdient."
28
Damit zielt Rawls aber nicht nur auf Chancengleichheit ab, sondern möchte einen Aus-
gleich für diejenigen, die ihre Chancen nicht so gut genutzt haben oder nutzen konn-
ten, wie andere. Nach Auffassung von Rawls ist es gerechtfertigt, wenn der Staat
Maßnahmen ergreift, die darauf abzielen, die Lage der weniger Begünstigten zu
verbessern. Das bedeutet jedoch nicht, dass es völlige Ergebnisgleichheit geben soll.
Die Leistungsfähigen müssen immer noch genügend Anreize haben, ihre Leistung
auch zu entfalten und von den Früchten ihrer Anstrengungen zu profitieren. Ohne sol-
26
Vgl. Heinrich Ganthaler, S. 2.
27
Ebenda., S. 3.
28
John Rawls, S. 125.

- 17 -
che Anreize für die Stärkeren würden schließlich auch die Schwächeren nicht profitie-
ren können.
29
Viele Menschen mit moderner westlicher Werteorientierung und sozialliberaler Grund-
haltung können den Rawls'schen Vorstellungen von Gerechtigkeit in einer Gesellschaft
wohl zustimmen. Nicht soziale Gleichheit ist das Ziel, sondern alle haben die gleichen
Ausgangschancen, die Stärkeren helfen den Schwächeren und der Staat sorgt für die
Einhaltung der Spielregeln.
30
Damit dürfte das Rawls'sche Verständnis von Gerechtig-
keit einer ,,objektiven" Gerechtigkeit aus konstruktivistischer Sicht sehr nahe kommen,
da es von vielen geteilt wird.
31
3. Geschlechtergerechtigkeit braucht Chancengleichheit!
Zwar geht Rawls in seiner Theorie nicht auf ,,Geschlecht" ein. Jedoch wäre eine ge-
rechte Gesellschaft im Sinne von Rawls eine Gesellschaft, die jedem Menschen unab-
hängig vom sozialen Status dieselben Chancen zur Verwirklichung seiner individuellen
Vorstellung vom Leben bzw. seines individuellen Lebensplanes einräumt, und diejeni-
gen, die von Natur aus benachteiligt sind, soweit wie möglich für ihre Nachteile ent-
schädigt. Natürliche Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft, über welche die einzelnen
Mitglieder einer Gesellschaft verfügen, werden dabei gewissermaßen als öffentliches
Gut betrachtet. Von denjenigen, die mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet sind, wird
ein funktionaler Beitrag zur Verbesserung der Lage der weniger Begünstigten gefor-
dert.
Kurz gesagt: Auch wenn ,,Geschlecht" in der Rawls'schen Theorie nicht explizit er-
wähnt wird, wäre es nach Rawls nicht zulässig, dass jemand wegen seines Ge-
schlechts und der damit verbundenen natürlichen Gaben bevorzugt oder benachteiligt
wird ­ dies widerspräche sowohl dem Prinzip der Chancengleichheit als auch dem
Ausgleichsprinzip.
29
Vgl. Edith Rost-Schaude, S. 6.
30
So auch Wolfgang Glatzer, S. 16.
31
Allerdings stieß Rawls' Theorie auch auf Kritik ­ vor allem von libertaristischer Seite. Sein bekanntester
Kritiker war Robert Nozick, sein Kollege an der University of Harvard, der dazu 1974 mit ,,Anarchy, State,
and Utopia" einen Gegenentwurf vorlegte. Nach Nozicks Auffassung müsse eine solche gerechte Gesell-
schaft Utopie bleiben, da sie von einem konstruierten Urzustand ohne Gewalt, Gesetzlosigkeit und mate-
riellem Mangel ausgehe und der Staat zur Aufrechterhaltung dieses ,,paradiesischen" Urzustandes ständig
intervenieren müsste. Außerdem seien Gerechtigkeit und Fairness nicht die wichtigsten Antriebskräfte des
Menschen. Wichtiger als Gerechtigkeit seien dem Menschen der Egoismus und das Bedürfnis nach freier
ungehinderter Entfaltung. Die Auswirkungen dieser Antriebskräfte würden sich mehr oder weniger deutlich
in jeder Gesellschaft zeigen. Da eine Gesellschaft somit immer das unterschiedlich gelungene Resultat
der wahren menschlichen Antriebskräfte sei, müsse sie so genommen werden, wie sie ist. Im Unterschied
zu Rawls verteidigt Nozick somit den Status quo einer jeden Gesellschaft und begründet dies mit deren
historischer Entwicklung und mit Eigentumsprinzipien (vgl. Richard David Precht, S. 340).
Bei genauerer Betrachtung gibt Rawls mit seinen Formulierungen sogar indirekt zu erkennen, dass Ge-
rechtigkeit auch für ihn nicht unbedingt der wichtigste Faktor einer Gesellschaft ist. Denn an die erste
Stelle seines Urzustandes setzt er die Freiheit. Erst an zweiter Stelle steht die Gerechtigkeit, die diese
Freiheit einschränkt. Die Gerechtigkeit wiederum wird durch Chancengleichheit und den sozialen Aus-
gleich bestimmt (vgl. Richard David Precht, S. 343).

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Geschlechtergerechtigkeit unter Berücksichtigung der von Rawls formulierten Prinzi-
pien bedeutet daher, dass
· ,,für Frauen und Männer das Prinzip der Freiheit gilt,
· für Frauen und Männer Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen
Grundlagen der Grundachten gleichmäßig zu verteilen sind, soweit nicht eine
ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht und
· Frauen und Männer gleichen Zugang zu Positionen und Ämtern, und damit zu
Entscheidungsbefugnissen in einer Gesellschaft haben müssen."
32
Damit wird deutlich, dass die Ressourcenverteilung ein ganz zentraler Faktor bei der
Herstellung geschlechtergerechter Strukturen ist. Ohne eine gerechte Ressourcenver-
teilung für Frauen und Männer kann es keine gesellschaftliche Basis geben, von der
aus die freie und gleiche Chance zur Verfolgung zentraler menschlicher Interessen
besteht.
33
Wenn es also um die geschlechtergerechte Teilhabe an Ressourcen wie
Geld, Macht, Zeit und Wissen geht, bedeutet Geschlechtergerechtigkeit konkret formu-
liert, ,,dass Männern im Vergleich zu Frauen und Frauen im Vergleich zu Männern
· genauso viel ökonomische Mittel und ökonomische Verfügungsgewalt,
· genauso viel Arbeit , bezahlte und unbezahlte,
· genauso viel Freizeit,
· genauso viel Anerkennung,
· genauso viel Macht,
· genauso viel Gesundheit,
· genauso viel Wissen,
· genauso viel Raum
zur Verfügung steht."
34
Um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, müssen die Gesellschaftsstrukturen daher
so ausgestaltet sein, dass sie sowohl Frauen als auch Männern hinsichtlich des Zu-
gangs zu diesen Ressourcen die gleichen Chancen einräumen. Auf die Beseitigung
diskriminierender Gesellschaftsstrukturen durch entsprechende Regelungen hinzuwir-
ken, damit Maßnahmen zur Chancengleichheit überhaupt erst greifen können, kann
nur den staatlichen Institutionen obliegen.
35
Daher bilden, angefangen bei der Verfas-
32
Edith Rost-Schaude, S. 9.
33
Ebenda, S. 9.
34
Barbara Stiegler (2007), S. 3.
35
Vgl. Mechthild Cordes, S. 925.

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sung, eine Vielfalt von gesetzlich formulierten Gerechtigkeitszielen die normative
Grundlage des deutschen Sozialstaats.
36
4. Tatsächliche Geschlechtergerechtigkeit als politisches Ziel
Der Staat wird durch das Grundgesetz inzwischen zu einem proaktiven Handeln in
Sachen Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet.
37
Allerdings ist eine solche Pflicht zum
aktiven Eintreten für Gleichberechtigung erst seit 1994 dort verankert. War 1949 von
den Müttern und Vätern des Grundgesetzes die in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG getroffene
Feststellung ,,Männer und Frauen sind gleichberechtigt" noch als ausreichend erachtet
worden, so ist im Zuge der Veränderung des gesellschaftlichen Verständnisses von
Geschlechtergerechtigkeit das Grundgesetz um Art. 3 Abs. 2 Satz 2 ergänzt worden:
,,Der Staat hat die Aufgabe, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männer zu fördern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin." Damit war allerdings noch nicht festgelegt, mit welchen Maßnahmen der Staat
dieses Ziel erreichen will, so dass die Umsetzung des Ziels der Geschlechtergerechtig-
keit auf politischem Wege erst noch eingefordert werden musste.
38
Zur Unterstützung
des Umsetzungsprozesses ist Gleichstellungspolitik
39
schließlich auf allen staatlichen
Ebenen institutionalisiert
40
worden.
Mechthild Cordes formuliert, dass mit Gleichstellungspolitik im Wesentlichen zwei (auf-
einander aufbauende) Ziele erreicht werden sollen: Zunächst soll die Diskriminierung
von Frauen als Ursache ungleicher Lebensverhältnisse von Frauen und Männern be-
seitigt werden (Ziel der Gleichberechtigung); daran anschließend können und sollen
die sozialen Folgen dieser Ungleichheit beseitigt und gleiche Lebenschancen wie glei-
che Teilhabe von Frauen an den gesellschaftlichen Ressourcen erreicht werden (Ziel
der Chancengleichheit).
41
Sie unterstellt damit zwar, dass ungleiche Lebensverhältnis-
se von Männern und Frauen ihre Ursache in der Diskriminierung von Frauen haben,
was bei Einnahme der konstruktivistischen Perspektive keinesfalls als gesicherte Er-
kenntnis gelten kann.
42
Dennoch setzt eine wie auch immer geartete Änderung dieser
so erlebten ,,Wirklichkeit" natürlich voraus, dass der Staat und damit die in seinen Insti-
36
Vgl. Wolfgang Glatzer, S. 16.
37
Vgl. Regina Frey (2009), S. 51.
38
Vgl. Mechthild Cordes, S. 925.
39
Gleichstellungspolitik bezeichnet die Gesamtheit der Mittel, mit denen das Ziel der gleichen Teilhabe
von Frauen und Männern erreicht werden soll (vgl. Mechthild Cordes, S. 925).
40
Institutionalisierte Gleichstellungspolitik bezeichnet die Gesamtheit aller politischen Strategien (Entwür-
fe, Programme, Gesetze, Maßnahmen), ihre Evaluation und die Verarbeitung der mit ihnen gemachten
Erfahrungen, die Frauen eine gleiche Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen (Geld, Positionen,
Repräsentation) sichern will (vgl. Silvia Kontos, S. 44).
41
Vgl. Mechthild Cordes, S. 924.
42
Vgl. hierzu Paul Watzlawick, S. 61f. ,,Wirkung oder Ursache?". Schließlich können ungleiche Lebensver-
hältnisse von Männern und Frauen entweder a) auch durch andere Umstände ,,verursacht" sein, b) Dis-
kriminierung von Frauen muss den ungleichen Lebensverhältnissen nicht zwingend vorausgehen oder c)
beide Umstände können voneinander völlig unabhängig sein.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783955499778
ISBN (Paperback)
9783955494773
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Chancengleichheit Pay Gap doing gender Diskriminierung Gleichberechtigungsgesetz

Autor

Frank Richter, geboren 1964 in Göttingen, ist seit 1988 als Diplom-Verwaltungswirt in verschiedenen Funktionen in der niedersächsischen Landesverwaltung beschäftigt und seit 1999 als Mitarbeiter der Niedersächsischen Staatskanzlei mit den Besonderheiten der Ministerialbürokratie vertraut. Ein verwaltungswissenschaftliches Weiterbildungsstudium an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin schloss der Autor 2011 mit dem akademischen Grad Master of Public Administration ab. Seine langjährigen Erfahrungen und Beobachtungen im Hinblick auf die politischen Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit in der öffentlichen Verwaltung veranlassten ihn, dieses Thema in seiner Masterarbeit aufzugreifen und kritisch zu betrachten.
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Titel: Gender Mainstreaming oder Gender Manstreaming? Geschlechtergerechtigkeit in der öffentlichen Verwaltung zwischen politischem Konstruktivismus und individuellem Erleben
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