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Ein gelingender Alltag als Ziel: Sexualität im Kontext geistiger Beeinträchtigung

©2010 Bachelorarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

Viele Arbeiten zum Thema der Sexualität geistig beeinträchtigter Menschen wurden in den letzten Jahren veröffentlicht. Sowohl Medien als auch Gesellschaft haben sich in Richtung einer größeren Offenheit im Umgang hiermit bewegt und die lange Zeit andauernde Tabuisierung allmählich aufgebrochen. Dennoch zeigt, dass sich die Zahl der Publikationen zu den über die Grundthematik hinausgehenden Bereichen der Alltagsgestaltung, Aufklärung, Ehe und Elternschaft sehr begrenzt darstellte.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Schlüsselbegriffen „Beeinträchtigung“ und „geistige Beeinträchtigung“ sowie „Sexualität“ statt. Beschrieben werden in diesem Konnex sowohl der Terminus selbst als auch der sexuelle Reifeprozess von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Ein besonderes Augenmerk wird zusätzlich auf die Konsequenzen der Beeinträchtigung für die körperliche und psychosoziale Entwicklung gelegt. Ängste werden hier eine zentrale Rolle spielen. Mit ihnen sehen sich beeinträchtigte Menschen immer dann konfrontiert, wenn sie ein unbeschwertes Ausleben ihrer Sexualität anstreben. Ein zusätzliches Augenmerk wird auf wesentliche Handlungsfelder des Sonderpädagogen in diesem Zusammenhang gelegt. Die besondere Bedeutung der Aufklärungsfunktion soll erörtert werden sowie Problemfelder im Zusammenhang mit Partnerschaft inklusive Schwangerschaft und Elternschaft für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und die sogenannte „beschützte Ehe“ im Mittelpunkt stehen. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einer Betrachtung der sonderpädagogischen Handlungsfelder und Ausführungen zur praktischen Alltagsgestaltung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und dem Ausleben ihrer Sexualität. Dabei wird der Fokus vor allem darauf liegen, die Bedeutung des Sonderpädagogen hinsichtlich der Gestaltung eines gelingenden Alltags mit selbstbestimmter Sexualität für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen zu zeigen. Den Diskussionsrahmen bilden die eigenen und die institutionellen Grenzen. Letztlich soll deutlich werden, worin konkret die Grenzen und Chancen der diesbezüglichen sonderpädagogischen Interventionsmöglichkeiten liegen, die in einem kurzen Ausblick und Fazit bewertet werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung und Hinführung zum Thema

Das Thema Sexualität von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ist stark von Vorurteilen und Klischees geprägt. Derartige Stereotypen, wie beispielsweise die Ansicht, sie seien nicht in der Lage, ihre Sexualität zu kontrollieren und könnten zu einer Gefahr für andere Menschen werden, sind allgemein verbreitet und beeinflussen unser Verhalten und unsere Gefühle sehr tiefgreifend. Meist wird die Sexualität von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung negiert. Das heißt, sie werden nicht als ganzheitliche Persönlichkeiten betrachtet und mit all ihren Bedürfnissen akzeptiert, sondern in gedankliche „Schubladen“ gesteckt und mit Etiketten versehen. Es handelt sich hierbei um Vorgänge der Diskriminierung, insbesondere aufgrund der ihnen inhärenten Eigenschaft, die Betroffenen unmittelbar zu berühren und die Entwicklungsfähigkeit eines Menschen entscheidend zu hemmen. Liebe, Partnerschaft und Sexualität spielen im Leben eines jeden Menschen eine bedeutsame Rolle und sind in ihrer Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung und –reifung nicht zu unterschätzen. Der körperliche Aspekt stellt in diesem Zusammenhang ein nicht nur von Jugendlichen und Erwachsenen, sondern auch von Kindern gehegtes existenzielles Grundbedürfnis dar und sollte in einem Grundrecht auf individuelles Ausleben sowie Ausschluss von Benachteiligung seinen Niederschlag finden. Jedoch ergibt sich bei näherem Hinsehen oftmals die Erkenntnis, dass die Realität anders aussieht und Menschen mit Beeinträchtigung bei der Verwirklichung ihrer sexuellen Wünsche und Vorstellungen im Gegensatz zu ihren nichtbeeinträchtigten Zeitgenossen rasch an ihre Grenzen stoßen. Auch nach umfangreichen Veränderungsprozessen mit einhergehender Enttabuisierung und der Ausbildung einer neuen Geisteshaltung bezüglich der Thematiken Sexualität und Partnerschaft, ist in der Gesellschaft nach wie vor eine latente Angst vor der Verbindung ebendieser Sujets mit Menschen mit Beeinträchtigung spürbar.

Ihre Wurzel ist in der Auffassung vieler Eltern von Kindern mit Beeinträchtigung zu suchen, Partnerschaften oder gar sexuelle Bedürfnisse seien für ihre Zöglinge passé.

Deren Sexualleben gilt gemeinhin als anomal, fremdartig, störend und fehlentwickelt.

Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der problembehaftete Umgang mit der Sexualität von geistig beeinträchtigten Menschen nicht bei den Betroffenen selbst zu suchen ist, sondern in ihrem Umfeld, namentlich bei den Eltern, Erziehern und Betreuern.

1.1. Entwicklung der Fragestellung

Viele Arbeiten zum Thema der Sexualität geistig beeinträchtigter Menschen wurden in den letzten Jahren veröffentlicht. Sowohl Medien als auch Gesellschaft haben sich in Richtung einer größeren Offenheit im Umgang hiermit bewegt und die lange Zeit andauernde Tabuisierung allmählich aufgebrochen. Dennoch zeigte sich im Verlaufe meiner Recherchen, dass sich die Zahl der Publikationen zu den über die Grundthematik hinausgehenden Bereiche der Alltagsgestaltung, Aufklärung, Ehe und Elternschaft sehr begrenzt darstellte, mit Ausnahme einzelner Fallbeschreibungen im Kontext von Sterilisationsfragen und deren ethischer wie rechtlicher Bewertung.

Das Gros der Autoren weist eine Auseinandersetzung mit der Materie, möglichen Zweifeln und strittigen Aspekten von sich. Beispielsweise ist das Recht geistig beeinträchtigter Menschen auf Elternschaft eine in den verschiedenen Professionskreisen kontrovers diskutierte Crux und der Part der Befürworter zahlenmäßig eher gering. Wesentlich häufiger anzutreffen sind ablehnende Aussagen, die pädagogische, psychologische oder auch juristische Begründungen anführen.

Allerdings sollte man geistig beeinträchtigte Eltern oder potenzielle Eltern nicht kategorisch vom Zusammenleben mit ihren tatsächlichen oder möglichen Kindern ausschließen, denn: „Wer Sexualität als Grundrecht für geistig behinderte Menschen deklariert, kann dessen selbstverständliche Umsetzung […] nicht verhindern“ (WALTER 2001: 38). Es kann von einem Recht auf das eigene Kind gesprochen werden. Dieses ist und bleibt ein selbstverständliches Menschenrecht – auch für geistig beeinträchtigte Menschen (vgl. ebd.).

Werte wie Verbundenheit, Hingabe, Zärtlichkeit, Leidenschaft und Nähe sind für beeinträchtigte wie für nichtbeeinträchtigte Menschen gleichermaßen bedeutsam.

Die Sprache der Liebe, sich „Liebe schenken“ und sich „Liebe schenken lassen“, ermöglicht aber gerade Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ein einzigartiges und ganzheitliches „Sich-mitteilen“ und „Sich-einander-erschlieβen“ (vgl. MOLINSKI 2002: 92f.). Ihnen ist es durch das Fehlen kognitiver Fähigkeiten oftmals verwehrt, nahestehenden Personen ihre Zuneigung verbal zu vermitteln, sodass sie stattdessen verstärkt mithilfe ihres Körpers kommunizieren, sich mitteilen und ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. Dies erklärt den hohen Stellenwert von Sexualität in ihrem Leben.

Man versteht heutzutage unter Sexualität nicht nur den genitalen Aspekt. Sexualität meint auch, Kontakt zu anderen zu haben, Beziehungen zu leben, Liebe zu erleben, indem man empfängt und gibt. Unter Sexualität versteht man zwischenmenschliche Kommunikation, den physischen und psychischen Reifeprozess einer Person und auch das Gefühl, Mann oder Frau zu sein, mit allen Gedanken und Handlungen, die dazu gehören. An dieser Stelle kommt der Pädagoge ins Spiel. Ich halte es für eine der wesentlichen Aufgaben eines Sonderpädagogen, geistig beeinträchtigte Menschen im Alltag beim Ausleben und Erleben der eigenen Sexualität zu unterstützen. Es gilt, das Sexualleben in den Alltag zu integrieren und die Sexualität so zu einem Bestandteil des Alltags wie auch des Lebens werden zu lassen – ebenso wie bei Menschen ohne geistige Beeinträchtigung.

1.2. Methodische Vorgehensweise und Abgrenzung

Ich bin mir durchaus bewusst, dass mit nur einer Bachelorarbeit kein kompletter Prozess des Umdenkens und der Veränderung initiiert werde kann. Dennoch halte ich die Problematisierung dieser Thematik für unerlässlich. Aufklärung, Elternschaft und Kinderwunsch sowie Alltagsgestaltung sind Gegenstände, mit denen sich im Verlauf der Arbeit befasst wird.

Die Lebensgestaltungsbedingungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung haben in den letzten Jahren eine deutliche Verbesserung und Ausdifferenzierung erfahren. Nichtsdestotrotz erscheint es mir als notwendig, das Sujet der Sexualität in Verbindung mit geistiger Beeinträchtigung als Ganzes zu betrachten und auch die naturgegebenen Folgen wie Schwangerschaft und Elternschaft nicht außer Acht zu lassen.

Dazu möchte ich im Folgenden den theoretischen Unterbau meiner Herangehensweise erläutern - die Theorie des „gelingenderen Alltags“ von Hans Thiersch (vgl. THIERSCH 1978 und 1986).

Nach der Vorstellung ebendieser Theorie folgt im zweiten Kapitel eine Auseinandersetzung mit den Schlüsselbegriffen „Beeinträchtigung“ und „geistige Beeinträchtigung“. Einer definitorischen Annäherung an den Beeinträchtigungsbegriff schließt sich eine genauere Betrachtung der geistigen Beeinträchtigung an, wodurch eine begriffliche Basis für das Folgende geschaffen wird.

Im weiteren Verlauf findet eine Auseinandersetzung mit dem Schlüsselbegriff der „Sexualität“ statt. Beschrieben werden in diesem Konnex sowohl der Terminus selbst als auch der sexuelle Reifeprozess von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Ein besonderes Augenmerk wird zusätzlich auf die Konsequenzen der Beeinträchtigung für die körperliche und psychosoziale Entwicklung gelegt. Ängste werden hier eine zentrale Rolle spielen. Mit ihnen sehen sich beeinträchtigte Menschen immer dann konfrontiert, wenn sie ein unbeschwertes Ausleben ihrer Sexualität anstreben.

Ein zusätzliches Augenmerk werde ich auf wesentliche Handlungsfelder des Sonderpädagogen in diesem Zusammenhang richten. Die besondere Bedeutung der Aufklärungsfunktion soll erörtert werden sowie Problemfelder im Zusammenhang mit Partnerschaft inklusive Schwangerschaft und Elternschaft für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und die sogenannte „beschützte Ehe“ im Mittelpunkt stehen.

Abschließen möchte ich die Arbeit mit einer Betrachtung der sonderpädagogischen Handlungsfelder sowie Ausführungen zur praktischen Alltagsgestaltung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und dem Ausleben ihrer Sexualität. Dabei kommt es mir besonders darauf an, die Bedeutung des Sonderpädagogen hinsichtlich der Gestaltung eines gelingenden Alltags mit selbstbestimmter Sexualität für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen deutlich zu machen. Den Diskussionsrahmen bilden die eigenen und die institutionellen Grenzen. Letztlich soll deutlich werden, worin konkret die Grenzen und Chancen der diesbezüglichen sonderpädagogischen Interventionsmöglichkeiten liegen, die in einem kurzen Ausblick und Fazit bewertet werden.

1.3. Die Alltagstheorie von Hans Thiersch

Das Alltagskonzept von Thiersch ist u.a. von ihm selbst als auch von Grunwald entwickelt worden (vgl. THIERSCH 1986 sowie GRUNWALD et al. 1996). Demnach soll eine weit gefasste pädagogische Intervention bzw. pädagogisches Handeln in seiner primären Aufgabe dazu beitragen, den Adressaten zu einem „gelingenderen Alltag“ (vgl. THIERSCH 1992) zu verhelfen, sie also bei der Bewältigung und der stückweisen Verbesserung ihres Alltages zu unterstützen. Die Hauptinhalte einer solchen alltagsorientierten pädagogischen Arbeit lauten wie folgt:

- Der Ansatz der Arbeit soll dort greifen, wo die Probleme entstehen, weil nur so ein Verstehen der Situation möglich wird. Es sollen auf diese Weise die in der Alltäglichkeit gegebenen Chancen einer komplexen, betroffenen Handlungsorientierung genutzt und Räume geschaffen werden, in denen sich qualifiziertes Handeln entfalten kann.
- Ziel der Arbeit ist, wie ausgeführt, ein „gelingenderer Alltag“ (THIERSCH 1992: 27). Damit ist gemeint, dass es für den Betroffenen stets ein Stückchen vorangeht. Pädagogen sehen sich vor die Aufgabe gestellt, immer wieder zu motivieren, die Adressaten ihrer Arbeit zu ermuntern, Engagement zu zeigen und auch bei Frustrationen nicht aufzugeben. Ziel ist es, das ganze Subjekt und dessen Alltag zu erreichen.
- Die kritische Selbstreflexion des Pädagogen - über die eigene Funktion und die eigene Arbeitsweise - ist dabei essenziell. Man muss sich der besonderen Grenzen der Alltäglichkeit bewusst sein.

Thiersch öffnet mit dieser Theorie einen kritischen Reflexionsrahmen für die Sozialpädagogik und angrenzende helfende pädagogische Disziplinen, wie die Heil- und Sonderpädagogik. Eine solche alltagsorientierte pädagogische Arbeit versucht mit einem kritischen Alltagskonzept als Hintergrund ein Verknüpfen der Stärken einer institutionalisierten und professionalisierten Arbeitsweise mit dem Bewusstsein von der Struktur und den Bedürfnissen des Alltags der Betroffenen. Die wichtigste Methode auf dem Weg zur Zielerreichung ist eine beständige wechselseitige Kritik der institutionalisierten und professionalisierten Möglichkeiten und dem Alltag in der Person der in ihm Lebenden (vgl. THIERSCH 1986: 48f.). Die pädagogisch Handelnden sollen mit diesem Theorieansatz aufgefordert werden, am Boden zu bleiben, beim Alltag zu bleiben, denn ihr Wirken umfasst ebendiesen Alltag (vgl. ebd.).

1.4. Die Grenzen und Nachteile dieses Ansatzes

Zu fragen bleibt, worin dieser alltagsorientierte Ansatz seine Grenzen hat und worin seine Nachteile liegen.

Auch hierzu hat Thiersch Überlegungen angestellt, die im Folgenden referiert werden.

Zum einen liegen die Grenzen sicherlich in der Unübersichtlichkeit des Alltags. Pädagogen oder Sozialarbeiter müssen aus verschiedenen Aussagen zum Alltag der jeweiligen Person ein Gesamtbild entwickeln können. Hiermit ist oftmals ein hoher Zeitaufwand verbunden.

Dem Pädagogen muss zudem trotz der geforderten starken Vertrautheit mit dem Alltag der Klienten eines bewusst sein: Er kann und soll zwar immer den Menschen bejahen, sich aber mit den Taten, den Problemen nie identifizieren. Die Trennung sollte er zu seinem Selbstschutz etablieren, zumal das Eindringen in den Alltag der Betroffenen nicht eine Annahme dieses Alltags mit all seinen Konsequenzen zur Folge haben darf. Dies ist eine sehr bedeutende Grenze des Konzeptes einer alltagsorientierten Sozialarbeit, denn sie engt die von Thiersch geforderte Alltagsorientierung stark ein.

Weiterhin steht eine sich dem Alltag zu weit öffnende Pädagogik in der Gefahr, ihre spezifischen, institutionellen und professionellen Ressourcen zu verspielen und nicht zur Arbeit an einem „gelingenderen Alltag“ beizutragen.

Zusätzlich besteht das Problem, dass der Verzicht auf methodisches Handeln und auf Reflexion aufgrund des Wirkens an zu vielen Anknüpfungspunkten und Zielsetzungen gleichzeitig Ineffektivität zeitigen kann. Das Aufgeben professionellen Selbstbewusstseins kann für den Pädagogen bedeuten, sich in schwierige und schwer auszuhandelnde Konkurrenz zu Betroffenen oder Ehrenamtlichen zu begeben.

Außerdem kann auch vorkommen, dass der Pädagoge die Chancen von Distanz und Provokation nicht nutzt. Ein Einlassen in den Alltag des Adressaten macht es erforderlich, von diesem angenommen und akzeptiert zu werden. Er möchte sein, was er nicht ist – ein Mensch im Alltag wie jeder – und traut sich nicht zu, das zu praktizieren, was seinem Können und den Umständen entspricht. Somit wird sein Handeln selbst und in der Folge die ganze Situation undefiniert, undeutlich und belastend in einem (vgl. ebd.). Thiersch schreibt hierzu:

„Intimität und Intensität alltagsorientierter Sozialarbeit wird zum Agent totaler Kontrolle, wenn sie sich nicht selbst, im Wissen um ihr machtbesetztes institutionell-professionelles Anderssein, begrenzt, zurückhält, raushält“ (ebd.: 48).

Jedoch formulieren auch andere Autoren Kritik und sehen Schwachpunkte im alltagsorientierten Ansatz. Beispielsweise setzt Schulzes Kritik (vgl. SCHULZE 1996) bereits bei der Semantik des Alltagsbegriffes an, da dieser im Kontext der Umgangssprache natürlich anders gebraucht wird als im pädagogisch-soziologischen Kontext. Alltag beschreibt für ihn eher eine Struktur als eine Intention. Es gibt nämlich keine Verbform, die eine alltagsbezogene Tätigkeit bzw. keine Substantivierung, die eine hiermit in Beziehung stehende Berufsbezeichnung ausdrückt, also nicht etwa: „Ich alltägliche“ (ebd.: 72) oder „die Alltäglicherin“ (ebd.). Schulzes Beanstandung gilt darüber hinaus dem Umstand, dass der Alltagsbegriff zwar durchaus konkret und unmittelbar verständlich scheint, aber bei genauem Hinsehen gerade gegenüber dieser Selbstverständlichkeit Vorsicht geboten ist. Der Alltagsbegriff tendiert zur Reduktion, indem er andere - vielleicht bessere Lebensmöglichkeiten - durch seine Selbstverständlichkeit überdeckt. „Er lenkt den Blick auf das Zum-Überleben-Notwendige, auf die zuverlässige Grundlage für weiterreichende Aktivitäten, Wünsche und Unternehmungen und das heißt: auf elementare Bedürfnisse“ (ebd.). Schulze resümiert, dass Alltag zum Gegenbegriff wird, der von vornherein eine kritische Betrachtungsweise erfordert. Er wird dialektisch aufgeladen und damit zwielichtig: „Er meint etwas und meint das Gegenteil“ (ebd.). Alltag wird mit einem moralischen Anspruch ausgestattet und zur Aufgabe stilisiert. Befangenheit und Äußerungen ohne deutliche inhaltliche Benennungen resultieren.

Abschließend legt Schulze das Statische des Alltagsbegriffs, genauer, die Tatsache, dass er einen Zustand und nicht eine Entwicklung beschreibt, dar. Es sind zwar durchaus Entwicklungen und Entwicklungsansätze innerhalb und mit ihm denkbar, diese müssen aber immer hinzugedacht werden. Summa summarum ist der Alltagsbegriff laut Schulze einfach zu schlicht, um ihm ohne Hinzusetzen anderer Elemente seine Bedeutung und seine theoretischen Implikationen anzumerken.

1.5. Das Dennoch einer alltagsorientierten Annäherung

Als Fazit lässt sich Folgendes diagnostizieren: Hans Thiersch liefert mit seiner theoretischen Annäherung an die Sozialarbeit eine Struktur derselbigen. Seine theoretischen Konstruktionen bedürfen allerdings einer Adaptation durch die Praxis. So betont Liebau die Universalität des Ansatzes und bezeichnet es als „ein vorpädagogisches, wenn man so will, ein philosophisches oder auch politisches Konzept“, das, „um pädagogisch fruchtbar zu werden, in jedem Fall der Konkretisierung bedarf“ (LIEBAU 1996: 121ff).

Es ergibt sich eine Vielzahl von Zugangsmöglichkeiten. Die genaue professionelle Ausgestaltung, das „Wie“, lässt Thiersch offen, sagt aber, dass eine alltags- und lebensweltorientierte pädagogische Arbeit durchaus einen professionellen Unterbau besitzt. Noch zu Lebzeiten wurde sein Ansatz zum – u.a. von Engelke (vgl. ENGELKE 1999: 325-328) so bezeichneten – Klassiker. Er öffnet einen weiten Fokus hinsichtlich der Rekonstruktion heil- und sonderpädagogischer Elemente in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.

Trotz der aufgezeigten Nachteile und Schwierigkeiten halte ich diesen Theorieansatz aus folgenden Gründen für die Herangehensweise an die vorliegende Arbeit für geeignet: Wo sonst, wenn nicht in der alltäglichen Lebenssituation der Adressaten helfender und unterstützender pädagogischer Intervention, kann man deren Erfolg ableiten? Das trifft vor allem für einen derart ungenauen und komplexen Gegenstand zu, wie es die Sexualität von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ist.

Ein Insistieren auf einer alltagsorientierten Betrachtung öffnet einen Rahmen der professionellen Ausgestaltung, der für die Klärung sich aufdrängender Fragen notwendig ist, die unter anderem wie folgt lauten: Warum können wir nicht einfach geistig beeinträchtigte Menschen und ihre dazugehörige Sexualität als Bestandteil deren Alltags akzeptieren? Ist die kausale Verknüpfung darin zu suchen, dass diese „andersartige“ Sexualität nicht unserer Norm entspricht oder darin, dass wir unsere eigenen Ängste auf die beeinträchtigte Person projizieren?

Die Anmerkungen von Liebau zu Thierschs Ansatz befürworten die Vorgehensweise, den Inhalt der vorliegenden Arbeit auf Thierschs Gedanken aufzubauen:

„Gelingender oder auch nur gelingenderer Alltag (...). Das Konzept ist, jedenfalls dem Ansatz nach, universell; es schließt niemanden aus. Alle Menschen, große und kleine, sind hier gemeint. Dementsprechend ist es auf die unterschiedlichsten Praxisfelder beziehbar (...). Das ist einerseits eine Stärke, andererseits aber vielleicht auch eine Schwäche des Konzeptes: es ist zunächst einmal nicht spezialisiert (...)“ (LIEBAU 1996: 12).

Außerdem verweist Liebau darauf, dass das Konzept einen allgemeinen Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen bietet, der die Aufmerksamkeit des Pädagogen lenkt. Ebenso beinhaltet es eine allgemeine Perspektive, bedarf aber, wie zuvor erläutert, in jedem Fall der Konkretisierung. Und eben eine solche Konkretisierung, in der zum Ausdruck kommen soll, dass der Eigensinn der darin enthaltenen Praxis durch Wissenschaft nicht entwertet werden darf, soll im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigt werden.

Der weite, hier zugrunde gelegte Begriff von Pädagogik wird benötigt, um alle Erscheinungsformen derselbigen erfassen zu können. So können in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung die relevanten Handlungsfelder identifiziert werden.

Abschließend und zusammenfassend versucht eine am Alltag ihrer Klientel orientierte Sonder- und Sozialpädagogik, Probleme stets in der Komplexität des Alltags der Betroffenen zu lösen. Der professionell handelnde Pädagoge sieht und akzeptiert vorhandene Erfahrungen, Interpretationen, Lösungsstrategien und Möglichkeiten. Dabei nimmt er keine Beschränkungen hinsichtlich Alter, Geschlecht oder Lebensumständen bzw. sozialen Bezügen der Adressaten vor, sondern besitzt vielmehr im Sinne des alltagsorientierten Ansatzes die Professionalität, den Alltag „stellvertretend zu deuten“ (vgl. OEVERMANN 1983: 141f., vgl. DEWE 1988: 256), um die hieraus gewonnenen Erkenntnisse wieder in den Alltag zurückfließen zu lassen. Somit arbeitet er in Solidarität mit den Vorhaben und Möglichkeiten, die sich im Alltag der Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zeigen. Nicht zu vernachlässigen ist dabei das Erledigen auch einfachster Handreichungen durch den Pädagogen. Freundliches Auftreten und Menschenwürde als oberster Maßstab allen Tuns sind unabdingbare Voraussetzungen (vgl. BMFSFJ 1999: 23, vgl. ANTOR/ BLEIDICK 2000: 77-78).

2. Hauptteil

2.1 Versuch einer Definition geistiger Beeinträchtigung

Der Begriff „Beeinträchtigung“ bzw., je nach wissenschaftlicher Basis, „Behinderung“ ist ein komplexer, aus verschiedenen Teilbegriffen resultierender Terminus. Zu nennen sind:

- organische Schädigungen (Zentralnervensystem)
- individuelle Persönlichkeitsfaktoren und
- soziale Bedingungen und Einwirkungen.

Erst ein Zusammenwirken all dieser Teilfaktoren ergibt die Beeinträchtigung (vgl. SPECK 1970: 6). Es handelt sich um einen sehr allgemeinen Begriff, der als übergeordnete Kategorie für eine große Anzahl verschiedener Arten von Beeinträchtigung betrachtet werden kann. Zur Unterscheidung sind folgende Begriffe üblich:

- körperliche und motorische Beeinträchtigungen
- Sinnesbeeinträchtigungen
- geistige Beeinträchtigungen
- sprachliche Beeinträchtigungen
- Lernbeeinträchtigungen
- Verhaltensauffälligkeiten bzw. Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung
- Schwerst- bzw. Mehrfachbeeinträchtigungen.

Eine weitere, spezifierende Unterteilung führt zur Schwierigkeit der Definitionsfindung. Pädagogische, juristische, soziologische und medizinische Fachrichtungen setzen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zweckdienlichkeiten jeweils differierende Akzente (vgl. TRÖSTER 1990: 12ff.).

2.1.1 Der Begriff der Beeinträchtigung nach der World Health Organisation (WHO)

Die World Health Organization (WHO) hat erstmals 1980 eine „Internationale Klassifikation der Schädigung, Behinderung und Beeinträchtigung“ (ICD) entwickelt und bei ihrer Definition von Behinderung eine Dreiteilung vorgeschlagen: „Impairment“, „Disability“ und „Handicap“:

Der Begriff des Handicap bedeutet: Benachteiligung. Gemeint sind Benachteiligungen auf einer sozialen Ebene. Sie werden durch die fehlende Fähigkeit einer Person zur Übernahme und Erfüllung bestimmter Rollen und Rollenerwartungen hervorgerufen.

Unter dem Begriff des Impairment versteht die WHO den Verlust von anatomischen, psychologischen sowie physiologischen Strukturen und Funktionen des Organismus (vgl. WHO 1980: 27).

Der Terminus des Disability bezeichnet eine Einschränkung auf der personalen Ebene, die aus Funktions- und Aktivitätseinschränkungen des beeinträchtigten Menschen resultiert (vgl. ebd.: 14).

Grundsätzlich strebt die WHO eine strikte Substitution des Begriffes „Behinderung“ durch den der „Schädigung“ an. Es liegt die Annahme zugrunde, dass ein Mensch mit Beeinträchtigungen erst durch gesellschaftliche Umstände und Nachteile „behindert“ wird. Dieser Auffassung möchte ich mich anschließen und versuchen, so oft wie möglich den Begriff der Behinderung durch den der Beeinträchtigung zu ersetzen (vgl. ebd.).

2.1.2 Definition und Klassifizierung geistiger Behinderungen und Beeinträchtigungen

Der Begriff des geistig beeinträchtigten oder „hirngeschädigten“ Menschen beinhaltet eine Vielzahl von unterschiedlichen Erscheinungsformen, Graden und Ursachen (vgl. vgl. u.a. FORNEFELD 2002: 52ff.). Es fällt schwer, bestimmte Klassifizierungen vorzunehmen. Die physischen Beeinträchtigungen eines Menschen sind meist Ergebnis angeborener Stoffwechselerkrankungen oder genetischer Defekte. Eine isolierte Betrachtung einzelner Beeinträchtigungen ist hier nicht angebracht. Viele der physischen als auch psychischen Faktoren bedingen einander, und es tritt eine Vielzahl von Wechselwirkungen auf. Die Beeinträchtigungen im psychischen bzw. psychologischen Bereich sind laut Morgenstern auf eine „unzureichende Ichstärke, Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt, Milieuschädigung, geistige Unbeweglichkeit und mangelndes Selbstbewusstsein“ (MORGENSTERN 1975: 20) zurückzuführen. Selbstverständlich kann dabei von sonderpädagogischer Seite nicht allen Störungen und Beeinträchtigungen in gleicher Art und Weise begegnet werden. Zudem spielt natürlich das jeweilige Individuum immer eine große Rolle. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Meinung durchgesetzt, dass eine geistige Beeinträchtigung nicht unbedingt immer nur als ein Defizit eines Menschen angesehen werden sollte, sondern stattdessen als eine spezielle Lebensform. Die Sicht auf die beeinträchtigte Entwicklungsfähigkeit einer Person löst den zuvor im Mittelpunkt stehenden physischen oder psychischen Defekt ab (vgl. JANTZEN 1992: 333).

Feuser ist einer der Autoren und Wissenschaftler, die die Forderung vertreten, nicht mehr von „geistiger Behinderung“ zu sprechen. Die Bezeichnung als „Behinderter“ stellt für ihn eine gesellschaftliche Projektion dar:

„Es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als 'geistig-behindert' bezeichnen.(...)Die Aussage 'geistige Behinderung' ist eine auf einen anderen Menschen hin zur Wirkung kommende Aussage schlechthin" (FEUSER 1996: 18).

Träten allerdings die Vorstellung eines kompetenten Ichs an die Stelle der gesellschaftlichen Definition von Normalität und die daraus resultierenden Anforderungen an das Individuum, so verliere der Begriff der geistigen Behinderung seine Bedeutung:

„Was wir als 'Behinderung' fassen und an einem Menschen gering achten oder gar abqualifizieren, in der Regel aber als defizitär betrachten, ist Ausdruck einer Kompetenz“ (ebd.: 23).

Dem schließt sich auch Straßmeier an. Man könne nur von unterschiedlichen, sehr charaktervollen Individuen an sich sprechen, aber nicht von einer homogenen Gruppe. Gerade deshalb steht für ihn die Begrifflichkeit der geistigen Behinderung jeglicher heterogenen und individuellen Entwicklungsfähigkeit des Menschen entgegen (vgl. STRAßMEIER 2000: 57).

2.1.3 Die Sichtweise der Sonder- und Heilpädagogik

In der allgemeinen Pädagogik ist Behinderung üblicherweise kein Thema, solange sie sich nicht als eine „Störung der Bildsamkeit“ bemerkbar macht. Im Falle eines Auftretens von Defekten, wird die Zuständigkeit an die so genannte Sonder- bzw. Heilpädagogik übergeben. Es handelt sich hierbei um ein Teilgebiet der Pädagogik, das sich auf die Erziehung und Bildung von Menschen mit erschwerten Sozialisationsbedingungen spezialisiert hat und Maßnahmen in Theorie und Praxis durchführt, mit dem Ziel, den besonderen Erfordernissen Rechnung zu tragen (vgl. BLEIDICK 1983: 86). Bleidick, der meist zitierte deutsche Autor dieser Fachrichtung, hat Ende der 1960er Jahre den Behinderungsbegriff wie folgt definiert:

„Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft erschwert werden“ (BLEIDICK 1981: 9).

An der Aktualität dieser Definition hat sich bis heute nichts geändert.

In der Heil- und Sonderpädagogik und auch in der Psychologie wurde und wird der Mensch mit einer Beeinträchtigung wie eine Art „besonderer Mensch“ betrachtet. Seine Heilung, der Umgang mit ihm werden quasi therapeutisiert und jede Beschäftigung unter dem Begriff einer Therapie gesehen. Seine Betrachtung als Wesen im Ganzen, eingelassen in einen speziellen und ganz individuellen Alltag, findet eher selten statt. Marzahn bestätigt dies, indem er die zunehmende Forcierung des von ihm so genannten Expertentums negativ bewertet, zumal es einer „Enteignung sozialer Problemlösungskompetenz“ (MARZAHN, zitiert nach STEINER 1999: 7 f) gleichkomme und jedem Leitgedanken der Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigung entgegenstehe.

Die Weltgesundheitsorganisation spricht mit Blick auf das Übermaß an therapeutischen Aktivitäten und Spezialisierungen die Empfehlung einer neuen Ideologie aus - From cure to care. Dies beinhaltet den Übergang von der Behandlung der Krankheit (Behinderung) zur Sorge um die Gesundheit. Roser und Milani-Comparetti versuchen durch eine Abkehr von der reinen Betrachtung der Defekte eines Menschen einer ganzheitlichen Annäherung an seine Gesundheit als Ganzes Rechnung zu tragen. Dass dieses Modell einer „Medizin der Gesundheit“ in Wissenschaft und Gesellschaft einen langen und steinigen Weg des Verständnisses und der Akzeptanz gehen wird, ist dabei fast immanent (vgl. MILANI-COMPARETTI/ ROSER 1982: 78).

2.2 Die Bedeutung der geistigen Beeinträchtigung für die Sexualität

2.2.1 Zum Begriff der Sexualität

Sexualität als Begriff findet zum ersten Mal in der Botanik Erwähnung[1]. In seiner Ursprungsform bezog er sich ausschließlich auf die Funktion der Fortpflanzung. Einer der wesentlichen Gründe für die Ablehnung dieses Begriffs im Zusammenhang mit Menschen mit einer Beeinträchtigung liegt wohl in seiner immer noch vorherrschenden Beschränkung auf den genitalen Aspekt der Sexualität. Die Fachliteratur bietet unzählige Definitionsvorschläge. Im Zusammenhang mit geistiger Beeinträchtigung ist die Sichtweise des holländischen Mediziners Sporken anzuführen, der ein Drei-Stufen-Schema erstellt hat. Sexualität meint ihm zufolge:

1.) „das ganze Gebiet von Verhaltensweisen in den allgemein-menschlichen
Beziehungen
2.) [den] Mittelbereich von Zärtlichkeit, Sensualität, Erotik und
3.) [die] Genitalsexualität“ (SPORKEN 1974: 159; zit. nach WALTER 2002: 34).

Ihm zufolge unterliegt die Reihenfolge der Bereiche keiner Wertung. Sie gehen fließend ineinander über (vgl. KRENNER 2003: 11). Die dem Modell inhärente Schwierigkeit ist die der Vernachlässigung von Genitalsexualität bei Menschen mit Beeinträchtigung in der Annahme, die Gewährleistung der anderen beiden Bereiche sei ausreichend.

Die Sexualtherapeutin Offit beschreibt Sexualität umfassender und die oben erwähnte Einschränkung verhindernd als das, was von uns daraus gemacht wird. Sie ist bestrebt, aufzuzeigen, dass der Begriff der Sexualität ein individueller, subjektiv gelebter ist, der das Finden einer allgemeingültigen Definition nahezu unmöglich macht. Er reicht von Liebe, Entspannung, Rebellion, Frust und Freiheit bis hin zu Luxus und Zärtlichkeit. Manchmal ist er Machtmittel und manchmal einfach nur Mittel zum Zweck der Fortpflanzung (vgl. OFFIT 1979: 16; zit. nach WALTER 2002: 34f.).

Andere Autoren betonen ebenfalls sehr stark die Vielfältigkeit der Sexualität, wie zum Beispiel Friske. Für ihn spielt jedoch ganz besonders der physische Aspekt jeglicher Sexualität eine große Rolle. Nur über ihn erfahren wir die Emotionen und Gefühle, die Sexualität bietet (vgl. FRISKE 1995: 112).

Für Walter, einen der großen deutschen Sexualwissenschaftler, ist Sexualität auch immer eine Form der Kommunikation zwischen zwei Menschen. Durch sie würden Kontakt, Hingabe und Liebe erst möglich (vgl. WALTER 2002: 34). Er betont, dass bereits die Psychoanalyse Freuds den Begriff des Sexuellen sehr weit fasse und von einer Reduzierung auf den genitalen Sexualverkehr absehe.

Dieser psychoanalytischen Sichtweise möchte ich mich im Weiteren anschließen und ausführen, was demzufolge unter Sexualität verstanden wird.

Der Wiener Psychoanalytiker Siegmund Freud distanzierte sich schon zu Beginn dieses Jahrhunderts in seinem Aufsatz Über wilde Psychoanalyse (vgl. FREUD 1909) von einem stark umgrenzten Sexualverständnis:

„Der Begriff des Sexuellen umfasst in der Psychoanalyse weit mehr (...), wir rechnen zum 'Sexualleben' auch alle Betätigungen zärtlicher Gefühle (...). Wir sprechen darum lieber von Psychosexualität, legen so Wert darauf, dass man den seelischen Faktor des Sexuallebens nicht übersehe und nicht unterschätze. Wir gebrauchen das Wort Sexualität in demselben umfassenden Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort 'lieben'“ (ebd.: 120).

Freud richtet seinen Fokus auch auf die Tatsache, dass trotz regelmäßigen Geschlechtsverkehrs eine Vielzahl von seelischen Problematiken bestehen kann. Diese sind nicht einer fehlenden sexuellen Befriedigung, sondern anderen Triebkräften zuzuschreiben (vgl. ebd.: 120f.).

Die vorgestellte Überlegung ist für meine Fragestellung entscheidend. Sie fordert dazu auf, sich von einer zu starken Konzentration auf die rein sexuell-körperlichen Bedürfnisse des geistig beeinträchtigten Menschen zu lösen und Dinge wie Zärtlichkeit und Nähe in den Mittelpunkt zu stellen, was zu einem Bestreben weg von einer reinen Genitalfixierung führt. Aufgrund der durch die Behinderung gegebenen eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten ist die Bedeutung der Sexualität eine andere. So spielt der Aspekt der Fortpflanzung in der Regel seltener eine Rolle. Dahingegen erfährt die Sexualität hinsichtlich der Kommunikation eine neue Gewichtung. Da die verbale Kommunikationsebene Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung nicht in dem Maße offensteht wie anderen Menschen, „kommt der non-verbalen Kommunikation bzw. Körpersprache zur Äußerung von Gefühlen und Bedürfnissen ein relativ hoher Stellenwert zu“ (WALTER 1980: 48). Das heißt, aufgrund der eingeschränkten Kommunikation mit Worten äußern sie sich durch ihre Körpersprache, indem sie sich beispielsweise an Gesprächspartner schmiegen, sie zu streicheln versuchen oder ihre Hand nehmen. „Eine Beschneidung dieser Äußerungsform würde deshalb für Geistigbehinderte eine grundsätzliche Einschränkung zwischenmenschlicher Kommunikation und der Kompensationsmöglichkeit durch non-verbale Körpersprache gleichkommen“ (ebd.).

Abschließend lässt sich also festhalten: Sexualität beschränkt sich nicht nur auf die genitalen Bedürfnisse. Sie ist mehr. Sie ist ein nie endender Lernprozess, immer abhängig von der Kultur, der Umwelt und dem Individuum. Pädagogische Modellierung muss sich daher mit unterschiedlichen Erlebniswelten und einem ganz heterogenen Sexualwissen auseinandersetzen.

2.2.2 Die sexuelle Entwicklung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

In der Phase der Pubertät verändert sich der Körper eines Jugendlichen. Neben dem Wachstum der Gliedmaßen kommt es zur Produktion von Geschlechtshormonen. Dies führt zur Ausbildung der Geschlechtsmerkmale. So wachsen Genitalbereich und weibliche Brut, die Behaarung des Rumpfes setzt ein, und die Drüsenproduktion beginnt. Weitere, spezifisch männliche pubertäre Merkmale stellen das Wachstum des Kehlkopfes und der Stimmbruch dar. Der Höhepunkt der Entwicklung ist bei Mädchen mit dem Einsetzen der Regelblutung erreicht, bei Jungen mit der Samenproduktion. Nach Abschluss dieser ersten puberalen Phase folgt in der zweiten puberalen Phase die Ausbildung des deutlich geschlechtsspezifischeren Aussehens. Bei den Mädchen bilden sich die Brüste aus, die Hüften werden runder und das Becken breiter. „Die Ausdrucksbewegungen gewinnen an weiblicher Anmut“ (SENCKEL 2006: 84). Bei den Jungen endet der Stimmbruch, und die Stimme klingt männlicher, außerdem werden die Hüften schmaler und die Schultern breiter. Der Bart beginnt bei den heranwachsenden Männern zu sprießen. Des Weiteren verfeinern sich die Gesichtszüge beider Geschlechter (vgl. ebd.: 83f).

„Doch in erster Linie verursachen die Sexualhormone eine sexuelle Erregbarkeit, einen Triebdruck und sexuelle Gefühle von zuvor unbekannter Qualität. Der sexuelle Wunsch steigert sich zur Sehnsucht nach genitaler Befriedigung. Alle Veränderungen – besonders aber die sexuellen – als zur eigenen Person gehörig zu begreifen, zu lernen, mit ihnen umzugehen, und sie in das Identitätsgefühl einzubeziehen ist eine der Entwicklungsaufgaben des Jugendalters“ (ebd.: 84).

Während der Pubertät erleben Kinder und Jugendliche also eine Vielzahl von körperlichen und psychischen Veränderungen, Erschütterungen und Umbrüchen ihrer gesamten Wahrnehmung sowie ihres Verhaltens, die sich in kumulierter Form bis zu Krisen zuspitzen können. Die Entwicklungspsychologie betrachtet letztere jedoch weder als anomale noch als morbide, denaturierte Phänomene, sondern vielmehr als charakteristische, partiell gar psychische, auf das vorfindliche Milieu reagierende Verarbeitungsvorgänge der stattfindenden Entwicklungen.

Demnach sind eher angepasste und unauffällige Verhaltensweisen als potenzielles Warnsignal für eine pathologische Entwicklung näher zu begutachten, zumal hier wichtige Aufarbeitungen möglicherweise ausbleiben.

Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Beeinträchtigung durchlaufen in der Regel ähnliche Umstrukturierungsvorgänge wie ihre nichtbeeinträchtigten Altersgenossen. Ein Unterschied kann aus einer zeitlichen Verschiebung und einer verlangsamten Abfolge der einzelnen Entwicklungsschritte erwachsen (vgl. VERNOOIJ 2007: 400). Zudem erfolgt, resultierend aus der Benachteiligung, eine Verschiebung der Prämissen, insbesondere mit Blick auf das betreuende Personal, die von äußeren Einflüssen abgeschirmte Situation im Heim sowie im Elternhaus. Man traut beeinträchtigten Kindern nicht nur weniger zu, man erlaubt ihnen auch weniger. Ihre Chancen auf Selbstverwirklichung sind insofern im spielerischen Umgang mit Gleichaltrigen um ein Beträchtliches geringer und eingeschränkter. All das trägt in der Summe zu einer Verschärfung der Jugendkrise bei.

Ich möchte im Folgenden neun Aspekte einer speziellen krisenhaften Entwicklung bei jungen Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung ansprechen (vgl. WALTER 1985: 23ff.).

2.2.2.1 Die Diskrepanz zwischen Intelligenzalter und Sexualalter

Bisher spricht im Großen und Ganzen nichts dafür, dass der Reife- und Entwicklungsprozess von Personen mit einer geistigen Beeinträchtigung im Bereich der sexuellen Entwicklung durch diese Beeinträchtigung signifikant beeinflusst wird (vgl. KREBS 1992: 40ff.). Sexualalter und Lebensalter stimmen weitestgehend überein.

Ersteres umfasst die externe Darstellungsweise der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, nicht zwingend aber die Zeugungsfähigkeit. Eine gleichzeitige Einbeziehung des herkömmlichen Begriffs des Intelligenzalters macht ersichtlich, dass das entscheidende, die Pubertät von Jugendlichen mit einer geistigen Beeinträchtigung erschwerende Problem in erster Linie in der Diskrepanz zwischen den beiden Alterskategorien zu lokalisieren ist, zumal diese als psychische und soziale Reife zu umschreibende Kategorie

„[…] sich u.a. aus[zeichnet] durch: verantwortungsbewusstes Verhalten, kritisches Urteilsvermögen, Lockerung der gefühlsmäßigen Bindung an die Eltern, Aufbau eines eigenen Wertesystems.“ (VERNOOIJ 2007: 400).

Ebenso fallen darunter

„[...] gesellschaftliche Mündigkeit, erstrebte und langsame entwickelte finanzielle Unabhängigkeit, der Aufbau einer eigenen Existenz und damit die Möglichkeit der Familiengründung [...].“ (ebd.: 400).

Sowohl für nicht-beeinträchtigte als auch für beeinträchtigte Jugendliche stellt die zeitliche Abweichung in der Abfolge der körperlichen und geistigen Entwicklung ein massives Problem in der Pubertät dar. Nicht beeinträchtigte Jugendliche haben aber aufgrund vernünftiger Einsicht - mehr oder weniger stark - die Möglichkeit zur kompensatorischen Konfliktverarbeitung. Geistig beeinträchtigten Jugendlichen fällt es weitaus schwerer, ihre Gefühle zu erfassen und zu benennen, geschweige denn, diese emotional zu verarbeiten. Körperliche Veränderungen werden wahrgenommen, können aber nicht erklärt werden.

2.2.2.2 Kindliche Regression: Rückfall in kindliche Verhaltens- und Erlebensweisen

Ein Sprung nach vorne erfordert Anlaufnehmen.

Soziale, geistige und physische Prozesse der Entwicklung können ohne Zweifel als großer Sprung betrachtet werden. Das kindliche Ich nutzt alle psychischen Energien, um den permanenten Veränderungsprozess zu bewältigen. Hierbei wird auf bekannte Strategien zur Konfliktlösung zurückgegriffen. Jedoch kann es sein, dass frühere ungelöste Kindheitskonflikte aufbrechen und somit frühkindliche Bedürfnismuster wieder auf den Plan treten.

Viele Eltern beobachten bestürzt, dass ihr heranwachsendes, sich im Jugendlichenalter befindliches Kind ein stark provozierendes, ihre Erziehungsbemühungen scheinbar zunichte machendes Verhalten an den Tag legt. In diesem Zusammenhang sei auch die Neigung vieler Jugendlicher mit einer geistigen Beeinträchtigung erwähnt, obszöne Worte zu verwenden. In roher, vulgärer Sprache titulieren sie Bekannte, Eltern oder Lehrerinnen. Die Freude über den provozierten Schock ist groß, obwohl die Wortbedeutungen inhaltlich wohl kaum erfasst werden.

Der sich in Handeln und Sprechen äußernde Rückgriff auf frühkindliche Entwicklungsstufen ruft nicht selten jedoch zugleich Enttäuschungen und frustrierende Erlebnisse dieser Zeit wieder ins Gedächtnis. Zu nennen sind unter anderem die unterschwellig empfundene Ablehnung der Beeinträchtigung, oftmals erforderliche Klinikaufenthalte, Trennungen von der Familie, die Verzweiflung und Niedergeschlagenheit der engeren Verwandten. All dies wirkt sich erschwerend auf die Entwicklung eines Urvertrauens in der frühen Kindheit aus und kann auf die Pubertät übergreifen. Der beeinträchtigte Jugendliche reagiert mit Apathie, Aggression (vgl. SENCKEL 1996: 99), gering ausgebildeter Frustrations- und Ambiguitätstoleranz sowie einer gewissen Arroganz. Oft entsteht eine Eltern und Betreuer verletzende Versorgungsmentalität.

2.2.2.3 Krisen in der Identitätsbildung

Die Frage nach dem eigenen Ich bestimmt das Jugendalter. Beeinträchtigte Jugendliche erkennen zusätzlich, dass sie anders sind. Dieses nehmen sie war, erleben und verbinden es mit negativen Emotionen und Minderwertigkeitsgefühlen. Eine nicht geringe Zahl Jugendlicher mit einer geistigen Beeinträchtigung überrascht ihre Eltern mit bohrenden, aus Aussagen von Altersgenossen resultierenden Fragen zu ihrer Beeinträchtigung.

Für viele Erziehungsberechtigte ist dergleichen nur schwer zu ertragen, erinnert es doch an frühere Verletzungen. Vorhaltungen und Kritik aus dem Umfeld stellen eine zusätzliche Bürde dar.

Genau hier kann man jedoch das zentrale Problem eines jungen beeinträchtigten Menschen verorten. Er hat keine Möglichkeit, die Integration und Akzeptanz seiner Beeinträchtigung zu vollziehen, wenn Eltern und Betreuer ihrerseits die Bejahung seiner Beeinträchtigung nicht für sich selber beschlossen haben.

Es besteht berechtigter Grund zu der Annahme, dass auch Jugendliche mit schwereren Beeinträchtigungsformen die Problematik der Akzeptanz ihrer selbst, alle Defizite eingeschlossen, erspüren und leidvoll durchleben. Ihnen allen ist gemeinsam, größtenteils mit ihren Sorgen und Problemen allein gelassen zu werden. Gleiches gilt für die Eltern. Sie erfahren nur sehr selten seelsorgerische Hilfe und Unterstützung beim Umgang mit ihrem beeinträchtigten Kind.

Beeinträchtigte Jugendliche zeigen oft durch deviantes Verhalten, dass sie ihren nicht-beeinträchtigten Altersgenossen imponieren möchten. Es kommt zum Beispiel zu Diebstählen oder Exhibitionismus. Imponiergehabe - also ein völlig asexuelles Motiv - ist nicht selten Auslöser und soll dazu beitragen, das eigene Selbstwertgefühl aufzuwerten. Schmetz äußert sich hierzu wie folgt:

„Exhibitionistische Handlungen bei geistigbehinderten Jugendlichen oder Selbstbefriedigung in der Öffentlichkeit sind zumeist Ausdruck sozialer Kontaktsuche und der Suche nach Selbstwertbestätigung. Der behinderte Jugendliche erkennt mit zunehmendem Alter sein Anderssein“ (SCHMETZ 2001: 387).

Sexualtherapeuten deuten es als Rebellion gegen die Eltern oder auch als Hoffnung auf Anerkennung (vgl. u.a. GRUNST/ SURE 2006: 405; BLINKLE 1999, nach ORTLAND 2008: 77).

2.2.2.4 Die Akzeptanz des eigenen Körpers

Eng verbunden mit dem Problem der Akzeptanz des eigenen Köpers ist die Akzeptanz der eigenen Identität in Gestalt des äußeren Erscheinungsbilds. Bedenkt man das sich bereits bei nichtbeeinträchtigten Jugendlichen zeigende, große Interesse am eigenen Körper und die damit einhergehende Beschäftigung mit dessen Ausgestaltung, seinen Formen, den reifenden Geschlechtsmerkmalen und der aufregenden Erfahrung sexueller Erregung, wird bewusst, dass diese Selbstbetrachtung für Jugendliche mit körperlicher oder anderer Beeinträchtigung umso mehr zur Belastung gerät (vgl. ORTLAND 2008: 76f.).

Übertriebenes Vergleichen mit Nicht-Beeinträchtigten, die Entwicklung stark schematisierender Imaginationen von der eigenen Identität, verbunden mit einer polarisierenden Einteilung der Gleichaltrigen in solche mit und solche ohne Beeinträchtigung und eine entsprechende Zuordnung sowie die Idealisierung eines vollkommenen, unerreichbaren Äußeren sind nicht seltene Gedankengänge und Formen der psychischen Auseinandersetzung mit den Anforderungen. Die jugendzentrierte Konsumwelt trägt mittels Werbung in Fernsehen, Magazinen und Internet dazu bei.

Entscheidende Determinante des individuellen Status in der Peergroup ist infolge dessen die Konformität bezüglich als solcher deklarierter körperlicher Attraktivitätsnormen. Jegliche Devianzen beinhalten Nachteile – ganz gleich ob soziale oder individuell empfundene. Die Beeinträchtigung wird in einem solchen Moment als großes Stigma wahrgenommen, und die nicht zu leugnenden Veränderungen im Körperbau und im Aussehen verstärken oft die eigentlichen Symptome der Beeinträchtigung des Jugendlichen.

Insofern fördern die Pubertät und der Umgang mit Gleichaltrigen zu Tage, was bisher zwar da ist, jedoch nicht unbedingt so wahrgenommen wird. Unsicherheiten in der Motorik, in Aussehen und Auftreten werden noch verstärkt. Beispielsweise tritt bei beeinträchtigten Jugendlichen oft ein Stottern auf. Die Beeinträchtigungssymptome werden also durch die Pubertät eher wahrnehmbar und leider auch deutlicher zuordbar.

Ein Teufelskreis leidvollen Bewusstwerdens eigener Körperveränderungen nimmt seinen Lauf. Die spontane Bereitschaft von Betreuern, Eltern und Lehrern, dem Jugendlichen, der nun das naiv Kindliche verliert, Zuneigung und liebevolle Zuwendung zukommen zu lassen, nimmt schlagartig ab. Als Reaktion darauf zeigt eine erhebliche Anzahl beeinträchtigter Jugendlicher ein distanziertes oder sogar oft suizidales Verhalten (vgl. WALTER 1996: 168).

2.2.2.5 Indikatoren sexueller Reife

Das Wachsen der ersten Schamhaare und die Ausbildung weiterer Geschlechtsmerkmale ruft bei vielen Jugendlichen mit einer geistigen Beeinträchtigung große Neugier und Interesse hervor. Eltern und Betreuer sind nicht selten überfordert mit dieser sehr schwer zu vermittelnden Situation und überlassen die beeinträchtigten Jugendlichen sich selbst. Die erste Pollution bzw. die Menarche kommen daher für sie meist sehr überraschend. „Sie empfinden die Veränderungen, können aber die körperlichen Empfindungen nicht deuten oder gar sublimieren“, heißt es bei Walter (ebd.: 165).

Häufig führt bei den Jungen der erste Samenerguss zu einer mehr oder minder regelmäßigen Form der Selbstbefriedigung. Allerdings wird die Pollution oft fälschlicherweise mit dem Problem des Bettnässens verwechselt. Es helfen nur rechtzeitige Aufklärung und sexualpädagogische Begleitung. Erfolgt dies nicht, kann es zur Manifestation von Schamgefühlen kommen.

Bei nicht aufgeklärten Mädchen kann die erste Regel zu einer Abkehr von der eigenen Sexualität und den eigenen Geschlechtsorganen führen. Assoziationen wie Schmutz oder Verletzungen sind nur einige der gängigsten Problematiken, die eine fehlende Aufklärung und Informierung hervorrufen können.

2.2.2.6 Die Rolle der Masturbation

Experimentierfreude am und mit dem eigenen Körper gehört für die meisten jungen Menschen in der Pubertät ganz selbstverständlich dazu. Untersuchungen des Zentrums für Jugendforschung in Leipzig unter Federführung von Gunter Schmidt 1990 sowie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 1981 und 1994 zufolge haben fast 90 % der Jungen und etwa 30 % der Mädchen mit 18 Jahren Erfahrungen mit Selbstbefriedigung gemacht (vgl. BZgA 1996: 26f.).

Psychologen und Kinderärzte vertreten in der großen Mehrheit die Ansicht, Selbstbefriedigung stelle eine harmlose und natürliche Erscheinung auf dem Wege zu einer ausgereiften Sexualität dar (vgl. u.a. FUNK/ LENZ 2005: 72), sodass keinerlei Argumente gegen ein Ausleben dieser Tätigkeit sprächen. Von Verboten sei daher abzusehen.

Personen, die eine schwere geistige oder auch körperliche Beeinträchtigung haben, erleben die Masturbation oft als einzige Form der sexuellen Befriedigung – ein Leben lang. Es scheint einen Zusammenhang zwischen dem Grad der Intelligenz und der Form der Selbstbefriedigung zu geben. Eher intelligente Menschen greifen zur Befriedigung mit der Hand. Nimmt das Intelligenzniveau ab und wird die Beeinträchtigung massiver, kommen auch Gegenstände zum Einsatz. Beeinträchtigte Menschen praktizieren oft Techniken, die für nicht oder weniger beeinträchtigte eher ungewöhnlich scheinen. Dazu gehört zum Beispiel das Reiben der Genitalien an Tischen oder anderen Möbeln, wobei es nicht selten zu Verletzungen kommen kann. Auch hier ist sexualpädagogische Aufklärung und Begleitung unerlässlich.

Masturbation beeinträchtigter Menschen in der Öffentlichkeit, zusammen mit anderen oder während der Arbeit, ist ein weiteres problembehaftetes Phänomen, allerdings aus pädagogischer, nicht aus medizinischer Sicht.

Mittels Techniken des Reizdifferenzierungs- bzw. Diskriminationslernens sind Jugendliche mit einer geistigen Beeinträchtigung an ein Verständnis für sozial akzeptable Masturbationsorte heranzuführen. Eine integrationshinderliche Stigmatisierung ist zu vermeiden. Zu beachten ist hierbei, dass die Aufklärung nicht nur Auskunft über Verbotenes, sondern auch positive Signale des Erlaubten beinhalten sollte.

Die Fragen, ob ein Mensch mit einer geistigen Beeinträchtigung zu häufig der Selbstbefriedigung nachgeht und wann seine Gesundheit Schaden nehmen kann, sind nicht grundlegend zu beantworten. Immer dort, wo es an Freizeitaktivitäten mangelt, Vereinsamung droht oder auch Möglichkeiten des Rückzugs fehlen, kann exzessives Masturbieren als pathologisch betrachtet werden (vgl. PREIßMANN 2009: 88).

2.2.2.7 Zur Bedeutung der sexuellen Triebe

Der Sexualität von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung wurde lange Zeit mit Mythen und Vorurteilen begegnet. Insbesondere die Angst vor der vermeintlichen Triebhaftigkeit wurde oft zu einer Barriere. Es existieren jedoch keine Statistiken, die ein ausgeprägteres sexuelles Verlangen und eine größere Neigung zu sexuell motivierten Straftaten als bei Nichtbeeinträchtigten belegen. Im Gegenteil: „Rücksichtsloses aggressives Sexualverhalten...“ ist nach Stöckmann „...seltener als bei durchschnittlich begabten Jugendlichen“ (1996: 62).

Eine weitere wissenschaftliche, die Theorie der Triebhaftigkeit widerlegende Untersuchung stammt von Chamberlain. Er kam zu dem Ergebnis, dass mit zunehmender Schwere der geistigen Beeinträchtigung sexuelles Interesse nachlässt (vgl. CHAMBERLAIN et al. 1984; nach KREBS 1996) bzw. sich auf die eigene Person konzentriert.

Da Sexualität, wie oben dargestellt, stets auch ein erlerntes Verhalten ist, können die Extreme, sprich die extremen Ausprägungen in beide Richtungen, als ein Resultat der beeinträchtigten Lern- und Lebensbedingungen (soziale Isolation, Informationsmangel) sowie der oft über Jahre andauernden Hospitalisierungen verstanden werden.

Sexuelle Fehlhandlungen folgen oftmals aus Neugierde und Wissensdrang. So ist beispielsweise das Verhalten eines Jungen, der einem Mädchen beim Spielen unter den Rock greift, in der Regel als Ausdruck seines Bedürfnisses nach Kenntnis um das Aussehen des weiblichen Geschlechts zu verstehen. Überbehütung durch das Elternhaus verwehrt den Zugang zu entsprechenden Kenntnissen.

Auffälliges und nicht dem Alter entsprechendes sexuelles Verhalten kann auch Folge eines Missbrauchs sein (vgl. PFORR 2009: 274). Noch ist zu wenig über sexuelle Übergriffe gegenüber Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung bekannt, doch dürfte die Dunkelziffer höher sein als bei nicht beeinträchtigten Mädchen und Jungen. Von den beteiligten Professionen ist zu klären, ob bei besonders auffälligem Sexualverhalten junger beeinträchtigter Menschen eine Missbrauchsproblematik vorliegt.

2.2.2.8. Erste erotische Begegnungen

Besonders wichtig scheinen für das Erleben der ersten erotischen Erfahrungen die Erlebnisse in der Peergroup zu sein, seien es der erste intime Kuss, die Erfahrung der Nacktheit des anderen Geschlechts oder einfach der Austausch zärtlicher Berührungen. Junge Menschen sammeln hier unter Ihresgleichen signifikante Einsichten. Der reine Koitus spielt dabei oft noch keine Rolle.

Leider sind auch hier wiederum Jugendliche mit einer geistigen Beeinträchtigung im Nachteil. Sie finden nur selten eine Art erotische Zuwendung und Bewunderung und erleben sich selber als nicht besonders attraktiv. Dadurch wird ein stabiler Aufbau des Selbstbildes des jungen Menschen verhindert. Der fehlende Kontakt mit nicht-beeinträchtigten Gleichaltrigen ist ein zentrales Handicap für Jugendliche mit einer Beeinträchtigung (vgl. WALTER 1994: 14). Der Wunsch nach Beachtung und Akzeptanz äußert sich in der Folge durch eher ungewöhnliche und unschöne aggressive Versuche der Kontaktaufnahme.

2.2.2.7 Die Adoleszenz von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung – eine kritische Phase

Für nichtbeeinträchtigte Jugendliche steht die Ablösung vom Elternhaus im Mittelpunkt der Adoleszenz. Der Aufbau einer eigenen Identität durch Loslösung von der Elternautorität bildet die zentrale psychosoziale Aufgabe. Dies gilt auch für Heranwachsende mit einer geistigen Beeinträchtigung, doch wird ihnen der notwendige Ablösungsprozess oft erschwert (vgl. ebd.: 15).

In der Betreuung ihrer beeinträchtigten Kinder sehen viele Eltern eine sie erfüllende und befriedigende Lebensaufgabe. Sie haben sich bisher aufopferungsvoll um sie gekümmert, sie verwöhnt und umsorgt. Nicht mehr mit ihnen zusammen zu wohnen und zu leben, können sie sich nicht im Entferntesten vorstellen. Dementsprechend bereiten sie ihre Kinder nicht im erforderlichen Umfang auf das Erwachsenwerden und die damit einhergehende Selbstständigkeit und Autonomie vor (vgl. SCHATZ 1998: 134f.). Zwar werden zukunftsgerichtete Überlegungen angestellt, jedoch kaum konkrete Maßnahmen getroffen. Isolierung der Kinder, Einschränkung des Verkehrskreises, Produktion und Stabilisation von Abhängigkeiten sind häufig zu beobachten.

Es ist für junge Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung in unserer Gesellschaft, im Elternhaus und unter den Betreuern nicht einfach, den Status und die Stellung eines unabhängigen und mündigen Erwachsenen zu erreichen. Oft, zu oft werden mit einer geistigen Beeinträchtigung Attribute wie eine problembehaftete Sexualität, verminderte Leistungsfähigkeit, Unselbstständigkeit und fehlende Reife verbunden.

Die Aussicht auf ein glückliches und erfolgreiches Erwachsenenleben setzt jedoch eine verhältnismäßig große Unabhängigkeit und Selbstständigkeit voraus, insbesondere in Bezug auf die Wahl des Partners und die mit ihm oder anderen Partnern gelebte Sexualität. Darin liegt eine der wesentlichen Differenzen der Kindheit und Adoleszenz zum Erwachsenenalter, die aber in Elternhaus, Schule und Behindertenheimen selten deutlich akzentuiert wird. Der Unterschied, die Erkenntnis, nun Erwachsene vor sich zu haben, wird nicht ausreichend wahrgenommen. So berichtet unter anderem Lothar Sandfort, Leiter des Instituts zur Selbstbestimmung Behinderter (ISBB) mit Sitz im niedersächsischen Trebel, 90 Prozent der Heimmitarbeiter und 99 Prozent der Öffentlichkeit könnten den Gedanken an sexuelle Aktivitäten beeinträchtigter Menschen nicht ertragen (vgl. MEINBERG 2006: 2).

2.3 Handlungsfelder im Kontext geistiger Beeinträchtigung und Sexualität

Hilflosigkeit, redliches Bemühen, insgesamt ein turbulenter Stillstand - so könnte man die Bemühungen von Eltern und Professionellen auf dem Gebiet der Sexualität von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung näher beschreiben. Ob auf Kongressen, Seminaren, Mitarbeiterschulungen, Verbandstagungen oder Elternfortbildungen, im Kopf der Beteiligten scheint klar zu sein: Menschen mit einer geistiger Beeinträchtigung haben wie alle beeinträchtigten und nicht-beeinträchtigten Menschen ein Recht auf ein Leben mit Sexualität. Alles ist erlaubt – alles, was andere nicht verletzt. Professionelle Pädagogen in Einrichtungen der Behindertenhilfe, sowohl stationärer, teilstationärer oder ambulanter Art, haben dabei unbefangen und behutsam ihre Schutzbefohlenen zu unterstützen. Unsicherheiten stehen dem oftmals hindernd im Wege, sodass eine breite Basisinformation über die Sexualität von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung vonnöten ist. Gleichzeitig muss die Individualität des einzelnen Menschen im Vordergrund stehen und von Pauschalisierungen und Patentrezepten abgesehen werden (vgl. WALTER 1994: 13). Das Hauptziel besteht in der Schaffung von weitestgehend eigenverantwortlichem sexuellem Handeln. Weder sollten Gefahren ausgemalt noch Verbote ausgesprochen oder bestimmte Formen von Sexualverhalten moralisch bewertet werden. Stattdessen sind konkrete Handreichungen zu verschiedenen Praktiken, inbegriffenen Risiken und ihrer Vermeidung zu geben (vgl. WALTER, zitiert nach LEBENSHILFE 1999: 24). Anstrebenswert ist darüber hinaus ein Aufzeigen positiver Aspekte einer erfüllten sexuellen Partnerschaft.

Menschen mit einer geistiger Beeinträchtigung verfügen nicht über die kognitiven Verdrängungsmechanismen, die nicht-beeinträchtigten Menschen eine vernunftgesteuerte Balance zwischen sexuellen und anderen Bedürfnissen möglich machen. Der Pädagoge rückt in dem Maße in den Mittelpunkt, in dem andere Mechanismen wie die Behandlung mit Medikamenten oder auch Druck und Zwang an Bedeutung verlieren. Seine Aufgabe kann es in diesem Zusammenhang einzig und allein sein, das Leben, Erleben und Ausleben der Sexualität seiner Schutzbefohlenen zu einem Bestandteil ihres Alltags zu machen, um so nach Thiersch zu einem „gelingenderen Alltag“ beizutragen (vgl. THIERSCH 1986). Dabei führt jedoch jeder Versuch des Professionellen, den Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eine freie und erfüllte Sexualität zu ermöglichen, an die eigenen mühsam verdrängten Grenzen der Sexualität. Auch heute, nach einigen Jahren der sexuellen Revolution in der professionellen Pädagogik, ist das Problem noch nicht überwunden. Man ist als Person in solchermaßen qualifizierter Position, unabhängig von den eigenen Wünschen und dem eigenen Streben, immer mit Ängsten und Unsicherheiten konfrontiert. Es kristallisiert sich sehr schnell heraus, dass der Pädagoge in den Lebensumständen einer jungen beeinträchtigten Familie, gewissermaßen von der Empfängnis bis zur Alltagsgestaltung, große Herausforderungen findet. Diesem Komplex soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gelten.

2.3.1 Aufklärung

Eine der wesentlichen Herausforderungen stellt zweifellos die Aufklärung dar. Nur ihre rechtzeitige Durchführung bewirkt, dass Kinder und junge Menschen wissen, was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Aber ist es nicht sehr schwierig bis gar unmöglich, Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung - zudem noch Kinder und Jugendliche - aufzuklären? Worin bestehen die Hauptaufgaben professionell pädagogischen Handelns?

Grundsätzlich bildet die Aufklärung geistig beeinträchtigter wie nicht-beeinträchtigter Kinder in der Regel einen Bestandteil ihrer bereits nach der Geburt beginnenden Sexualerziehung. Wie die Eltern den Säugling halten, pflegen, mit ihm schmusen und spielen – all das ist bereits Sexualerziehung. Baden oder duschen Eltern und Geschwister gemeinsam, bewegen sie sich nackt in der Wohnung, so erfährt auch das geistig beeinträchtigte Kind ganz nebenbei und undramatisch, dass Mann und Frau unterschiedlich aussehen. Es kann sich selbst leichter zuordnen und eine Geschlechtsidentität aufbauen, die sowohl in der späteren Kindheit und Adoleszenz als auch im Erwachsenenalter eine signifikante Rolle spielt. Somit wird deutlich, dass die Aufklärungsarbeit des Pädagogen sich im Grunde genommen an den Phasen der psychosexuellen Entwicklung des Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung orientieren sollte. Dies impliziert die These, dass der geistig beeinträchtigte Mensch genauso wie jeder nicht-beeinträchtigte Mensch Sexualität als einen Lernprozess wahrnimmt (vgl. WALTER 1987: 206), der verschiedene Phasen durchläuft und der in jeder Phase der Begleitung und des Wissens professioneller Helfer bedarf – seien sie nun pädagogischer, psychologischer oder medizinischer Art.

2.3.2 Schwangerschaft und Elternschaft

Es liegen bisher nur unzureichende empirische Belege dafür vor, welche Emotionen, Gedanken und Vorstellungen ein Mensch mit einer geistigen Beeinträchtigung mit einer Ehe verbindet. Auch können keine validen Aussagen darüber getroffen werden, inwieweit der reine Geschlechtsverkehr eine Rolle im ehelichen und vorehelichen Sexualleben geistig beeinträchtigter Menschen spielt. Dennoch sind sehr oft auf Seiten der Eltern und der Betreuer latente Ängste vor einer potentiellen Schwangerschaft spürbar.

Im Allgemeinen kann davon ausgegangen werden, dass sich das partnerschaftliche Interesse von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung nicht primär auf den Geschlechtsverkehr bezieht. Der Partner soll vielmehr zu einem passen und gehören.

Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Genitalsexualität schwerstbeeinträchtigter sowie schwerst- und mehrfachbeeinträchtigter Menschen selten eine soziale partnerzentrierte Komponente aufweist, sondern sich meist in Form von Masturbation oder gar so diffus äußert, dass aggressive Elemente zum Tragen kommen, deren sexuelle Implikationen von vielen Betreuern nicht identifiziert werden.

Die ersten empirischen Belege bezüglich einer rückgehenden Fixierung auf den Genitalbereich mit steigendem Schweregrad der geistigen Beeinträchtigung stammen aus den beginnenden 80-er Jahren (vgl. KREBS 1985).

Krebs folgert, dass „der genitalsexuelle Vollzug hierzulande unter mittel- und schwergradig geistig Beeinträchtigten nur von einem relativ geringen Prozentsatz - etwa 10 - 15% bekannt“ sei und dass

„außerordentlich schwankende, fließende Übergänge sexueller Verwirklichung vorliegen, dies auch bei äußerem Anschein nach partnerschaftlich sehr engen und sexuellen intimen Kontakten“ (ebd.: 741).

Andere Autoren, wie Schröder, gehen ebenfalls davon aus, dass

„wir bei geistig behinderten Paaren gelegentlich ein ihre Bedürfnisse voll befriedigendes Intimleben ohne geschlechtliche Vereinigung annehmen können“ (SCHRÖDER 1982: 154).

Die häufig unbedachten Reaktionen der Eltern und Mitarbeiterinnen auf Ehewünsche von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung bestehen meist aus Vertröstung, ausweichender Notlüge, Ablenkung, harter Konfrontation mit der Realität oder dem Lob der Ehelosigkeit (vgl. WALTER 1996: 291).

Seit einigen Jahren rückt für Pädagogen, Betreuer und Angehörige jedoch die Suche nach neuen und innovativen Wegen mehr und mehr in den Mittelpunkt. Ablenkung oder psychologische Uminterpretation des Ehewunsches als reinem Wunsch nach Nähe und purem Imitationsverhalten werden nicht mehr akzeptiert. Vermehrt wird der Begriff der beschützten oder geschützten Ehe in den Fokus genommen. Deren Realisation gelingt allerdings nur zögernd.

2.3.2.1 Die Rolle einer geschützten Ehe

Die beschützte Ehe lässt sich als sozialpädagogisch begleitete Sonderform einer Ehe bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung definieren, die meist im Verbund mit einer Wohnstätte steht.

Eine Studie in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Mecklenburg-Vorpommern in den Jahren 1997 und 1998 hat ergeben, dass in mehr als 50% der Institutionen Zimmer für Paare vorhanden waren und 85% der betreuenden Mitarbeiter Heiratswünschen offen gegenüber stehen (vgl. BUNDESZENTRALE FÜR GESUNDHEITLICHE AUFKLÄRUNG FORUM 1999: 10-13). Die Realität sieht oftmals anders aus.

So scheint es zwar in unterschiedlichen, meist größeren Einrichtungen der Kirche einzelne Unternehmungen zu geben, die Form der Ehe zwischen zwei beeinträchtigten Menschen zu begleiten, Toleranz ihrer Sexualität gegenüber inbegriffen. Eine offene und proaktive Kommunikation findet jedoch nicht statt (vgl. SCHRÖDER 1977: 75).

Im klassischen Umfeld von kirchlichen Einrichtungen ist es sehr schwer, wenn nicht sogar fast unmöglich, die Ehe zwischen zwei beeinträchtigten Menschen zu akzeptieren und damit auch zu legalisieren. Zurückzuführen ist dies auf die Problematik einer fehlenden Möglichkeit zur standesamtlichen Heirat von zwei Menschen mit eingeschränkter Geschäftsfähigkeit. Ohne Standesamt keine kirchliche Trauung und damit kein legales eheliches Zusammenleben im Sinne der Kirche.

2.3.2.2 Darstellung und Bewertung der rechtlichen Situation

Derzeit lässt sich aus der rechtlichen Perspektive nicht eindeutig beantworten, ob Menschen, die über eine geistige Beeinträchtigung verfügen, eine Ehe eingehen dürfen.

Seit Anfang 1992 gilt ein neues Betreuungsrecht. Dieses hat das bis dato geltende Recht der Vormundschaft und Pflegschaft abgelöst. Valide Festlegungen bezüglich der Heirat von geistig Beeinträchtigten werden nicht getroffen. Bis zur Einführung des neuen Rechtes war eine Ehe zwischen bedingt geschäftsfähigen Personen unter bestimmten Voraussetzungen denkbar, unter anderem mit der Zustimmung des eingesetzten Vormundes.

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe beschreibt das Problem wie folgt:

Mit der Bestellung eines Betreuers für einen geistig beeinträchtigten Menschen ist keinerlei Aussage darüber verbunden, ob, wie und wann diese Person die Ehe eingehen oder auch nicht eingehen könnte. Der Grund hierfür ist in der im Betreuungsgesetz fehlenden Aussage zur Feststellung oder Nicht-Feststellung der Ehefähigkeit von Betreuten zu suchen (vgl. BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE 1993: 15ff.).

Den Terminus der beschränkten Geschäftsfähigkeit gibt es so nicht mehr. Folglich benötigen Volljährige mit Ehewunsch nicht mehr die Zustimmung eines Vormundes. Hierbei kommt dem Standesbeamten die Pflicht zur Prüfung der Geschäftsfähigkeit der zukünftigen Ehepartner zu. Ist einer von beiden geschäftsunfähig, kann er die Willenserklärung nicht wirksam abgeben oder dies ersatzweise durch einen gerichtlich eingesetzten Betreuer bzw. das Gericht selbst vornehmen lassen. Sind die Ehepartner jedoch geschäftsfähig und haben dennoch einen gerichtlichen Betreuer, muss letzterer beispielsweise beim Abschluss eines Ehevertrages zustimmen.

In unserer sehr diversifizierten Gesellschaft leben viele Menschen als Singles und ohne Trauschein. Das muss jedoch nicht automatisch den Schluss nach sich ziehen, auch ohne Genitalsexualität zu leben. Deshalb sollten auch Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung nicht in eine Ehe oder eheähnliche Gemeinschaft gedrängt werden, nur um sexuelle Bedürfnisse und das Ausleben derselben moralisch zu fundieren. Wer ohne (festen) Partner in seinem Alltag glücklich ist, mit oder ohne Beeinträchtigung, für den sollte ein Zwang zur moralischen Unterlegung seines Sexuallebens nicht bestehen.

Die Aufgabe der Sozial- und Sonderpädagogik muss es in diesem Konnex sein, durch Anbieten bestimmter Modelle den einzelnen Paaren schrittweise zur besseren Bewältigung ihrer Partnerschaft verhelfen, um so zu einem gelingenderen Alltag beizutragen. Trainingswohngemeinschaften, Ehewohnen auf Probe oder auch intensive weitere Vorbereitungskurse sind denkbare Ansätze.

Oft ist bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung aufgrund ihrer Intelligenzminderung ein größeres Bedürfnis nach Beständigkeit und Gleichmaß in der alltäglichen Lebenswelt feststellbar. Der kausale Zusammenhang ist in der im Vergleich zu nichtbeeinträchtigten Menschen meist gering ausgeprägten Zahl neuer und variierender Sozialkontakte und der einhergehenden fehlenden Einbeziehung alternativer, vom Gewohnten abweichender Lebensvollzüge in das Denken.

2.3.2.3 Der Umgang mit einem möglichen Kinderwunsch geistig beeinträchtigter Menschen

Die Gewährung des Rechts auf sexuelle Persönlichkeitsentfaltung inkludiert, Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung im gleichen Umfang zu Nutznießern zu machen und sämtliche Möglichkeiten des Geschlechtsverkehrs sowie weiter reichender Folgen, wie etwa die einer Schwangerschaft, mit einzukalkulieren. Dennoch wird die Ansicht vertreten, Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung sollten keine eigenen Kinder haben. Vor allem praktische Erwägungen werden erläuternd genannt: Ein Baby und später ein Klein- und Schulkind bedarf einer ausreichenden Pflege und Versorgung, darüber hinaus natürlich aber auch einer adäquaten Erziehung. In der Regel wird das Kind beeinträchtigter Eltern deswegen in eine Pflegefamilie gegeben oder in einem Heim untergebracht (vgl. SUHRWEISER 2009: 198).

Neben den ganz alltäglichen praktischen Problemen werden sozioemotionale Belastungen für die möglicherweise nicht beeinträchtigten Kindern von beeinträchtigten Eltern zur Begründung von Skepsis gegenüber einer Elternschaft geistig Beeinträchtigter ins Felde geführt. Es wird davon ausgegangen, dass geistig beeinträchtigte Eltern prinzipiell ähnliche Probleme haben wie Eltern ohne Beeinträchtigung. Selbstverständlich benötigen sie jedoch besondere Unterstützung in dieser ungewöhnlichen Phase und Situation.

In der Bundesrepublik hat im Jahr 1988 das Berliner Landesgericht richtungsweisendes, den oben geschilderten Umstand betreffendes Urteil gefällt. Eine Frau mit einer geistigen Beeinträchtigung brachte ein nicht-beeinträchtigtes Kind zur Welt. In diesem Fall wurde der Frau das Sorgerecht für ihr Kind wieder zugesprochen, nachdem das Jugendamt dies im Vorhinein aberkannt hatte. Das Landgericht Berlin stützte seine Entscheidung auf Art. 6 des Grundgesetzes, indem es unterstrich, dass für kognitiv weniger begabte oder eingeschränkte Eltern, die ihren Kindern möglicherweise nicht die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten bieten könnten, keine Ausnahme vom Grundgesetz gelten dürfe (vgl. Frankfurter Rundschau vom 23.08.1988). Sie dürfen demnach nicht generell vom Zusammenleben mit ihren Kindern ausgeschlossen werden.

Für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung gehört der Wunsch nach dem eigenen Kind auch ein Stück weit zur Normalisierung des beeinträchtigten Lebens dazu. Sie erhoffen sich, natürlich oft unbewusst, die fehlende Ablösung vom Elternhaus, die Wahrnehmung ihrer Sexualität bzw. ein endgültiges Erwachsenenwerden.

Doch auch geistig beeinträchtigte Menschen ohne Elternschaft sollten diese Akzeptanz des eigenen Lebens erreichen. Im Streben danach kommt dem pädagogisch-profes­sio­nellen Handeln der Eltern und Betreuer erneut besondere Bedeutung zu. Sie haben dafür zu sorgen, dass der geistig beeinträchtigte Mensch seine eigene Lebensperspektive und Lebenswirklichkeit bejaht und tragen somit wiederum zu einem gelingenderen Alltag bei.

2.3.2.4 Zur Frage von Sterilisation und Verhütung

Bei der Frage nach Sterilisation und Verhütung ist ebenfalls eine eindeutige Regelung nicht erkennbar. Grundsätzlich ist zunächst darauf zu verweisen, dass in entsprechenden Institutionen ein Verzicht auf die nach Geschlechtern getrennte Unterbringung von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung zu verzeichnen ist. Eine strikte Trennung würde mutmaßlich eine der wirksamsten Methoden der Verhütung darstellen. Sie wird jedoch abgelehnt. Da der Markt an Verhütungsmitteln und -methoden überschaubar ist, werden beeinträchtigten Menschen keine anderen als die gängigen, von nicht-beeinträchtigten Menschen ebenfalls verwendeten Mittel und Methoden zur Verwendung empfohlen. Die Sterilisation als sicherste und für die verantwortlichen Betreuer und Eltern einfachste Methode wird allerdings noch viel zu oft favorisiert. Damit wird den beeinträchtigen Personen die Möglichkeit auf eine ihnen zustehende Elternschaft von vornherein genommen. Zu bedenken ist zudem, dass eine Sterilisation Sexualaufklärung, verbunden mit einer eingehenden Einweisung in Kontrazeptiva, keinesfalls unnötig macht (vgl. WALTER 1992: 187ff.).

2.3.3 Alltagsgestaltung – die pädagogische und ethische Pflicht

In Anbetracht des unter anthropologischen Gesichtspunkten hohen Gehalts von Sexualität als Lebensenergie spendendem Medium der Kommunikation für unser Menschsein ist ein grundlegendes Recht auf Sexualität und sexuelle Beziehungen auch für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung zu postulieren.

Vom ethischen Standpunkt betrachtet, ist es völlig unerheblich, ob zum Gelingen fremde Hilfe benötigt wird oder nicht. Für die Sonder-, aber auch für die Sozialpädagogik ergibt sich als Ziel, eine erotische Beziehung als begünstigenden Faktor für die personale Entwicklung der Beteiligten zu fördern und dem Verzicht entgegenzuwirken.

Die ethische Herangehensweise kann daher nur Folgendes implizieren: Verantwortung tragende Bezugspersonen im engeren Umfeld Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung, seien es nun Eltern, Erzieher, Sonder- oder Sozialpädagogen, verpflichten sich zur Förderung der Freundschaft, Partnerschaft und auch der Sexualität ihrer Schutzbefohlenen in solchem Maße, wie Nähe erwachsen und positive Effekte für die Persönlichkeitsentwicklung greifen können. Es geht letzten Endes darum, Sexualität so in den Alltag von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen zu integrieren, dass sie zu einem festen Bestandteil wird und zu höherem Glück, Zufriedenheit und damit zu einem gelingenderen Alltag beiträgt.

Nicht darf dabei aus den Augen verloren werden, dass das Eingehen partnerschaftlicher Beziehungen einen Großteil der Selbstwahrnehmung beeinträchtigter Menschen steuert. Sie erleben das Interesse eines anderen Menschen an ihrer Person, der nicht Therapeut, Pädagoge oder Betreuer ist und erfahren dadurch wiederum ein weiteres Stück Normalität und Normalisierung. Hiervon geht eine nicht zu unterschätzende Motivation aus, die nicht durch Verbote unterdrückt werden sollte. Stattdessen sollte die Unterstützung des Paares bei der Formung der Situation zu einem gelingenderen Alltag, zum Wohl der Beteiligten, im Vordergrund stehen. Ein Gelingen wirkt sich in höchstem Maße therapeutisch, entwicklungsfördernd und identitätsstabilisierend aus (vgl. WALTER 1994 und THIERSCH 1997: 5).

[...]


[1] Der Botaniker August Henschel publizierte 1820 ein Buch mit dem Titel „Von der Sexualität der Pflanzen“.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783956845659
ISBN (Paperback)
9783956840654
Dateigröße
702 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Alltagstheorie Hans Thiersch Stigmatisierung Sterilisation Selbstbestimmung sexuelle Reife

Autor

Eva Schürmann-Lanwer wurde 1987 geboren. Ihr Studium der Sonderpädagogik schloss sie 2012 mit dem akademischen Grad des Masters of Education erfolgreich ab, gefolgt von einem Referendariat für das Lehramt an Sonderschulen an. Während des Studiums sammelte die Autorin umfassende praktische Erfahrungen im Bereich des Engagements für Menschen mit Hörbeeinträchtigung. Ihre eigene Biografie motivierte sie zusätzlich, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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Titel: Ein gelingender Alltag als Ziel: Sexualität im Kontext geistiger Beeinträchtigung
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