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Betreuen statt Einsperren: Die Neuen Ambulanten Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz

©2012 Bachelorarbeit 65 Seiten

Zusammenfassung

Ambulante sozialpädagogische Angebote für junge Straffällige sind 1990 als sogenannte „Neue Ambulante Maßnahmen“ (NAM) in das Jugendgerichtsgesetz aufgenommen worden. Sie sind das Resultat, gemeinsam von Politik, Wissenschaft und Praxis getragener Bemühungen, effizienter auf Jugendkriminalität zu reagieren. Im Vordergrund stand dabei die Suche nach Alternativen zu den überwiegend repressiven traditionellen jugendgerichtlichen Sanktionen. Durch die NAM sollten deshalb einerseits die Möglichkeiten für mehr informelle Erledigungen (Diversion) geschaffen werden und andererseits, im formellen Bereich, Alternativen zu den stationären Sanktionen gefunden werden. Auf diese Weise sollten auch dem wiederholt straffällig gewordenen jungen Menschen noch Perspektiven und Chancen gegeben werden, anstatt ihm diese endgültig zu verbauen.
Im Gegensatz zu den freizeitentziehenden Sanktionen sollen die ambulanten sozialpädagogischen Maßnahmen somit die konkreten Lebenssituationen der straffällig gewordenen jungen Menschen fokussieren und bedarfsgerecht Unterstützungsleistungen anbieten. Auf der Grundlage individueller Diagnose sollen sozialpädagogische Förderangebote bereitgestellt werden. Demzufolge orientiert sich die Arbeit der NAM an dem Leitsatz „Betreuen statt Einsperren“.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Die intensiven und sehr praxisorientierten Seminare, welche u.a. mehrere Exkursionen
beinhalteten, sowie die Teilnahme an dem KWABSOS-Wochenendseminar ließen mein
Interesse an dem Thema ,,Neue Ambulante Maßnahmen" stetig wachsen. Nach
Abschluss meines Wahlpflichtfachs wollte ich mich noch weiterhin mit diesem
Themenkomplex beschäftigen. So entstand das Thema zu meiner Bachelorarbeit mit
dem Titel:
,,Betreuen statt Einsperren"
-
Die Neuen Ambulanten Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz
Zu Beginn meiner Recherche habe ich mich dabei vor allem mit folgenden zwei
Eingangsfragen beschäftigt:
1.
Was sind die Neuen Ambulanten Maßnahmen und welche Aspekte implizieren
sowie tangieren sie?
2.
Wie sehen die unterschiedlichen Angebote bzw. Maßnahmen aus und welche
Effektivität kann ihnen zugesprochen werden?
Diese beiden Fragekomplexe werden in der vorliegenden Arbeit bearbeitet. In dem
ersten Teil der Arbeit sollen dazu die Grundlagen der NAM behandelt werden. Neben
den allgemeinen Anwendungsvoraussetzungen der ambulanten Maßnahmen (2.1.) und
dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts (2.2.), soll vor allem das Spannungsfeld
von Jugendhilfe und Justiz (2.3.) sowie die Zielsetzungen der NAM (2.4.) näher
beleuchtet werden. Außerdem werden die Adressaten der NAM (2.5.), die Grenzen und
Änderung der ambulanten Maßnahmen (2.6.) und die Folgen bei Nichterfüllung der
Maßnahmen (2.7.) detailliert dargestellt. Im Anschluss daran werde ich in den Kapiteln
drei bis sechs auf die verschiedenen ambulanten Maßnahmen ausführlich eingehen.
Dazu werde ich, für jede der einzelnen Maßnahmen, die gesetzgeberischen
Zielvorstellungen, die Zielgruppen sowie die Mindest- und Qualitätsstandards darlegen.
Im letzten Abschnitt der Arbeit (Kapitel 7) soll schließlich die Akzeptanz und
Rückfallquote der NAM untersucht werden. Zum Abschluss werde ich letzten Endes
unter Punkt 8. ein Resümee ziehen, die Ergebnisse noch einmal zusammenfassend
reflektieren und einen Ausblick für die Zukunft der NAM geben.

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2. Grundlagen der Neuen Ambulanten Maßnahmen (NAM)
Als sogenannte ,,Neue Ambulante Maßnahmen" sind ambulante sozialpädagogische
Angebote für junge Straffällige 1990 in das Jugendgerichtsgesetz (JGG) aufgenommen
worden. Diese Reaktionsformen tragen durch ihre Einordnung unter die
Erziehungsmaßregeln, dem Erziehungsgedanken des JGG am deutlichsten Rechnung.
Die NAM an sich sind die sozialpädagogisch betreuten Arbeitsleistungen, die
Betreuungsweisung bzw. die Einzelbetreuung, der soziale Trainingskurs bzw. die
soziale Gruppenarbeit und der Täter-Opfer-Ausgleich. Gesetzlich verankert sind diese
Maßnahmen unter den Erziehungsmaßregeln in § 10 Abs. 1 des JGG, welcher im
Einzelnen lautet:
,,§ 10 Weisungen
(1) Weisungen sind Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch
seine Erziehung fördern und sichern sollen. Dabei dürfen an die Lebensführung des Jugendlichen keine
unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. Der Richter kann dem Jugendlichen insbesondere
auferlegen,
1. Weisungen zu befolgen, die sich auf den Aufenthaltsort beziehen,
2. bei einer Familie oder in einem Heim zu wohnen,
3. eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle anzunehmen,
4. Arbeitsleistungen zu erbringen,
5. sich der Betreuung und Aufsicht einer bestimmten Person (Betreuungshelfer) zu unterstellen,
6. an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen,
7. sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich),
8. den Verkehr mit bestimmten Personen oder den Besuch von Gast- oder Vergnügungsstätten zu
unterlassen oder
9. an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen"
(JGG 04.12.2011, § 10).
Die gesetzlichen Grundlagen für die NAM befinden sich im oben aufgeführten
Paragraphen in den Ziffern 4 bis einschließlich 7. Dabei kann es zu einer formellen oder
informellen Anordnung der ambulanten Maßnahmen kommen. Informelle Erledigung
bedeutet hierbei, dass von einer weiteren Strafverfolgung zugunsten einer
Resozialisierung des Täters, insbesondere bei Ersttätern und bei leichteren Delikten,
abgesehen wird. Rechtliche Basis für diese sogenannte Diversion sind der § 45 des JGG
und der § 47 des JGG. Sozialpädagogisch betreute Arbeitsleistungen können zudem als
Zuchtmittel, dann nicht mehr Arbeitsweisung sondern Arbeitsauflage, gerichtlich
angeordnet werden. Gesetzlich verankert ist diese Maßnahme unter den Zuchtmitteln in
§ 15 Abs. 1 Ziff. 3 des JGG (vgl. Scheffler 2010, S. 32).

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Für einen ersten groben Überblick soll folgende Darstellung verdeutlichen, welche
einzelnen Schritte vom Delikt bis zu etwaigen ambulanten Maßnahmen möglich sind
und erfolgen können:
Abbildung 1: Vom Delikt zu ambulanten Maßnahmen (vereinfachte Darstellung)
Quelle: BH 2002, S. 2
Für die NAM sind von der ,,Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante Maßnahmen
nach dem Jugendrecht" gewisse Mindeststandards konzipiert worden, welche die
personellen, inhaltlichen und organisatorischen Bedingungen festlegen, die für die
Durchführung sowie Anordnung von ambulanten Maßnahmen mindestens gegeben sein
müssen. Auf diese Mindeststandards werde ich mich im Folgenden zunächst beziehen,
wobei ich auf die allgemeinen Anwendungsvoraussetzungen der NAM gesondert unter
Punkt 2.1. eingehen werde.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die NAM eine erhebliche Eingriffsintensität
aufweisen, wodurch sie sich nicht als strafrechtliche Reaktion auf jugendtypische
Bagatellkriminalität eignen. Unter Jugendkriminalität im Allgemeinen versteht man die
Gesamtheit aller Straftaten von Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und Heranwachsenden
(18 bis 20 Jahre). Unter 14-Jährige gelten dabei als Kinder, sind nicht strafmündig und
somit strafrechtlich auch nicht verfolgbar. Ob letztlich ein strafbares Verhalten vorliegt,
richtet sich nach den Vorgaben des Strafgesetzbuches (StGB). In § 10 des StGB ist

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festgelegt, dass für junge Menschen die gesonderten Bestimmungen des JGG gelten,
wobei der Katalog der Straftaten in Strafgesetzbuch und JGG identisch ist. Dabei
werden vom JGG, im Gegensatz zu dem im StGB verankerten allgemeinen Strafrecht
welches für Erwachsene gilt, besonders vielfältige und flexible Reaktionsmöglichkeiten
vorgesehen. Bei jugendtypischen Verfehlungen, welche einen geringen Schuldgehalt
aufweisen und bei welchen die Auswirkungen der Tat geringfügig sind, wodurch keine
weiteren erzieherischen Maßnahmen notwendig sind, kann nach Ansicht des
Gesetzgebers somit auch die sanktionslose Einstellung des Verfahrens sachgerecht sein.
Von einer Großzahl junger Menschen wird die Begegnung mit der Staatsanwaltschaft
sowie mit der Polizei bereits als Strafe aufgefasst und zudem erfahren sie häufig
sanktionierende Reaktionen von Eltern oder anderen Bezugspersonen (vgl. BAG 1992,
S. 408).
Dadurch, dass die NAM den Erziehungsmaßregeln zugeordnet sind, wurde vom
Gesetzgeber verdeutlicht, dass diese nur dann Anwendung finden dürfen, wenn die
fehlende Handlungskompetenz des Jugendlichen, vor allem im Zusammenhang mit
einer problematischen Lebenssituation, die Verübung weiterer schwerer Straftaten
wahrscheinlich macht. Dabei muss beachtet werden, dass die ambulanten Maßnahmen
so durchgeführt werden müssen, dass sie imstande sind die vorhandenen (Erziehungs-)
Versäumnisse aufzuarbeiten. Dazu wird unter Punkt 2.2. der Erziehungsgedanke des
Jugendstrafrechts näher beleuchtet. Hierbei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass mit
Hilfe des Jugendstrafrechts nicht versucht werden soll die Erziehungsziele des Kinder-
und Jugendhilfegesetzes (KJHG) umzusetzen. Während das Jugendstrafrecht in erster
Linie auf die Vermeidung von künftigen Straftaten abzielt, ist es die wesentliche
Aufgabe des KJHG die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern und zu stärken. Zudem sind die
Hilfsangebote des KJHG häufig auf Freiwilligkeit begründet, wohingegen das JGG bei
seinen Rechtsfolgen den Betroffenen als Gewaltunterworfenen ansieht. Dieser Umstand
gilt auch für die NAM, weil ihre Durchführung unter Umständen durch Androhung von
Sanktionen erzwungen werden kann. Da dabei allerdings auch ein vertrauensvolles
Verhältnis zwischen dem Betroffenen und dem zuständigen Pädagogen für eine
erfolgreiche Zusammenarbeit sowie Verhaltensbeeinflussung mit dem Ziel in Zukunft
keine Straftaten mehr zu begehen gegeben ist, verdeutlicht sich an dieser Stelle nach
Auffassung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Zielkonflikt, welcher eintritt, wenn
Strafe sich versucht als Erziehung zu rechtfertigen. Die NAM stehen demnach im

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Spannungsfeld von Jugendhilfe und Justiz, was unter Punkt 2.3. verdeutlicht wird. Des
Weiteren liegen auch die Zielsetzungen der NAM auf zwei verschiedenen Ebenen,
welche miteinander verknüpft sind. So gibt es auf der einen Seite die kriminalpolitische
Zielsetzung und auf der anderen Seite die Ziele jugendhilferechtlicher Intervention.
Diese unterschiedlichen Zielsetzungen der NAM werde ich unter Punkt 2.4. näher
erläutern (vgl. BAG 1992, S. 409/410).
Unterschiedliche Untersuchungen zur Legalbewährung von straffällig gewordenen
Jugendlichen haben ergeben, dass ambulante Maßnahmen mit spezialpräventiven
Wirkungsaspekten den härteren bzw. schwereren, freiheitsentziehenden Maßnahmen
keinesfalls unterlegen sind. Zudem werden die Erfolgsaussichten von gesetzlich
angeordneten Maßnahmen zur Beeinflussung des Verhaltens oft überschätzt, da dieses
vielmehr von der sozialen Biografie, den sozialen Chancen und den allgemeinen
sozialen und kulturellen Zustand einer Gesellschaft beeinflusst und bestimmt wird.
Dementsprechend werden die NAM schon dann als Erfolg gewertet, wenn sie es
schaffen der sozialen Desintegration entgegenzuwirken und die sozialen Bindungen zu
festigen bzw. zu erweitern. Unter Punkt 2.6. werde ich dazu ausführlicher auf die
Grenzen und Änderung der ambulanten Maßnahmen eingehen (vgl. BAG 1992, S. 414).
Die NAM werden als Leistungen der Jugendhilfe sowohl von Trägern der öffentlichen
als auch der freien Jugendhilfe erbracht. Hierbei gilt das sogenannte
Subsidiaritätsprinzip, d.h. wenn Träger der freien Jugendhilfe schon bestimmte
Maßnahmen betreiben bzw. schaffen können, soll die öffentliche Jugendhilfe von
eigenen Maßnahmen dieser Form absehen. Sollte dies nicht der Fall sein, müssen diese
Maßnahmen von den Jugendämtern bei den freien Trägern in die Wege geleitet werden.
Wenn selbst dafür die Voraussetzungen fehlen liegt es letztlich in der Verantwortung
der Jugendämter entsprechende Leistungen von sich aus anzubieten, damit ein
flächendeckendes Angebot an sozialpädagogischen Hilfen vorhanden ist (vgl. BAG
2000, S. 414).
Damit ambulante Maßnahmen qualifiziert durchgeführt werden können, ist wie bei der
übrigen Jugendsozialarbeit auch, viel Geld nötig, was in der Förderpraxis von vielen
Bundesländern oftmals jedoch keine Berücksichtigung findet. Dadurch bleiben häufig
nur finanzielle Mittel für ,,irgendwelche" Aktivitäten übrig, die den inhaltlichen und
organisatorischen Mindeststandards allerdings nicht gerecht werden können. Die NAM
sind in der Regel nur von extra dafür geschulten sozialpädagogischen Fachkräften
durchzuführen. Dabei werden in dem Personalschlüssel der ,,Richtlinien über die

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Gewährung von Zuwendungen des Landes zu den Personalkosten von pädagogischen
Fachkräften bei ambulanten sozialpädagogischen Angeboten der Jugendhilfe für junge
Straffällige" mindestens zwei Personalstellen in einem Jugendamtsbezirk mit bis zu
10.000 Jugendlichen empfohlen. Des Weiteren müssen regelmäßige Angebote zur
Supervision sowie die Teilnahme an Fortbildungen für die pädagogischen Fachkräfte
sichergestellt sein. Außerdem muss beachtet werden, dass die jungen Menschen, welche
die Maßnahmen beanspruchen, häufig nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen,
weshalb von einer Kostenbeteiligung abgesehen werden sollte, da sonst Ziel und Zweck
der Leistungen gefährdet werden könnten (vgl. BAG 2000, S. 414/415).
Bei der Anordnung, Auswahl sowie Durchführung der ambulanten Maßnahmen
übernehmen die Jugendgerichtshilfen einen großen Teil der Verantwortung. Nach § 38
Abs. 3 des JGG ist die Jugendgerichtshilfe vor der Erteilung von bestimmten
Weisungen anzuhören, wobei sie im Regelfall ebenfalls überwacht, ob die angeordneten
Maßnahmen erfüllt werden. Hierbei ist zu beachten, dass eine Weisung nicht gegen den
ausdrücklichen Willen eines jugendlichen Straftäters angeordnet werden sollte. In
vielen Fällen wird jedoch die Durchführbarkeit von ambulanten sozialpädagogischen
Maßnahmen vor ihrer Anordnung nicht hinreichend geprüft, was sich auch in der hohen
Anzahl von Ungehorsamsarresten widerspiegelt. Es ist somit wichtig, dass vor der
Hauptverhandlung zwischen der pädagogischen Fachkraft, welche die Maßnahme
durchführt, und dem betroffenen Jugendlichen kommuniziert wird. Dadurch kann die
grundsätzliche Bereitschaft des jungen Menschen und die Realisierbarkeit der
Maßnahme fallspezifisch geprüft werden. Zu dieser Thematik werde ich unter Punkt
2.7. die Folgen bei Nichterfüllung der Maßnahmen genauer darlegen (vgl. BAG 2000,
S. 416).
Nach Möglichkeit sollte die Jugendgerichtshilfe sowohl die Angebotsstruktur als auch
die Optionen sowie Grenzen von allen öffentlichen und freien Trägern, die ambulante
sozialpädagogische Maßnahmen in ihrem Zuständigkeitsbereich anbieten und
durchführen, kennen. Damit etwaige Rollenkonflikte vermieden werden können, sollte
für einen jugendlichen Straftäter nicht derselbe Mitarbeiter die Aufgaben der
Jugendgerichtshilfe übernehmen und zugleich die ambulante Maßnahme durchführen,
da dieser Umstand besonders beim Täter-Opfer-Ausgleich zu erheblichen Problemen
führen kann (vgl. BAG 2000, S. 416).
Aufgrund von fehlenden Abstimmungsprozessen zwischen Personen sowie
Institutionen, die an der Organisation und Ausführung der ambulanten Maßnahmen

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mitwirken, wird die Zielgruppe der jeweiligen ambulanten Angebote häufig verfehlt.
Auf die Adressaten der NAM wird hierzu auch unter Punkt 2.5. näher eingegangen.
Mitarbeiter von ambulanten Maßnahmen, Justiz und Jugendgerichtshilfe vertreten in
Anbetracht ihrer unterschiedlichen Berufsrollen oftmals sehr differente Sichtweisen.
Aufgrund dessen sind interdisziplinäre Arbeitsgruppen, welche zusammen an einer
Konzeptentwicklung mitarbeiten, von großem Nutzen. Sollten diese Voraussetzungen
nicht gegeben sein, wäre es zumindest sinnvoll, dass die Träger der NAM den
Justizbeteiligten ein stichhaltiges und überzeugendes Konzept von ihrer Einrichtung und
den angebotenen Maßnahmen darlegen. Dabei ist die
,,Verständigung über die Zielgruppe, die
mit der jeweiligen Maßnahme erreicht werden soll, die Zielsetzung, welche mit der Maßnahme verfolgt
wird, die Erforderlichkeit der Einwilligung des von der Weisung Betroffenen und die Notwendigkeit des
Verzichts auf eine Kombination mit Arrest [unverzichtbar]. Erstrebenswert ist eine Verständigung über
die Dauer der angeordneten Maßnahme, den Umfang der Kontrolle durch die Justiz bei der Durchführung
der Weisungen und die regelmäßige Überprüfung der Sanktionspraxis"
(Röser 2003, S. 51/52).
Damit schließlich eine erfolgreiche Zusammenarbeit erreicht wird, ist es unbedingt
notwendig, dass beide Seiten transparent handeln, sich gegenseitig vertrauen und der
jeweilige Handlungsauftrag der anderen Seite respektiert wird. Dies bedeutet einerseits,
dass die Justiz offenlegen muss, warum sie sich für eine bestimmte Verfahrensweise
und Sanktion entschieden hat. Andererseits heißt das aber auch, dass die für die
Maßnahme verantwortliche Institution ihr pädagogisches Handeln darlegen und
nachvollziehbar machen muss (vgl. BAG 1992, S. 418).
2.1. Allgemeine Anwendungsvoraussetzungen der NAM
Wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt, werden die NAM nach dem JGG in erster Linie
den sogenannten Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 des JGG, insb. § 10 des JGG) und
teilweise auch den sogenannten Zuchtmitteln (§§ 13-16 des JGG, insb. § 15 des JGG)
zugeordnet. Dabei sind die Weisungen nach § 10 Abs. 1 des JGG Gebote sowie
Verbote, welche einerseits die Lebensführung des jungen Menschen regeln sollen,
wodurch andererseits die Erziehung des Jugendlichen gefördert und gesichert werden
soll. Hierbei sollen die Weisungen weder repressive noch vergeltende Absichten
verfolgen, wohingegen die Zuchtmittel dem jungen Menschen nachdrücklich deutlich
machen sollen, dass er für das von ihm verübte Unrecht einzustehen hat (vgl. Trenczek
2000, S. 79).

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Aufgrund der Tatsache, dass das Verfahren an sich schon eine Sanktion auf eine verübte
Straftat darstellt und die Möglichkeit besteht, gewisse Maßnahmen in einem informellen
Verfahren aufzuerlegen, gibt es neben den im Urteil verkündeten Sanktionen noch
andere jugendstrafrechtliche Reaktionsmöglichkeiten, wie die informellen
Erledigungsarten nach §§ 45 und 47 des JGG. Diese sogenannte Diversion bedeutet,
dass von einer Strafverfolgung zugunsten einer Resozialisierung des Täters abgesehen
wird. Zudem entfällt der besondere Sanktionszweck des JGG da, wo Straftaten das
,,Normalverhalten" widerspiegeln und von einer Selbstregulierung ausgegangen
werden kann. Sollten jedoch NAM im Rahmen der Diversion auferlegt werden, sind für
jeden Einzelfall bestimmte Zulässigkeitsgrenzen zu berücksichtigen. So ist
beispielsweise
,,die strafrechtlich verpflichtende (,,initiierte") Verknüpfung von Arbeitsleistungen,
sozialen Trainingskursen oder Betreuungsweisungen ... ­ entgegen der mancherorts betriebenen Praxis ­
im Rahmen des (staatsanwaltschaftlichen) Diversionsverfahrens unzulässig"
(Trenczek 2000, S. 80).
Allgemein zu beachten ist, dass sowohl Erziehungsmaßregeln als auch Zuchtmittel als
strafrechtliche Sanktionen anzusehen sind, da sie strafrechtlich bindend angeordnet und
eingefordert werden können. Dementsprechend können NAM nach § 5 Abs. 1 des JGG
auch nur aufgrund einer Straftat auferlegt werden, was bedeutet, dass Sanktionen nach
dem JGG nur dann zulässig sind, wenn auch eine Straftat nachgewiesen werden kann.
Dazu gehört auch, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen nach § 3
des JGG festgestellt wird. Grundsätzlich gilt, dass Erziehungsmaßregeln nur dann
auferlegt werden sollen, wenn bei dem jungen Menschen eine Erziehungsbedürftigkeit
sowie -fähigkeit festgestellt wird. Aufgrund der Tatsache, dass der Erziehungsbegriff
inhaltlich jedoch relativ unbestimmt ist, bleibt in einem erheblichen Maße unklar was
darunter genau zu verstehen ist. Bis auf den Hinweis,
,,dass für die Art und Ausgestaltung der
Maßnahmen dem Entwicklungsstand des Beschuldigten und den für ihn relevanten Wertvorstellungen
und Bezugspersonen vorrangige Bedeutung zukomme und dass es deshalb eines sorgfältigen Eingehens
auf die individual- und sozialstrukturellen Gegebenheiten bezüglich des Beschuldigten und seiner
Lebensbedingungen bedarf"
(Trenczek 2000, S. 80), werden weder vom Gesetzgeber noch
von der Rechtsprechung präzise Definitionskriterien aufgestellt. Deshalb wird in der
Regel auf die drei Attribute der Verhältnismäßigkeit (Geeignetheit, Erforderlichkeit und
Angemessenheit) zurückgegriffen. In Kapitel 2.2. werde ich zu dieser Thematik den
Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts näher vorstellen (vgl. Trenczek 2000, S. 82).
Aus strafrechtlicher Perspektive stehen die Jugendlichen als Zielgruppe im Mittelpunkt,
welche nicht mehr dem ,,Normalbereich" von Jugenddelinquenz zuzuordnen sind,

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sondern des Öfteren auffällig geworden sind. Außerdem wird das Risiko zum Begehen
von weiteren Straftaten vorausgesetzt, wobei allerdings noch nicht von ,,schädlichen
Neigungen" wie im § 17 Abs. 2 des JGG ausgegangen wird. Hierbei weist Trenczek
darauf hin, dass
,,es gerade unter prognostischen Gesichtspunkten an validen Kriterien [fehlt], die das
Risiko weiterer Straffälligkeit zuverlässig bestimmen können. Allen Versuchen, die Zielgruppe der
ambulanten Sanktionen mit Hilfe eines Stufenmodells rechtsdogmatisch zu begründen, ist gemeinsam,
dass sie inhaltlich gerade nicht an den jugendstrafrechtlichen Besonderheiten orientiert sind"
(Trenczek
2000, S. 82). Beim Jugendstrafrecht ist das Begehen einer Straftat eine notwendige aber
keine hinreichende Bedingung, für das Verfolgen der Straftat sowie vom Staat
angeordnete Sanktionen. Im Gegensatz zum allgemeinen Strafrecht gibt es im
Jugendstrafrecht zudem, auch für schwere Straftaten, keine Mindeststrafe. Des Weiteren
kann das Ergreifen von jugendstrafrechtlichen (Erziehungs-)Maßnahmen geschehen,
muss aber nicht geschehen. Das Jugendstrafrecht zielt in erster Linie nicht darauf ab
Jugendliche zu bestrafen,
,,vielmehr soll aus Anlass einer Straftat jugendgemäß und
zukunftsgerichtet reagiert werden, um der Wiederholung von Straftaten vorzubeugen. Die spezifisch
jugendstrafrechtliche Verpflichtung zur Zurückhaltung zwingt gerade deshalb zur Überprüfung
vorrangiger nicht-strafrechtlicher Alternativen"
(Trenczek 2000, S. 83). In der Praxis ist es
allerdings häufig so, dass die Bestimmung der jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen wie
im allgemeinen Strafrecht geschieht. Neben der Art und Schwere der Straftat ist
besonders die Tatsache entscheidend, inwiefern der Jugendliche bereits vorher
strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Dies spiegelt sich vor allem darin wieder, dass
oftmals mit steigender Anzahl vorangegangener Verurteilungen automatisch immer
härtere Sanktionen folgen (vgl. Trenczek 2000, S. 82/83).
2.2. Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts
Das Jugendstrafrecht versteht sich als Sonderstrafrecht für junge Menschen, wobei
sowohl der strafrechtliche als auch der autonome Charakter deutlich wird. Neben dem
Verfahren und der Gerichtsverfassung sind insbesondere die Rechtfolgen einer Straftat
und deren Vollzug charakteristische Merkmale des Jugendstrafrechts. Da strafrechtlich
relevantes Verhalten bei Jugendlichen in vielen Fällen normal, entwicklungstypisch und
vorübergehend ist, muss auf dieses Verhalten auch normal reagiert werden. Dadurch,
dass die informellen und ambulanten Reaktionsmöglichkeiten hervorgehoben und die
repressiven Eingriffsinstrumente gleichzeitig eingeschränkt wurden, verdeutlichte der

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Gesetzgeber schon bei der Novellierung des JGG die Bedeutsamkeit der
jugendhilfeorientierten Handlungsalternativen. Dies spiegelt sich letztlich auch im
Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts wieder (vgl. Trenczek 1996a, S. 38).
Der Erziehungsgedanke bildet die bestimmende Basis des im JGG verkörperten
Jugendstrafrechts und gilt als dessen Handlungsmaxime. Dadurch, dass der
Erziehungsgedanke fest im Gesetz verankert ist, findet automatisch eine Ausrichtung
am Erziehungsgedanken statt. Dabei ist nicht genau festgelegt, was unter dem Begriff
Erziehung zu verstehen ist. Es handelt sich vielmehr um einen unbestimmten
Rechtsbegriff. Somit gibt es zum Terminus Erziehung auch keine einheitliche, sondern
viele verschiedene Definitionen. Im Folgenden möchte ich dazu zwei Definitionen von
Erziehung näher vorstellen:
,,Erziehung ist dasjenige Handeln, in dem die Älteren (Erzieher) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen
gewisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnormen) und unter konkreten Umständen
(Erziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten Aufgaben (Erziehungsgehalten) und Maßnahmen
(Erziehungsmethoden) in der Absicht einer Veränderung (Erziehungswirkungen) zur eigenen
Lebensführung verhelfen, und zwar so, daß die Jüngeren das erzieherische Handeln der Älteren als
notwendigen Beistand für ihr eigenes Dasein erfahren, kritisch zu beurteilen und selbst fortzuführen
lernen"
(Bokelmann 1970, S. 185).
,,Der zur gelungenen Sozialisation führende Lernprozeß, auch Erziehung genannt, beruht auf der
schrittweisen Bewältigung zwischenmenschlicher Beziehungen zur Mutter, zur Familie, zur
Nachbarschaft, zu Gleichaltrigen, zum anderen Geschlecht. Hierbei wird ein Gefüge von
Verhaltensnormen erlernt und verinnerlicht, das es den meisten Menschen erlaubt, ein gesetzmäßiges und
geordnetes Leben zu führen"
(Böhm 1985, S. 1).
Beide oben aufgeführten Definitionen gehen beim Erziehungsbegriff somit von einem
Idealzustand aus, wobei sie darin übereinstimmen, dass der Erziehungsbedürftige zur
Selbstständigkeit und Eigenständigkeit geführt werden soll. Der Erwachsene soll bei
diesem Prozess eine unterstützende Rolle einnehmen und dem zu Erziehenden ,,Hilfe
zur Selbsthilfe" zukommen lassen.
Im Weiteren möchte ich nun aufzeigen, was genau die Substanz des
Erziehungsgedankens ist und was Erziehung im Sinne des Jugendstrafrechts bedeutet.
Hierzu sei zunächst gesagt, dass in § 2 Abs. 1 des JGG festgestellt wird, dass Erziehung
im Grunde kein Ziel an sich ist, sondern es vorrangig um die Mittel geht, mit welchen
nach Möglichkeit das Ziel der Legalbewährung erfolgreich erreicht werden kann.
Dadurch, dass die Legalbewährung als Ziel bei der Anwendung des Jugendstrafrechts
festgelegt wurde, fand gleichzeitig eine Begrenzung der erzieherischen Anstrengungen

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statt. Im Gegensatz zum Jugendhilferecht geht es beim Jugendstrafrecht nämlich nicht
um eine umfangreiche Förderung der Persönlichkeit des Jugendlich um seiner selbst
willen. Während im KJHG
,,ein Recht auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gewährt wird, geht es ... [im Jugendstrafrecht] darum, mit den
Mitteln der Erziehung zu erreichen, dass der junge Mensch sich im strafrechtlichen Sinne sozialadäquat
zu verhalten lernt"
(Goerdeler 2009, S. 111). Auf der einen Seite befindet sich somit das
Jugendhilferecht, welches sich als Bestandteil des Sozialrechts ausschließlich an den
Interessen der betroffenen Person orientiert und fast ausschließlich dem Leitbild der
Freiwilligkeit folgt. Wohingegen sich auf der anderen Seite das Jugendstrafrecht
befindet, welches im öffentlichen Interesse zur Anwendung kommt und dadurch
gekennzeichnet ist das Verfahren sowie mögliche Rechtfolgen einseitig bestimmt
werden. Dieser Umstand schließt jedoch nicht automatisch aus, dass sich das Strafrecht
zugunsten der Jugendhilfe zurücknimmt, wenn sein Ziel dadurch ebenso gut oder
eventuell sogar besser erreicht werden kann (Diversion, Weisungen
Æ NAM).
Letztlich ändert dies allerdings nichts daran, dass dem Strafrecht immer die
Rechtsmacht offensteht und jederzeit verfahrenssichernde Zwangsmaßnahmen sowie
verpflichtende Anordnungen über die Rechtsfolgen getroffen werden können (vgl.
Goerdeler 2009, S. 110/111).
Die verschiedenen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkte entsprechen ebenfalls den
unterschiedlichen Ausrichtungen des KJHG und des Jugendstrafrechts. Das
Jugendhilferecht orientiert sich unbedingt an dem Wohl des Jugendlichen und die Eltern
werden bei der Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts unterstützt. Nur für den Fall,
dass eine Gefährdung des Kindewohls besteht und die Eltern nicht im Stande sind diese
abzuwenden, darf in Ausübung des staatlichen Wächteramts mit Zwangsmaßnahmen
vorgegangen werden. Das Jugendstrafrecht wiederum kann sich nicht auf das staatliche
Wächteramt stützen, da in diesem Fall jugendstrafrechtliche Eingriffe nur dann legitim
wären, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Dieser Umstand könnte gerade bei
den jugendtypischen, geringfügigen Massenverfehlungen nicht begründet werden.
Außerdem wäre es dann andererseits auch nicht zu rechtfertigen, dass sich der in
Ausübung des Wächteramts erfolgte Eingriff ausschließlich an der Förderung der
Legalbewährung orientiert. Dementsprechend kann sich das Jugendstrafrecht vielmehr
,,auf ein originär strafrechtliches Erziehungsrecht berufen, das sich aus dem staatlichen Auftrag zur
Herstellung des Rechtsfriedens ableitet. Dieses substituiert nicht das elterliche Erziehungsrecht, vielmehr

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berechtigt es den Staat zu begrenzten Eingriffen in das Erziehungsrecht der Eltern"
(Goerdeler 2009,
S. 112). Allerdings sagt dabei die Beschränkung, auf das zur Verwirklichung der
Legalbewährung Nötige, noch nichts darüber aus, welche Instrumente sowie
Verfahrensweisen angewendet werden sollen und welches das innere Leitbild
jugendstrafrechtlicher-erzieherischer Einflussnahme ist. Fest steht, dass im Sinne der
inneren Ausrichtung, die Erziehung, auch auf Hintergrund des Strafrechts, danach
streben sollte, dass die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert wird (vgl. Goerdeler 2009, S. 111/112).
2.3. Die NAM im Spannungsfeld von Jugendhilfe und Justiz
Dadurch, dass sozialpädagogische Angebote für straffällig gewordene Jugendliche
einen strafrechtlichen Bezugsrahmen aufweisen, wurde von unterschiedlichen Seiten
auf die Gefahr hingewiesen, dass sozialpädagogische Arbeit, welche sich in diesem
Spannungsfeld bewegt, ins ,,Souterrain der Justiz" verwiesen wird. Eine vorliegende
Straftat kann zwar den Anstoß geben bzw. der Indikator sein, allerdings richtet sich die
Frage nach der Legitimation, der Grundidee und der genauen Durchführung von
Jugendhilfeleistungen letztlich ausschließlich nach jugendhilferechtlichen Kriterien.
Hierbei werden, nicht zuletzt zum Wohl des betroffenen Jugendlichen, große
Herausforderungen an kooperative Strukturen in Bezug auf das Zusammenwirken von
Jugendhilfe und Justiz gestellt.
2.3.1. ,,Spannungen"
Der im JGG verankerte Erziehungsgedanke zielt zwar einerseits auf eine Begrenzung
staatlicher Sanktionen ab, andererseits verfolgt er dabei aber weiterhin das
strafrechtliche Leitbild. Dadurch, dass die NAM hauptsächlich den
Erziehungsmaßregeln zugeordnet sind, wird deutlich, dass bei der Anordnung der
Maßnahmen durch den Jugendrichter eine gewisse Erziehungsbedürftigkeit des jungen
Menschen festgestellt werden muss. Allerdings wurden vom Gesetzgeber sowie von der
Wissenschaft keine Kriterien, bis auf die unscharfe Vorgabe, dass es
,,eines sorgfältigen
Eingehens auf die individual- und sozialstrukturellen Gegebenheiten bezüglich des Beschuldigten und
seiner Lebensbedingungen bedarf"
(Eisenberg 1993, S. 137), für die Feststellung einer
solchen Bedürftigkeit festgelegt. Schon gar nicht liegen empirisch fundierte Kriterien

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vor, die zwischen strafrechtlich relevanter Auffälligkeitsform, der sozialen Situation
und der durchzuführenden Maßnahme unterscheiden. Ob und inwieweit Bedarf an einer
strafrechtlichen Intervention besteht, wird in der jugendgerichtlichen Praxis in der Regel
nach strafrechtlichen Kriterien festgestellt. Dabei wird in erster Linie die Art und
Schwere des Delikts sowie die Häufigkeit bisheriger Straftaten berücksichtigt.
Außerdem wird bei bestimmten jugendtypischen Vergehen die sanktionslose
Einstellung des Verfahrens als sachgerecht angesehen, da die durch die Straftat erfolgte
Konfrontation mit Polizei und Staatsanwaltschaft für die meisten Jugendlichen eine
ausreichende Bestrafung darstellt (vgl. Drewniak 1996, S. 23/24).
Während also
,,in der justitiellen Sichtweise sozialpädagogischer Aufgaben ,Erziehung` als
funktionales Äquivalent zur Strafe erscheint, hat die Jugendhilfe die im KJHG definierten Aufgaben
wahrzunehmen. Nicht die Straffälligkeit als solche, sondern vielmehr die Lebensschwierigkeiten der
Jugendlichen - die sich in Straftaten unter Umständen widerspiegeln können - sind der eigentliche
Aufgabenbereich für die Jugendhilfe"
(Drewniak 1996, S. 24). Somit kann und darf Hilfe zur
Erziehung nach § 27 Abs. 1 des KJHG nur dann erfolgen,
,,wenn eine dem Wohl des Kindes
oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine
Entwicklung geeignet und notwendig ist"
(KJHG 04.12.2011, § 27). Dementsprechend steht
bei der Überprüfung, ob für den jugendlichen Straftäter Jugendhilfeleistungen infrage
kommen, die vorhandene Lebenslage und nicht die Straffälligkeit des jungen Menschen
im Blickpunkt. Die wesentliche Aufgabe der Jugendhilfe ist die richtige Bewertung des
gegenwärtigen Integrations- und Hilfebedarfs des Jugendlichen und gegebenenfalls das
Bereitstellen von angemessenen Unterstützungsangeboten. Dabei soll sich die
Bedarfsermittlung bei jedem Einzelfall nach der Normalsituation von Sozialisation
ausrichten, wobei ein Anspruch auf Hilfe dann besteht, wenn für den Jugendlichen
bestimmte Bedingungen nicht existieren, welche für einen Großteil junger Menschen
vorhanden sind. Des Weiteren ist in § 52 des KJHG festgelegt, dass die Jugendhilfe
frühzeitig prüfen muss, ob für den jungen Menschen Hilfeleistungen der Jugendhilfe
infrage kommen. Hierbei ist es wichtig festzuhalten, dass die Einschätzung ob eine
Jugendhilfeleistung pädagogisch geeignet und erforderlich ist, eine sozialpädagogische
Frage und keine juristische ist. Gerichte sind somit weder berechtigt noch in der Lage
festzustellen, ob und inwieweit Bedingungen für eine Jugendhilfeleistung vorhanden
sind. Falls bei dem Jugendlichen kein erkennbarer Hilfebedarf vorliegt, sind von Seiten
der Jugendhilfe auch keine erzieherischen Maßnahmen nötig. Allerdings sollte darauf
hingewiesen werden, dass das Verhalten einer Person mehr durch ihre soziale Situation

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als durch strafrechtliche Reaktionen beeinflusst wird. Das heißt, dass Maßnahmen der
Jugendhilfe bereits dann als erfolgreich gelten, wenn der sozialen Desintegration
entgegengewirkt werden konnte. Weitere Straftaten des jungen Menschen sind somit
nicht automatisch mit der Erfolglosigkeit und dem Versagen der Jugendhilfe
gleichzusetzen. Das von der Justiz in vielen Fällen trotzdem zu immer härteren Strafen
gegriffen wird, ist nach Ansicht vieler Experten Ausdruck von Hilflosigkeit,
mangelndem Wissen über die Beweggründe sowie den Verlauf von Jugendkriminalität
und nicht zuletzt die Tatsache, dass über die erzieherische Wirksamkeit von
freizeiterziehenden Strafen falsche Vorstellungen bestehen. Dementsprechend besteht
,,das Hauptproblem bei der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Justiz ... darin, daß diese zum einen
durch unterschiedliche Sozialisationen, Ausbildungen und Berufsrollen sowie zum anderen durch
divergierende gesetzliche Rahmenbedingungen gekennzeichnet ist, die sehr verschiedene Sichtweisen
hinsichtlich Notwendigkeiten, Inhalten und Niveaus von Sanktionen einbringen lassen und Reibungen
geradezu erzwingen: nicht zuletzt im Hinblick auf die anvisierte Zielgruppe der NAM"
(Drewniak
1996, S. 25).
Auf dem Hintergrund von jugendstrafrechtlichen sowie jugendhilferechtlichen
Merkmalen, sind die Zielgruppen der NAM hauptsächlich die sogenannten
Mehrfachauffälligen und Mehrfachbetroffenen. Diese jungen Menschen haben in der
Regel den Normalbereich von Jugenddelinquenz verlassen und sind wiederholt auffällig
geworden, wobei sie gleichzeitig auch wiederholt und immer härter bestraft werden.
Insgesamt weist diese relativ kleine Gruppe von Jugendlichen zwar keine besondere
Deliktstruktur auf, jedoch sozialstrukturelle Merkmale,
,,die sich als sowohl die Delinquenz als
auch die Kriminalisierung durch die Instanzen der Sozialkontrolle begünstigende Faktoren erwiesen
haben. Charakterisiert werden diese Jugendlichen über das häufige Nebeneinander vielfacher sozialer
Belastungen, insbesondere die ,negative Eigendynamik des Rückfalls`: der Kreislauf nämlich von
geringeren Chancen, erhöhter Kontrolle und intensiverer Sanktionierung"
(Drewniak 1996, S. 25).
Damit dieser Kreislauf durchbrochen werden kann, sollten durch die NAM Alternativen
zu den bereits bestehenden freizeiterziehenden Maßnahmen geschaffen werden.
Nachdem die ambulante Bewegung zunächst erwartungsvoll gestartet war, setzte eine
zunehmende Diskussion über die Zielgruppe der NAM ein, da von verschiedenen Seiten
die Befürchtung geäußert wurde, dass im Gegensatz zur eigentlichen Idee der NAM,
von den Projekten vor allem junge Menschen erreicht werden, die aus strafrechtlicher
sowie sozialpädagogischer Sichtweise eher weniger belastet sind. Dabei wurde unter
dem Stichwort ,,net-widening" eine umfangreiche Debatte ausgelöst, da sich die
ambulante Bewegung zunächst für eine quantitativ möglichst weite Verbreitung sowie

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783956845666
ISBN (Paperback)
9783956840661
Dateigröße
3.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Jugendkriminalität Jugendstrafrecht Diversion Freizeitentziehende Maßnahme Ambulante Sozialpädagogische Maßnahme
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Titel: Betreuen statt Einsperren: Die Neuen Ambulanten Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz
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