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Freiheitsentziehende Maßnahmen in stationären Pflegeeinrichtungen und deren rechtliche Bewertung

©2012 Masterarbeit 47 Seiten

Zusammenfassung

Freiheit ist ein hohes Gut und steht unter besonderem Schutz innerhalb unserer Rechtsordnung. Freiheitsentziehende Maßnahmen stellen daher einen weitreichenden Eingriff in die Grundrechte eines Menschen dar. In stationären Pflegeeinrichtungen finden täglich solche Eingriffe statt. Doch rechtfertigt der Schutz der körperlichen Unversehrtheit einen solchen Eingriff überhaupt? Soll eher die Fürsorge um einen pflegebedürftigen Menschen im Vordergrund stehen oder die Selbstbestimmung des Einzelnen respektiert werden?
Die Frage ist komplex und kann immer nur für den jeweiligen Einzelfall abgewogen und entschieden werden. In stationären Pflegeeinrichtungen liegen meist nur wenige Informationen über Werte und persönliche Einstellungen der Bewohner vor. Dies macht die Entscheidung bei Bewohnern, die sich nicht mehr selbst äußern können, noch schwieriger. Unterschiedliche Meinungen verschiedener Akteure sorgen bei Führungskräften und Mitarbeitern von Pflegeeinrichtungen oftmals für Unsicherheiten in einer ohnehin schwierigen Frage. Pflegeeinrichtung benötigen eine Art Kompass, der ihnen in dieser Frage die Richtung weist.
Diese Arbeit beleuchtet das Thema der freiheitsentziehende Maßnahmen und deren rechtliche Bewertung aus der Sicht von stationären Pflegeeinrichtungen näher und bietet so eine Orientierung im Umgang mit solchen Maßnahmen. Weiter eingegangen wird insbesondere auf haftungsrechtliche und arbeitsrechtliche Aspekte sowie auf die Bedeutung der betreuungsrichterlichen Genehmigung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Roßbruch, Robert
Zur Problematik der Delegation ärztlicher
Tätigkeiten an das Pflegefachpersonal auf All-
gemeinstationen unter besonderer Berück-
sichtigung zivilrechtlicher, arbeits-rechtlicher
und versicherungs-rechtlicher Aspekte ­ 1.
Teil, Pflegerecht 2003, Ausgabe 3, S. 95-103.
Schade, Peter
Grundgesetz mit Kommentierung, 8. Auflage,
Regensburg, 2010
(zitiert: Bearbeiter, in Schade).
Schiemann, Doris
Expertenstandard Sturzprophylaxe in der
Pflege, Deutsches Netzwerk für Qualitätsent-
wicklung in der Pflege (Hrsg.), Osnabrück,
2006
(zitiert:
Schiemann,
Expertenstandard
Sturzprophylaxe).
Schiemann, Doris
Methodisches Vorgehen zur Entwicklung,
Einführung und Aktualisierung von Experten-
standards in der Pflege, Deutsches Netzwerk
für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.),
Osnabrück, 2011
(zitiert:
Schiemann,
Entwicklung
Expertenstandards).
Schumacher, Christa
Freiheitsentziehende
Maßnahmen
mit
mechanischen Mitteln bei der Betreuung ge-
brechlicher Menschen, Köln, 2012
(zitiert: Schumacher, Freiheitsentziehende
Maßnahmen mit mechanischen Mitteln).
Sodan, Helge
Grundgesetz,
Beck´scher
Kompakt-
Kommentar, 2. Auflage, München, 2011
(zitiert: Bearbeiter, in: Sodan).
Theuerkauf, Klaus
Zivilrechtliche
Verbindlichkeit
von
Expertenstandards in der Pflege, Medizinrecht
2011, Ausgabe 29, S. S. 72-77.

Teil 1: Einführung
A. Problemstellung
Freiheit ist ein hohes Gut und steht unter besonderem Schutz
innerhalb unserer Rechtsordnung. Freiheitsentziehende Maß-
nahmen stellen daher einen weitreichenden Eingriff in die
Grundrechte eines Menschen dar. In stationären Pflegeeinrich-
tungen finden täglich solche Eingriffe statt. Meist sollen pflege-
bedürftige Menschen dadurch vor Stürzen bewahrt oder vor
sich selbst geschützt werden. Doch rechtfertigt der Schutz der
körperlichen Unversehrtheit einen solchen Eingriff überhaupt?
Soll eher die Fürsorge um einen pflegebedürftigen Menschen
im Vordergrund stehen oder die Selbstbestimmung des Einzel-
nen respektiert werden? Die Frage ist komplex und kann immer
nur für den jeweiligen Einzelfall abgewogen und entschieden
werden. In stationären Pflegeeinrichtungen liegen meist nur
wenige Informationen über Werte und persönliche Einstellun-
gen der Bewohner vor. Dies macht die Entscheidung bei Be-
wohnern, die sich nicht mehr selbst äußern können, noch
schwieriger. Hinzu kommt, dass es sich um ein sehr emotiona-
les Thema handelt, bei dem auch die Meinungen von Angehö-
rigen, Betreuern, Mitarbeitern und Ärzten auf die Verantwortli-
chen in den Einrichtungen einwirken. Nicht zuletzt machen Auf-
sichtsbehörden wie der Medizinischen Dienst der Krankenver-
sicherung (MDK) oder die Heimaufsichten den Einrichtungen
Vorgaben, zum Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnah-
men. Unterschiedliche Meinungen verschiedener Akteure sor-
gen bei Führungskräften und Mitarbeitern von Pflegeeinrichtun-
gen oftmals für Unsicherheiten in einer ohnehin schwierigen
Frage. Pflegeeinrichtung benötigen eine Art Kompass, der ih-
nen in dieser Frage die Richtung weist. Die vorliegende Arbeit
soll das Thema freiheitsentziehende Maßnahmen und deren
rechtliche Bewertung aus der Sicht von stationären Pflegeein-
richtungen näher beleuchten und eine Orientierung im Umgang
mit solchen Maßnahmen bieten. Näher eingegangen wird ins-
1

besondere auf haftungsrechtliche und arbeitsrechtliche Aspekte
sowie auf die Bedeutung der betreuungsrichterlichen Genehmi-
gung. Nicht weiter behandelt wird die strafrechtliche Relevanz
freiheitsentziehender Maßnahmen.
B. Themeneingrenzung und Gang der Untersuchung
Die Untersuchung konzentriert sich auf vollstationäre Pflegeein-
richtungen im Sinne des SGB XI. Nicht berücksichtigt werden
deshalb Tagespflegeeinrichtungen, Wohngemeinschaften, Al-
tenwohnheime oder Einrichtungen der Behindertenhilfe für psy-
chisch kranke Menschen. Nicht Gegenstand dieser Arbeit sind
außerdem freiheitsentziehende Maßnahmen im häuslichen Um-
feld. Nach einigen grundsätzlichen Anmerkungen zu freiheits-
entziehenden Maßnahmen wird zunächst die Abwägung zwi-
schen Fürsorge und Autonomie und die Verankerung beider
Werte im Grundgesetz dargestellt. Anschließend werden die
gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie das betreuungsge-
richtliche Verfahren vorgestellt. Im deutschen Recht wird zwi-
schen einer zivilrechtlichen und einer öffentlich-rechtlichen
Freiheitsentziehung unterschieden. Da die öffentlich-rechtliche
Freiheitsentziehung eher im Bereich der Psychiatrie als im Be-
reich der Pflege eine Rolle spielt, soll im Verlauf der Arbeit aus-
schließlich die zivilrechtliche Freiheitsentziehung betrachtet
werden. Im zweiten Teil der Arbeit werden schließlich Rechts-
fragen aus Sicht der Pflegeeinrichtung untersucht. Es soll die
Frage beantwortet werden, ob eine betreuungsgerichtliche Ge-
nehmigung oder eine anderslautende Empfehlung eines Exper-
tenstandards für die Arbeit der Einrichtung verbindlich ist. Au-
ßerdem werden haftungsrechtliche Aspekte von freiheitsentzie-
henden Maßnahmen beleuchtet. Beispielsweise die Frage, ob
Pflegeeinrichtungen haften müssen, wenn eine freiheitsentzie-
hende Maßnahme unterlassen wurde und ein Bewohner durch
einen Sturz zu Schaden gekommen ist. Besteht umgekehrt ein
Haftungsrisiko, wenn ein Bewohner gerade infolge einer frei-
2

heitsentziehenden Maßnahme einen Schaden erleidet? Ab-
schließend wird näher auf die Fragen eingegangen werden,
welche Mitarbeiter über die Anwendung freiheitsentziehender
Maßnahmen entscheiden können, welche Mitarbeiter diese
Maßnahmen durchführen dürfen und schließlich, ob Mitarbeiter
die Durchführung solcher Maßnahmen z.B. aus Gewissens-
gründen verweigern dürfen.
Teil 2: Freiheitsentziehende Maßnahmen in stationären
Pflegeeinrichtungen
A. Definitionen und statistische Daten
I. Stationäre Pflege in Deutschland
Die Pflegeversicherung folgt dem Grundsatz ,,ambulant vor sta-
tionär". Anspruch auf vollstationäre Pflege besteht nur dann,
wenn häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist oder
wegen der Besonderheit des Einzelfalls nicht in Betracht
kommt.
1
Dieser Vorrang der häuslichen Pflege sowie der weit
verbreitete Wunsch vieler Menschen, möglichst lange Zeit in
der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben, führen dazu, dass fast
nur Menschen mit einem sehr hohen Pflegebedarf oder
schwerwiegenden Erkrankungen den Weg ins Pflegeheim wäh-
len. Nahezu alle Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen
haben einen Hilfebedarf bei der Grundpflege und der hauswirt-
schaftlichen Versorgung, der den für die Einstufung in die Pfle-
geversicherung notwendigen Zeitaufwand erfüllt bzw. über-
schreitet.
2
Den gesetzlichen Pflegekassen ist die Gewährung
ambulanter und stationärer Pflege nur durch Pflegeeinrichtun-
gen gestattet, mit denen ein Versorgungsvertrag abgeschlos-
sen wurde.
3
Dadurch kommt im SGB XI das sog. ,,Sachleis-
tungsprinzip" zum Ausdruck. Stationäre Pflegeeinrichtungen, im
folgenden auch Pflegeheime genannt, im Sinne des § 71 Abs.
2 SGB XI sind ,,selbständig wirtschaftende Einrichtungen, in
1
Pöld-Krämer / Richter, in: Klie / Krahmer, § 43 Rn. 5a.
2
Klie, in: Klie / Krahmer, § 15 Rn. 11.
3
Plantholz / Schmäing, in: Klie / Krahmer, § 72 Rn. 2.
3

denen Pflegebedürftige unter ständiger Verantwortung einer
ausgebildeten Pflegefachkraft gepflegt werden und ganztägig
(vollstationär) oder nur tagsüber oder nur nachts (teilstationär)
untergebracht und verpflegt werden können".
Die statistischen Ämter des Bundes und der Länder führen
zweijährlich die sog. ,,Pflegestatistik" durch. Im Rahmen dessen
erheben und veröffentlichen sie Daten zur Situation von pflege-
bedürftigen Menschen und Pflegeeinrichtungen in Deutsch-
land.
4
Demnach waren im Dezember 2009 in Deutschland 2,34
Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des SGB XI, von
denen wiederum 717.000 Menschen in stationären Pflegeein-
richtungen betreut wurden. Im Dezember 2009 gab es bundes-
weit 10.400 zugelassene vollstationäre Einrichtungen. Ähnlich
wie im Krankenhausbereich sind frei-gemeinnützige, private
und öffentliche Träger im Bereich der Altenhilfe tätig, wobei der
Anteil der öffentlichen Träger im stationären Bereich mit nur
5 % sehr gering und seit Jahren rückläufig ist.
II. Freiheitsentziehende Maßnahmen
Freiheitsentziehung im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches
(BGB) ist die Unterbringung einer Person in einer geschlosse-
nen Einrichtung gegen ihren Willen.
5
In § 1906 Abs. 4 BGB
stellt der Gesetzgeber klar, dass es auch in offenen Einrichtun-
gen unterbringungsähnliche Maßnahmen gibt, die die Bewe-
gungsfreiheit des Betroffenen nicht weniger beschränken als
eine Unterbringung und die deshalb den gleichen Genehmi-
gungspflichten unterworfen sind.
6
Durch freiheitsentziehende
Maßnahmen werden die Betroffenen meist in einzelnen Bewe-
gungen eingeschränkt, also beispielsweise am Aufstehen ge-
hindert. Es gibt auch Ausgestaltungen, in den sich Betroffene
zwar frei bewegen können, dies aber auf einen abgeschlosse-
4
Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2009.
5
Diederichsen, in: Palandt, § 1906 Rn. 8.
6
Diederichsen, in: Palandt, § 1906 Rn. 30.
4

nen Raum beschränkt ist.
7
Beispiele für freiheitsentziehende
Maßnahmen in stationären Pflegeeinrichtungen sind das An-
bringen von Bettgittern, das Anlegen von Sitz-, Leib oder
Bauchgurten, das Anlegen von Hand-, Fuß- oder Körperfes-
seln, komplizierte Schließmechanismen an Türen, das Absper-
ren des Wohnbereichs oder des Zimmers sowie die Verabrei-
chung von sedierenden Medikamenten. Ebenfalls dazu gehören
Eingriffe wie die Wegnahme von Bekleidung, Schuhen, Sehhil-
fen und Fortbewegungsmitteln wie z.B. Rollstühlen.
8
Die Auflis-
tung zeigt bereits, dass eine pauschale Bewertung nicht mög-
lich und deshalb immer eine Betrachtung des konkreten Einzel-
falles notwendig ist, um beurteilen zu können, ob es sich um
eine freiheitsentziehende Maßnahme handelt oder nicht. Meist
werden solche Maßnahmen in Pflegeheimen bei unruhigen
oder aggressiven Pflegebedürftigen eingesetzt. Ziel ist in der
Regel, die Betroffenen vor Stürzen zu bewahren oder ihnen zu
Ruhe bei den Mahlzeiten zu verhelfen. Ebenfalls häufig wird der
Schutz von Mitbewohnern vor Störungen und Handgreiflichkei-
ten als Begründung genannt.
9
Weitere Gründe bzw. Erklärun-
gen für die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen stel-
len Wünsche von Angehörigen, Personalmangel in den Einrich-
tungen oder fehlende Betreuungskonzepte dar.
10
Nicht zuletzt
kann auch die Angst einer Pflegeeinrichtung vor Schadenser-
satzforderungen z.B. im Fall eines Sturzes ein Grund für eine
freiheitsentziehende Maßnahme sein.
Es existieren verschiedene Zahlen über den Umfang von frei-
heitsentziehenden Maßnahmen in Pflegeheimen. Internationale
Studien geben an, dass zwischen 12 % und 49 % der Bewoh-
7
Hoffmann / Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, S. 20.
8
MDK-Anleitung zur Prüfung der Qualität nach den §§ 114 ff. SGB XI vom
27.8.2009.
9
Schumacher, Freiheitsentziehende Maßnahmen mit mechanischen Mitteln,
S. 32.
10
Klie / Lörcher, Gefährdete Freiheit, S. 27.
5

ner von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen sind.
11
Der
MDK hat in der Zeit von 01.07.2008 bis zum 31.07.2010 in
Deutschland 8.101 stationäre Pflegeeinrichtungen überprüft
und dabei über 60.000 Bewohner in die Prüfungen einbezogen.
Bei 12.369 Bewohnern und somit bei rund 20% kamen im an-
gegebenen Zeitraum freiheitsentziehende Maßnahmen zur An-
wendung.
12
B. Fürsorge oder Autonomie ­ rechtliche Grundlagen
I. Abwägung der Grundrechte
Durch freiheitsentziehende Maßnahmen wird die Bewegungs-
freiheit eingeschränkt. In Pflegeheimen werden Bewohner z.B.
an Rollstühle gegurtet oder durch Bettgitter am Verlassen des
Bettes gehindert. Solche Maßnahmen stellen sehr weitreichen-
de Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen dar. Bereits aus
dem Begriff lässt sich ableiten, dass die Freiheit der Betroffe-
nen und somit mindestens ein Grundrecht berührt ist. Das in
Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht auf freie Entfaltung der Per-
sönlichkeit umfasst auch eine sog. allgemeine Handlungsfrei-
heit, die grundsätzlich jedes menschliche Handeln umfasst.
13
Darunter fällt folglich auch die Bewegungsfreiheit jedes Einzel-
nen. Ebenfalls betroffen ist das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG garan-
tierte Recht auf körperliche Unversehrtheit. Hierin enthalten ist
sowohl der Schutz des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe wie
auch die Pflicht des Staates, den Einzelnen vor rechtswidrigen
Eingriffen anderer zu bewahren.
14
Dieser Schutzbereich um-
fasst auch kranke und nicht voll geschäftsfähige Menschen.
Umstritten ist, ob daraus auch die Pflicht abgeleitet werden
kann, den Einzelnen vor sich selbst zu schützen. Diese Frage
stellt sich umso mehr, wenn eine Person, z.B. durch Krankheit
oder Pflegebedürftigkeit, nicht mehr in der Lage ist, selbständi-
11
Hoffmann / Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, S. 10.
12
3. Bericht des MDS nach § 114a Abs. 6 SGB XI, Qualität in der
ambulanten und stationären Pflege, April 2012.
13
Sodan, in: Sodan, Art. 2 Rn. 2.
14
Schade, in: Schade, Art. 2 S. 28.
6

ge Entscheidungen zu treffen oder wenn ihr die notwendige
Einsicht fehlt. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren
Entscheidungen zu dieser Frage Stellung genommen, ausführ-
lich in einem Urteil hinsichtlich des baden-württembergischen
Unterbringungsgesetzes vom 07.10.1981: Nach einer strengen
Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seien Eingriffe
in die Freiheit der Person grundsätzlich auch zum Schutz des
Betroffenen vor sich selbst denkbar.
15
Hierbei seien die tatsäch-
lichen Möglichkeiten des Einzelnen, sich frei zu entschließen,
zu beachten. Wenn die Fähigkeit zur Selbstbestimmung z.B.
durch psychische Erkrankung eingeschränkt sei, sei dem Staat
,,...fürsorgerisches Eingreifen auch dort erlaubt, wo beim Ge-
sunden Halt geboten ist". Ausdrücklich betont das Bundesver-
fassungsgericht aber auch, dass in weniger gewichtigen Fällen
eine Einschränkung der Freiheit der Person unterbleiben muss,
dem psychisch Kranken somit in gewissen Grenzen eine ,,Frei-
heit zur Krankheit" belassen bleibt. Oder anders formuliert: Die
Rechtmäßigkeit eines mit einer Freiheitsentziehung verbunde-
nen fürsorgerischen Eingreifens des Staates setzt voraus, dass
die Selbstbestimmung krankheitsbedingt gestört ist.
16
Eingriffe
in die Handlungsfreiheit einer Person, die ihrem Wohl dienen
sollen, aber gegen oder ohne ihren Willen erfolgen, werden als
Paternalismus bezeichnet.
17
Auch bei der Durchführung von freiheitsentziehenden Maß-
nahmen in Pflegeeinrichtungen handelt es sich um eine Aus-
prägung von Paternalismus. In der Regel sind die betroffenen
pflegebedürftigen Menschen in der Ausübung ihres Selbstbe-
stimmungsrechts durch psychische oder immer häufiger auftre-
tende dementielle Erkrankungen wie z.B. Alzheimer einge-
schränkt. Begleiterscheinungen dementieller Erkrankungen sind
unter anderem Unruhezustände, Schlafstörungen durch nächt-
15
BVerfG, Urteil vom 07.10.1981, 2 BvR 1194/80, BVerfGE 58, 208.
16
Hillgruber, Der Schutz des Menschen, S.72.
17
Fateh-Moghadam, in Fateh-Moghadam / Sellmaier / Vossenkuhl, S. 22.
7

liches Umherlaufen sowie ein rastloser Bewegungsdrang.
18
Die
Unruhezustände können zu nicht ausreichender Nahrungs- und
Flüssigkeitsversorgung führen, das (nächtliche) Umherlaufen
und der Bewegungsdrang zu einem hohen Sturzrisiko. Durch
das Fixieren von Pflegebedürftigen bei den Mahlzeiten kann die
Nahrungs- und Flüssigkeitsversorgung verbessert werden, das
Hochziehen der Bettgitter oder das Festgurten von Betroffenen
im Pflegebett ermöglichen es, den beschriebenen Sturzrisiken
zumindest vordergründig zu begegnen. Aber rechtfertigt z.B.
ein hohes Sturzrisiko einen so weitreichenden Eingriff wie das
Festgurten im Pflegebett? Könnte man mit den Worten des
Bundesverfassungsgerichtes nicht auch von einer ,,Freiheit zum
Sturz" sprechen? Oder von einer ,,Freiheit zur Mangelernäh-
rung"? Die Abwägung der betroffenen Grundrechte ist in jedem
Einzelfall zu prüfen. Es erscheint zweifelhaft, ob sämtliche bei
rund 20 % aller Pflegeheimbewohner in Deutschland ange-
wandten freiheitsentziehenden Maßnahmen einer solchen
grundrechtlichen Abwägung Stand halten würden.
II. Voraussetzungen der Freiheitsentziehung
1. Die Einwilligung des Betroffenen
Eine freiheitsentziehende Maßnahme liegt nur dann vor, wenn
die Freiheitsentziehung ohne Einverständnis oder gegen den
Willen des Betroffenen durchgeführt wird.
19
Zudem muss die
Einschränkung der Bewegungsfreiheit Zweck der Maßnahme
sein und darf nicht nur eine Nebenwirkung wie z.B. das Eingip-
sen von Körperteilen nach Frakturen im Rahmen einer ärztli-
chen Behandlung sein.
20
Ferner handelt es sich nicht um eine
freiheitsentziehende Maßnahme, wenn sich der Betroffene auf-
grund körperlicher Gebrechen ohnehin nicht mehr fortbewegen
kann oder wenn er wegen geistiger Einschränkungen nicht
18
Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
e.V.(MDS), Grundsatzstellungnahme: Pflege und Betreuung von
Menschen mit Demenz in stationären Einrichtungen, S. 39.
19
Diederichsen, in: Palandt, § 1906 Rn. 8.
20
Heitmann, in: Kaiser / Schnitzler / Friederici, § 1906 Rn. 50.
8

mehr in der Lage ist, einen Willen im Hinblick auf seine Fortbe-
wegung zu entwickeln bzw. durchzusetzen.
21
Darunter fallen
beispielsweise Pflegeheimbewohner, bei denen nachts die
Bettgitter hochgezogen werden, weil die Gefahr besteht, dass
sie sich durch unwillkürliche, reflexartige Bewegungen verletzen
oder im Schlaf aus dem Bett fallen. Eine freiheitsentziehende
Maßnahme mit dem Einverständnis des Betroffenen ist recht-
lich unproblematisch. Der sich aus dem Grundgesetz ergeben-
de Grundsatz der Selbstbestimmung lässt auch die Einwilligung
in Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu. Voraussetzung
für eine wirksame Einwilligung ist aber, dass der Betroffene
Einsicht in die Tragweite und Bedeutung seiner Zustimmung
besitzt. Diese Fähigkeit ist nicht gleichzusetzen mit der Ge-
schäftsfähigkeit.
22
Auch wer nicht mehr voll geschäftsfähig ist,
kann dennoch einsichtsfähig sein. Aufgrund der zunehmenden
Anzahl dementiell erkrankter Menschen fehlt es häufig an die-
ser Einsichtsfähigkeit. Für eine wirksame Einwilligung ist ferner
Voraussetzung, dass der Betroffene hinreichend über die Art
und Weise der Maßnahme aufgeklärt wurde, also ein ,,Informed
Consent" hergestellt wurde.
23
Zur Aufklärung gehören neben
einer ausführlichen Darstellung, warum die Maßnahme ergriffen
werden soll, auch die Erläuterung von Risiken und Alternativen.
Nach der Aufklärung hat eine Beurteilung zu erfolgen, ob der
Betroffene Wesen und Tragweite der Maßnahme erfasst hat
und in der Lage ist, seinen Willen nach diesem Wissen auszu-
richten.
24
Diese Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit ist im
Alltag der Pflegeeinrichtungen schwierig.
21
Diederichsen, in: Palandt, § 1906 Rn. 8.
22
Diederichsen, in: Palandt, § 1906 Rn. 8.
23
Hoffmann/Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, S. 15.
24
Hoffmann/Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, S. 15.
9

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783956845406
ISBN (Paperback)
9783956840401
Dateigröße
739 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Pflegeeinrichtung Stationäre Pflege Fürsorge Grundrecht Freiheitsentziehung
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